Levi Israel Ufferfilge

Nicht ohne meine Kippa!

Mein Alltag in Deutschland
zwischen Klischees und Antisemitismus

Tropen Sachbuch

Impressum

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Tropen

www.tropen.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung eines Fotos von © Thomas Dashuber

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50412-5

E-Book: ISBN 978-3-608-12009-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für meine Oma,
meine Eltern
und Marc
in Dankbarkeit

»Unsere Geschichten sind alles,
was wir haben.« Oma

Vorwort

Schauen Sie sich den Buchdeckel noch einmal an. Das ist alles, was eine fremde Person auf der Straße, im Supermarkt, im Zug, im Café, am Strand, an der Bushaltestelle, im Hörsaal und im Wartezimmer sieht: eine Kippa auf einem Hinterkopf. Eine Projektionsfläche. Den Vertreter aller Juden oder Zerrbilder von Juden. Den Staat Israel auf zwei Beinen und eine fleischgewordene Verschwörungstheorie. Ein Fabelwesen. Keinen Menschen, keine Person mit einem bestimmten Charakter oder eigener Geschichte.

Dieses Buch ist eine Sammlung meiner eigenen schlechten, auch guten, traurigen, auch heiteren Erfahrungen damit, in diesem Land als Jude sichtbar zu sein, und damit, was es bedeutet, mit einer Zielscheibe auf dem Hinterkopf zu leben. Es sind Erzählungen davon, wie die Kippa zu meinem Kopf kam und wofür es sich lohnt, sichtbar jüdisch zu bleiben. Auch Erzählungen davon, warum das mitunter so wehtut. Das Erleben, Widerfahren, Wehren und Weitermachen aus meinem Blickwinkel.

Ich fürchte, wenn ich nicht aufschriebe, was mir widerfährt, hätte ich das zweifelhafte Glück, es zu verdrängen. Doch daraus würde niemand etwas lernen. Und würde ich mich unsichtbar machen, gäbe es das Problem noch immer, aber mich nicht mehr ganz.

Ich erinnere mich nicht mehr, was die erste antisemitische Tat war, die ich erlebt habe. Ich kann mich nur noch vage an ein Gefühl von Ohnmacht erinnern, das sie zurückließ. Ich erinnere mich nicht besser, weil ich diese erste Erfahrung nicht aufgeschrieben hatte. Ich erzählte damals stattdessen meiner Oma davon und wie schlecht ich dieses Gefühl loswerden konnte, weil ich im Nachhinein nichts mehr an der Tat ändern konnte. »Nimm dir einen Zettel und einen Stift und schreib alles auf. Das hilft«, riet mir meine Oma. Seitdem schreibe ich alles auf, denn tatsächlich hilft es sehr. Andere mögen das Schreibtherapie oder Empowerment nennen; ich nenne es Wegschreiben. Ich tat dies lange nur für mich selbst in Notizbüchern, später in Notizen auf dem Smartphone. Doch irgendwann reichte das nicht mehr und so teilte ich meine Notizen vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal auf Facebook, später auch auf Twitter. Wenn ich schon Schlechtes erleben musste, wollte ich damit zumindest nicht allein sein. Andere sollten sich mit dem Problem auseinandersetzen. Andere sollten davon erfahren, Anteil nehmen, sich in meine Lage versetzen, sensibel dafür werden, Hilfsbereitschaft entwickeln.

In den 2010er Jahren hielten viele Menschen in Deutschland Antisemitismus für ein historisches Relikt, nicht für ein akutes Problem. Umso entsetzter reagierten viele Menschen auf meine Anekdoten aus dem Alltag. Mein guter Freund Daniel Warwel entdeckte die Erzählungen für den Gemeinschaftsblog kleinerdrei von der mutigen Anne Wizorek. Dort wiederum wurde die Redaktion von jetzt, einem Onlinemagazin der Süddeutschen Zeitung, auf die Erzählungen aufmerksam und veröffentlichte einen der Texte auf seiner Homepage. Imke Rösing von der Literaturagentur rauchzeichen las ihn und hatte die Idee für das Buch, das Sie in Händen halten. Ihr, Anne, Daniel und meiner Lektorin Julia Matthias stellvertretend für den gesamten Tropen Verlag gilt für seine Entstehung mein besonderer Dank.

