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Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

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© 2020 Verlag Das Wunderhorn GmbH

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eISBN 978-3-88423-629-1

Ich bin ein japanischer Schriftsteller

Dany Laferrière

Aus dem Französischen
übersetzt von Beate Thill.

„Der wahren Poesie

Uranfänge – das sind die Pflanzerlieder

Eurer Hinterlande!“

BASHÔ1

Für alle, die gerne

jemand anderes wären.

1Bashô: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, übersetzt u. annotiert von G. S. Dombrady, Mainz (Dieterich), 2016, S. 99.

Inhalt

Der Schnellste

Beim Fischhändler

Ein Lachs in Panik

Asien im Taschenformat

Immer auf den Beinen

Mit Bashô in der Metro

Der Kuss im Café Sarajewo

Der Japaner vor dem Eiffelturm

Björk, das Voodoo-Püppchen

Naive Maler

Objekte

Die Clique von Midori

Ein vergifteter Kuss

Eikos langer Rücken

Überkreuz

Die Maschine Mensch

Die Niederlage des Schwarzen

Ein Sonntag in der Provinz

In der Badewanne

Der kleine Tod

Der letzte Sprung

A song for Midori

French Kiss

Eine Partie Pingpong

Mögen Sie Sushi?

Sind Sie Schriftsteller?

Ein Manga-Tod

Plato und der Hauswart

Hidekos Geheimnis

Der Park

Der Trojanische Krieg

Spaghetti vor dem Fernseher

Der Polizeiknüppel

Die Zeit der Mimosen

Die Wetterfee

Herrn Tanizakis Problem

Amerikanisierung/Japanisierung

Noch ein Zoom

Ein kaltes Auge

Weiche Haut

Kamikaze

Ein Verleger in Stockholm

Der Kannibale kehrt heim

Verwandlungen

Eine schöne Aussicht auf den Strom

Chronik einer Enteignung

Der magische Moment

Bist du eine Nutte, Haruki?

