817640_Hunter_Entfuehrung_ins_Glueck_S003.pdf

7

Ryland fuhr zurück, als die Tür, an die er hatte klopfen wollen, geöffnet wurde und an ihrer Stelle Mirandas entschlossenes Gesicht auftauchte. Seine erhobene Faust traf ihre Nase.

„Oh!“ Ihr Keuchen kam im gleichen Moment wie sein überraschter Ausruf.

„Mylady!“ Gott sei Dank hatte er nicht ihren Namen gerufen. Das verdankte er zweifellos seiner jahrelangen Erfahrung als Spion.

Miranda fiel rückwärts zu Boden und hielt sich ihre Nase. Angesichts des Schmerzes presste sie die Augen zusammen.

Er verzog bedauernd das Gesicht und beugte sich zu ihr hinab.

„Sind Sie verletzt?“ Das klang angemessen verzweifelt. Griffith würde bestimmt nicht freundlich reagieren, wenn er hörte, dass Ryland seine Schwester zu Boden geschlagen hatte. Wenn er ein echter Kammerdiener wäre, müsste er nach einem solchen Vorfall mit seiner Entlassung rechnen.

Sie nahm die Hände von ihrem Gesicht und runzelte die Stirn. „Ich blute.“

Ihre Stimme klang ruhig. Wahrscheinlich stand sie immer noch unter Schock. Diese Frau war wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben noch nie geschlagen worden war. Selbst in ihrer Kindheit hatte es vermutlich nie eine Ohrfeige gegeben.

Er betrachtete ihre Hände und entdeckte einige kleine rote Flecken. Er hatte sie offenbar nicht so heftig getroffen, wie er befürchtet hatte, denn aus ihrer hübschen Nase floss kein Blut. Ryland schüttelte den Kopf. Er sollte sich wirklich nicht darum kümmern, wie hübsch Mirandas Nase aussah, egal, ob sie blutete oder nicht.

Sie hielt ihm anklagend die Hände hin. „Ich blute!“, sagte sie noch einmal, dieses Mal mit deutlich mehr Gefühl.

„Aber nicht stark. Ich habe schon Schlimmeres gesehen.“

Das war offensichtlich nicht die richtige Antwort.

Sie schaute ihn finster an. Einige Sekunden vergingen, in denen Ryland nichts anderes tun konnte, als in ihre zusammengekniffenen grünen Augen zu schauen. Es gab viel unangenehmere Arten, seine Zeit zu verbringen, aber ihre Augen gehörten in die gleiche Kategorie wie ihre Nase: Sie waren im Moment für ihn tabu. Wenn diese Mission vorüber war, könnte er vielleicht mehr Zeit damit verbringen, ihr Gesicht zu betrachten, aber im Augenblick war das keine gute Idee.

Er stellte sich auf einen Wutausbruch ein. Alle Anzeichen, die er bis jetzt gesehen hatte, deuteten darauf hin, dass in dieser Frau starke Gefühle brodelten, die aber hinter einer Mauer aus damenhaftem Verhalten gut verborgen waren.

„Ich sollte wahrscheinlich etwas auf meine Nase legen. Trent legt immer Fleisch auf seine Nase, wenn er sich geprügelt hat.“ Ein leichter Schauer durchfuhr sie, bevor sie ihren Monolog fortsetzte.

Dass sie in einer so ungewöhnlichen Situation in der Lage war, pragmatisch zu denken, verschlug ihm die Sprache.

„Das ist bestimmt eklig. Ich ziehe es vor, wenn mein Fleisch gut durchgebraten und mit Soße bedeckt ist. Ich weiß, das ist typisch englisch. Aber ich war noch in keinem anderen Land. Deshalb muss ich mich auch nicht überwinden, halbrohes Fleisch zu essen.“

War sie sich überhaupt bewusst, dass er sich noch im Zimmer befand? Er hatte noch nie eine adelige Dame getroffen, die Selbstgespräche führte. Und er fand es ausgesprochen reizend. „Kälte soll angeblich helfen, Mylady.“

Sie fuhr erschrocken zu ihm herum und errötete. Sie hatte tatsächlich vergessen, dass er im Zimmer war. Das war ein ziemlich demütigender Gedanke.

