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MICHAËL VALENTIN

DIE

TESLA

METHODE

7 Prinzipien, die Ihr
Unternehmen fit für die
Zukunft machen

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Copyright der Originalausgabe 2020:

Copyright der deutschen Ausgabe 2021:

Übersetzung: Petra Pyka

ISBN 978-3-86470-714-8

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Online-Ressourcen zu diesem Buch stehen auf www.koganpage.com/Tesla zur Verfügung.

INHALT

Über den Autor

Dank

Vorwort

Einleitung

01Das dritte industrielle Zeitalter ist vorüber: So weit, so gut

Innovation und industrielle Revolution: Die unvermeidliche Beschleunigung

Das menschliche Gehirn und das Exponentialgesetz

Das Paradigma von der glücklichen Globalisierung

Der Toyotismus – ein Schicksalsmodell

Die Grenzen des Modells

02Das vierte Industriezeitalter: Echte Disruption oder falsche Revolution?

Vier neue Herausforderungen für die Industrie

Zweifler aus guten, aber falschen Gründen

Das vierte Industriezeitalter – verwaist durch mangelnde Disruption in der Organisation

Der Teslismus als potenzielles Organisationsmodell für das vierte Industriezeitalter

03Die sieben Prinzipien des Teslismus

Erstes Prinzip: Hyperproduktion

Zweites Prinzip: Kreuzintegration

Drittes Prinzip: Software-Hybridisierung

Viertes Prinzip: Zugkraft durch Tentakelstruktur

Fünftes Prinzip: Das Narrativ

Sechstes Prinzip: Start-up-Leadership

Siebtes Prinzip: Menschliches und maschinelles Lernen

04Das vierte Industriezeitalter im Aufwind

Die vierte industrielle Revolution ist schon da

Der Teslismus und seine drei konzentrischen Kreise: Das Modell eines Systems

Das 3-Kreise-Modell ist nicht Tesla-spezifisch

05Wie Sie die Tesla-Methode in Ihrer Organisation umsetzen können

Hyperproduktion mit VSM 4.0 diagnostizieren

Diagnose der Kreuzintegration mithilfe einer erweiterten Version der Porter-Kräfte

Software-Hybridisierung mit einer intelligenten Matrix diagnostizieren

Tentakeltraktion durch Geschäftssegmentierung diagnostizieren

Eine maßgeschneiderte Narrativ-Strategie entwickeln

Start-up-Leadership-Systeme und -Verhaltensweisen diagnostizieren

Die Diagnose menschlichen und maschinellen Lernens durch kompetenzzentrierte Beurteilung

Neue Wege finden, Ihr Unternehmen wie ein Start-up zu führen

Eine erweiterte Version Ihrer Industrieorganisation umsetzen

Die Realisierung einer neuen Arbeits- und Lernmethode

Fazit

Anhang

Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

ÜBER DEN AUTOR

Michaël Valentin ist Associate Director bei dem auf Industrietransformation spezialisierten Beratungsunternehmen OPEO. Valentin verfügt über fundierte Erfahrung aus dem Betriebsmanagement im Automobilsektor und als Berater bei McKinsey & Company. Heute unterstützt er kleine bis mittelgroße Unternehmen (KMU) und große Konzerne auf dem Weg in die Industrie der Zukunft. Er genießt nicht nur breite Anerkennung als globaler Experte auf diesem Gebiet, sondern hat auch Bücher wie The Smart Way geschrieben, das verrät, wie die Industrie der Zukunft aus den Fabriken von heute Goldgruben machen kann.

DANK

Dieses Buch ist ein Gemeinschaftsprojekt, das nur durch die bereitwillige Zusammenarbeit einer großen Zahl von Personen, Kollegen, Unternehmenschefs, Beschäftigten und Partnern von Tesla möglich wurde. Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei all jenen, die mir geholfen haben, das Projekt in Angriff zu nehmen und zum Abschluss zu bringen, von der Idee über die Analyse von Betriebsstudien bis hin zur Bearbeitung des Manuskripts.

Mein Dank gilt Charles Bouygues für seine Hilfe und Energie bei der Vereinbarung von Gesprächen im Silicon Valley. Besonderer Dank gebührt Renan Devillières, weil er mir unvergleichliche Einblicke in alle Aspekte der Software-Hybridisierung eröffnete, David Machenaud für seine generelle Unterstützung und Raphaël Haddad für seine Hilfe beim Aufbau des Buches.

Herzlichen Dank auch allen Personen und Unternehmen, die bereit waren, sich darin zu äußern und mir so viel über die fachlichen und menschlichen Gesichtspunkte des Themas nahegebracht haben.

Ich danke auch all jenen aus meinem Umfeld, die indirekt zu diesem Buch beigetragen haben, allen voran Frédéric Sandei, Philippe Grandjacques und Grégory Richa.

Ebenso bedanke ich mich bei Odile Ricour und Adélaïde Lechat für ihre Zuarbeit und bei Bidane Beitia, Laurène Laffargue, Soizic Audouin, Abir Bruneau, Denis Masse, Antoine Toupin, Robin Cellard, David Fernandez, Clément Niessen, Quentin Lallement, Hadi Mahihenni, Anass Khamlichi, Romain Pigé, Jean Baptiste Sieber und Sébastien Desbois für ihre konkrete Hilfestellung bei der Kontaktaufnahme mit Tesla und anderen „Leuchttürmen“ der Industrie der Zukunft.

Vielen Dank auch an Julie El Mokrani Tomassone, Esther Willer und Chloé Sebagh für ihre Unterstützung und Begeisterung beim Lektorat, für alle Verbesserungen und dafür, dass die Kommunikation nie abgerissen ist.

Abschließend möchte ich mich von ganzem Herzen bei Marie-Laure Cahier bedanken, ohne deren Zutun das Buch in dieser Form nicht vorliegen würde, bei Alan Sitkin und Susan Geraghty für ihre Hilfe bei der englischsprachigen Fassung, bei Ro’isin Singh für ihre sorgfältige Überarbeitung früherer Entwürfe und bei meiner Verlegerin Julia Swales für das in mich gesetzte Vertrauen.

VORWORT

Es waren meine jüngsten Beobachtungen zum Zustand der Industrie in den am höchsten entwickelten Ländern, zu ihren Organisationssystemen und dem technischen Fortschritt der vergangenen zehn Jahre sowie zu den aktuellen sozioökonomischen Veränderungen, die mich dazu animiert haben, dieses Buch zu schreiben. Angesichts der zunehmenden Digitalisierung und einer im Niedergang begriffenen Industrie halte ich das Geschäftsmodell und das Betriebs- und Managementsystem des Teslismus für eine mögliche Lösung. Wie und warum ich aber dazu kam, Die Tesla-Methode zu schreiben, erklärt sich meiner Ansicht nach am besten aus meinem persönlichen Kontext.