Dieses Buch sollte eine Zusammenstellung von Alltagsgeschichten sein und wurde mehr. Das Kapitel über mein Aufwachsen habe ich eigens für dieses Buch verfasst; ich konnte dazu kaum auf zuvor niedergeschriebene Erinnerungen zurückgreifen. Ansonsten besteht das Buch aus den Erfahrungen, die ich mit jüdischer Sichtbarkeit mache, so wie ich sie unmittelbar nach dem Geschehen, manches Mal ein paar Stunden später aufgeschrieben habe. Für dieses Buch habe ich die Texte kontextualisiert und sortiert. Ich habe hauptsächlich aus den letzten zehn Jahren Erlebnisse ausgewählt, die einen Querschnitt ergeben sollen: nicht die Summe des Schlimmsten, aber auch keine Schönrednerei. Ich habe außerdem ganz andere Einblicke in mein Leben eingewoben, damit man erkennt, was auf dem Buchdeckel wirklich gezeigt wird: keine Kippa auf einem Hinterkopf, sondern eine insbesondere jüdische Person mit einem zugegeben langen Namen und einer eigenen Geschichte.

Ich knüpfe an dieses Buch die Hoffnung, dass es in späteren Jahren nie im Wissen um die bittere Ironie gelesen werden möge, dass der Autor schlussendlich Deutschland verlassen musste oder sein Leben gar dem Antisemitismus zum Opfer gefallen war. Dieses Buch soll nicht mein Testament werden. Vielmehr soll es einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass andere Jüdinnen und Juden es einmal leichter haben werden, sichtbarer und damit freier leben zu können.

1

Am Anfang gab es keine Kippa

Im westfälischen Nirgendwo, das Torfbauern Generationen zuvor einem riesigen Moor abgerungen hatten, bin ich so deutsch aufgewachsen wie jeder andere Dorfbewohner, für den die deutsche Leitkultur die Summe all dessen ist, was sein Leben ausfüllt: nicht hehre Ideale demokratischer Freiheiten, humanistischer Bildung oder Dichter-und-Denker-Hochkultur, sondern das Schimpfen über das viel beschworene schlechte Wetter Westfalens, Plaudereien über die frisch geernteten Bohnen aus dem Gemüsegarten, den Frühschoppen im Gasthof, die alte Kegelbahn, den Jahrmarkt mit Viehverkauf am Samstag, den G’ttesdienst am Sonntag, die totgeglaubte Mundart und das Trinken und Schießen im Schützenverein.

Es mag bitter klingen, doch in meiner Kindheit und Jugend begriff ich die Region, in der ich aufgewachsen bin, als post-jüdisch. In meinem Heimatort gab es – spärlich sichtbar jüdisch – nur mich mit meiner Kippa auf dem Kopf, die meine Großmutter liebevoll »Käppchen« nennt, und den in einem kleinen Waldstück gelegenen jüdischen Friedhof, den bis heute nahezu niemand unter den protestantischen Dorfbewohnern kennt. Die ehemalige Synagoge ist heute ein Wohnhaus ohne Erinnerung an seine sakrale Funktion oder das jüdische Leben, das in ihm weilte. Jeder jüdische Besitz ist einst unter Wert verkauft und geraubt worden. Viele Jüdinnen und Juden, deren Kultur bis zum Nationalsozialismus für fast alle Dorfbewohner Teil ihrer unausgesprochenen, unreflektierten Leitkultur gewesen ist, sind ermordet worden, manche konnten durch Flucht dem gewaltsamen Tod entgehen. So ist es überall in diesem Land gewesen, ob Provinz oder Metropole.

Es gab um mich herum also kein jüdisches Leben. Die nächste jüdische Gemeinde Minden war weit weg und winzig. Es gab höchstens einmal im Monat einen G’ttesdienst. Judentum fand in Deutschland im Stillen statt, meist unsichtbar.