Sie wedelte mit der Hand herum, als wollte sie ihre Verlegenheit wegwischen, um sich auf das konzentrieren zu können, was wichtig war. „Würden Sie dafür sorgen, dass dieser Brief abgeschickt wird? Sie können ihn an dieselbe Adresse senden wie den Brief letzte Woche.“

Schon seit Jahren war er gezwungen, seine Gedanken und Gefühle vor anderen zu verbergen. Und nur dieser Erfahrung hatte er es zu verdanken, dass er seine Freude darüber verbergen konnte, dass sie seinen Brief so schnell beantwortet hatte. Diese Freude wurde jedoch rasch von Verwirrung abgelöst. Ihre Hände waren leer. Auf dem Fußboden neben ihr lag auch nichts. Falls sie nicht darauf saß, hatte er keine Ahnung, wo der Brief war, von dem sie sprach. „Welcher Brief, Mylady?“

Miranda betrachtete stirnrunzelnd ihre leeren Hände. Dann schaute sie sich um. Sie deutete zu ihrem Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers. Ein weißes Blatt Papier lag zwischen dem Tisch und dem Stuhl. Er zog eine Braue hoch, als er die anderen Briefe sah, die auf dem Boden verstreut waren, entschied sich aber, lieber nichts zu sagen.

„Dort drüben. Er ist an den Herzog von Marshington adressiert.“

Während er sich bückte, um den Brief aufzuheben, hörte er, wie sie sich zum Bett schleppte. War ihr schwindelig? Sie musste sich an den Möbelstücken festhalten, um auf den Beinen zu bleiben. Er ließ ihr respektvoll einige Sekunden Zeit, sich wieder zu fangen.

Währenddessen betrachtete er den Schreibtisch. Die kleine Ecke eines blauen Blatt Papiers lugte unter einem dünnen Gedichtband hervor. Er hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. Hatte sie als Antwort auf seine kurze Zeile zwei Briefe geschrieben?

„Sie haben kaum geblutet“, murmelte er leise. Er hatte schon mehr Blut verloren, wenn er sich ohne Spiegel eilig rasiert hatte. Ihr Schock musste also der Grund dafür sein, dass sie sich so mühsam durchs Zimmer schleppte. Er hatte schon genügend Verletzungen erlebt, um zu wissen, dass auch oberflächliche Wunden einen Menschen schwächen konnten.

„Was haben Sie gesagt?“, murmelte sie.

„Ich habe nur überlegt, ob ich Ihnen helfen kann, Mylady.“ Ryland warf den Brief auf den Schreibtisch und ging zu ihr, um sie zu stützen. Ein angenehmer Duft, den er nicht genau einordnen konnte, stieg ihm in die Nase. Der Duft passte gut zu ihr.

„Helfen Sie mir bitte, nach unten zu kommen.“

Er hielt ihren Arm, während sie einige langsame, unsichere Schritte ging. Bei dem Tempo, in dem sie sich bewegte, wäre es Zeit zum Abendessen, bis sie irgendwo ankäme.

„Wenn Sie erlauben, Mylady.“ Ryland schwang sie auf seine Arme und genoss es, als sie sich überrascht und vielleicht auch ein wenig ängstlich an seine Schultern klammerte. Wahrscheinlich hatte sie niemand mehr auf den Armen getragen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war.

„Stellen Sie mich sofort ab!“, zischte sie.

„Mylady.“ Ryland wusste, dass er so klang, als spräche er mit einem unmündigen Kind. „Das ist der schnellste Weg, um Sie dorthin zu bringen, wohin Sie möchten.“

„Dann bringen Sie mich in den kleinen Salon. Sie können Sally holen und ihr sagen, dass sie mir das Fleisch bringen soll.“ Ein weiterer Schauer durchfuhr sie.

Ryland nahm ihn dieses Mal viel deutlicher wahr, da sie in seinen Armen lag. Er begann zu schwitzen.

„Natürlich, Mylady.“

Nachdem er sie im Salon vorsichtig aufs Sofa gelegt hatte, verbeugte sich Ryland und verließ rückwärts gehend den Raum. Er schickte einen Diener los, um Sally zu holen. Er selbst kehrte in Mirandas Zimmer zurück, um den Brief zu holen.

Ryland hob die Briefe auf, die neben dem Schreibtisch auf den Boden gefallen waren. Er hatte leichte Schuldgefühle, weil er ihre morgendlichen Aktivitäten durcheinandergebracht hatte. Nachdenklich strich er mit dem Finger über das Teppichmuster. Das Muster erinnerte ihn vage an einen edlen Teppich in seinem Londoner Stadthaus. Zumindest hatte der Teppich noch in der Bibliothek gelegen, als er das letzte Mal zu Hause gewesen war. Es war möglich, dass sein geldgieriger Vetter ihn zu Geld gemacht hatte, aber das bezweifelte er. Er bezahlte seinem Hausverwalter und seinem Anwalt exorbitante Summen dafür, dass sie seine Verwandten in Schach hielten.

