Hans Jonas

Das Prinzip Verantwortung

Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation

Mit einem Nachwort von Robert Habeck

Suhrkamp

Meinen Kindern Ayalah, Jonathan, Gabrielle

Vorwort

Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden. Daß die Verheißung der modernen Technik in Drohung umgeschlagen ist, oder diese sich mit jener unlösbar verbunden hat, bildet die Ausgangsthese des Buches. Sie geht über die Feststellung physischer Bedrohung hinaus. Die dem Menschenglück zugedachte Unterwerfung der Natur hat im Übermaß ihres Erfolges, der sich nun auch auf die Natur des Menschen selbst erstreckt, zur größten Herausforderung geführt, die je dem menschlichen Sein aus eigenem Tun erwachsen ist. Alles daran ist neuartig, dem Bisherigen unähnlich, der Art wie der Größenordnung nach: Was der Mensch heute tun kann und dann, in der unwiderstehlichen Ausübung dieses Könnens, weiterhin zu tun gezwungen ist, das hat nicht seinesgleichen in vergangener Erfahrung. Auf sie war alle bisherige Weisheit über rechtes Verhalten zugeschnitten. Keine überlieferte Ethik belehrt uns daher über die Normen von »Gut« und »Böse«, denen die ganz neuen Modalitäten der Macht und ihrer möglichen Schöpfungen zu unterstellen sind. Das Neuland kollektiver Praxis, das wir mit der Hochtechnologie betreten haben, ist für die ethische Theorie noch ein Niemandsland.

In diesem Vakuum (das zugleich auch das Vakuum des heutigen Wertrelativismus ist) nimmt die hier vorgelegte Untersuchung ihren Stand. Was kann als Kompaß dienen? Die vorausgedachte Gefahr selber! In ihrem Wetterleuchten aus der Zukunft, im Vorschein ihres planetarischen Umfanges und ihres humanen Tiefganges, werden allererst die ethischen Prinzipien entdeckbar, aus denen sich die neuen Pflichten neuer Macht herleiten lassen. Dies nenne ich die »Heuristik der Furcht«: Erst die vorausgesehene Verzerrung des Menschen verhilft uns zu dem davor zu bewahrenden Begriff des Menschen. Wir wissen erst, was auf dem Spiele steht, wenn wir wissen, daß es auf dem Spiele steht. Da es dabei nicht nur um das Menschenlos, sondern auch um das Menschenbild geht, nicht nur um physisches Überleben, sondern auch um Unversehrtheit des Wesens, so muß die Ethik, die beides zu hüten hat, über die der Klugheit hinaus eine solche der Ehrfurcht sein.

Die Begründung einer solchen Ethik, die nicht mehr an den unmittelbar mitmenschlichen Bereich der Gleichzeitigen gebunden bleibt, muß in die Metaphysik reichen, aus der allein sich die Frage stellen läßt, warum überhaupt Menschen in der Welt sein sollen: warum also der unbedingte Imperativ gilt, ihre Existenz für die Zukunft zu sichern. Das Abenteuer der Technologie zwingt mit seinen äußersten Wagnissen zu diesem Wagnis äußerster Besinnung. Eine solche Grundlegung wird hier versucht, entgegen dem positivistisch-analytischen Verzicht der zeitgenössischen Philosophie. Ontologisch werden die alten Fragen nach dem Verhältnis von Sein und Sollen, Ursache und Zweck, Natur und Wert neu aufgerollt, um die neu erschienene Pflicht des Menschen jenseits des Wertsubjektivismus im Sein zu verankern.