Nachdem ich 1995 die Schule mit guten Noten abgeschlossen hatte, war ich nicht sicher, was ich studieren sollte. Wäre es nach meiner Familie gegangen, hätte ich unbedingt Arzt oder Notar werden oder in die Politik gehen sollen. Es wäre alles infrage gekommen, nur nicht das produzierende Gewerbe. In einer französischen Kleinstadt schlossen sich gesellschaftlicher Erfolg und Fabrikarbeit schlichtweg aus. Mein Weg in den Industriesektor begann daher erst, als ich auf den Fluren des Gymnasiums, das ich gerade verlassen hatte, eine Freundin traf (ihr Name war Véronique). Mit solchen Noten könne ich unmöglich Medizin studieren, fand sie. Eine Ingenieurwissenschaft schien ihr eher geeignet. Und sie hatte recht. Schließlich hatte ich gleich in mehreren naturwissenschaftlichen Fächern bei den Prüfungen gut abgeschnitten, doch aufgrund meiner kultureller Voreingenommenheit nicht wirklich begriffen, welche akademischen Möglichkeiten sich dadurch boten. Nach ein paar mit Mitabiturienten durchfeierten Nächten begann ich mich nach einem Praktikumsplatz umzusehen. Bauingenieurwesen hatte es mir auf Anhieb angetan: Das schien mir doch eine ganz solide Sache zu sein – kein Wunder, schließlich war dabei ja auch Beton im Spiel.

Als ich es bis zum Vorarbeiter gebracht hatte, rief mich ein Freund an, der an der renommierten technischen Hochschule Ponts et Chaussées studierte. Sein Spezialgebiet war die Produktion, und er träumte davon, irgendwann eine Fabrik zu leiten. Ich ging ebenfalls dorthin, und einen Monat später stand ich in einer Michelin-Fabrik im irischen Ballymena. Dort infizierte ich mich mit dem Industriefieber. Jeden Tag rollen dort über 1.000 Reifen aus den mehr als drei Meter hohen Öfen. Für einen jungen Studenten wie mich war das ein eindrucksvoller Anblick. Nach den Reifen wollte ich wissen, wie Autos produziert werden. Ich war absolut fasziniert davon, wie so ein Metallblech aus dem Walzwerk kommt und sich in wenigen Stunden in eines der komplexesten Systeme verwandelt, die der Mensch je erfunden hat – ein Produkt, von dem weltweit an jedem Tag der Woche über 140.000 Stück erzeugt werden.

Diese Begeisterung führte mich weiter auf meinem Weg in die Industrie. Im Verlauf meiner Ausbildung wurde ich befördert und leitete ein Team von Wartungstechnikern. Da erkannte ich allmählich die Stärke dieses einträglichen Sektors. Viele betrachten die Industrie stereotyp als starr und öde, übersehen dabei aber, wie oft es eigentlich um den Faktor Mensch geht. Mein Team und ich, wir entwickelten uns rasch zu einer versierten schnellen Eingreiftruppe und taten alles, was in unserer Macht stand, um zu verhindern, dass die Fertigungsstraßen stillstanden. Unsere Lösungen setzten stets beim Teamwork an und bei den Herausforderungen, die damit einhergingen: Man musste aufmerksam zuhören, aber dennoch auch unbequeme Entscheidungen treffen können. Manchmal stützten sich diese auf einen Konsens, doch ganz einfach war das nie. Warum? Weil die Fertigung eine komplexe Angelegenheit ist, die viel Mut erfordert. Tentakelartige Logistikketten sind komplex. Produkte, die aus Zigtausenden von Komponenten bestehen – und in ebenso vielen Variationen vorkommen –, sind komplex. Der Betrieb von Organisationen im Zeitalter der glücklichen Globalisierung ist komplex. Und sogar einfache Herstellungsprozesse sind komplex. Doch wiederum gilt: Das Herzstück der Produktion oder Rohstoffverarbeitung sind die Menschen – auch wenn immer ein paar darunter sind, die krampfhaft versuchen, ihr Gesicht zu wahren, indem sie so tun, als hätten sie alles unter Kontrolle.

Natürlich gibt es neben all dieser Komplexität auch noch die schlichte Schönheit eines Umfelds, in dem die Arbeiter an den Maschinen Tag für Tag Hand in Hand mit Technikern, Ingenieuren und Forschern arbeiten. Das ist ein unglaubliches Abenteuer. Jeder Beteiligte hat seinen eigenen sozialen Hintergrund, doch sie alle wirken zusammen, um das System zu optimieren. Das ist sicherlich eine Herausforderung – aber hey, wirklich unglaublich spannend. Ein wahrhaft einzigartiges menschliches Abenteuer.

Als ich in die Beraterbranche wechselte, blieb mir diese Begeisterung unvermindert erhalten und verdrängte bald die Skepsis, mit der ich die Beraterwelt betrachtete. Als Unternehmensberater hatte ich die Möglichkeit, Hunderte von Fabriken zu besuchen, mit verschiedenen Teams zusammenzutreffen und mich in unzählige komplexe und aufregende Fragen zu vertiefen, und zwar in einer Vielzahl von Sektoren: Schwerindustrie, Mechanik, Chemie, Pharmaindustrie, Bioproduktion, Werkzeugmaschinen, Konsumgüter und sogar handwerkliche Unternehmen, die sich im Luxussektor halten konnten, obwohl der Markt von all den neuen Technologien überschwemmt wurde. Ich lernte, dass es so etwas wie „die Industrie“ gar nicht gab, sondern dass sie in Wirklichkeit viele Gesichter hatte.