Er legte die Briefe auf den Schreibtisch, dann hob er den weißen Brief auf, den er zur Post bringen sollte. Der blaue Zettel, der unter dem Gedichtband hervorspitzte, weckte erneut seine Neugier. Mit einem Grinsen holte er ihn hervor, dann las er beide Briefe. Sie plante also, dem Herzog von Marshington die kalte Schulter zu zeigen. Der formelle Ton ihres offiziellen Briefs kam seinen Absichten überhaupt nicht entgegen.

Das blaue Blatt steckte er schließlich in seine Tasche und das weiße schob er unter das schmale Buch. Das würde Miranda zweifellos durcheinanderbringen, aber nach dem leichten Schlag auf den Kopf würde sie sich fragen, ob sie sich vielleicht doch geirrt hatte.

Er war schon fast wieder an der Tür angelangt, als ihm bewusst wurde, dass er sich in Mirandas Zimmer befand.

Allein.

Er hatte keine Skrupel gehabt, Georginas Sachen zu durchsuchen, und er hatte sich auch nur leicht unwohl gefühlt, als er in Griffiths Räumlichkeiten gestöbert hatte, aber der Gedanke, in Mirandas Privatsphäre einzudringen, erschien ihm irgendwie falsch. So falsch, dass er das Zimmer fast wieder verlassen hätte. Es wäre nicht das erste Mal, dass die persönlichen Gefühle eines Agenten seine Arbeit behinderten. Entschlossen riss Ryland die Schranktür auf und durchsuchte jede Jackentasche, jeden Saum und jedes Handtäschchen.

Seine Suche war nicht so gründlich, wie sie hätte sein sollen, aber sie genügte, um seine Schuldgefühle zu vertreiben. Er sank auf die Knie und warf einen kurzen Blick unters Bett. Als er darunter eine große, flache Truhe fand, war er überrascht.

Die Gepäcktruhen wurden in einem anderen Teil des Schlosses verstaut. Warum befand sich diese eine Truhe dann hier?

Sie war ungewöhnlich schwer, stellte er fest, als er sie herauszog. Und sie war zugesperrt.

Mit hämmerndem Herzen nahm Ryland zwei Haarnadeln vom Frisiertisch und öffnete das Schloss. Das Letzte, was er erwartete, als er den Deckel anhob, war Papier.

Briefe, um genau zu sein. Hunderte Briefe. Alle an den Herzog von Marshington adressiert.

Sosehr es ihm auch in den Fingern kribbelte, er las sie nicht. Das, was er mit den letzten beiden Briefen machte, die sie geschrieben hatte, war schon schlimm genug.

Aber eine Frage ließ ihn trotzdem nicht los. Er wühlte in der Truhe bis ganz nach unten und fand die ältesten Briefe, die auf einfaches weißes Papier geschrieben waren. Er öffnete einen, um das Datum zu lesen.

1800. Diese Frau schrieb ihm seit 12 Jahren!

Wie sollte er je dem Ideal des Mannes gerecht werden, den sie in ihrer Fantasie erschaffen hatte?

Miranda wartete bis zum letzten Augenblick, bevor sie nach unten zum Abendessen ging. Ihr war es erfolgreich gelungen, Griffith und Georgina seit dem Morgen aus dem Weg zu gehen. Aber es gab keine Möglichkeit, das Abendessen ausfallen zu lassen, es sei denn, sie entschuldigte sich und behauptete, dass sie krank wäre, was aber viele andere Probleme nach sich ziehen würde.

Georgina rümpfte die Nase, als Miranda sich an ihren Platz setzte. Miranda befürchtete, dass ihre Schwester damit nicht auf den unangenehmen Geruch reagierte, der von der Zwiebelsuppe aufstieg. Sie hatte es bis jetzt vermieden, in den Spiegel zu schauen, da sie nicht wissen wollte, ob ihr Zusammenstoß mit Marlows Faust sichtbare Spuren hinterlassen hatte.

„Was ist denn mit dir passiert?“

Miranda seufzte. Die Frage ihrer Schwester veranlasste Griffith, sie genauer zu betrachten. „Was ist passiert? Du hast einen Bluterguss über der Nase.“

Sie konnte ihm schlecht sagen, dass sie diesen Bluterguss seinem neuen Kammerdiener verdankte. Wahrscheinlich würde er dann sofort Mr Herbert aus dem Ruhestand zurückholen. „Ich war nur ein wenig ungeschickt. Das ist alles. Ich habe mich nicht einmal besonders kräftig gestoßen. Ich muss bloß genau die richtige Stelle getroffen haben.“

Georgina kicherte hinter ihrer Serviette, während Griffith fragend die Augen zusammenkniff. „Was genau hat die richtige Stelle getroffen?“

Er klang ruhig, sah aber misstrauisch aus. Sie war noch nie eine gute Lügnerin gewesen.