Das eigentliche Thema jedoch ist diese neu hervorgetretene Pflicht selber, die im Begriff der Verantwortung zusammengefaßt ist. Gewiß kein neues Phänomen in der Sittlichkeit, hat die Verantwortung doch noch nie ein derartiges Objekt gehabt, auch bisher die ethische Theorie wenig beschäftigt. Sowohl Wissen wie Macht waren zu begrenzt, um die entferntere Zukunft in die Voraussicht und gar den Erdkreis in das Bewußtsein der eigenen Kausalität einzubeziehen. Statt des müßigen Erratens später Folgen im unbekannten Schicksal konzentrierte sich die Ethik auf die sittliche Qualität des augenblicklichen Aktes selber, in dem das Recht des mitlebenden Nächsten zu achten ist. Im Zeichen der Technologie aber hat es die Ethik mit Handlungen zu tun (wiewohl nicht mehr des Einzelsubjekts), die eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft haben, begleitet von einem Vorwissen, das ebenfalls, wie immer unvollständig, über alles ehemalige weit hinausgeht. Dazu die schiere Größenordnung der Fernwirkungen und oft auch ihre Unumkehrbarkeit. All dies rückt Verantwortung ins Zentrum der Ethik, und zwar mit Zeit- und Raumhorizonten, die denen der Taten entsprechen. Demgemäß bildet die bis heute fehlende Theorie der Verantwortung die Mitte des Werkes.

Aus der erweiterten Zukunftsdimension heutiger Verantwortung ergibt sich das abschließende Thema: die Utopie. Die weltweite technologische Fortschrittsdynamik birgt als solche einen impliziten Utopismus in sich, der Tendenz, wenn nicht dem Programm nach. Und die eine schon existierende Ethik mit globaler Zukunftssicht, der Marxismus, hat eben im Bunde mit der Technik die Utopie zum ausdrücklichen Ziel erhoben. Dies nötigt zu einer eingehenden Kritik des utopischen Ideals. Da es älteste Menschheitsträume für sich hat und nun in der Technik auch die Mittel zu besitzen scheint, den Traum in ein Unternehmen umzusetzen, ist der vormals müßige Utopismus zur gefährlichsten – gerade weil idealistischen – Versuchung der heutigen Menschheit geworden. Der Unbescheidenheit seiner Zielsetzung, die ökologisch ebenso wie anthropologisch fehlgeht (ersteres nachweislich, letzteres philosophisch aufzeigbar), stellt das Prinzip Verantwortung die bescheidenere Aufgabe entgegen, welche Furcht und Ehrfurcht gebieten: dem Menschen in der verbleibenden Zweideutigkeit seiner Freiheit, die keine Änderung der Umstände je aufheben kann, die Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens gegen die Übergriffe seiner Macht zu bewahren.

Ein »Tractatus technologico-ethicus«, wie er hier versucht wird, stellt seine Anforderungen an Strenge, die den Leser nicht weniger als den Autor treffen. Was dem Thema einigermaßen gerecht werden soll, muß dem Stahl und nicht der Watte gleichen. Von der Watte guter Gesinnung und untadeliger Absicht, der Bekundung, daß man auf seiten der Engel steht und gegen die Sünde ist, für Gedeihen und gegen Verderben, gibt es in der ethischen Reflexion unserer Tage genug. Etwas härteres ist vonnöten und hier versucht. Die Absicht ist überall systematisch und nirgends homiletisch, und keine (zeitgemäße oder unzeitgemäße) Löblichkeit der Gesinnung kann philosophischen Unzulänglichkeiten des Gedankenganges zur Entschuldigung dienen. Das Ganze ist ein Argument, das durch die sechs Kapitel schrittweise – und, ich hoffe, dem Leser nicht zu mühselig – entwickelt wird. Nur eine Lücke im theoretischen Gang der Entwicklung ist mir selber bewußt: zwischen dem dritten und vierten Kapitel wurde eine Untersuchung über »Macht oder Ohnmacht der Subjektivität« fortgelassen, worin das psychophysische Problem neu behandelt und der naturalistische Determinismus des Seelenlebens widerlegt wird. Obwohl systematisch notwendig (denn mit Determinismus keine Ethik, oder ohne Freiheit kein Sollen), wurde aus Gründen des Umfangs beschlossen, diese Abhandlung hier herauszulösen und statt dessen später gesondert vorzulegen.