Damit sind wir schon im Jahr 2008. Damals litt der Fertigungssektor unter schlechter Presse. 30 Jahre lang hatten die Fabriken in Frankreich eine „Fabless“-Strategie verfolgt, und viele betrachteten die Fertigung als eine Aktivität, deren Zeit abgelaufen war. Im Trend lag die Vorstellung, dass Dienstleistungen in den nächsten Jahren die Hauptrolle spielen würden. Die Eliten erkannten dies und richteten ihre Politik auf die Sektoren aus, die ihrer Ansicht nach zukunftsträchtig waren. Frankreich hatte damals einen mächtigen Trumpf im Ärmel. In den 1980er-Jahren lieferten sich die französische und die deutsche Automobilindustrie ein Kopf-an-Kopf-Rennen, bis die deutschen Hersteller eine Hegemonialstellung errangen und Japan oder auch China weltweit ebenfalls ein stärkeres Gewicht erlangten. 2008 waren die Würfel schon gefallen, und alles war anders. Meine früheren Klassenkameraden waren Finanzanalysten, Trader oder Internetspezialisten geworden. Das produzierende Gewerbe nahm kaum einer richtig ernst. Im Fernsehen wurde laufend über Fabrikschließungen berichtet. Im Wahlkampf sprachen die Politiker von „Rettungsplänen“ für die Produktion. Alle waren sich einig: Der Industriesektor war ernsthaft krank und vermutlich nicht zu retten.

Die Krise, die 2008 einsetzte, war für verschiedene Länder ein Weckruf. Nachdem Frankreich fast 30 Jahre lang versucht hatte, seine Produktion ins Ausland auszulagern, musste sich das Land der Frage stellen, wie seine Gesellschaft aussehen sollte. War es wirklich sinnvoll, Geräte, die von Franzosen verwendet wurden, oder Spielzeug für deren Kinder oder die Kleidung, die sie trugen, erst um die halbe Welt zu verschiffen, damit sie in einem französischen Einkaufswagen landen konnten?

Nach und nach etablierte sich ein neues Phänomen. Die Digitalisierung nahm verschiedene Sektoren im Sturm, und bald war nur noch von Big Data, maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz die Rede. Unternehmen, die 15 Jahre zuvor noch nicht existiert hatten, wiesen inzwischen einen Marktwert auf, der 50 Prozent des französischen Bruttoinlandsprodukts entsprach. 2018 stammten die zehn am höchsten bewerteten Unternehmen der Welt aus dem Technologiesektor – acht aus den Vereinigten Staaten und zwei aus China. Natürlich entfielen gleichzeitig nur 25 der global führenden 100 Firmen auf Europa. Der deutsche Riese Siemens, der größte Industriekonzern Europas, hielt sich mit Mühe auf Platz 62 der Liste.

Die Digitalisierung hatte stärkere wirtschaftliche und politische Folgewirkungen, als wir gedacht hatten. Trump, der Brexit, Salvini, die Gelbwestenbewegung – diese Phänomene sind der Ausdruck des auf mehr Souveränität ausgerichteten Volkswillens. Dahinter steckt jedoch ein weitaus stärkeres, strukturbedingtes Phänomen, das nur wenige beim Namen nennen: die Deindustrialisierung der benachteiligteren Regionen der Industrienationen. Ihre Bürger fühlen sich, als habe sie die galoppierende Globalisierung ihrer Freiheit beraubt. Die großen Ballungszentren, die sich lange Zeit als Partner ihrer umliegenden ländlichen Regionen geriert hatten, gingen nun eigene Wege. Globalisierung bedeutete, dass kleine Provinznester mit kostengünstigen Ländern konkurrieren mussten, was zur Schließung von Fabriken, zu Gewinneinbrüchen im Einzelhandel und zu steigender Arbeitslosigkeit führte. 1970 war das Département Vosges, aus dem ich stamme, Frankreichs führendes Industrierevier. 2017 hatte sich das Blatt gewendet. In der Region Île-de-France rund um Paris waren 57 Prozent aller Erwerbstätigen als Angestellte beschäftigt. In Vosges lag diese Zahl nur bei 15 Prozent. Das französische Moseltal war am Ende – wie so viele andere ähnliche Gegenden in Frankreich oder anderen Ländern mit einstmals stolzer Industrietradition. Doch wie können Frankreich oder ähnliche Industrienationen ihr Wirtschaftsmodell erhalten, wenn sich gleichzeitig ein Großteil der Bevölkerung abgehängt fühlt?

Hier setzt Die Tesla-Methode an. Dieses Buch soll zur Wiederbelebung der Industrie beitragen, indem es aufzeigt, wie Elon Musks Unternehmen Tesla Vorbild für die Verjüngung unseres Industriesektors sein kann – und welche Prinzipien diesem notwendigen Wandel zugrunde liegen. Die Tesla-Methode verkörpert eine einzigartige Chance – als Bestandteil dessen, was verschiedene Stimmen als Industrie der Zukunft oder Industrie 4.0 oder auch als intelligente Fertigung bezeichnen.

Worauf das alles hinausläuft? Ganz einfach: Man nimmt zwei Bedrohungen – die zunehmende Digitalisierung und die zerfallende Industrie – und verwandelt sie in eine fantastische Chance.

Die Technologie explodiert förmlich, und es liegt an uns, das zu unserem größtmöglichen Vorteil zu nutzen. In den meisten Industrienationen sind alle Voraussetzungen für den Erfolg gegeben – ganz gleich, ob sie sich wie „Start-up-Nationen“ verhalten oder nicht. Durch die Kreuzung von Industrie mit Technologie – also Software, künstlicher Intelligenz et cetera –, aber auch, indem sie auf die Kompetenzen von Betriebswirten und herausragenden Ingenieuren setzen, können Frankreich und andere Länder ihre Industrie in die nächste Phase – die der Plattformbildung – überführen, da bin ich sicher. Die Anforderungen sind allerdings immens. In Frankreich halten 75 Prozent aller Führungskräfte aus der Industrie einer aktuellen PwC-Umfrage zufolge Industrie 4.0 derzeit für das wichtigste Thema. Doch 80 Prozent wissen noch nicht, wie sie damit umgehen sollen. Ihnen mangelt es an Sachverstand, an Erfahrung und manchmal auch an Vision. Die Fertigung ist in Frankreich für Technologie mehr oder weniger Neuland. Dabei ist sie der Sektor, der in der Vergangenheit von der Wissenschaft am meisten profitiert hat und auf den 80 Prozent der gesamten Forschung und Entwicklung entfallen.

Kompetenzen, bewährte Praktiken, eine Vision – all das lässt sich den vom Tech-Sektor entliehenen Praktiken und Ideen entnehmen, die Tesla und viele andere in diesem Buch beschriebene Unternehmen in ihren Organisationssystemen erfolgreich eingesetzt haben.