Auch mit dem Zuzug vieler tausender Jüdinnen und Juden aus den Ländern der ehemaligen UDSSR in den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahre wurde jüdisches Leben in Deutschland nicht selbstverständlich. Die deutsche NS-Vergangenheit, die Shoah und ihre Folgen, der Anpassungsdruck in der BRD, der nicht zu überwindende Kontrast zu dem Leben und der Kultur, die vorher da gewesen und dann zerstört waren, verunmöglichten jede jüdische Selbstverständlichkeit. Daran konnten die russischsprachigen Neumitglieder wenig ändern; immerhin stammten sie aus der Sowjetunion, die jahrzehntelang Juden und Judentum unterdrückt hatte.

Was meine unmittelbare Umgebung mir nicht bieten konnte, eröffnete mir das amerikanische Fernsehen: eine vielfältige, vitale jüdische Welt. Es zeigte mir, dass Jüdischsein in den USA derart normal, verbreitet und gleichberechtigt war, dass es nicht nur in nahezu jeder Fernsehserie jüdische Figuren gab, sondern auch in zahlreichen Zeichentrickserien.

Bei den Kleinkindern in Rugrats gab es sogar Episoden, in denen sie jüdische Feiertage wie Pessach und Chanukka feierten. Ohnehin schien Chanukka das nach Weihnachten am häufigsten im Fernsehen zu bestaunende Fest zu sein. Ich sah es in der Sesamstraße; später dann in Friends und natürlich in Die Nanny. Ich hatte manchmal den Eindruck, man würde Bar-Mizwa-Feiern wie in Die Simpsons öfter zu sehen bekommen als Taufe, Kommunion und Konfirmation zusammen.

Noch heute werde ich gefragt, ob meine Mutter so wie jene in Die Nanny sei (ist sie nicht) und ob Juden wirklich so gern und so viel essen würden wie in der Serie (wer isst denn nicht gern und viel?). Ich mochte die Serie sehr. Ich glaube, ich habe sie vier- oder fünfmal in ganzer Länge gesehen und kann bis heute das deutsche Titellied singen: »Sie verkaufte Hochzeitskleider und war sehr mondän … mondän!«. Oft habe ich überlegt, ob ich von der Serie eine humorvolle, augenzwinkernde Vermittlung meiner Religion und Kultur gelernt habe. Zweifellos habe ich durch sie ein gewisses Faible für Barbra Streisand entwickelt.

So manche späte Stunde habe ich mit Filmen und Serien zugebracht, die noch lange vor meiner Kindheit und Jugend gedreht worden sind. Ausgerechnet Alaska etwa, das mir in meiner Jugend eine große Hilfe gewesen wäre, schließlich geht es um einen jungen Mann, der als einziger Jude in einem Kaff im Nirgendwo landet.

Mit diesem Nirgendwo, meiner alten Heimat, verhält es sich wie mit einer Schneekugel: Der Untergrund ist nahezu völlig eben. Und so wie sich die Natur nicht erhebt, tun es auch menschliche Bauten kaum. Es erscheint, als würde der Himmel hier wesentlich mehr Raum einnehmen als in der Stadt, die den Blick gen Horizont doch stets einzuschränken weiß. Das Blick auf dem offenen Land wandert immer wieder nach oben: zu der enormen Weite und Tiefe der Nacht, der Vielzahl der Sterne. Und am Tage zu den riesigen, sich mächtig auftürmenden Wolken. Ein besonders imposantes Schauspiel: Wenn es so windig ist, dass es die dicksten Äste von den Bäumen reißt. Der Himmel färbt sich dunkelblau wie alte Tinte, und die Wolken scheinen so schwer, dass es sie auf den Asphalt niederzwingen müsste. Stattdessen aber fallen Regentropfen, gröber und härter als in gnädigeren Regionen, nieder. Vielleicht muss ein Zurückgedrängter umso aufsehenerregender zur Schau stellen, wie er sein verbliebenes Gebiet beherrscht: durch tosende Unwetter und Nächte, die alles verschlucken.