Dieselbe Erwägung führte auch dazu, einen der gesamten systematischen Untersuchung angehängten »angewandten Teil«, welcher die neue Art von ethischen Fragen und Pflichten an einer Auswahl von jetzt schon konkreten Einzelthemen illustrieren soll, einer Sonderveröffentlichung binnen Jahresfrist vorzubehalten. Mehr als eine solche vorläufige Kasuistik kann gegenwärtig nicht versucht werden. Zu einer systematischen Pflichtenlehre (die schließlich anzustreben wäre) ist beim Werdestadium ihrer »Dinge« noch nicht die Zeit.

Der Entschluß, nach Jahrzehnten fast ausschließlich englischer Autorschaft dies Buch auf deutsch zu schreiben, entsprang keinen sentimentalen Gründen, sondern allein der nüchternen Berechnung meines vorgerückten Alters. Da die gleichwertige Formulierung in der erworbenen Sprache mich immer noch zwei- bis dreimal so viel Zeit kostet wie die in der Muttersprache, so glaubte ich, sowohl der Grenzen des Lebens wie der Dringlichkeit des Gegenstandes wegen, nach den langen Jahren gedanklicher Vorarbeit für die Niederschrift den schnelleren Weg wählen zu sollen, der immer noch langsam genug war. Dem Leser wird es natürlich nicht entgehen, daß der Verfasser die deutsche Sprachentwicklung seit 1933 nicht mehr »mitbekommen« hat. Ein »archaisches« Deutsch ist ihm bei Vorträgen in Deutschland von Freundesseite nachgesagt worden; und was den vorliegenden Text betrifft, so nannte ein überaus wohlwollender Leser des Manuskripts (von bewiesener Stilkundigkeit) die Sprache sogar stellenweise »altfränkisch« – und riet mir, sie von anderer Hand modernisieren zu lassen. Aber dazu hätte ich mich selbst bei Abwesenheit des Zeitfaktors und Anwesenheit des idealen Bearbeiters nicht bringen können. Denn wie ich mir bewußt bin, daß ich einem höchst zeitgemäßen Gegenstand mit einer durchaus nicht zeitgemäßen, fast schon archaischen Philosophie zu Leibe gehe, so scheint es mir nicht unangemessen, daß eine ähnliche Spannung sich auch im Stile ausdrücke.

Durch die Jahre des Werdegangs dieses Buches wurde manches aus verschiedenen Kapiteln schon in Aufsatzform in Amerika veröffentlicht. Nämlich: (aus Kapitel 1) »Technology and Responsibility: Reflections on the New Tasks of Ethics«, Social Research 40/1, 1973; (aus Kapitel 2) »Responsibility Today: The Ethics of an Endangered Future«, ibid. 43/1, 1976; (aus Kapitel 4) »The Concept of Responsibility: An Inquiry into the Foundations of an Ethics for our Age«, in Knowledge, Value, and Belief, ed. H. ‌T. Engelhardt & D. Callahan, Hastings-on-Hudson, N. ‌Y. 1977. Ich danke den betr. Publikationsorganen für ihre Erlaubnis zum jetzigen und von Anfang an vorgesehenen Gebrauch.

Dank sei hier zuletzt auch Personen und Institutionen ausgesprochen, die das Werden dieses Werkes durch Gewährung günstiger Umstände gefordert haben. The National Endowment for the Humanities und The Rockefeller Foundation finanzierten großzügig ein akademisches Urlaubsjahr, in dem die Niederschrift begonnen wurde. In der schönen Abgeschiedenheit der Villa Feuerring in Beth Jizchak (Israel), die so manchen Geistesarbeiter beherbergt hat, durfte ich die ersten Kapitel schreiben. Der großherzigen Gastgeberin, Frau Gertrud Feuerring in Jerusalem, sei hierfür nun auch öffentlich gedankt. Mit gleicher Dankbarkeit gedenke ich weiterer behüteter Arbeitsklausuren in Freundeshäusern in Israel und der Schweiz, die über die Jahre wiederholt dem Werk zugute kamen, wenn geographische Ferne vom Amtssitz den besten Schutz gegen Übergriffe des Professorats in Ferien und Urlaube bot.

