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Edel Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

 

Copyright © 2020 Edel Germany GmbH,

Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edelbooks.com

 

Projektkoordination: Dr. Marten Brandt

Lektorat: Dr. Marten Brandt

Coverfoto: Sebastian Fuchs

Fotos im Innenteil: © Christoph Rickels privat

Layout und Satz: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Covergestaltung: 2do Marketing Services GmbH, Hamburg

ePub-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

 

eISBN 978-3-8419-0728-8

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORTvon Jan von Frenckell

 

PROLOG

KAPITEL 1Dinis

KAPITEL 2Friedeburg

KAPITEL 3Koma

KAPITEL 4Neuanfang

KAPITEL 5First-Togetherness

KAPITEL 6Vor Gericht

KAPITEL 7Moritz

KAPITEL 8Rampensau

KAPITEL 9Kai G.

KAPITEL 10Schicksalsschlag

 

SCHLUSSWORTvon Christoph Rickels

DANKSAGUNG

LINKTIPPS

VORWORT

Dinge können zerbrechen. Leben auch.

Manchmal geht das ganz langsam, schleichend, still, so wie bei einer alten Vase. Erst ein kleiner, feiner Fadenriss, der sich langsam, vielleicht über Jahre, vom Boden bis zur Kante frisst. So einen Riss kann man kleben, bevor die Vase zerspringt.

Manchmal kann das Leben aber auch von einer Sekunde zur nächsten komplett in sich zusammenstürzen, zersplittern. Wie eine Vase, die aus der Hand fällt und in Hunderte einzelne Teile zerfällt.

Eine Vase ist dann nicht mehr zu retten, ein Leben ebenso wenig.

Dachte ich jedenfalls – bis ich Christoph kennenlernte.

Anfangs war Christoph ein kleiner Zeitungsausriss. Einer von vielen, wenn wir mit dem Team der TV-Zeitschrift auf einen Blick die „Helden des Alltags“ suchen. In knorriger Sprache wurde da von einem jungen Mann berichtet, der sich – selbst Opfer einer Gewalttat – gegen Gewalt einsetzt. Nüchtern berichtet, wie die Bekanntmachung einer Ortsgemeinde.

Aber was für ein unfassbares Schicksal verbarg sich hinter diesen sieben Zeilen. Irgendwann sah ich das Video der Tat. Die letzten Schritte, die Christoph als der junge Mann ging, der er einmal war. So ein junger Kerl eben, der sich vielleicht selbst ein bisschen zu toll fand und der vielleicht nach den Sternen griff, ohne zu merken, dass es Seifenblasen waren.

Da geht er also aus der Disco, steht in einer Ecke und dann macht es rumms. Das Video hat keinen Ton, aber diesen Rumms kann man fühlen, bis ins Mark.

Ein Schlag, ein zerstörtes Leben. Eine einfache Gleichung.

Danach ist nichts mehr, wie es war. Von einer Sekunde auf die andere. Aus dem vor Kraft strotzenden jungen Mann, der zur Bundeswehr wollte, wird ein Häufchen Mensch, das vor der Disco liegt, sein Blut tropft und fließt, leider nicht nur nach außen. Sein Atmen klingt wie das Röcheln eines Sterbenden. Es ist das Röcheln eines Sterbenden.

Irgendwie gelingt es den Ärzten dann doch, ihn zu stabilisieren. Nach vier Monaten im Koma wacht Christoph auf und wird noch einmal geboren. Er kann fast nichts mehr, muss lernen zu sprechen, zu essen, zu laufen. Er ist jetzt einer von denen, über die er sich ganz vielleicht früher und im Geheimen sogar lustig gemacht hätte. Behindert. Zu 80 Prozent. Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, aber sie ist es nicht. Es ist der Anfang.

Denn dieser neue Christoph beschließt irgendwann, das zu tun, was er schon immer gut konnte. Für seine Träume zu kämpfen. Und sein größter Traum ist ganz simpel: Keine Gewalt, mehr Respekt. Ein besseres Miteinander. Was für ein schöner Traum, an dem schon so viele kluge Geister grandios gescheitert sind.