Das Nirgendwo ist wie gemacht für lange Spaziergänge. Ich ging früher jeden Tag meist ein und denselben Weg entlang spazieren. Er führte meine Straße entlang, immer geradeaus, bis zu einer Weggabelung, an die ein Acker grenzte. Hier musste man wählen: Ging man nach links, kam man zu einer alten Pferdekoppel, die die besten Jahre schon lang hinter sich hatte; ging man nach rechts, verschwand der Weg irgendwann ins Ungewisse. Ich pflegte nur bis zu jener Weggabelung zu gehen. Dort stand ein weiß-rot gestrichener Holzpfahl. Ich tippte ihn an und kehrte um. Die Strecke bis dorthin nutzte ich, um einen bestimmten Gedanken in meinem Kopf zu drehen und zu wenden. Während Joggen wohl dazu dient, den Kopf freizubekommen, füllt ein Spaziergang ihn mit Klarheiten und Wirrnissen an. Ich sah Hasen über die Äcker hasten und Rehe genügsam über die Felder schreiten. Schafe blökten in nebliger Ferne, und ab und an flatterte ein Fasan aufgescheucht aus einem Geäst, wenn ich ihm zu nahe gekommen war. Berührte ich den Holzpfahl – ich nannte ihn den Grübelpfahl –, der unfreiwillig an die Markierung des Nordpols erinnerte, war es Zeit für einen neuen Gedanken auf dem Rückweg. Ich dachte über das Für und Wider in einer Angelegenheit nach, dachte an einen Menschen, an ein vergangenes Ereignis, an Worte für ein neues Gedicht, das ich gerade schrieb, oder hielt ein Zwiegespräch mit G’tt.

Es gab immer schon Orte, die ich am schönsten fand, wenn ich mit ihnen allein war. Oder sie nur richtig genießen konnte, wenn ich mich an ihnen ganz einsam wähnte. So als gäbe es nur die Weite oder Geborgenheit des Ortes und mich und nichts weiter sonst auf der Welt. Keine anderen Menschen. Keine Unterschiede. Keine Verpflichtungen, irgendetwas Dringendes zu tun – oder überhaupt etwas zu tun.

In meiner alten Heimat hatte ich drei Orte, an denen ich am liebsten ganz allein war: der stille, bewaldete Teil vom Tierpark meines Heimatorts, das schier endlose Moor mit seinen Reihern, Kranichen, Schafen und Gewächsen und der im Herzen eines kleinen Waldstücks verborgene winzige jüdische Friedhof.

Gut behütet

Obwohl mein Gedächtnis launisch zu sein scheint und ich mich an vieles aus meiner Kindheit nicht mehr erinnere, trage ich die Erinnerung an meinen Opa, der kurz, bevor ich in den Kindergarten kam, gestorben ist, ganz genau mit mir. Ich könnte viele Tage, die ich mit ihm verbracht habe, vom Aufstehen bis zum Zubettgehen in erschöpfendem Detail nacherzählen.

Meine Eltern, meine Geschwister und meine Großeltern lebten zusammen in einem Haus mit großem Garten. Wir hatten einen Fischteich, Obstbäume, einen üppigen Gemüsegarten, ein Glashaus und ein Häuschen für das Federvieh meines Opas, das er sich zu seiner und meiner Freude hielt. Ich durfte die Hühner und Fasane füttern und darauf achten, wann ihre Eier im Brutkasten zu schlüpfen begannen, um den Küken beim Schlüpfen zu helfen. Die neuen Küken ließ ich dann meist zur Freude meiner Eltern auf dem gedeckten Frühstückstisch herumtapsen. Mein Opa brachte mir allerhand über Gemüsesorten bei und wie wichtig es ist, sich um die Erde mit ihren Geschöpfen und Gewächsen zu kümmern. Wenn wir einige Zeit in der Sommersonne einen Hühnerdraht verschoben, Erbsen pflückten oder ich in den Kirschbaum klettern sollte, um einen kranken Ast abzusägen, setzte mir mein Opa zum Schutz seinen alten Filzhut auf, der mir viel zu groß war. Er sagte dann entweder »Der Hut steht ihm gut«, oder »Damit bist du immerzu gut behütet«, und zog dabei das »ü« so lang, dass auch ein Vierjähriger das Wortspiel verstand.