„Das, ähm …“ Ihr Blick wanderte zu einem Gemälde an der gegenüberliegenden Wand. Darauf saß eine Frau mit einem Buch in der Hand auf einem Sofa. „Buch!“

Seine Brauen schossen in die Höhe. Georgina hustete demonstrativ, um ihr Lachen zu verbergen.

„Ein Buch?“, fragte er.

„Ja!“ Miranda verlagerte ihr Gewicht und ließ ihrer Fantasie freien Lauf. „Ich habe im Bett gelesen und bin eingeschlafen. Dabei ist mir das Buch anscheinend auf die Nase gefallen.“

Griffith aß einen Löffelvoll Suppe. „Was war das für ein Buch?“

Er wollte wissen, welches Buch ihr auf die Nase gefallen war? Miranda schob sich ebenfalls einen Löffel voll Suppe in den Mund und wünschte, sie müsste länger kauen. Die Suppe verschaffte ihr nur wenig Zeit, um sich eine Antwort einfallen zu lassen. „Es war …“ Ein weiterer panischer Blick durchs Zimmer brachte keine neue Idee. „Shakespeare.“

„Shakespeare?“

„Ja.“

Das Gespräch wurde unterbrochen, als die Suppe abgeräumt und der nächste Gang auf den Tisch gestellt wurde. Miranda wurde schon allein beim Anblick des Hauptgangs schlecht. Sie könnte Fleisch nie wieder mit den gleichen Augen sehen wie früher.

Georgina grinste. „Ich habe Shakespeare schon immer geliebt. Welches Stück hast du denn gelesen?“

Es sollte ein Gesetz geben, das lästige jüngere Schwestern verbot. Georgina wäre nicht in der Lage, auch nur drei Stücke von Shakespeare aufzuzählen, selbst dann nicht, wenn ihr Leben davon abhinge. „,Was ihr wollt‘.“

Wie kam sie denn gerade auf diesen Titel? Ach, ja! Dieses Buch hatte Marlow neulich nachts in der Bibliothek gelesen. Es war also eine passende Antwort.

Griffith starrte sie an. „,Was ihr wollt‘?“

„Ähm, ja. Aber ich bin noch nicht weit gekommen. Ich kann also nicht viel darüber sagen.“

Miranda machte sich allmählich Sorgen um ihren älteren Bruder. Er sah aus, als denke er angestrengt nach und versuche, sich an etwas zu erinnern, das ihm einfach nicht einfallen wollte.

Mit einem Kopfschütteln und einem knappen Lächeln entgegnete er schließlich: „Dann sollten wir wohl über etwas anderes sprechen.“

Miranda schob sich ein Stück Fleisch in den Mund. Das würde ein sehr langes Abendessen werden!

Griffiths Bett war wirklich sehr bequem. Wenn er in sein Londoner Haus zurückkehrte, wollte Ryland versuchen, auch eine solche Matratze zu finden. Natürlich konnte es auch einfach an den schäbigen Unterkünften liegen, in denen er jahrelang übernachtet hatte, dass ihm diese Matratze so bequem erschien.

Auf das große Walnussbett könnte er allerdings verzichten. Es war seit Generationen im Besitz der Familie und Griffith bezeichnete es häufig als hässlich. Aber da die letzten sechs Herzöge darin geschlafen hatten und sein Freund viel Wert auf Traditionen legte, führte kein Weg daran vorbei.

Ryland zuckte die Achseln und lehnte sich gemütlich gegen die Kissen. Was sollte er nur mit Mirandas Brief machen? Er musste ihr natürlich antworten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie merkte, dass der falsche Brief noch auf ihrem Schreibtisch lag. Wer einen solchen Brief bekam wie den, den er gerade in der Hand hielt, antwortete irgendwie darauf. Es war einfach zu absurd! Er hatte beschlossen, dass sie erst nach einer Woche eine Antwort vom Herzog von Marshington bekommen würde. Ihm blieben also ein paar Tage Zeit, um sich etwas zu überlegen.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Wahrscheinlich dauerte es noch eine Stunde, bis Griffith seine Dienste benötigte.