Aber Christoph hat einen Vorteil: Er hat das Leben auf seiner Seite. Wenn er sich heute vor eine Schulklasse stellt oder vor Gewalttätern im Gefängnis spricht, dann ist es dieser eine Satz, der ihn unangreifbar macht: „Leute, schaut mich an, und dann seht ihr, wie ein einziger Schlag ein Leben kaputt machen kann.“

Seit unserer Auszeichnung für Christoph bei der „Helden“-Gala 2015 ist aus der ersten Bekanntschaft eine Freundschaft entstanden, die mich bereits an einigen Punkten in meinem Leben daran erinnert hat, was wirklich wichtig ist: zu träumen. Denn jeder Schritt und jede Veränderung, einfach alles Gute im Leben beginnt mit einem Traum.

Christoph hat ganz viele davon. Und ist und bleibt mein Super-Held!

Jan von Frenckell, Chefredakteur auf einen Blick und Initiator der „Helden des Alltags“

PROLOG

Woran denkst Du gerade, Christoph Rickels?

Was geht Dir durch den Kopf, welche Erinnerungen graben sich durch Dein schwer geschädigtes Gehirn?

Bist Du wieder in dieser Disco und fühlst das Adrenalin durch Deinen Körper rauschen?

Hörst Du Dich reden? Spürst Du, wie Deine Zunge, Deine Lippen, Dein Kehlkopf, Deine Muskeln, Knorpeln, Sehnen, genau das tun, was Du von ihnen verlangst?

Wie Du aufstehst und sich Deine Beine bewegen, exakt, kontrolliert, Dein Organismus ein einziges Schweizer Uhrwerk?

Und wie Du dann, 20 Jahre alt und kerngesund, direkt auf die Katastrophe zusteuerst?

19. Februar 2020. In Raum 3014 des Amtsgerichts Hannover soll heute die Frage geklärt werden, wer schuld daran ist, dass der 22-jährige Tischler-Azubi Aleksei Kreis seit 18 Monaten im Wachkoma liegt.

Christoph holt mich am Hannoveraner Hauptbahnhof ab. Am Vortag war er auf einer Veranstaltung in der Stadt. Rechts und links fliegen die Menschen an ihm vorbei, eilen zum Anschluss Richtung Süden, hetzen zum Termin Richtung Norden. Große Menschen, kleine Menschen, dicke, dünne, schöne, weniger schöne, Versehrte und Unversehrte. Mittendrin Christoph, ruhig, konzentriert, angespannt. Er ist hier, weil er einen Auftrag hat. Das, was gleich in Raum 3014 verhandelt wird, ähnelt auf geradezu frappierende Art und Weise seiner eigenen Geschichte. Eine Geschichte, in der Gewalt (mal wieder) ein Leben zerstört.

Du warst so stolz auf Deinen Körper. Auf Deinen durchtrainierten Body, geschmeidig, muskulös, voll funktionstüchtig. Ein Foto von damals zeigt einen jungen Gockel mit blondierten Haaren und sonnenstudiogebräunter Haut oben ohne, der lasziv seinen Oberkörper verbiegt, die Arme über dem Kopf verschränkt, damit der Bizeps auch zur Geltung kommt. Flacher Bauch, leicht verklärter Blick, der ganze Typ, gerade volljährig, triefend vor Testosteron.

Der selbstverliebte Poser auf dem Foto, das bist Du. Und auch wieder nicht. Nie im Leben hättest Du damals gedacht, dass es einmal anders werden würde.

Warten im Amtsgericht. Auf den Fall Kreis. Und auf Christophs Kumpel Ricardo Savia, einen früheren Personenschützer, der heute sein Geld mit Selbstverteidigung verdient. Zu dritt passieren wir die Eingangskontrolle. Christoph hat vergessen, dass sich in seiner Jacke noch seine Tierabwehrpistole befindet. Doch Ricardo kennt den Sicherheitsmann, Selbstverteidigungsbuddys unter sich, die Sache mit der Knarre ist schnell geklärt.

Ein paar Amtsgerichtgänge und -türen weiter wartet Raum 3014 auf das nächste menschliche Schicksal, das hier im Sinne der deutschen Rechtsstaatlichkeit behandelt werden soll. Auf dem Flur eine interessante Menschenansammlung. Im Verhandlungssaal stellt sich dann heraus, wer hier welche Rolle besetzt: Ein Redakteur von der Bild-Zeitung, jovial, umtriebig. Daneben sein etwas stämmiger Kollege von RTL, einem Sender, der schon mehrfach über Christoph berichtet hat und dabei nie vergaß, die passende Klaviermusik unter die Nahaufnahme zu legen. Drei Anwälte. Zwei Schöffen. Eine Oberstaatsanwältin. Die beiden Angeklagten. Freunde der Angeklagten. Die Richterin. Und schließlich die Eltern von Aleksei Kreis, dem jungen Mann im Wachkoma, der vielleicht nie erleben wird, wie es wohl ist, alt zu werden. Ein Blick in das Gesicht seiner Mutter reicht, um das ganze Elend dieser Geschichte zu verstehen.