Ich glaube, die Tesla-Methode kann der Industrie aus der Bredouille helfen. Sie kann aber noch viel mehr. Durch Wiederbelebung der Industrie in den vielen Ländern, in denen sie zusammenbricht, geben wir unseren Volkswirtschaften und Bruttoinlandsprodukten natürlich die dringend benötigten Impulse – und tragen gleichzeitig zur Lösung ökologischer Probleme bei: durch Verlagerung betrieblicher Aktivitäten ins nahe gelegene Ausland und kürzere Entfernungen. Ganz zu schweigen von den zusätzlichen Vorteilen, die im Abbau gesellschaftlicher Spannungen durch Wiederanbindung bisher vernachlässigter Zonen an die großen Ballungszentren bestehen. Wir können uns ein erneuertes sozioökonomisches System zurückerobern, in dem wir wieder eine Vertrauensbeziehung zwischen den Eliten und den Menschen aufbauen.

Im Rahmen meiner Beratertätigkeit habe ich eine große Zahl von Fabriken besucht und mit vielen Spitzenmanagern gesprochen. Mit meiner Hilfe entwickeln sie Ideen, die das künftige Wachstum ihrer Unternehmen beschleunigen können. Manchmal sind diese Ideen Teil ihres Kerngeschäfts, manchmal greifen sie auf andere Tätigkeitsbereiche über. In beiden Fällen fehlen den Führungskräften meist die Zeit und die Methodik, daran anzuknüpfen. Ich hoffe, Die Tesla-Methode wird dazu beitragen, die Informations- und Prozesslücken zu füllen, vor denen solche Manager stehen, und dabei jedem Leser Einblick in die Industrie von morgen geben.

EINLEITUNG

Seit mehreren Jahren schwappt nun schon eine gewaltige Welle des Wandels über die Welt der Fabriken. Industrielle und digitale Aktivitäten sind nach und nach verschmolzen und haben ein neues Paradigma hervorgebracht, in dem sich Dienstleistungen und Produkte mischen und miteinander verflechten, um den neuen Nachfragemerkmalen des 21. Jahrhunderts Rechnung zu tragen. Unter dem Einfluss von Smartphones und anderen neuen neuronalen Anhängseln hat sich der moderne Verbraucher in einen hypervernetzten User verwandelt, dessen Nachfrage auf der Suche nach mehr Spontaneität, Anwenderfreundlichkeit, Individualität, Zusammenarbeit, Gemeinschaft und Verantwortungsbewusstsein sich immer mehr auf die immaterielle Welt ausrichtet.

Die aus der digitalen Sphäre importierten Ansprüche stellen die Welt der Industrie (und die gesamte Wirtschaft) vor große Herausforderungen. Angefangen hat das alles mit dem beschleunigten technischen Fortschritt, der das erforderliche Kompetenzniveau in allen Industriesektoren hochschraubte. Dann kam das Phänomen der sogenannten Disruption, im Zuge deren neue Akteure erhebliche Marktanteile für sich beanspruchten, indem sie mit Geschäftsmodellen antraten, die so ganz anders waren als alles Bisherige. Das wiederum führte zu einer Hyperkonzentration von Werten, Talenten und Ressourcen, was sich in mehr Chancen für manche Parteien niederschlug, aber – umgekehrt – auch in der Notwendigkeit, in Bezug auf die mit wachsenden gesellschaftlichen, geografischen und ökologischen Spannungen verbundenen Risiken wachsamer denn je zu sein. In technischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht waren die Veränderungen gewaltig, was manche Beobachter veranlasste, eine vierte industrielle Revolution zu postulieren. Es stellt sich jedoch die Frage, warum einem Tätigkeitsbereich so viel Aufmerksamkeit zukam – der Industrie nämlich, der heute lediglich 16 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts zuzurechnen sind, mit stetig fallender Tendenz in den meisten Ländern des Globalen Nordens. Die Antwort: Die fraglichen 16 Prozent wirken sich unverhältnismäßig stark auf die übrige Wirtschaft aus, da die Industrie weltweit für 70 Prozent aller Exporte verantwortlich zeichnet und für 77 Prozent der gesamten Forschung und Entwicklung (Abbildung 0.1). Die führenden Industrieländer der Welt sind sich dieser neuen Herausforderungen bewusst und haben progressiv nationale Strategien entwickelt, die sich auf Investition, Innovation, Aus- und Weiterbildung und die Strukturierung der strategischen Tätigkeitszweige konzentrieren. Deutschland stieß den Prozess 2011 mit seinem Plan „Industrie 4.0“ an, der allenthalben eine explosive Wirkung hatte und andere führende Nationen überzeugte, dass es an der Zeit war, nachzuziehen.

Abbildung 0.1Beitrag der Fertigung zu Export, Innovation, Produktivität und Beschäftigung

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Quelle: OPEO, gestützt auf Daten von McKinsey (2012)

Für Deutschland als führenden Industriestaat Europas steht viel auf dem Spiel. Das Land begrüßt die Umstellung auf die Digitaltechnologie als Möglichkeit, seine Stellung in einem Sektor zu wahren, in dem der Wettbewerb ausgesprochen hart sein kann. Die 2011 auf der Hannover Messe vorgestellten neuen Maßnahmen werden weithin für ihre Zukunftsorientierung gelobt. Die Strategie verfolgte drei Ziele: die Entwicklung eines Angebots an produktionsbezogener Digitaltechnik und entsprechenden Dienstleistungen, die fortlaufende Digitalisierung des Industriesektors und die Ausweitung durch den Einbezug von Smart Services (La Fabrique de l’industrie, 2017). Die Besonderheit dieser transversalen Strategie lag darin, dass sie versuchte, einen Technologiezweig zu schaffen, der in der Lage war, mehrere verschiedene Produktionssysteme untereinander zu verknüpfen.

Dann kamen die Vereinigten Staaten mit ihrem „National Network for Manufacturing Innovation“ von 2013, gefolgt von Japan mit „Connected Industries“, Südkorea mit der „Manufacturing Industry Innovation 3.0 Strategy“, China mit „Made in China 2025“, Frankreich mit „L’Industrie du futur“ und schließlich Ende 2016 Italien mit dem „Calenda“-Plan. Interessanterweise haben die „Industrie der Zukunft“-Programme vieler Länder die gleichen Hebel in Bewegung gesetzt. Die meisten, wenn nicht gar alle, heben darauf ab: 1) ihr eigenes technisches Angebot zu entwickeln, 2) die Kompetenzen der Beschäftigten anzupassen oder auszubauen und 3) die Industrie gleichzeitig zu modernisieren und aufzurüsten (Abbildung 0.2).