Was für eine lächerliche Tarnung! Seine Freundschaft mit Griffith machte es ihm sehr schwer, seine Tarnung aufrechtzuerhalten. Früher hatte er immer in seine Rolle schlüpfen und für längere Phasen seine wahre Identität vergessen können. Das war bei dieser Mission unmöglich. Manchmal hatte er das Gefühl, als wären er und Griffith wieder in Eton, damals, bevor das Leben sie in völlig verschiedene Richtungen geführt hatte.

Hinzu kam, dass er mit dieser Mission nur sehr schleppend vorankam. Er hatte jedes Zimmer im Haus abgesucht und den Kreis der Verdächtigen eingeengt. Innerhalb einer Woche sollte ihm das Kriegsministerium alles schicken, was man dort über die Leute auf seiner Liste wusste. Etwas ließ ihm keine Ruhe. Irgendetwas stimmte nicht, aber er wusste nicht, was es war.

Und das gefiel ihm nicht.

Er war zu dem Ergebnis gelangt, dass mindestens ein höhergestellter Dienstbote involviert sein musste. Jemand hatte im Aufenthaltsraum der höheren Dienstboten einen Brief ins Feuer geworfen. Eine Ecke des Briefes war nicht verbrannt. Und auch wenn Ryland gern gewusst hätte, was darin gestanden hatte, hatte er noch genug entziffern können, um zu wissen, dass jemand Anweisungen bekommen hatte, die der britischen Krone schaden würden.

Diesen Brief zu finden war mühsamer gewesen, als er gedacht hatte. Die Dienstmagd kam zweimal am Tag ins Zimmer, um die Asche zu entfernen. Wer konnte schon sagen, welche anderen Hinweise ihm wegen ihres Arbeitseifers entgangen waren?

Neben den Hausbediensteten gab es mehrere Knechte im Außenbereich, die er genauer unter die Lupe nehmen wollte. Jeder im Stall war verdächtig. Wo könnte man Botschaften besser weitergeben als an einem Ort, an dem man zu Pferden Zugang hatte? Er hatte kontrolliert, wie oft die Pferde ausgeritten wurden. Es wäre für einen Stallburschen ein Leichtes, sich irgendwo mit einem anderen Spion zu treffen.

Die Unterkünfte der Stallknechte waren jedoch schwerer zu durchsuchen, da sie sich in der Nähe des Stalls befanden. Das bedeutete, dass ständig jemand in den Schlafräumen oder in ihrer Nähe war. Ob es ihm gefiel oder nicht, er müsste Griffith bitten, sich etwas einfallen zu lassen, bei dem alle Stallknechte gleichzeitig für eine Weile fort wären.

Bis dahin konnte er nur die Augen offen halten und darauf warten, welche Antwort das Ministerium auf seine Verdächtigenliste sandte.

Er verlor allmählich die Geduld, die Eigenschaft, die bei einer solchen Aufgabe am wichtigsten war. Er hatte keine Lust, auf eine günstige Gelegenheit zu warten oder darauf, dass der Schuldige einen Fehler beging.

Er steckte die Hand in seine Jackentasche, um den angekohlten Rest des verdächtigen Briefs mit den staatsfeindlichen Anweisungen noch einmal herauszuholen, aber seine Finger berührten stattdessen ein gefaltetes Blatt Papier. Mit einem Lächeln zog er es heraus.

Es war gewiss nicht ratsam, sich mit der Schwester seines Freundes zu beschäftigen, aber irgendwie konnte er nicht anders. Die Vorstellung, dass sie ausgerechnet ihn als Ansprechpartner in ihrem Tagebuch benutzte, amüsierte ihn grenzenlos. Was hatte Griffith damals in seinen Briefen aus Eton alles über ihn erzählt? Irgendwie bezweifelte Ryland, dass er ihr berichtet hatte, wie oft Ryland sich Schwierigkeiten mit der Schulleitung eingehandelt hatte.

Da Griffith und er zu den mächtigsten Männern im Land gehören würden, hatten sie die Grenzen des Erlaubten ausgereizt und herauszufinden versucht, was sie sich alles ungestraft erlauben konnten. Natürlich hatten sie nichts Schlimmes angestellt. Das verdankte Ryland Griffiths Glauben und seinem guten Einfluss.

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und Ryland sprang auf die Beine. Sein Blick glitt zur Uhr. War das Essen schon vorbei?

Griffith blieb nach wenigen Schritten stehen und betrachtete das unordentliche Bett. „Du hast auf meinem Bett gelegen“, murmelte er.

„Es ist bequemer als meins“, erwiderte Ryland.