Ich hatte mir als Kind den Garten Eden wie unseren Garten vorgestellt. Ein geschützter Raum, in dem alles in Ordnung war. Friedlich und geborgen. Es gab nur diesen Garten und unser Haus als sein Anhängsel. Es gab für mich keine Außenwelt und keine Reflexion über andere Menschen oder mich. Auch der Garten Eden hatte so lange funktioniert, wie es keine Reflexion und keine Welt außerhalb des Paradieses gegeben hatte.

Als mein Opa starb, war unsere Zeit im Garten vorüber. Seine Hühner wurden getötet und, nur weil ich darum flehte und bettelte, wurden die beiden Hähne fortgegeben und die Fasane im Wald ausgesetzt. Die Besitztümer meines Opas wurden für meine Oma und mich zu besonderen Schätzen. Alltägliches wie Spielkarten, Pfeifenzubehör, eine Holzschatulle voller Ersatzknöpfe für seine Anzüge und Hosen, halbvolle Saatpäckchen, seine Gartenutensilien und seine Filzhüte wurden zu Unantastbarkeiten. Es galt, sie in Schränken und Schubladen zu bewahren und darüber kein Wort zu verlieren.

Es gab eine einzige Ausnahme: Opas Alstergläser. Hohe, schmale Biergläser mit Goldrand, aus denen man Gemische aus Bier und süßem Sprudel, später Sprite trank. Gebrauchsgegenstände ohne nennenswerten Materialwert, aber sie wurden gehegt und stets ansprechend präsentiert. Während Männer ihr Bier aus anderen Gläsern tranken, bekamen Frauen diese Gläser für Mischgetränke in die Hand gedrückt. Kinder bekamen sie für Spezi oder Malzbier bei Feierlichkeiten. Ich liebte diese Gläser als Kind, denn sie zierten nicht kitschige, sondern sensibel gemalte Tiere heimischer Wälder: einen Hirsch, zwei Rehe, ein Wildschwein, einen Hasen, einen Fasan und einen Auerhahn.

Es war ein unausgesprochenes Gesetz, dass das Glas mit dem Auerhahn mein Glas war. Mein Opa holte es hervor, wenn wir Besuch hatten, und schenkte mir meine Spezi ein. Angeblich war es das erste Glas, aus dem ich als Kleinkind getrunken habe. Ich war fasziniert von diesem Vogel. Womöglich, weil ich die Hühner und Fasane meines Opas geliebt hatte und der Auerhahn wie ihr anmutiges Oberhaupt aussah.

Nachdem mein Opa gestorben war, nutzten wir weiterhin die Alstergläser mit den Waldtieren. Ich trank aber nicht mehr nur bei besonderen Anlässen aus dem Glas mit dem Auerhahn, sondern fortan immer und alles aus ihm. Spezi, Malzbier und Kakao, auch wenn es als Unsitte galt, Letzteres nicht aus einer Tasse zu trinken.

Meine Oma machte es glücklich, mich aus dem Glas trinken zu sehen. Noch Jahre später. Irgendwann bot sie mir an, es doch endlich mitzunehmen. Doch ich ließ es zurück.

Vor zwei Jahren sah ich im Zoo zum ersten Mal in meinem Leben einen Auerhahn. Da stand nun dieses seltene Geschöpf wie eine Chimäre aus Fasan, Truthahn und Rabe und ging imposant auf und ab. Reckte den Kopf, plusterte sich etwas auf, gurrte und spannte sein schwarzes Federrad mal stärker, mal schwächer an. Ich schaute ihm eine ganze Weile zu und musste daran denken, dass ich ihn eigentlich fünfundzwanzig Jahre zu spät zu Gesicht bekomme. Aber vielleicht hat auch mein Opa selbst nie einen Auerhahn mit eigenen Augen gesehen. Er hätte sich bestimmt bis über beide Ohren gefreut und mit mir gemeinsam wie hypnotisiert vor diesem Vogel gestanden. Und nicht zuletzt dachte ich: Vielleicht sollte ich sein Glas beim nächsten Besuch doch mitnehmen.