Abbildung 0.2Politische Hauptthemen der „Industrie der Zukunft“

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Quelle: La Fabrique de l‘industrie (2016)

Für länderspezifische Eigenheiten liefert Japan ein gutes Ausgangsbeispiel. Das Land führte im März 2017 eine neue Industriestrategie ein, die mit „Connected Industries“ überschrieben ist. Hauptziel war die weitere Digitalisierung der japanischen Industrie. Ausgehend von der Prämisse, dass dem Sektor ein ernsthaftes Kontraktionsrisiko drohte, förderte die Initiative den verbreiteten Einsatz von Daten, um die nationale Produktivität zu steigern. Im Anschluss entschied sich Japan für eine Reihe ehrgeiziger Ziele, darunter die Einrichtung 50 kleiner Fabriken bis spätestens 2020, deren Betrieb sich vor allem auf vernetzte Objekte bezog.

In China setzte Premierminister Li Keqiang mit dem 10-Jahres-Plan „Made in China 2025“ eine ganz ähnliche Dynamik in Gang. Das Land, das aufgrund seiner enormen Produktionsleistung lange als das Fertigungszentrum der Welt galt, plant inzwischen, das Image seiner Industrie zu verbessern und stützt sich dabei auf Forschung und Entwicklung, neue Technologie und eine Reorganisation seines Fertigungssektors. Das ist ein Musterbeispiel für eine Politik, die auf die Modernisierung der Industrie speziell unter dem Aufwertungsaspekt abzielt.

Derselbe Gedanke trieb die südkoreanische Regierung dazu, im Juli 2014 die Initiative „Manufacturing Industry Innovation 3.0 Strategy“ zu starten. Wie Japan will auch Südkorea mehr intelligente Fabriken bauen. Dazu gehört vor allem die Entwicklung der Hightech-Industrie mit entsprechenden Investitionen, um bis dahin unbekannte Produkte ins Land zu holen, unter anderem für die Medizin der Zukunft und für intelligente Bekleidung.

In den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich ist die Motivation etwas anders gelagert. Hier geht der Grundgedanke dahin, nicht die öffentlichen Investitionen in bestehende Unternehmen zu erhöhen, sondern bestimmten Technologien wie dem 3D-Druck gewidmete Forschungszentren aufzubauen. Ein Merkmal dieser gewählten Strategie ist die Zunahme von Partnerschaften zwischen Fabriken und Universitäten. Das ist auch das erklärte Ziel der US-amerikanischen Initiative „National Network for Manufacturing Innovation“ – nämlich die Errichtung eines Netzwerks öffentlich-privater Partnerschaften unter Einbezug von Industrie, Universitäten und staatlichen Stellen, um dafür Sorge zu tragen, dass in diesem Bereich in die gleiche Richtung gedacht wird. Inzwischen gehören dem Netzwerk 14 Parteien an, und es hat einen maßgeblichen Beitrag zur Entwicklung neuer Industrietechnologie im Land geleistet. Das vielsagendste Beispiel ist das 2015 von Barack Obama ins Leben gerufene Digital Manufacturing and Design Innovation Institute (DMDII). Dank der kräftigen Unterstützung, die das Institut vom Verteidigungsministerium erhält, ist es eines der ausgereiftesten Organe auf diesem Gebiet und hat bisher insgesamt knapp 90 Millionen US-Dollar in mehr als 60 Forschungsprojekte zur Digitalisierung der Industrie investiert.

Frankreich bildet in diesem Trend keine Ausnahme, was an der Regenerierung seines Industriesektors in den letzten Jahren abzulesen ist. Ein Indiz dafür ist unter anderem der neue Plan von Premierminister Edouard Philippe mit dem Titel „Territoires d’industrie“, den er am 22. November 2018 dem nationalen Industrieverband vorstellte. Die Initiative ermittelte 124 Bereiche mit hohem industriellen Potenzial, die allesamt vom besonderen Engagement und der individuellen Unterstützung durch den französischen Staat profitieren sollen. Bei Ausgaben in Höhe von 1,36 Milliarden Euro genießen diese Standorte Priorität, wobei die öffentliche Politik vier Bereiche ausgemacht hat, in denen besonderer Bedarf besteht: Anwerbung neuer Mitarbeiter, Einwerbung weiterer Investitionen, weitere Innovation und vereinfachte Verwaltungsverfahren. Die gemäß dieser vier Prioritäten umgesetzten Maßnahmen sollten den Herausforderungen Rechnung tragen, die Teil dieses neuen Umfelds sind. Mit diesem Ansatz liegt der französischen Industriepolitik eine ganz neue Dynamik zugrunde. Das Land ist auf seinem Dezentralisierungskurs in ein neues Stadium eingetreten: Die politische Richtung wird von Regionalbehörden vorgegeben, die in größerer Nähe zu den Akteuren in vorderster Front agieren.

Diese verschiedenen Beispiele für eine öffentliche Politik, die der Entwicklung der Industrie der Zukunft Vorschub leistet, zeigt, dass wir heute im Grunde eine Steigerung des globalen Bewusstseins für die Umstellung auf eine vierte industrielle Revolution erleben. Alle vier Teile der Welt verzeichnen eine verstärkte Digitalisierung. Eine PwC-Studie von 2016 schätzt den weiteren Anstieg für die nächsten fünf Jahre auf 42 Prozent in Nord- und Südamerika, 34 Prozent in Asien und 41 Prozent in Afrika (PwC, 2016).

Doch ungeachtet all dieser Initiativen klafft weiterhin eine Lücke zwischen der Energie, die in der Industrie tätige Akteure des öffentlichen oder privaten Sektors investieren, und den messbaren Ergebnissen ihrer Bemühungen. Laut der aktuellen Studie „Industry 4.0: Global Digital Operation Survey 2018“ sind nur zehn Prozent aller Unternehmen weltweit als Spitzenreiter in Sachen Industrie 4.0 zu erachten. Zwei Drittel haben mit der Digitalisierung noch gar nicht begonnen. Bei den digitalen Champions haben prozentual gesehen Länder aus der Region Asien-Pazifik die Nase vorn, gefolgt von Nord- und Südamerika (elf Prozent). Erst dann kommen Europa, der Nahe Osten und Afrika, wo nur fünf Prozent aller Unternehmen dieser Kategorie zuzurechnen sind (PwC, 2018).

Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive war der Aufschwung beim industriellen Bruttoinlandsprodukt und bei der Beschäftigung minimal. Aus mikroökonomischer Sicht bestehen Zweifel, ob sich die Unternehmen angesichts des heutigen Tempos aller sonstigen Entwicklungen schnell genug verändern. Die PwC-Umfrage unter 1.293 Chief Executive Officers (CEOs) aus 87 Ländern, die 2018 im Auftrag des Weltwirtschaftsforums durchgeführt wurde, ergab: Die Geschwindigkeit des technischen Wandels und die potenziellen Probleme, denen sie beim Zugriff auf die überlebensnotwendigen Kompetenzen gegenüberstehen, bereiten 76 Prozent aller Befragten Sorgen. Ganze 32 Prozent sind überzeugt, dass in ihrem Sektor letztlich ein Umbruch bevorsteht. Das verändert die Diskussionsgrundlagen. Die neue Frage lautet, wie sich die negativen Begleiterscheinungen des Trends vermeiden lassen, wenn die Gesamtbewegung Fahrt aufnimmt. Für den wahrgenommenen Unterschied zwischen dem Tempo des Fortschritts und der Geschwindigkeit, mit der sich Unternehmen darauf einstellen, gibt es mindestens drei Erklärungen.

Erstens widerspricht exponentielles Denken der menschlichen Natur. Die meisten Naturgesetze, die unser tägliches Leben regeln, sind ihrem Wesen nach linear. Unser Gehirn hat sich über Tausende von Jahren bestimmte Denkweisen antrainiert. Schon einem Einzelnen fällt es schwer, das Phänomen des exponentiellen technischen Fortschritts zu begreifen. Ist ein ganzes Unternehmen betroffen, ist die Herausforderung ungleich größer.

Zweitens ist es bisher nur sehr wenigen Unternehmen gelungen, eine Transformationsmethode zu definieren, die es ihnen ermöglicht, aus der alten in die neue Welt überzuwechseln. Dabei sind die meisten bisher erfolgten Veränderungen so grundlegend, dass es unmöglich wäre, eine Reaktion darauf zu improvisieren. Nur in eine Technologie zu investieren reicht nicht aus, um sicherzustellen, dass ein Unternehmen daraus auch Nutzen zieht. Dieses Dilemma lag The Smart Way (Valentin, 2017) zugrunde, das die Geschichte eines Unternehmers erzählt, der seine Firma auf die Industrie der Zukunft einstellen wollte.

Die dritte Erklärung hebt auf das Fehlen eines Zielmodells ab, wodurch Unsicherheit darüber entsteht, welche Strategie gewählt werden sollte – und demzufolge, welches Betriebs- oder Managementsystem (und letztlich, welche Organisation) empfehlenswert ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass all diese Fragen vor dem Hintergrund dreier weiterer Debatten gestellt werden – nämlich darüber, wie in einer Welt, die sich ständig verändert und in der das Konzept von einem Sektor als solches nicht mehr sinnvoll erscheint, Wachstumstreiber erkennbar sind, wie sich Disruption vermeiden lässt und wie man fähige Mitarbeiter anzieht und bindet.

Um die Transformation ihrer Branchen sicherzustellen, brauchen Unternehmen neue Kompetenzen. Nur 27 Prozent aller Arbeitgeber glauben, dass ihre Belegschaft richtig ausgebildet ist, um all diese Veränderungen zu bewältigen. Fähige Mitarbeiter sind daher ein ganz wesentlicher Aspekt der digitalen Transformation. Das erklärt, warum weltweit neue Studiengänge entstehen, die auf diese neuen Bedürfnisse ausgerichtet sind. In den Vereinigten Staaten ist das beispielsweise die „Digital Initiative“ der Harvard University, ein auf digitale Transformation orientiertes Programm, das unter anderem das Studium der Industrien der Zukunft beinhaltet. In Saclay bei Paris hat die Boston Consulting Group ein „Operational Innovation Centre“ eingerichtet – im Grunde eine Version einer Fabrik 4.0, in der Studenten aus erster Hand die Arbeitsrealität erfahren und sich mit konkreten Anwendungen und Fällen vertraut machen können, die den Betrieb digitalisierter Fabriken betreffen. Von solchen Zentren soll es in Frankreich in den nächsten Jahren landesweit noch weitere geben. Sie bilden den Unterbau der neuen industriellen Revolution. Und auch die führenden technischen Hochschulen des Landes wie die Arts et Métiers, Paris Tech oder Centrale Paris bieten inzwischen allesamt Studiengänge für die Industrie der Zukunft.

Im Großen und Ganzen versuchen Länder in aller Welt, Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Unternehmen bei der Umsetzung von Strukturen unterstützen, mit denen sie Innovationen fördern können. Dadurch entsteht allmählich ein ganzes Ökosystem.

Den drei bisherigen industriellen Revolutionen der Wirtschaftsgeschichte lagen jeweils drei Treiber zugrunde: disruptiver technischer Fortschritt, neue gesellschaftliche Bedürfnisse und ein Organisationsmodell, das sich an den neuen Kontext anpasste, um dafür zu sorgen, dass der technische Fortschritt auch zu messbarer wirtschaftlicher Entwicklung führte. Beispielhaft dafür ist der Fordismus als offensichtlicher Bezugspunkt der zweiten industriellen Revolution – wenn auch nur wegen der gewaltigen Produktivitätssteigerungen, die er hervorbrachte. Das Leitmodell der dritten industriellen Revolution war der Toyotismus, der eine beeindruckende Verkürzung der Reaktionszeiten bewirkte. Die vierte industrielle Revolution dagegen hat vorerst noch kein solches „Leuchtturm“-System vorzuweisen. Zweifellos tun sich im Sektor der digitalen „Pure Player“ erwartungsgemäß viele Unternehmen wie die des GAFA-Quartetts (Google, Apple, Facebook und Amazon) hervor, die sich als Zielmodelle anbieten könnten. Doch in den Sektoren Industrie und Fertigung herrscht der Eindruck, dass kein Einzelakteur in seiner Vergleichsgruppe so viel Anerkennung genießt, dass sein System als universeller Treiber des Wandels anzusehen ist. Folglich stellt sich die Frage, welches Modell im vierten Industriezeitalter die Rolle übernimmt, die einst Toyota spielte.