„Das kann ich mir denken. Immerhin bin ich bei unserem kleinen Spiel der Herzog und du bloß der Kammerdiener.“

Ryland zuckte die Achseln. Er faltete Mirandas Brief wieder zusammen und steckte ihn in seine Tasche zurück.

Griffith betrachtete ihn prüfend. „Sag mal, hast du Anfang der Woche nicht ,Was ihr wollt‘ gelesen?“

8

Ryland zog fragend eine Braue hoch, während er hinter Griffith trat, um ihm aus seiner Jacke zu helfen. Was war beim Essen vorgefallen? „Ja, ich habe das Stück gelesen. Es ist gut möglich, dass du mich dabei gesehen hast.“

Griffith fuhr herum, bevor Ryland ihm die Jacke ausziehen konnte, und kniff die Augen drohend zusammen. „Was hast du gerade in deine Tasche gesteckt?“

„Persönliche Notizen.“ In gewisser Weise stimmte das. „Es gibt viele Verdächtige.“ Er wand sich innerlich. Er hatte nicht wirklich gelogen, aber es gefiel ihm nicht, seinen Freund mit diesen zusammenhanglosen Aussagen in die Irre zu führen. Das war ein weiteres Zeichen dafür, dass es höchste Zeit wurde, aus dem Spionagegeschäft auszusteigen.

„Miranda ist mit diesem blauen Papier sehr eigen.“ Griffith legte sein Jackett ab. Sein Verdacht, wie auch immer dieser ausgesehen hatte, war offenbar ausgeräumt.

Ryland war froh, hinter Griffith zu stehen, damit dieser ihm nicht ins Gesicht sehen konnte. „Es lag einfach da.“

„Lass sie lieber nicht sehen, dass du es benutzt. Sie hütet dieses Papier, als wäre es so kostbar wie Gold.“ Er wandte sich zu seinem Freund um.

Farbiges Papier war teuer, aber noch wertvoller waren die Worte, die sie darauf schrieb. Daher überraschte es Ryland nicht, dass Miranda nicht bereit war, es mit ihren Geschwistern zu teilen.

Er betrachtete Griffiths weißes Hemd. Soßenflecken sprenkelten den weißen Stoff. „Eure Durchlaucht war heute Abend wohl ein wenig ungeschickt?“

„Offenbar schon.“

„Wie bequem, dass sich die Flecken nur dort befinden, wo das Jackett sie verdeckt hat.“

Griffith begann, einen kleinen Faden an seiner Hose zu betrachten. „Ich hatte schon immer recht viel Glück.“

Ryland hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen, als er sich vorstellte, wie Griffith es angestellt haben musste, diese Flecken auf sein Hemd zu bringen. Er drehte das Jackett auf links und bemerkte, dass sich auch dort Soßenflecken befanden. Wie hatte sein Freund denn gegessen?! „Du hast das absichtlich gemacht!“

Griffith grinste, und die Spannung, die noch vor wenigen Sekunden den Raum erfüllt hatte, war wie weggeblasen. „Ich will doch nicht, dass du dich langweilst.“

Ryland schüttelte den Kopf und ging an seine Arbeit. Er war mit seinen abendlichen Pflichten bald fertig. Als er das Zimmer verließ, warf er einen kurzen Blick auf das verschmutzte Hemd und verzog das Gesicht. Mit reichlich Muskelkraft und viel Zeit könnte man es wahrscheinlich wieder reinigen. Doch statt in den Waschraum zu gehen, stieg er in sein Zimmer hinauf, das ein Stockwerk über Griffiths Räumlichkeiten lag. Er stopfte das Hemd unter die Matratze. Wenn diese Sache vorbei war, würde er Griffith ein neues Hemd kaufen.

Zwei Stunden später war Ryland immer noch wach. Er lag auf dem Rücken und starrte zur Zimmerdecke hinauf. Griffiths Bett war zwar wirklich deutlich bequemer als das Bett, das Ryland zugewiesen bekommen hatte, aber er hatte trotzdem keinen Grund, sich zu beklagen. In den vergangenen zehn Jahren hatte er es zu schätzen gelernt, wenn sich ihm überhaupt die Möglichkeit bot, auf etwas anderem als auf der nackten Erde zu schlafen. In vielen Nächten hatte er sich unter Bäumen oder in Felsspalten versteckt.

Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass die persönlichen Beziehungen der größte Nachteil bei dieser Mission waren.

Er schloss die Augen und begann, im Geiste seine Antwort auf Mirandas Brief zu formulieren.