Die Welt, ein Buch

Anders als mein Opa, war mein großbürgerlicher und großstädtischer Onkel besonders um meine geistige Bildung bemüht. Er richtete sich in drei Zimmern im oberen Geschoss des Reiterhofs meiner Großeltern mütterlicherseits eine ansehnliche Bibliothek ein, um die für ihn müden Stunden in der Provinz mit ansprechender Lektüre zu versüßen. Er sammelte allerlei Sachbücher zur Länderkunde (vor allem Inselstaaten), besaß Statistiksammlungen über Handelsbeziehungen zwischen Staaten, riesige Atlanten, längst veraltete Werke über Flora und Fauna, Polit-Biographien von und über Winston Churchill, politische Abhandlungen über den Zionismus und insbesondere die Kibbuz-Bewegung, Darstellungen über Sklaverei und Rassentrennung in den USA, Militärkitsch mit vielen blau-grünen Bildern von Kriegsschiffen, Werke über das Alte Ägypten, Mesoamerika und Native Americans, Philosophisches, Judaistisches, allerdings nichts über die Shoah oder den Nationalsozialismus.

Das Gedeihen meines Geistes sah er in der Provinz in Gefahr. So gab er mir bei jedem Besuch ein Buch mit, das ich lesen und später mit ihm besprechen durfte. Das ehrte mich, denn mein Onkel erwähnte in meiner Kindheit häufig Personen der Geschichte, die ich nicht kannte (und viele der Erwachsenen wohl ebenso wenig), und Zusammenhänge und Ereignisse, die ich nicht begriff. Das machte großen Eindruck auf mich. Schließlich ließ er mich ab Mitte der Grundschulzeit in seiner Bibliothek schalten und walten, wie ich wollte. Ich konnte auf diese Weise Menschen und ihre Geschichten kennenlernen und zeigte mich besonders von denjenigen Individuen und Gruppen beeindruckt, die um den Erhalt ihrer Kultur oder um ihre Rechte kämpften.

In dieser Zeit wurde mir die Synagoge sehr wichtig. Meine Eltern fuhren mich immer häufiger bis nach Münster für G’ttesdienste, Unterrichtsstunden und ein paar Jahre später sogar für ein Praktikum beim Gemeindekantor. Ich fand jüdische Freunde, die aber alle so weit weg wohnten, dass wir uns nur selten trafen. In Herrn Mendel fand ich einen persönlichen Mentor und Lehrer, der mir über viele Jahre hinweg biblisches Hebräisch, Tanach und Talmud, Halacha (jüdisches Recht), Ethik und eine große Wertschätzung gegenüber Ritualen, Gebeten und Liturgie näherbrachte.

Am Gymnasium wurde mein Jüdischsein erst relevant, als ich nach einem Aufenthalt in London, bei dem ich auf ein selbstverständliches, offenes Judentum getroffen war, begann, meinen Davidstern-Anhänger für jeden sichtbar über meiner Kleidung zu tragen. Meine Kippa trug ich zu dieser Zeit nur in der jüdischen Gemeinde, beim Gebet oder wenn ich im Tanach, in der Mischna oder in anderen religiösen Schriften las und darüber sinnierte.

Ich war weder in meiner Klasse noch später in der Oberstufe unbeliebt, half anderen bei den morgendlich noch zu erledigenden Hausaufgaben und posaunte meine guten Noten nicht herum. Ich war kein Streber, und ich wusste um meinen Vorsprung, den ich durch meine Lektüren hatte, und ich bemerkte sehr früh, dass es mir wesentlich leichter als anderen fiel, gelesene Informationen aufzunehmen, zu verstehen und abzuspeichern. Da kam es mir gelegen, mich neben der Schule mit Hebräisch und Jiddisch und allerlei jüdischen Texten und Gedanken auseinanderzusetzen.

Ich hatte eine scharfe Zunge und brachte andere gern zum Lachen, weshalb mich auch diejenigen Mitschüler stets wohlwollend duldeten, mit denen ich nichts gemein hatte. Zugleich hatte ich einen bis heute erhaltenen Kreis aus engen Freunden, für den mein Jüdischsein ganz normal war.