In der Widmung sind die genannt, denen im Sinne des Buches anderes geschuldet ist als Dank.

New Rochelle, New York, U. ‌S. ‌A.

Hans Jonas Juli 1979

Erstes Kapitel


Das veränderte Wesen menschlichen Handelns

 
 
 
 
 
 
Alle bisherige Ethik – ob als direkte Anweisung, gewisse Dinge zu tun und andere nicht zu tun, oder als Bestimmung von Prinzipien für solche Anweisungen, oder als Aufweisung eines Grundes der Verpflichtung, solchen Prinzipien zu gehorchen – teilte stillschweigend die folgenden, unter sich verbundenen Voraussetzungen: (1) Der menschliche Zustand, gegeben durch die Natur des Menschen und die Natur der Dinge, steht in den Grundzügen ein für allemal fest. (2) Das menschlich Gute läßt sich auf dieser Grundlage unschwer und einsichtig bestimmen. (3) Die Reichweite menschlichen Handelns und daher menschlicher Verantwortung ist eng umschrieben. Es ist die Absicht der folgenden Ausführungen, zu zeigen, daß diese Voraussetzungen nicht mehr gelten, und darüber zu reflektieren, was dies für unsere moralische Lage bedeutet. Spezifischer gefaßt ist meine Behauptung, daß mit gewissen Entwicklungen unserer Macht sich das Wesen menschlichen Handelns geändert hat; und da Ethik es mit Handeln zu tun hat, muß die weitere Behauptung sein, daß die veränderte Natur menschlichen Handelns auch eine Änderung in der Ethik erforderlich macht. Und dies nicht nur in dem Sinne, daß neue Objekte des Handelns stofflich den Bereich der Fälle erweitert hat, worauf die geltenden Regeln des Verhaltens anzuwenden sind, sondern in dem viel radikaleren Sinn, daß die qualitativ neuartige Natur mancher unserer Handlungen eine ganz neue Dimension ethischer Bedeutsamkeit aufgetan hat, die in den Gesichtspunkten und Kanons traditioneller Ethik nicht vorgesehen war.

Die neuartigen Vermögen, die ich im Auge habe, sind natürlich die der modernen Technik. Mein erster Punkt ist demgemäß, zu fragen, in welcher Weise diese Technik die Natur unseres Handelns affiziert, inwiefern sie Handeln in ihrem Zeichen verschieden macht von dem, was es durch alle Zeiten gewesen ist. Da durch all diese Zeiten der Mensch niemals ohne Technik war, zielt meine Frage auf den menschlichen Unterschied moderner von aller früheren Technik.

I. Das Beispiel der Antike

Beginnen wir mit einer alten Stimme über des Menschen Macht und Tun, die in einem archetypischen Sinne selbst schon sozusagen eine technologische Note anschlägt – mit dem berühmten Chorlied aus Sophokles' Antigone.

Ungeheuer ist viel, und nichts

ungeheurer als der Mensch.

Der nämlich, über das graue Meer

im stürmenden Süd fahrt er dahin,

andringend unter rings

umrauschenden Wogen. Die Erde auch,

der Göttlichen höchste, die nimmer vergeht

und nimmer ermüdet, schöpfet er aus

und wühlt, die Pflugschar pressend, Jahr

um Jahr mit Rössern und Mäulern.

Leichtaufmerkender Vögel Schar

umgarnt er und fängt, und des wilden Getiers

Stämme und des Meeres salzige Brut

mit reichgewundenem Netzgespinst –

er, der überaus kundige Mann.