Das Leben war wirklich sonderbar. Als Diener konnte er an ihre Tür klopfen, mit ihr allein in einem Zimmer sein oder sie sogar bei einem Ausflug begleiten, aber er konnte mit ihr nicht auf Augenhöhe sprechen. Diese unerwarteten Briefe boten ihm dafür eine Gelegenheit.

Es war wahrscheinlich gemein von ihm, mit ihr zu spielen. Ein feiner Herr tat so etwas definitiv nicht.

Mit einem leichten Grinsen auf den Lippen schlief er ein.

Es war zwar vielleicht nicht nett, aber es machte Spaß.

Miranda zog ihre Tür vorsichtig auf und lugte in den Korridor. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass er menschenleer war, verließ sie ihr Zimmer. Sie kam sich lächerlich vor. Aber sie konnte nicht anders. Seit Marlow sich im Schloss aufhielt, ging es im Haus viel abenteuerlicher zu, als sie es von früher gewohnt war.

Seit er sie in der vergangenen Woche auf die Nase geschlagen hatte, ergriff sie besondere Vorsichtsmaßnahmen, bevor sie ihr Zimmer verließ. Manchmal, wie heute, zog sie die Tür vorsichtig auf. An anderen Tagen riss sie sie auf und sprang schnell zur Seite für den Fall, dass er ihr im Korridor auflauerte. Angesichts eines solchen Verhaltens musste sich eine junge Dame unwillkürlich albern vorkommen. Andererseits war es auch nicht normal, von einem Diener, der gerade an die Tür klopfen wollte, einen Boxhieb auf die Nase zu bekommen.

An diesem Tag war sie dankbar, dass niemand etwas von ihrem ungewöhnlichen Auftritt mitbekommen hatte. Sie trat in den Flur, um ihre täglichen Verpflichtungen in Angriff zu nehmen. Der Koch wollte an diesem Morgen den Speiseplan mit ihr durchgehen. Außerdem musste sie den Gärtner aufsuchen und mit ihm ein ernstes Wort reden. Das Gelände sah in letzter Zeit ausgesprochen ungepflegt aus. Mindestens einer der Hilfsgärtner machte seine Arbeit nicht richtig. Sie hoffte, dass er einfach nur faul war und kein Trinker. Faulheit ließ sich viel leichter beheben.

„Guten Morgen, Mylady.“

Miranda zuckte zusammen, als sie hinter sich Marlows Stimme vernahm. Sie fuhr herum. „Marlow.“ Sie atmete tief ein. „Guten Morgen.“

„Ich bin froh, dass ich Sie gefunden habe, Mylady.“

„So?“

Er hielt ihr einen kleinen Stapel Briefe hin. „Die Post kam heute Morgen sehr spät. Ich habe die Korrespondenz Seiner Durchlaucht schon herausgeholt.“

Sie starrte den Papierstapel in seiner Hand an. Eine Woche war vergangen. Hatte der Herzog zurückgeschrieben? Was schrieb er? Ihre Zukunft lag in den Händen eines Mannes, dem sie noch nie begegnet war. Eines Mannes, den die meisten ihrer Bekannten noch nie gesehen hatten.

„Mylady?“ Marlow hielt ihr die Briefe mit etwas mehr Nachdruck hin.

Sie sollte sie ihm abnehmen. Das Papier würde sie schon nicht beißen. Sie griff danach. „Danke.“

Er verbeugte sich höflich und ging den Korridor hinunter.

Miranda schaute ihm nach. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie Herbert oft begegnet wäre, aber dieser war auch ein ziemlich unauffälliger Mann gewesen. Er hatte seine Arbeit erledigt und sich dann zurückgezogen.

Marlow war ganz anders als sein Vorgänger. Sie konnte sich über seine Arbeit nicht beklagen; wenigstens hatte Griffith sich nicht abwertend über ihn geäußert. Aber dieser Mann schien überall zu sein. Vielleicht fiel er ihr aber auch nur stärker auf. Sie musste zugeben, dass ihr Blick zu ihm wanderte, sobald er sich im selben Zimmer aufhielt. Etwas an ihm schien nicht ganz zu einem Kammerdiener zu passen. Irgendetwas stimmte nicht.

Schließlich tat sie ihre grundlosen Bedenken mit einem Achselzucken ab und blätterte die Post durch. Da war er! In derselben kräftigen schwarzen Handschrift wie der letzte Brief, mit einem einfachen Siegel auf der Rückseite.

Ihre Hände zitterten, als sie wieder in ihr Zimmer zurückging. Mit langsamen, präzisen Bewegungen ließ sie sich auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch nieder. Mit großer Sorgfalt legte sie die anderen Briefe auf den Schreibtisch. Sally sollte sich nicht wieder den Kopf darüber zerbrechen müssen, warum ihre Briefe unordentlich auf dem Boden verstreut waren.