Weißt Du noch, wie Deine Mutter damals an Deinem Bett saß und Dir immer wieder Deinen Song vorspielte, in der Hoffnung, dass die Melodie Dich aus dem Wachkoma befreien würde?

Wie Du beatmet wurdest, weil Du selbst nicht mehr atmen konntest?

Wie Du ernährt wurdest, weil Du Dich selbst nicht mehr ernähren konntest?

Wie die Ärzte versuchten, Deinen Eltern so schonend wie möglich mitzuteilen, dass auch Du vielleicht nie wieder aufwachen würdest?

Ich kann es in Deinen Augen sehen, wie Dich all die bruchstückhaften Erinnerungen überrollen. Erinnerungen an den Christoph vor dieser verhängnisvollen Nacht in der Disco. Den Christoph danach. Die Tat. Den Täter. Die Krankenhäuser. Die Wut, den Hass, die Schamgefühle. Freunde, die zu Fremden wurden. Das große Drama Deines Lebens. Hier, in diesem nüchternen 70-Quadratmeter-Raum, mit den beigen Tischen, den schwarzen Stühlen, den hohen Fenstern und dem Flachbildschirm an der Wand hinter der Richterin, kommt das alles wieder in Dir hoch.

Auf der Anklagebank sitzen zwei junge Männer, gerade 20 Jahre alt, beide in Russland geboren. Der etwas ältere, ein kräftig gebauter Kerl mit breiten Schultern, blondem Bürstenhaarschnitt und etwas zu engem weißen Hemd, ist der Onkel des jüngeren, der sich dazu entschieden hat, lediglich über seinen Anwalt – einem temperamentvoll argumentierenden Mittvierziger mit starkem russischen Akzent – zu kommunizieren.

Die Verhandlung beginnt.

Wir erfahren: Am 2. September 2018 wurde das Opfer Aleksei Kreis vor der Hannoveraner Disco Infinity von mehreren Fausthieben getroffen und schlug anschließend so heftig mit dem Schädel auf den Asphalt auf, dass er sich dabei schwere Hirnschäden zuzog. Die Oberstaatsanwältin zählt die Folgen auf: „Siechtum, Lähmung, geistige Störung. Ohne Aussicht auf Besserung.“

Jetzt erzählt der kräftige Bürstenhaarschnitt seine Version des Abends. Man habe einen Geburtstag begossen. Nur feiern wollen. Das Opfer habe böse rüber geschaut, sei aggressiv geworden. Also sei man vor die Tür gegangen. Und dann sei es Kreis gewesen, der den ersten Schlag gelandet habe.

„Und dann kam der Schlag ihres Neffen?“, fragt die Oberstaatsanwältin.

„Ja. Ist sofort bewusstlos geworden und zu Boden gefallen. Wie ein Baum.“

Wie ein Baum, notiert die Gerichtsschreiberin.

„Wenn mein Mandant gewusst hätte, was an diesem Abend passiert“, erklärt der Verteidiger des Neffen, „wäre er nie in die Disco gegangen. Es tut ihm sehr, sehr leid.“

In den nächsten Stunden werden verschiedene Zeugen vorgeladen, verschiedene Versionen erzählt. Alles dreht sich um die Frage, wer damals wen provozierte und wer zuerst wen angegriffen hat. Für die Eltern des Opfers muss dieser juristische Eiertanz eine Qual sein.

Christoph ist die ganze Zeit hoch konzentriert. Er fragt sich, während man sich mühsam an der Schuldfrage abarbeitet, was in diesem Fall das Beste für alle Beteiligten wäre.

Wie oft hat er sich diese Frage wohl schon selbst gestellt? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage hat er bis heute nicht.

Kurz vor der Mittagspause ruft die Richterin einen jungen Mann in den Zeugenstand, einen Freund des Opfers. Er berichtet. Erinnert sich. Korrigiert sich. Und sagt dazwischen einen Satz, der so wahr ist und gleichzeitig so naiv, dass er all den Irrsinn, der heute verhandelt wird, all die Scheiße, die seinen Kumpel ins Koma beförderte und auch Christoph Rickels zum Krüppel machte, so prägnant zusammenfasst, wie es kein Richter oder Psychologe dieser Welt besser könnte:

„So ist das halt in der Jugend: Da schlägt man sich eben mal.“

Christoph nickt. Frau Kreis weint.