Und wird mit Künsten Herr des Wildes,

des freien schweifenden auf den Höhen,

und zwingt den Nacken unter das Joch,

den dichtbemähnten des Pferdes, und

den immer rüstigen Bergstier.

Die Rede auch und den luft'gen Gedanken und

die Gefühle, auf denen gründet die Stadt,

lehrt er sich selbst, und Zuflucht zu finden vor

unwirtlicher Höhen Glut und des Regens Geschossen.

Allbewandert er, auf kein Künftiges

geht er unbewandert zu. Nur den Tod

ist ihm zu fliehen versagt.

Doch von einst ratlosen Krankheiten

hat er Entrinnen erdacht.

So über Verhoffen begabt mit der Klugheit erfindender Kunst,

geht zum Schlimmen er bald und bald zum Guten hin.

Ehrt des Landes Gesetze er und der Götter beschworenes Recht –

hoch steht dann seine Stadt. Stadtlos ist er, der verwegen das Schändliche tut.

1. Mensch und Natur

Diese beklommene Huldigung an des Menschen beklemmende Macht erzählt von seinem gewaltsamen und gewalttätigen Einbruch in die kosmische Ordnung, von der verwegenen Invasion der verschiedenen Naturbereiche durch seine rastlose Klugheit; aber zugleich auch davon, daß er mit den selbstgelehrten Vermögen der Rede, des Denkens und des sozialen Gefühls ein Haus für sein eigentliches Menschsein erbaut – nämlich das Kunstgebilde der Stadt. Die Vergewaltigung der Natur und die Zivilisierung seiner selbst gehen Hand in Hand. Beide bieten den Elementen Trotz, die eine, indem sie sich in diese vorwagt und ihre Geschöpfe überwältigt, die andere, indem sie in der Zuflucht der Stadt und ihrer Gesetze eine Enklave gegen sie errichtet. Der Mensch ist der Schöpfer seines Lebens als eines menschlichen; er fügt die Umstände seinem Willen und Bedürfen, und außer gegen den Tod ist er niemals ratlos.

Dennoch ist ein verhaltener und sogar ängstlicher Ton in diesem Preislied auf das Wunder des Menschen hörbar und niemand kann es für unbescheidenes Prahlen halten. Was ungesagt, aber für damals selbstverständlich dahinter steht, ist das Wissen, daß aller Größe seiner schrankenlosen Erfindsamkeit ungeachtet der Mensch, gemessen an den Elementen, immer noch klein ist: eben dies macht seine Ausfälle in sie so verwegen und erlaubt es jenen, seinen Vorwitz zu dulden. Alle Freiheiten, die er sich mit den Bewohnern des Landes, des Meeres und der Luft herausnimmt, lassen doch die umgreifende Natur dieser Bereiche unverändert und ihre zeugenden Kräfte unvermindert. Ihnen tut er nicht wirklich weh, wenn er sein kleines Königreich aus ihrem großen herausschneidet. Sie dauern, während seine Unternehmen ihren kurzlebigen Lauf nehmen. So sehr er auch die Erde Jahr um Jahr mit seinem Pfluge plagt – sie ist alterslos und unermüdbar; ihrer ausdauernden Geduld kann und muß er trauen und ihrem Zyklus muß er sich anpassen. Und ebenso alterslos ist das Meer. Kein Raub an seiner Brut kann seine Fruchtbarkeit erschöpfen, kein Durchkreuzen mit Schiffen ihm Schaden tun, kein Abwurf in seine Tiefen es beflecken. Und für wie viele Krankheiten der Mensch auch Heilung finden mag, die Sterblichkeit selbst beugt sich nicht seiner List.