Dieses Buch vertritt die Auffassung, dass die vierte industrielle Revolution fraglos bereits in vollem Gang ist und nur eines der neuen Systeme alle Voraussetzungen erfüllt, um davon uneingeschränkt zu profitieren. Dieses System, das die Umstellung der Industrie vom dritten Industriezeitalter auf einen digital-industriellen Hybridsektor vorantreiben wird, ist dem Gehirn von Elon Musk entsprungen, dem ebenso charismatischen wie umstrittenen Chef von Tesla, San Franciscos berühmtem (und weithin gehyptem) Kultunternehmen. Tesla trägt das Erbgut in sich, das diese neue Welt hervorbringen kann. Das Unternehmen wurde in eine digitale Wiege und Kultur hineingeboren und durch und durch von der kapitalistischen Struktur geprägt, die für Technologie-Start-ups unabdingbar ist. Bei der Marktkapitalisierung kann Tesla bereits mit Ford, Renault und GM mithalten und entwickelt sich stetig zum führenden Hersteller in der symbolträchtigen Automobilbranche – und das in einem Land, in dem diese Branche seit Anfang des 20. Jahrhunderts schon nichts wirklich Neues mehr gesehen hat. Dass das mit dem vierten Industriezeitalter assoziierte Modell von einem neuen Akteur stammen konnte, der in der digitalen Kultur und in der Industriekultur gleichermaßen zu Hause ist, ist allerdings keine Überraschung.

Über diese Beobachtung auf Makroebene hinaus liefert das vorliegende Buch eine detailgenaue Darstellung des Teslismus-Modells – hier interpretiert als Nachfolger des Toyotismus. Ziel ist dabei, zu beleuchten, wie es auf die Herausforderungen des vierten Industriezeitalters reagiert. Sieben Grundprinzipien lassen sich daraufhin abklopfen.

Kein System ist vollkommen – nicht einmal das von Elon Musk entwickelte, das Kritikern diverse Ansatzpunkte bietet. Ganz zu schweigen davon, dass es reduktionistisch wäre, den Teslismus auf Tesla zu beschränken. Das hat sogar Musk selbst über die Rolle gesagt, die sein Unternehmen in der Gesellschaft spielt: dass nämlich Tesla, auch wenn es an und für sich unbedeutend ist, genügend Einfluss ausübt, um die übrigen Autobauer in aller Welt dazu zu animieren, massiv in Elektrofahrzeuge zu investieren (Fabernovel, 2018).

Daher ist es nicht etwa Zweck dieses Buches, für die Marke als solche zu werben. Vielmehr soll es den Leser dazu bringen, aus der Distanz über die mit dem Tesla-Modell assoziierten Grundsätze nachzudenken. Immerhin könnten diese für die Organisationen der Zukunft Orientierungshilfe bieten, indem sie sie für künftige Entwicklungen fit machen. Diese Überlegung liegt der Entscheidung zugrunde, jeden der in diesem Buch erörterten Grundsätze mit Kommentaren aus anderen führenden Industrieunternehmen zu untermauern – allerdings nicht ohne weitere Aspekte anzuführen, über die sich jeder Leser seine eigenen Gedanken machen kann, wenn er das Tesla-Modell an seinen jeweiligen Kontext anpasst.

KAPITEL

1

DAS DRITTE INDUSTRIELLE ZEITALTER IST VORÜBER: SO WEIT, SO GUT

ZUSAMMENFASSUNG

Jede industrielle Revolution zeichnete sich bisher durch eine exponentielle Beschleunigung des technischen Fortschritts aus. Wie schon die Legende von König Balhait veranschaulicht, übersteigt exponentieller Fortschritt den menschlichen Verstand. Das erklärt, warum die aktuellen Veränderungen so beunruhigend wirken können.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war durch eine Globalisierungsphase geprägt, die sich durch die globale Streuung der Lieferketten, die Auslagerung der Produktion ins Ausland und einen Glauben an möglichst große Konzerne auszeichnete – und das alles in einem Kontext, der sich durch die Liberalisierung der Finanzmärkte definierte.

Gegen Ende des dritten Industriezeitalters entwickelte sich der Toyotismus – eine Reaktion auf die veränderten Bedürfnisse von Verbrauchern, Aktionären und Beschäftigten. Inzwischen stößt dieses Modell an seine Grenzen. Neue Imperative wie Anpassungsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit, Individualisierung und sinnvolle Arbeit sind entstanden, getragen vom Aufkommen digitaler Technologien, die in der Lage sind, Geschäftsmodelle, die Wettbewerbslandschaft, Verbrauchergewohnheiten und die Erwartungen der Beschäftigten grundlegend zu verändern. Die Welt der physischen Objekte muss sich auf ein Universum voller Informationen und Datenströme einstellen.

Noch vor nicht allzu langer Zeit war „glückliche Globalisierung“ ein Schlagwort in den Unternehmen. Die Transportmöglichkeiten und -volumina explodierten und es entstanden globalisierte Lieferketten und Produktionsanlagen (bedingt durch territoriale Arbitrage, die ihrerseits durch die Arbeitskosten diktiert wurde). Folglich hatten die Unternehmen in einem von der Liberalisierung des Handels und der Finanzmärkte geprägten Kontext Anreize, zu expandieren, um Skalenvorteile zu erzielen. Der Toyotismus, der später auch als Lean Manufacturing oder schlanke Produktion bezeichnet werden sollte, schien als Organisationsmodell besonders gut in diese Ära zu passen, da er Qualitätssteigerungen, kürzere Produktionszeiten und geringere Lagerbestände ermöglichte, was Unternehmen beim Betriebskapital Erleichterungen verschaffte. Doch von vielen unbemerkt wirkte das digitale Zeitalter bereits destabilisierend auf dieses Modell. Die Betriebsweise etablierter Industrieunternehmen wurde durch eine Fülle von Faktoren infrage gestellt, darunter die wachsende Nachfrage nach Unmittelbarkeit, Transparenz und Sinn, die exponentielle Beschleunigung der technischen Entwicklung (die bewährte Kompetenzplattformen auf den Kopf stellte) und der Auftritt neuer Konkurrenten aus dem digitalen Universum.

Innovation und industrielle Revolution: Die unvermeidliche Beschleunigung

Der Homo erectus erschien erstmals vor einer Million Jahren auf der Bildfläche. Damals richtete sich der Mensch auf und lernte, seine Arme immer geschickter zu benutzen und sich von anderen Tieren zu unterscheiden. 900.000 Jahre später trat der Homo sapiens auf und begann erstmals, Werkstoffe umzuformen, was in der ersten Verwendung von Werkzeugen gipfelte. Wieder 90.000 Jahre später begann die Menschheit, Vieh zu züchten und Ackerbau zu betreiben. Noch 9.000 Jahre später war es die Druckerpresse, die die Kommunikation zwischen den Menschen für immer veränderte (und sogar Brücken zwischen Generationen schlug). Weitere 700 Jahre später erfand James Watt die Dampfmaschine im Zuge einer Entwicklung, die bald als erste industrielle Revolution bezeichnet werden sollte, aber im Grunde den Anfang eines gewissen beschleunigten Fortschritts darstellte, den die Menschen tatsächlich wahrnehmen konnten.