Das Hotelzimmer

Der Tätowierte

Cowboystiefel

Hinter geschlossenen Lidern

Ein vergessenes Geheimnis

Die Gier nach Gold

Ich bin nicht Borges und Herr Tanizaki ist nicht der Richtige

Landschaft

Die letzte Reise

Der Schnellste

Ich war ausgegangen, um frischen Lachs zu kaufen, in der Zwischenzeit hatte mein Verleger angerufen. Er wollte wissen, wie weit ich mit diesem verflixten Buch bin. Reden wir lieber von dem Lachs. Früher habe ich ihn nicht vertragen. Wenn ich Lachs aß, erbrach ich ihn zehn Minuten später wieder. Das letzte Mal ist es mir bei einer Freundin passiert. Ich verfehlte die Kloschüssel, putzte ihr Badezimmer und wusch mein Gesicht, bevor ich wieder ins Wohnzimmer ging. Da schwor ich mir endgültig, nie mehr Lachs zu essen. Na schön, dies ist nicht mein erstes gebrochenes Versprechen. Versprechen, die ich mir selbst gebe, verpflichten mich zu nichts – außer vielleicht, dieses Buch zu schreiben. Die Stimme des Verlegers auf Band klang ziemlich sauer, trotz aller Wärme, die er hineinlegen wollte. Ich kann ihn sogar verstehen. Er hatte keine Gewalt anwenden müssen, um mich zu diesem Buch zu überreden. Ich hatte sofort heftig genickt, als er sagte, ich müsste unbedingt ein neues Buch schreiben. Das Wort „neu“ ängstigt mich immer ein wenig. Warum muss es ein neues sein? Es dürfte sich in der Zwischenzeit herumgesprochen haben, dass es nichts Neues mehr gibt. Aber man hält daran fest. Der Kunde will immer etwas Neues. Ich werde diese Debatte nicht wieder aufnehmen, mein Verleger kennt sie zur Genüge. Wir diskutieren jedes Mal darüber, wenn wir uns treffen. Das findet in seinem winzigen Büro statt (eines Tages wird man ihn unter seinen bunt angestrichenen Manuskripten und roten Schmökern herausziehen müssen), manchmal auch in einem Café um die Ecke. Er ist ein großgewachsener junger Mann mit weltverträumten Augen und einem entwaffnenden Lächeln. Ab und zu fährt er sich mit beiden Händen durch die Haare, wie um die Wolken zu vertreiben, die darin hängen. Wir hatten das Café noch nicht erreicht, da hatte ich schon den Titel. Im Titeln bin ich gut. Kurt Vonnegut jr. hat angeblich zu seiner Frau über mich gesagt, und sie hat es mir erzählt (jetzt rede ich wie ein Journalist), ich sei der schnellste „Titler“ von Amerika. Der Schnellste im Titeln, einverstanden, aber ich wüsste gerne, in welchem Zusammenhang er das gesagt hat. Vonnegut redete immer zusammenhanglos, das war überhaupt seine Spezialität. Aber wer braucht schon einen Zusammenhang, um bei einem Essen der Beste zu sein? Billy the Kid: der Schnellste im Schießen. Da fehlt nichts, der Satz ist vollständig und steht für sich. Doch bleibt der Ton. Hat er es in ironischem Ton gesagt? Seine Frau schwieg sich darüber aus. Vielleicht meinte er, ich wäre nur gut im Titeln, so dass man nicht weiterlesen muss. Immer noch besser als ein schlechter Titel, bei dem man nicht weiterlesen will. Unvorstellbar viele gute Bücher werden wegen eines schlechten Titels zu Ladenhütern. Die wenigen Kommentare zu meinen Büchern, die ich in Buchhandlungen höre, beziehen sich zu 90 % auf den Titel. Die Leser fragen mich oft, wie mir so ein Titel einfallen konnte. Ich kann es nicht sagen. Ich sitze eine Weile und plötzlich ist er da. Es hat keine zehn Sekunden gedauert, aber er ist fix und fertig. Als hätte er an der Ecke auf mich gewartet. Suchst du einen Titel? Ihnen kann man auch nichts verheimlichen. Er springt mir an die Gurgel und gleich darauf steht er fett auf dem weißen Blatt. Ich sollte ihn lange betrachten, in alle Richtungen drehen und wenden. Jedes Wort, was sage ich, jede Silbe, jeder Buchstabe muss am richtigen Platz sein. Unabhängig davon, was für ein Buch es werden soll, die paar Wörter müssen es vertreten. Es sind die Wörter, die man am häufigsten sieht. Für die übrigen muss man das Buch aufschlagen, doch sie hat man immer vor Augen. Sie enthalten alle Wörter des Buchs. Nicht nötig, den Roman von García Márquez nochmal zu lesen, es reicht, Hundert Jahre Einsamkeit zu sagen, oder Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Proust (muss man Proust überhaupt noch erwähnen? Kennt nicht jeder den Titel?) und alle Bilder aus dem Buch ziehen vor unseren staunenden Augen vorbei, wie ein erleuchteter Vorhang, der uns von der unerfreulichen Wirklichkeit trennt. Sogleich kommt jene Zeit (die Tage im Café, die Nächte unter der Lampe) aus den Falten unseres Gedächtnisses wieder herauf, und in ihrem Gefolge die vielen neuen Eindrücke bei der Lektüre. Ein guter Titel, was für ein großartiges Passwort! Wenn man einen Titel vorschlägt, der einem gefällt, tut man das am besten mit Vorsicht. Gewöhnlich will der Verleger etwas über den Inhalt wissen. Worum geht es? Heute werden solche idiotischen Fragen tatsächlich noch gestellt. Bei meinem Verleger ist das anders. Er lehnt sich, weiterhin lächelnd, ein wenig an seinem Schreibtisch zurück. Ich nutze die Gelegenheit, mir ein paar Titel in der Umgebung anzuschauen. Nichts Gutes dabei. Also werfe ich ihm den meinigen lässig über den Manuskripteberg hinweg zu. Was? Ich bin ein japanischer Schriftsteller. Kurze Stille. Breites Lächeln. Gekauft! Wir unterschreiben den Vertrag: 10 000 Euro für fünf kleine Wörter. In meiner Begeisterung erzähle ich dem Verleger die Geschichte mit Vonnegut jr. Wir planen schon eine Banderole „Der Schnellste im Titeln“. Aus Scham lassen wir es gleich wieder fallen. Das ist in Europa das Problem: Man fürchtet nichts so sehr wie die Lächerlichkeit. Aber nicht die Lächerlichkeit wird uns töten, sondern die Angst vor ihr. Wir haben die Banderole auch weggelassen, weil das französische Wort titreur für „im Titeln“ leicht missverständlich ist. Die meisten Leser würden wahrscheinlich tireur, „im Schießen“ lesen (schlecht, wenn man sich hier im Deutschen verliest) oder noch schlimmer, tueur „im Töten“. Eigentlich waren wir nur zu feige. Aber zurück zum Titel. Mein Verleger hat ihn in die Hand genommen wie ein Feuerzeug im Rauchverbot. Er hat ihn in alle Richtungen gedreht und gewendet. Mein Titel war immer gleich stark. Plötzlich schrieb er ihn auf das Tischtuch. Im Grunde ziemlich banal – bis auf das Wort „japanisch“. In meinem Fall nicht einmal ein Scherz, denn ich halte mich wirklich für einen japanischen Schriftsteller.