Kapitel 1

DINIS

Der letzte Abend Deines Lebens beginnt bei Dirk. Vorglühen für den Abschied. Abschied von Friedeburg, wo es zwar Ortsteile mit Namen „Amerika“ und „Russland“ gibt, aber die große weite Welt doch ganz woanders liegt. Abschied von einem Leben, das für Dich so begrenzt wirkt wie der nahe Knyphauser Wald.

Deshalb willst Du nach Süddeutschland, um dort als Feldjäger bei der Bundeswehr anzufangen. Warum? Weil Du einen Job machen willst, bei dem Du was zu sagen hast. Und weil man für den gehobenen Dienst bei der Polizei mindestens Fachabi braucht und sie Dich als Berufsfachschüler nicht nehmen wollten.

Feldjäger Rickels säuft Wodka-Energy, um auf Touren zu kommen. Heute ist der 28. September 2007, Du bist 20 Jahre jung, der Abend hat nur auf Dich gewartet – und dann ist da noch Lisa.

Lisa ist so heiß. Tolle Figur, volle Lippen, noch volleres Haar. Genau Dein Typ. Dumm nur, dass sie einen Freund hat. Kai, ein Handballer. Noch dümmer, dass Dir das scheißegal ist. Schon seit Wochen schreibst Du ihr über ICQ. Du hast erfolgreich verdrängt, dass Lisa Dir eigentlich schon gesagt hat, dass ihr nur Freunde sein könnt, weil sie Kai nicht verlassen will. Aber so leicht lässt Du Dich nicht abwimmeln.

Letzte Woche kam es in eurer Stammdisco Twister zu einer merkwürdigen Begegnung. Du warst da, Lisa war da, Kai war da. Vor der Toilette hat er Dich angesprochen: „Würdest Du mit Lisa zusammenkommen wollen, wenn die das auch will?“ Blöde Frage. „Ja, das würde ich“, hast Du geantwortet. Und dann habt ihr weitergefeiert, jeder für sich. Friedlich.

Du willst seine Freundin haben, unbedingt. Willst mit Lisa roten Korn trinken. Mit ihr über die Tanzfläche fliegen. Zu „Hips Don’t Lie“ knutschend in der Ecke stehen. Wäre das nicht ein angemessener Abgang für den selbsternannten Obermacker aus Friedeburg?

Red Bull und Wodka fangen an zu wirken. Eigentlich wolltet ihr wieder ins Twister. Aber Lisa ist heute im Dinis, 20 Kilometer weiter westlich. Also auf nach Aurich. Janina ist noch nüchtern, Janina hat ein Auto, Janina kann fahren. Aus dem Radio knallt Musik. Die L34 legt den roten Teppich aus. Rickels, das wird Deine Nacht.

Auf dem Parkplatz vorm Dinis lässt der Bass Deinen Körper vibrieren. Die Türsteher winken euch lässig durch. Du bezahlst, gibt’s Deine Jacke ab, spürst die Hitze der Party. Rotwangige norddeutsche Kleinstadtgesichter. Das Klirren der Gläser. Enge Jeans, hohe Schuhe, zu viel Make-up, der Geruch von Fruchtsekt und Axe Moschus.

Obermacker von Friedeburg: Kurz vor der Tat lässt Christoph noch neue Poser-Fotos fürs Privatarchiv schießen. Sie zeigen einen jungen Mann, der vor lauter Testosteron gar mehr weiß, wohin mit sich.

Da vorne steht sie, am Tresen. Und wenn Du jetzt noch Gewalt über Deinen Körper hättest, würdest Du auch mal woanders hinschauen, als auf ihren perfekt geformten Hintern. Aber Dein Gehirn hat die Kontrolle längst verloren. Also gehst Du zu ihr. Bestellst euch was zu trinken. Machst einen Gag. Genießt ihr Lachen. Und wie auf ihrem Nacken das Licht vom Laser tanzt. Noch einen Drink!