Im Anschluss häuften sich große Durchbrüche in der Wissenschaft so dermaßen, dass nachfolgende Generationen eine Welt erlebten, die sich durch laufende Neuerungen infolge technischer Fortschritte auszeichnete und bewirkte, dass jede neue Generation ganz anders lebte als die ihrer Eltern (oder auch die ihrer Kinder oder Enkel). Der Begriff „Disruption“ bietet sich an, um die folgenden drei maßgeblichen Zeitalter zu beschreiben, die alle durch eine bestimmte Entwicklung charakterisiert wurden. Diese ging über einfache technische Veränderungen hinaus und brachte ganz neue Arbeitsmethoden und eine systematische Reaktion auf bestimmte, in der Gesellschaft entstehende, neue wirtschaftliche und soziale Bedürfnisse hervor. Bei der ersten industriellen Revolution vollzog sich diese Entwicklung im späten 18. Jahrhundert. Damals ging es vor allem darum, die Nachfrage nach Infrastruktur zu befriedigen, also Gebäude zu errichten und den Personen- und Güterverkehr auszubauen. Die Dampfmaschine sollte eine Mechanisierung von Aufgaben ermöglichen, die wiederum zu neuen Arbeitsmethoden führte. Menschen lernten, mit Maschinen zu arbeiten – mit allen sozialen Konsequenzen, die das mit sich brachte.

Die nächste Station der fortschreitenden industriellen Entwicklung war die zweite industrielle Revolution, die etwa 100 Jahre später einsetzte. Aus wissenschaftlicher Sicht war der Auslöser dafür die Entdeckung der Elektrizität. Doch auch diesmal gingen die Konsequenzen weit über die eigentliche Erfindung hinaus. Der elektrische Strom machte es möglich, den Fabrikbetrieb ganz anders aufzuziehen. An die Stelle einer Konfiguration mit einer großen zentralen Dampfmaschine traten viele kleine autonome strombetriebene Maschinen, die über die gesamte Anlage verteilt waren. Daraus entstand das Prinzip der Fließbandproduktion, was wiederum gewaltige Produktivitätssteigerungen brachte, die es ermöglichten, die ab Anfang des 20. Jahrhunderts explodierende Massennachfrage zu befriedigen. Gesellschaftlich ging diese Revolution mit einem neuen kollektiven Konzept einher, das von Charlie Chaplins berühmtem Film Moderne Zeiten verkörpert wurde – die „Fließbandarbeit“, wie es allgemein bezeichnet wurde. Das waren im Grunde die Anfänge des Fordismus, eines auf den Grundsätzen eines Ingenieurs namens Taylor beruhenden Organisationsmodells, das es durch Spezialisierung ermöglichen sollte, die Effizienz der Arbeit um den Faktor 10 zu erhöhen.

60 Jahre später vollzog sich eine weitaus hintergründigere Revolution. Im Zuge neuerlicher und verstärkter Globalisierung ebneten die ersten Computer den Weg für die Robotik und die Automatisierung. Das Problem dieser letztgenannten Innovation, die enorme Rechenleistung erforderte: Die Kapazität des menschlichen Gehirns, das auf wiederkehrende Aufgaben ausgelegt ist, stieß bald an ihre Grenzen. An diesem Punkt kommt unweigerlich das Moore’sche Gesetz ins Spiel, so benannt nach dem berühmten Intel-Ingenieur, der den Mikroprozessor erfand und vorhersagte, dass sich die Speicherkapazität alle 18 Monate verdoppeln würde. Zum ersten Mal erkannten die Menschen, dass der Fortschritt mit dieser neuen industriellen Revolution exponentiell werden könnte. Dennoch war Moore mit seinen Prognosen noch vergleichsweise konservativ. 50 Jahre später gilt sein „Verdoppelungsgesetz“ nach wie vor und liegt dem fortgesetzten Wachstum von Speicherkapazität und Rechenleistung zugrunde. Ein näherer Blick auf die Geschwindigkeit, mit der die verschiedenen menschlichen Innovationen aufeinanderfolgen, offenbart starke Parallelen zu einem exponentiellen Gesetz – Homo erectus: vor 1 Million Jahren, Homo sapiens: vor 100.000 Jahren, Ackerbau: vor 10.000 Jahren, Buchdruck: vor 600 Jahren, Dampfmaschinen: vor 300 Jahren, Elektrizität: vor 100 Jahren, Computer: vor 40 Jahren … und heute das Smartphone (Abbildung 1.1)!

Abbildung 1.1Die Menschheit und der technische Fortschritt

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Quelle: OPEO

Das menschliche Gehirn und das Exponentialgesetz

Der Mensch ist an ein lineares Leben gewöhnt. So entwickelt sich das Leben, und so lernt unser Gehirn – in kleinen Schritten, Tag für Tag. Wie schwer es dem Menschen fällt, sich das Exponentialgesetz vorzustellen, geht sehr treffend aus der alten indischen Legende vom König Balhait hervor.

Eines Tages langweilte sich Balhait und beschloss, einen Wettbewerb auszurufen: Demjenigen, dem eine gute Zerstreuung einfiel, wurde eine märchenhafte Belohnung in Aussicht gestellt. Ein weiser Mann namens Sissa nahm die Herausforderung mit einem boshaften Hintergedanken an. Er erfand zu diesem Zweck (der Legende nach) das Schachspiel und präsentierte es dem König. Dieser war so begeistert, dass er Sissa für dieses außergewöhnliche Geschenk alles versprach, was sein Herz begehrte. Sissa bat seinen Herrscher daraufhin, ihm ein Reiskorn auf das erste Feld des Schachbretts zu legen, zwei auf das zweite, vier auf das dritte und so weiter. Die Zahl der Reiskörner sollte von einem Feld zum nächsten bis hin zum allerletzten verdoppelt werden. Als die Berater des Königs versuchten, diesen Wunsch zu erfüllen, merkten sie bald, dass es im ganzen Königreich nicht genug Reis gab, um auch nur die Hälfte des Schachbretts abzuarbeiten. Der König begriff, dass ihn Sissa hinters Licht geführt hatte, und verurteilte den Mann zum Tode. Sissa war quasi einer der ersten, der den Kollateralschäden des Exponentialgesetzes zum Opfer fiel, das wir bis heute nicht richtig begreifen können.