Beim Fischhändler

Ist der Titel gefunden, hat man das Schwerste hinter sich. Aber man muss immer noch das Buch schreiben. Darum kommt man nicht herum. Ich schwimme noch zwischen dem Titel und dem Buch. Befinde mich noch im Ungewissen. Jetzt kommt es darauf an, den Weg, der vor mir liegt, genau zu berechnen. Nicht zu schnell ins Innere des Themas vorzudringen. Du drehst und wendest die Bilder, die du in dem Buch sehen willst, in deinem Kopf hin und her. Du möchtest vor allem, dass sie dir ins Fleisch übergehen, sich mit deinem Blut vermischen, damit du mit Lust schreiben kannst, ohne viel nachzudenken. Es ist nicht leicht, einen Gedanken in eine Emotion zu verwandeln. Man ist ungeduldig, dabei vollzieht sich diese Wandlung nur langsam. Die Zeit kennt deine Ungeduld nicht. Daraus folgt eine diffuse Panik, die dich überallhin begleitet, sogar ins Fischgeschäft. Das Problem ist, du weißt nicht, wovon sich das Monster ernährt. Du gehst spazieren. Du setzt dich auf eine Parkbank und schaust zu, wie die Wolken ziehen. Du kuckst amüsiert einem kleinen Mädchen zu, das mit seinem Hund spielt. Du betrachtest den Himmel mit seinem tief hängenden Bauch voll schwerer schwarzer Gewitterwolken. Du ertappst dich dabei, selbst deinen Bauch öffnen zu wollen, um nachzuschauen, ob sich das Tier von Ängsten oder von Bildern ernährt. Du sitzt benommen da. Offen. Alles kann hereinkommen. Eine kurze Erholung. Du atmest die frische Luft. Du staunst über ein einfaches trockenes Blatt, das gerade vom Baum gefallen ist. Die Zeit davor erscheint dir prallgefüllt mit Sorglosigkeit. Mieses Wetter heute Morgen. Du schaust die Leute an, ohne sie zu sehen. Du hörst zu, ohne zu verstehen. Du bist anderswo, weißt nur nicht wo. Du nimmst jedes Detail viel zu wichtig. Wenn alles mit diesem Detail anfinge? Du ziehst eine Nummer und stellst dich im Fischgeschäft in die Schlange. Seit einer Weile hörst du nicht mehr, was man dir sagt, beobachtest aber die Leute genau, die nicht mit dir reden. Du bereitest dich darauf vor, alle anderen zu werden.