Liebe deinen Nächsten, außer er ist ein Jude

Doch was für meine Freunde galt, galt nicht für alle in meiner unmittelbaren Umgebung. Ostwestfalen ist eine Region mit einer Vielzahl freikirchlicher Gruppierungen, die hauptsächlich durch russische Spätaussiedler nach Deutschland gekommen sind. Mennoniten, Baptisten, Adventisten, allerhand Pfingstler und andere Evangelikale prägten vor allem qua Kinderreichtum mit den Jahren die ansonsten schlicht lutherische Gegend immer stärker. Hatte es in meinem festen Klassenverband keine Freikirchler gegeben, traf ich in der Oberstufe plötzlich auf einige von ihnen. Und auch wenn sie mir gegenüber meist freundlich geblieben sind, waren ein paar von ihnen in Kirchen mit antisemitischem Gedankengut großgeworden. Ihre Prediger schwadronierten von den Juden mit verlorenem Seelenheil, die in Synagogen den Teufel anbeten würden. In ihren freikirchlichen Buchhandlungen konnten sie über und über Bücher erwerben, die ihnen erklärten, warum Juden so verkommen wären und Jesus ermordet hätten oder wie man Juden am besten missionieren könne. Sogar ein Exemplar von Die Protokolle der Weisen von Zion, dem antisemitischen Standardwerk schlechthin, sah ich einmal in einem der evangelikalen Bücherregale stehen. Ich hatte nie vermutet, dass die recht verwirrt scheinenden Leute, die mich ein paar Mal vor der Mindener Synagoge abgefangen hatten, um mir weiszumachen, sie müssten meine arme jüdische Seele retten (wobei sie mir Angst machten), auch Menschen in meinem Alter sein konnten, die in denselben Kursen saßen wie ich.

Es war offensichtlich, dass ich einigen freikirchlichen Mitschülern ein Dorn im Auge war. Sie konnten mühelos Muslime, Buddhisten, Atheisten, alleinerziehende Mütter, LGBTQIA-Menschen und viele weitere Gruppen verurteilen, aber ihre Vorgängerreligion, deren Sprössling Jesus einst ihren Glauben begründet hatte, zu widerlegen, fiel ihnen argumentativ schwer. Deshalb luden sie mich immer wieder in ihre Gemeinden ein, wo mir ihre Prediger mit einem Lächeln auf den Lippen erklären sollten, warum das Judentum eine verachtenswerte Religion wäre oder Juden ganz ungewollt das Böse in die Welt tragen würden.

Auch wenn eine freikirchliche Mitschülerin mich nach einigen verbalen Auseinandersetzungen zu schneiden begann und andere mich schlicht ignorierten, gab es einige unter ihnen, die irgendwann begriffen, dass ich einen anderen Glauben hatte als sie, und das zumindest tolerierten. Eine von ihnen verließ sogar schließlich ihre evangelikale Splittergruppe, abgestoßen von den menschenverachtenden und hasserfüllten Lehren, und wurde mir eine gute Freundin. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie ihr ehemaliger Prediger heute über den Juden spricht, der das ins Rollen gebracht hatte.

Katholisch-jüdische Diaspora

Zu Beginn der Oberstufe freundete ich mich außerdem mit Caro an. Sie war katholisch, was in meiner ansonsten protestantischen Heimatregion etwas Besonderes war. Sie kannte sich sehr gut mit ihrer Konfession aus, was sie von nahezu allen Mainstream-Lutheranern unterschied, die ich kannte. Zugleich war ihre religiöse Kultur aufgeklärt, was Caro radikal von den Freikirchlern unterschied. Sie war umfassend gebildet, las englische, russische und allen voran französische Klassiker, verstand sich auf fernöstliche Kulturen und hörte unbekannte Musiker, an deren Namen ich mich nur schwer erinnern konnte. Sie hatte ein ausgesprochenes Interesse an Medizin und wusste immer, dass sie Ärztin werden würde (was eingetreten ist). Mit ihr konnte ich nicht nur allerlei unterhaltsame Dinge unternehmen, sondern auch philosophieren: darüber, wie man es mit der Religion hält, über die Schwierigkeiten des Menschseins, über Diskriminierung, Toleranz, das gesellschaftliche Miteinander, über die Frage, was Identität eigentlich heißt, und welchen Bezug wir zu unserer Region haben. Dabei lernten wir viel voneinander, stärkten uns gegenseitig und prägten einander.