All dies gilt, weil vor unserer Zeit des Menschen Eingriffe in die Natur, so wie er selbst sie sah, wesentlich oberflächlich waren und machtlos, ihr festgesetztes Gleichgewicht zu stören. (Die Rückschau entdeckt, daß die Wahrheit nicht immer so harmlos war.) Auch ist weder im Antigone-Chorlied noch irgendwo sonst eine Andeutung zu finden, daß dies erst ein Anfang sei und daß Größeres an Kunst und Macht noch bevorstehe – daß der Mensch in einer endlosen Laufbahn der Eroberung begriffen sei. Gerade so weit ist er gegangen in der Bändigung der Notwendigkeit, gerade so viel hat er ihr durch seinen Witz abzuringen gelernt für die Menschlichkeit seines Lebens, und nachsinnend darüber überkam ihn ein Schauer über die eigene Verwegenheit.

2. Das Menschenwerk der »Stadt«

Der Raum, den er sich so geschaffen hatte, wurde gefüllt von der Stadt der Menschen – deren Bestimmung es war, zu umschließen, und nicht sich auszudehnen – und hierdurch wurde ein neues Gleichgewicht im größeren Gleichgewicht des Ganzen hergestellt. Alles Wohl oder Übel, zu dem des Menschen erfinderische Kunst ihn ein um das andere Mal treiben mag, ist innerhalb der menschlichen Enklave und berührt nicht die Natur der Dinge.

Die Unverletzlichkeit des Ganzen, dessen Tiefen von des Menschen Zudringlichkeit ungestört bleiben, das heißt die wesentliche Unwandelbarkeit der Natur als der kosmischen Ordnung, war in der Tat der Hintergrund zu allen Unternehmungen des sterblichen Menschen einschließlich seiner Eingriffe in jene Ordnung selbst. Sein Leben spielte sich ab zwischen dem Bleibenden und dem Wechselnden: das Bleibende war die Natur, das Wechselnde seine eigenen Werke. Das größte dieser Werke war die Stadt, und ihr konnte er ein gewisses Maß von Dauer verleihen durch die Gesetze, die er für sie erdachte und zu ehren unternahm. Aber dieser künstlich hergestellten Dauer eignete keine Gewißheit auf lange Sicht. Als ein gefährdetes Kunstwerk kann das Kulturgebilde erschlaffen oder irregehen. Nicht einmal innerhalb seines künstlichen Raumes, bei aller Freiheit, die er der Selbstbestimmung gewährt, kann das Willkürliche jemals die Grundbedingungen des menschlichen Daseins außer Kraft setzen. Ja, gerade die Unbeständigkeit menschlichen Geschicks sichert die Beständigkeit des menschlichen Zustands. Zufall, Glück und Torheit, die großen Ausgleicher in den Angelegenheiten der Menschen, wirken wie eine Art Entropie und lassen alle bestimmten Entwürfe am Ende in die ewige Norm einmünden. Staaten steigen auf und fallen, Herrschaften kommen und gehen, Familien gedeihen und entarten – kein Wechsel ist für die Dauer und am Ende, im gegenseitigen Ausgleichen aller zeitweiligen Abweichungen, ist der Zustand des Menschen, wie er von jeher war. So ist selbst hier, in seinem eigenen Kunstprodukt, der gesellschaftlichen Welt, die Kontrolle des Menschen gering und seine bleibende Natur setzt sich durch.

Immerhin bildete diese Zitadelle seiner eigenen Schöpfung, die klar geschieden war vom Rest der Dinge und seiner Obhut anvertraut, die vollständige und einzige Domäne menschlicher Verantwortlichkeit. Die Natur war kein Gegenstand menschlicher Verantwortung – sie sorgte für sich selbst und, mit entsprechender Überredung und Bedrängung, auch für den Menschen: nicht Ethik, sondern Klugheit und Erfindungsgabe war ihr gegenüber angebracht. Aber in der »Stadt«, das heißt im gesellschaftlichen Kunstgebilde, wo Menschen mit Menschen umgehen, muß Klugheit sich mit Sittlichkeit vermählen, denn diese ist die Seele seines Daseins. In diesem innermenschlichen Rahmen wohnt denn auch alle überlieferte Ethik und ist den hierdurch bedingten Abmaßen des Handelns angepaßt.