Der Fischhändler, ein Grieche, berührte mich am Oberarm, während er mir, in braunem Papier gut verschnürt, den Lachs reicht.

„Schreiben Sie gerade ein zweites Buch?“

Ich habe vierzehn Bücher geschrieben, aber er ist beim ersten stehen geblieben. Seit zwanzig Jahren stellt er mir die gleiche Frage. Die Antwort interessierte ihn nicht. Er war schon beim nächsten Kunden. Nur um seine Reaktion zu prüfen, warf ich ihm beim Hinausgehen zu:

„Ich bin ein japanischer Schriftsteller.“

Jetzt schaute er mich wieder an.

„Was heißt das? Haben Sie die Nationalität gewechselt?“

„Nein, das ist der Titel meines neuen Buchs.“

Er warf seinem Gehilfen einen leicht verunsicherten Blick zu, der junge Mann war damit beschäftigt, die verkaufte Ware zu verpacken. Mein Fischhändler schaut den, mit dem er spricht, nie direkt an.

„Dürfen Sie das überhaupt?“

„Das Buch schreiben?“

„Nein, behaupten, Sie seien Japaner.“

„Das weiß ich nicht.“

„Haben Sie denn die Absicht, Ihre Nationalität zu wechseln?“

„Auf keinen Fall. Das habe ich einmal gemacht, das reicht …“

„Sie sollten sich informieren.“

„Wo?“

„Ich weiß nicht, bei der japanischen Botschaft. Oder können Sie sich vorstellen, dass ich eines Morgens aufstehe und meinen Kunden sage, ich sei über Nacht ein polnischer Metzger geworden?“

„Wohl eher ein polnischer Fischhändler, da Sie doch in der Fischbranche sind.“

„Schon gar kein polnischer Fischhändler“, sagte er, während er sich dem nächsten Kunden zuwendete.

Einem Typen, der zu allem seine Meinung abgibt, gelingt es am Ende immer, dir einen Floh ins Ohr zu setzen. Ich werde dennoch meinen Verleger anrufen und ihn fragen. Es dürfte kein Problem geben.

Ein Lachs in Panik

Ich bereite den Lachs auf eine spezielle Art zu. Das hat mit dem Lachs nichts zu tun, das Problem bin ich. Ich gebe sehr wenig Wasser in einen Topf, mit etwas Zitronensaft, dünnen Zwiebelscheiben, frischem Knoblauch, Salz, Pfeffer, Chili und einer dicken roten Tomate, die ich später zerdrücke, damit nur der Saft bleibt. Das alles lasse ich nicht länger als drei Minuten kochen. Dann drehe ich die Flamme fast ganz runter und lege den Lachs vorsichtig in seiner ganzen Länge in die Sauce. Normalerweise würde ich die Küche verlassen und etwa zwanzig Minuten später zurückkommen, um den Reis und das Gemüse zuzubereiten. Aber jetzt bleibe ich wie angewachsen stehen und schaue zu, wie der Lachs bibbert. Und ohne jeden Grund mache ich mir Sorgen. Worüber? Über alles. Warum? Ich kann es nicht sagen. Man darf meine Fragen nicht zu ernst nehmen. Ich stelle andauernd Fragen und gebe die Antworten selbst, um zu vergessen, dass ich alleine bin. Sonst schweige ich. Fürchterlich, was man alles machen muss, nur um sich am Leben zu halten. Im Moment überrollt mich die Unruhe in solchen Wellen, dass ich darin ertrinken könnte. Schwitzend vor Angst. Ich beginne mir Sorgen um meine Mutter dort drüben zu machen. Ihre Stimme hat mir gar nicht gefallen, als wir das letzte Mal miteinander telefoniert haben. Eine kleine, brüchige Stimme. Ich weiß, meine Mutter hat nie eine kräftige Stimme besessen, aber diesmal hat sie besorgniserregend geklungen. Das ist schon gut einen Monat her, aber erst jetzt kommt die Wirkung. Ich hatte viel zu tun, das stimmt. Womit? Ich weiß es nicht mehr. Im Moment habe ich nichts anderes vor, als zuzusehen, wie mein Lachs köchelt. Eines betrübt mich besonders: Sie hätte es so gerne gehabt, wenn ich einen anderen, sicheren Beruf gewählt hätte. Und jetzt, mit über fünfzig, weiß ich noch nicht einmal, welche Sorte Schriftsteller ich bin. Daran hatte ich auch noch nicht gedacht: Wie werden sie es dort drüben aufnehmen, dass ich ein japanischer Schriftsteller geworden bin? Ich sehe zu, wie der Lachs langsam fest wird. Am Ende übertrage ich ihm immer meine Panik. Und dann muss ich wieder einen panickenden Lachs essen. Ich weiß nicht einmal, was mir Angst bereitet, ob es der Plan ist, ein neues Buch zu schreiben oder ein japanischer Schriftsteller zu werden. Daher die Grundsatzfrage: Was ist ein japanischer Schriftsteller? Ist es einer, der in Japan lebt und schreibt? Oder einer, der in Japan geboren ist und trotzdem schreibt (es gibt Völker, die sind glücklich, ohne die Schrift zu kennen)? Oder jemand, der nicht in Japan geboren ist, die Sprache nicht kennt, und plötzlich ein japanischer Schriftsteller werden will? Wie in meinem Fall? Ich muss es mir einfach einbläuen: Ich bin ein japanischer Schriftsteller. Sonst bin ich dieser nackte Schriftsteller, der sich, nur mit einem Küchenmesser bewaffnet, in den Dschungel der Sätze wagt.