Während ihr so dasteht, kommt einer Deiner Freunde zu Dir. Er will Dich warnen: „Hey, pass auf, ich hab’ den Kai gesehen. Der läuft hier rum und beobachtet euch.“ „Na, dann soll er doch“, rufst Du zurück, „wenn er was will, dann kann er ja kommen.“

Gedächtnisprotokoll von Kai G. vom 29. September 2007

„Am Abend des Vorfalls habe ich mit meinem Bekannten Simon die Discothek Dinis in Aurich besucht. Christoph Rickels war auch vor Ort. Ich sah ihn bereits von Weitem, habe mir darüber aber keine weiteren Gedanken gemacht. Meine damalige Freundin Lisa war ebenfalls in der Diskothek. Im Laufe des Abends habe ich die beiden, als ich von der Toilette wiederkam, an der Theke sitzen sehen. Ich bin daraufhin zu beiden gegangen, habe sie umarmt und gesagt, dass ich ihnen noch einen schönen Abend wünsche und jetzt losgehen würde. Diese Situation war mir zu viel.“

Was ist dann passiert, Rickels? Wer hat was zu wem gesagt? Hast Du den gehörnten Handballer beleidigt? Hat er Dich beleidigt? Hat er Dich aufgefordert, die Sache vor der Tür zu klären? Und warum, zum Teufel, bist Du nicht einfach sitzen geblieben?

Es ist 1:50 Uhr, als Du aufstehst, um Kai nach draußen zu folgen.

Der schmale Flur in den Eingangsbereich mit der Rolltreppe ist der letzte Gang Deines alten Lebens. Der Typ ist auf 180, aber Du bist kalt wie Eis. Obermacker aus Friedeburg. Kai G. wird später zu Protokoll geben, dass Du ihn auf dem Weg nach draußen beschimpfst. Auf den Bildern der Überwachungskamera sieht man, dass Du offenbar ganz ruhig und entspannt die Disco verlässt. In der nächsten Einstellung kommst Du gerade ins Bild gelaufen, als sich Kai G. zu Dir umdreht. Er will und kann nicht warten, bis ihr beide vor der Tür seid. Blitzartig springt er auf Dich zu.

Sein erster Schlag trifft Dich exakt um 1:51 Uhr.

Der menschliche Körper hat 22 Schädelknochen, 15 davon im Gesicht. Kai G.s Faust, von Eifersucht und Wut beschleunigt, trifft Dich am Kinn, lässt Deine Kieferhöhle brechen und macht Dich bewusstlos. Die Wucht reißt Deinen Körper um 180 Grad herum, ungebremst schlägst Du frontal mit dem Gesicht auf dem harten Fliesenboden auf, sechs weitere Knochen brechen. Blut schießt aus Deiner Nase – und noch viel schlimmer: in Deinen Schädel. Innerhalb von Millisekunden reißen in Deinem Kopf verschiedene Blutgefäße, Hirnwasser tritt aus. Im Schädel gibt es nur sehr wenig Raum für austretende Flüssigkeiten, weshalb Dein Gehirn jetzt anschwillt und eingeklemmt wird. Weil Deine Schädelknochen so heftig gegen Deine Hirnmasse geknallt sind, kommt es zu weiteren Hirnblutungen, die ein schweres Schädel-Hirn-Trauma auslösen.

Kai G. hat keine Ahnung von zerbrochenen Kieferhöhlen und Gehirnquetschungen. Er will Dir bloß die Fresse polieren. Reflexartig verpasst er Dir noch einen weiteren Schlag. Dann haut er ab und lässt Dich liegen. Den jungen Mann, der bis eben noch Christoph Rickels war.

Zeugenvernehmung des Kai S. vom 18. Oktober 2007

„Ich bin Angestellter der Diskothek Dinis und versah an diesem Abend Aufsicht. Nach der Schlägerei eilte ich sofort zu der liegenden Person. Die lag nach wie vor regungslos am Boden und war nicht ansprechbar. Ich sprach sie an und habe den Puls gefühlt. Bei der Begutachtung stellte ich fest, dass sie heftig am Kopf blutete. Sofort eilte ich in den Diskothekenbereich hinein, um einen Lappen zu holen, damit diese Person etwas gereinigt werden konnte und nicht weiterhin im Blut liegen musste. Des Weiteren habe ich an der Kasse Bescheid gegeben, dass ein Krankenwagen gerufen werden soll. Ich entfernte die Person an einen etwas unauffälligeren Ort und legte sie dort ab. Ich verblieb dort bis zum Eintreffen der Polizei und des Rettungsdienstes.