Asien im Taschenformat

Ich kenne niemanden aus Asien. Ich würde mit jedem Mädchen mitgehen, das Asie heißt, denn es klingt wie Seide. Bei Asien denke ich auch an eine blanke Waffe. Der Hals, schnell durchtrennt, eine Kette aus roten Blutstropfen. Wenn der Tod so rasch eintritt, ist das beruhigend. Ich denke an den asiatischen Kontinent wie ein Entdecker aus dem 19. Jahrhundert. Ich sitze in meinem Zimmer und stelle mir alles nur vor. Aber ich kenne diesen Typen, der immer im Square Saint-Louis herumhängt. Ich weiß nicht, wo er herkommt. Asien ist so riesig. Weiß er selbst es denn noch? Wenn einer so lange nicht in sein Land zurückgekehrt ist, verliert die Herkunft ihre Bedeutung. Was nützt es, wenn du aus einem Land bist, aber nicht einmal mehr dessen Sprache sprichst?

„Du bist nicht zufällig Japaner?“

„Korea. Ich bin Koreaner.“

„Japan, Korea, ist das nicht das Gleiche?“

Er wirft mir einen wütenden Blick zu.

„Dabei hatte ich immer den Eindruck“, bemerke ich, „dass ihr was gemeinsam habt.“

„Was denn?“

„Asien.“

Ich liebe einfach dieses Wort. Der Kontinent, der Amerika am nächsten liegt. Der eine ist zu alt, der andere zu neu. Beide beginnen mit dem Buchstaben A.

Ich hatte einen Menschen aus Fleisch und Blut vor mir, aber ich kümmerte mich nur um Bezeichnungen. Das ist meine europäische Seite.

„Was willst du eigentlich?“

„Ich möchte eine japanische Erfahrung machen …“

Der Koreaner war nicht sicher, ob ich scherze. Ich blieb ernst: Für mich ist einfach alles ernst und nichts ist es wirklich. So nehme ich das Leben. Nicht einmal bei mir selbst kann ich unterscheiden, was wahr und was falsch ist. Ich mache dazwischen keinen Unterschied mehr. Im Grunde langweilen mich diese Geschichten um Authentizität zu Tode. Echt. Wenn man in meiner Anwesenheit von Herkunft spricht, bleibt mir buchstäblich die Luft weg. Man wird an einem Ort geboren, danach wählt man aus, wo man herkommt. Plötzlich schien der Typ zu verstehen, was ich suche.

„Kamasutra.“

„Das ist Indien.“

„Ich weiß, aber alle Welt denkt, es sei japanisch.“

„Ich bin nicht alle Welt.“

„Was willst du also?“

„Wissen, wie es dort ist … Die Gerüche, die Farben, die Berührungen …“

„Ich kenne einen jungen Transvestiten.“

„Ein Mädchen wäre besser.“

„Chinesische Zwillinge?“

„Von China war nicht die Rede.“

„Ist alles Asien, haben Sie selbst gerade gesagt.“

„Es hat nichts mit Geographie zu tun … Für mich ist Japan männlich und China weiblich. Ich kann China ficken, aber Japan kriegt mich dran.“

„Du denkst, du kannst China ficken! … Warum nicht Korea?“

„Japan wirkt moderner.“

„Arbeiter mit einer Kamera.“

„Kennst du wirklich niemanden aus Tokio?“

„Wenn ich was finde, geb ich dir Bescheid.“

„Kann ich dir eine Frage stellen? Wie lange warst du nicht mehr in Korea?“

Es ist die Frage, die Raum und Zeit verbindet.

„Ich weiß es nicht … Ich habe meinen Pass verloren.“

„Und wo bewahrst du dein Land auf?“

„Hier, in meiner Tasche.“

Seine Augen hatten ein seltsames Leuchten. Ich ging hinüber zu dem kleinen Buchladen am Platz, ich hatte ein Buch bestellt (Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland von Bashô). Da hörte ich eilige Schritte hinter mir. Ich drehte mich um. Der Koreaner.

„He, ich hab Durst! Deinetwegen hab ich so viel geredet.“

„Na und?“

„Nur Geld für ein Bier.“

„Du hast mir aber nichts gegeben.“

„Was wolltest du denn?“

„Asien. Genauer gesagt Japan.“

Eine Weile tanzte er vor mir herum. Manche Leute denken mit dem ganzen Körper nach. Die Lust auf ein Bier tat ihr übriges.

„Ach ja … Sie ist Sängerin.“

„Genau, was ich brauche.“

„Ich garantiere für nichts … Ich kann dir nur sagen, wo sie sich aufhält. Das kostet zwanzig Dollar.“

Ich gab ihm das Geld, ohne Widerrede.

„Café Sarajewo.“

„Wie heißt sie?“

„Midori.“

Ein Ort und ein Name, das genügt mir, um einen Roman zu beginnen.