Auf Nachfrage kann ich noch angeben, dass vor der Tür ein Mädchen stand, welches mir vom Sehen bekannt ist. Dieses sagte immer wieder: ‚Das tut mir leid.‘ Von anderen Schaulustigen brachte ich in Erfahrung, dass dieses Mädchen die Freundin des Schlägers ist.“

Da liegst Du nun, Rickels, kaputt geschlagen auf den Fliesen vor einer Provinzdiskothek, während Dir ein Türsteher Blut aus dem Gesicht wischt. Unverwundbar hast Du Dich gefühlt, als Du heute Abend die Tür zum Dinis aufgestoßen hast. Und doch liegst Du jetzt hier, die Augen halb geöffnet wie ein Betrunkener, der seinen Rausch im Graben ausschläft. Wenn man ganz genau hinhört, kann man Dich sogar schnarchen hören. Aber Du schnarchst nicht. Du röchelst. Wer kann schon ahnen, dass bereits in diesem Moment die ersten Zellen in Deinem Gehirn für immer den Geist aufgeben? Schließlich bist Du schon ein paarmal K. o. gegangen und jedes Mal wieder aufgewacht. Als die Sanitäter kommen, Dich auf eine Trage schnallen und in den Bauch ihres Krankenwagens schieben, schreibt einer Deiner Jungs eine SMS an den Rest Deiner Clique: „Rickels hat aufs Maul bekommen. Ist bewusstlos umgefallen. Fahren jetzt ins Krankenhaus.“

„Typisch Christoph“, schreibt einer zurück, „der ist morgen wieder fit!“

Mit Blaulicht fahren sie Dich in die nahe Ubbo-Emmius-Klinik.

Es ist drei Uhr morgens, als bei Deiner Mutter Gesa das Telefon klingelt.

„Frau Rickels, ihr Sohn ist eine Schlägerei geraten und liegt im Krankenhaus.“

Die erste Reaktion Deiner Mutter: Nicht schon wieder. Erst vor ein paar Monaten bist Du entgegen der klugen Ratschläge Deiner Kumpels mit einem Hollandrad durch eine Halfpipe gefahren. Das Rad kam danach auf die Müllkippe, Du ins Krankenhaus. Gesa muss morgen wieder früh raus, und jetzt soll sie wegen einem blauen Auge mitten in der Nacht nach Aurich fahren?

Wie sehr hat sich Deine Mama in all den Jahren danach gewünscht, dass es wirklich nur ein blaues Auge gewesen wäre. Stattdessen steht sie fassungslos vor Deinem Bett auf der Intensivstation und muss erfahren, dass Du mit einem schweren Polytrauma im Koma liegst. Wie schlimm ist es? Wann wird er wieder aufwachen? Was passiert denn jetzt? Niemand kann Deiner Mutter zu diesem Zeitpunkt genaue Auskunft geben.

Im Wartezimmer ist sie ganz alleine mit ihrer Panik, während Du auf Station 14 schon wieder in die nächste Auseinandersetzung geraten bist. Rickels, wer hat jetzt die dickeren Eier? Du oder der Tod?

Deine Eltern sind schon lange getrennt, aber natürlich ruft Gesa nun Helmut an. Doch Dein Papa hat was getrunken und vermutlich übersteigt es seine Vorstellungskraft, dass Dir wirklich etwas so Schreckliches zugestoßen sein könnte. Draußen hat es zu regnen begonnen, der ewige ostfriesische Wind peitscht das Wasser gegen die Scheiben. Und was in diesen Sekunden von entscheidender Bedeutung ist: Er verhindert, dass der Rettungshubschrauber starten kann, um Dich in die Neurochirurgie des Meppener Ludmillenstifts zu fliegen.

Wenigstens bekommt Deine Mama jetzt Unterstützung. Helmut ist doch noch aufgetaucht, sein Schwager hat ihn gefahren. Weinend stürzt sich Deine Mutter in die Arme ihres Ex-Mannes, und wenn Du jetzt nicht gerade mit dem Tod ringen müsstest, und wenn das hier nicht um vier Uhr morgens im Wartezimmer eines Krankenhauses passieren würde, und wenn es Tränen der Freude und nicht der Panik und nackten Angst wären, dann würde Dir das vermutlich sehr gefallen.

Von der Ubbo-Emmius-Klinik bis ins Ludmillenstift braucht man knapp eine Stunde und 20 Minuten. Mit dem Auto. Zeit, die Du nicht hast. Doch der verdammte Helikopter kann nicht starten, das Wetter wird immer schlechter. Endlich treffen die Ärzte eine Entscheidung. Mit dem Krankenwagen bringen sie Dich über die A31 nach Meppen. Das Wettrennen um Dein Leben hat begonnen.

Wie viel wird von diesem Leben noch übrig sein?