Immer auf den Beinen

Es herrscht ein ständiger Krieg zwischen Zeit und Raum. Der polizeiliche Raum legt dich fest („He du da, woher kommst du?“). Die kannibalische Zeit frisst dich bei lebendigem Leib. Da ich in der Karibik geboren bin, werde ich automatisch zu einem karibischen Schriftsteller. Die Buchhandlung, die Bibliothek und die Universität haben mich sehr rasch so etikettiert. Aber Schriftsteller und aus der Karibik zu sein, macht aus mir nicht unbedingt einen karibischen Schriftsteller. Warum bringen die Leute immer alles durcheinander? Tatsächlich fühle ich mich nicht karibischer als Proust, der sein Leben im Bett verbracht hat. Ich bin als Kind immer gerannt. Seitdem habe ich diese fließende Zeit in mir. Jede Nacht träume ich von den tropischen Gewittern, die im Hof meiner Kindheit die schweren süßen Mangos von den Bäumen fallen ließen. Der Friedhof im Regen. Die Libelle mit den durchsichtigen Flügeln, die ich an einem Aprilmorgen zum ersten Mal sah. Die Malaria, die mein ganzes Dorf dezimierte und auch meine erste Liebe hinraffte, die mit dem gelben Kleid. Ich lag jeden Abend fiebernd im Bett und las Mishima unter der Bettdecke. Keiner war da, um mir zu sagen, wer Mishima ist. Ich weiß nicht mehr, wem die Bücher gehörten, die noch in gutem Zustand waren. Wie kamen sie in diesen verschlafenen kleinen Ort? Welche meiner fünf Tanten hatte eine Zeit lang für Yukio geschwärmt? War er der Lieblingsautor von einem der jungen Verehrer, die ins Haus kamen? Man weiß oft nicht, wie ein Schriftsteller in eine Familie gelangt. Ich las ihn, um aus dem Gefängnis der Wirklichkeit auszubrechen. Aber ich suchte nicht Zuflucht bei Mishima – für mich war die Literatur nie eine Zuflucht. Ich vermute, Mishima schrieb auch nicht, um zu Hause zu bleiben. Wir trafen uns anderswo, an einem Ort, der weder ganz bei ihm noch ganz bei mir war. Im Raum des Imaginären und des Begehrens. Jetzt werde ich fünfunddreißig Jahre später wieder eingeholt von dieser Glut der Adoleszenz. Wenn die Zeit im Kreis läuft und die Erde sich um die Sonne dreht, brauche ich nur den richtigen Moment abzuwarten, dann zieht meine Mishimaperiode an mir vorbei. Aber wir wollen festhalten, ich war nie total eingenommen von Mishima. Als Jugendlicher hatte ich eines Tages tief unten in dem alten Schrank einen seiner Romane zusammen mit einer Flasche Rum entdeckt. Zuerst läuft es mir hinunter wie Feuer. Danach schlage ich das Buch (Der Seemann, der die See verriet) auf und ein Schwarm überhitzter Vokale und Konsonanten springt mir ins Gesicht. Sie hatten schon eine ganze Weile auf Besuch gewartet. In solchen Fällen ist man nicht wählerisch. Man schaut nicht so genau hin. Das Buch von Mishima hat sich nicht gesagt: „Sieh da, ein guter alter japanischer Leser.“ Und ich habe nicht den verständnisinnigen Blick, bekannte Farben oder ähnliche Empfindungen gesucht. Ich bin in die Welt, die mir geboten wurde, eingetaucht, wie so häufig in den kleinen Bach in der Nähe unseres Hauses. Ich achtete kaum auf den Namen des Autors und erst viel später erfuhr ich, dass er Japaner war. Damals glaubte ich fest daran, dass die Schriftsteller zu einer geächteten Rasse gehörten, die ihr ganzes Leben auf der Welt umherirrte und in allen Sprachen ihre Geschichten erzählte. Offenbar wurden sie so für ein namenloses Verbrechen bestraft. Hugo und Tolstoi waren Zwangsarbeiter. Ich hatte keine andere Erklärung dafür, dass jemand diese dicken Romane schrieb, die ich nachts heimlich verschlang. Ich stellte sie mir vor, wie sie mit Ketten an den Füßen neben einem riesigen, in den Fels gehauenen Tintenfass saßen. Daher scheute ich später immer davor zurück, dicke Wälzer zu schreiben. Ich möchte den Kindern keine Angst einjagen. Doch ich muss darüber staunen, wie wichtig die Herkunft eines Schriftstellers genommen wird. Für mich war Mishima ein Nachbar. Damals gemeindete ich, ohne weiter nachzudenken, alle Schriftsteller ein, die ich las. Wirklich alle. Flaubert, Goethe, Whitman, Shakespeare, Lope de Vega, Cervantes, Kipling, Senghor, Césaire, Roumain, Amado, Diderot, alle wohnten im gleichen Dorf wie ich. Wie kamen sie sonst in mein Zimmer? Als ich viele Jahre später selbst Schriftsteller war und gefragt wurde: „Sind Sie ein haitianischer, karibischer oder frankophoner Schriftsteller?“, antwortete ich, dass ich immer die Nationalität des Lesers annehme. Das heißt, wenn ein Japaner mich liest, werde ich unversehens zu einem japanischen Schriftsteller.

Mit Bashô in der Metro

Ich betrat die Metrostation mit dem Buch von Bashô (Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland in der französischen Übersetzung von Nicolas Bouvier). Ich hatte Bouvier vor einigen Jahren in Toronto getroffen. Wir tranken zusammen einen Kaffee. So voller Leben und zugleich erschöpft, den Koffer am Tischbein. Kurzer Dialog zwischen zwei Flughäfen – er musste nach New York. Wir unterhielten uns weiter über die aztekische Bourgeoisie, dass sie schlecht bezahlte Arbeiter mindestens zwölf Stunden täglich an Monumenten schuften ließ, die heute von Gras überwachsen sind. Da kam das Taxi. Ich betrachtete sein fast dunkelhäutiges, schweißbedecktes Gesicht im Profil. Schon wieder in seine Notizen vertieft. Der Wagen fuhr im leichten Regen davon. Die Jahre sind vergangen. Seine Legende ist über das vernünftige Maß hinausgewachsen. Eine kleine Gemeinde hat aus ihm einen Heiligen gemacht. Und jetzt kehrt er als Bashôs Übersetzer zurück. Von Bashô hatte ich bisher ein paar kürzere Stücke, aber noch nie einen ganzen Text gelesen. Der Dichter erzählt von seiner Wanderreise in den Norden Japans. Ich las ihn in der Metro. Ich verfolgte die Ereignisse auf Bashôs Suche nach der Grenzbarriere von Shirakawa, in einer fahrenden Metro in Montreal. Alles war in Bewegung. Außer der Zeit, sie blieb stehen. Zu sehr mit all den Verschachtelungen der Zeit und Überschneidungen des Raums beschäftigt, interessierte ich mich nicht für meine direkte Umgebung. Außer für das Mädchen, das mir gegenübersaß und mich ohne zu lächeln ansah. Lang und dünn. Schwarze Augen – ein Pinselstrich. Sie hieß sicher Isa. Sobald jemand in mein Blickfeld gerät, wird er zu einer fiktiven Person. Keine Grenze zwischen Literatur und Leben. Ich versenkte mich wieder in das Buch. Bashô bereitet seine letzte Reise sorgfältig vor. Er hält sein beengendes Alltagsleben nicht mehr aus. Und die Zeit vergeht so schnell. „Tage und Monate verweilen nur kurz als Laufgäste ewiger Zeiten“, murmelt ohne Bitterkeit der Dichtervagabund. Er muss sich wieder auf die Reise begeben, sich dem Zickzackweg des Zufalls überlassen: „Die Gottheiten der Verführung winkten mir zu, so dass mir keine Arbeit mehr von der Hand ging.“2 Er verzichtet auf alles, sogar auf das Notwendige. Er behält nur einen dicken Mantel aus Papier „gegen die Nachtkälte“, ein Cape aus Stroh gegen den Regen und einen Yakata aus Baumwolle. Da er Schriftsteller ist, steckt er noch die Schreibmappe mit Pinsel und Tusche in seinen Sack. Selbst das Unverzichtbare ist zu schwer. Man braucht nur sich selbst, wenn möglich nackt. Ich hatte die Gedichte von Bashô auf einer Zeitung entdeckt, in die Reis eingewickelt war. Seither suche ich überall nach seinen Spuren. Wenn ich eine Buchhandlung betrete, schaue ich zuerst nach, ob es etwas von oder über Bashô gibt. Dieser Mann hat ein echtes Gespür für die Emotion. Er ist dickköpfig. Nichts zwang ihn dazu, in seinem Alter noch eine solche Reise zu unternehmen, aber keiner konnte ihn zurückhalten, als er entschieden hatte, fortzugehen. Sora begleitet ihn, um ihm die täglichen Verrichtungen abzunehmen. In der Morgendämmerung brechen die beiden auf. Wir begegnen ihnen in der Ebene von Nasu3 wieder. Der Regen zwingt sie, in einer Strohhütte zu schlafen. Bashô scheint in bester Form zu sein. Sein Element ist die Bewegung. Er bewegt sich gleichzeitig mit der Landschaft.