Zwei tiefe Atemzüge verliehen ihr genug Mut, um das Siegel aufzubrechen und das Papier auseinanderzufalten. Obwohl sie immer noch nicht bereit war, seine Antwort zu lesen, strich sie das Blatt auf dem Schreibtisch glatt und ließ ihre Hände nachdenklich darauf ruhen.

Es hatte keinen Sinn, es länger hinauszuschieben. Die Worte würden sich dadurch nicht ändern.

Liebe Lady Miranda,

ich gestehe, dass mir Ihr Brief schmeichelt, auch wenn er mich ein wenig verwirrt. Wie Ihnen bewusst ist, habe ich mich in den vergangenen Jahren aus der Gesellschaft zurückgezogen. Gewöhnlich beantworte ich Korrespondenz nicht zeitnah, um niemandem zu verraten, wo ich mich aufhalte. Ich vertraue darauf, dass Sie meine Anwesenheit als unser kleines Geheimnis betrachten, da Sie offenbar eine so hohe Meinung von mir haben. Sie schreiben, dass Sie eine ganze Truhe voll mit Briefen haben? Es würde mich sehr interessieren, sie zu lesen.

Ich entschuldige mich, dass unsere unorthodoxe erste Begegnung Sie so aus der Fassung gebracht hat. Ich glaube nicht, dass Sie mir diesen letzten Brief schicken wollten, da Sie am Ende Ihre Absicht erwähnen, mir einen anderen zu schreiben. Einen echten Brief.

Sie faszinieren mich, Mylady. Ich ertappe mich dabei, dass ich die Post gespannt nach dem blauen Papier durchsuche. Ich habe mich schon lange nicht mehr so sehr auf etwas gefreut. Bitte lassen Sie sich durch Ihre Verlegenheit nicht daran hindern, unsere Korrespondenz fortzusetzen. Ich kann schließlich auf dem Papier nicht sehen, wie Sie erröten.

Sie können mich natürlich „Marsh“ nennen, aber Ihr Bruder ist der Einzige, der mich noch so nennt. Wie haben Sie bei dem Wetter der vergangenen Woche Ihre Zeit verbracht? Meine eigenen Aktivitäten werden durch den Regen kaum beeinträchtigt, aber diese unablässigen Niederschläge sind wirklich lästig.

Mit freundlichen Grüßen

Marsh

„Nein“, flüsterte Miranda. „Nein, nein, nein!“ Sie konnte ihm doch nicht schon wieder einen Tagebuchbrief geschickt haben! Ihr Brustkorb zog sich zusammen und machte ihr das Atmen schwer. Hilflos rang sie die Hände, als könnte sie damit ändern, was geschehen war, oder die Worte auf dem Papier, das vor ihr lag, neu schreiben.

Ich muss mich beruhigen. Es war so, wie er schrieb: Er konnte auf dem Papier nicht sehen, wie sie errötete. Das bedeutete, dass er auch nicht sehen konnte, dass sie gerade einen hysterischen Anfall bekam.

Tiefe Atemzüge beruhigten ihr pochendes Herz so weit, dass sie wieder klar denken konnte. Sie hatte beide Briefe hier in ihrem Zimmer geschrieben. Dann hatte sie die entsetzliche Begegnung mit Marlow gehabt, bei der er sie auf die Nase geschlagen hatte.

Marlow! Marlow hatte den Brief aufgegeben. Er hatte einen blauen Brief in die Post gelegt. Hatte Sally ihm nicht ausdrücklich gesagt, dass er die blauen Briefe nie abschicken dürfe?

Sie lief zur Tür, aber ein lautes Krachen ließ sie innehalten. Der Schreibtischstuhl lag hinter ihr auf dem Boden. Wahrscheinlich sollte sie ihn wieder aufstellen. Mit einer unwirschen Handbewegung ignorierte sie das umgekippte Möbelstück und verließ das Zimmer. Etwas schneller, als für eine Dame angebracht war, stürmte sie die Treppe hinab.

Wo waren die Dienstboten? Eine irrationale Verzweiflung trieb sie an. Wenn sie Marlow fände, könnte sie damit nicht ungeschehen machen, dass der falsche Brief abgeschickt worden war, aber es würde ihr helfen, ihre Nerven zu beruhigen, wenn sie herausfand, was passiert war. Ein Diener trat in die Eingangshalle, als sie unten an der Treppe ankam. „Marlow!“

„Ähm, nein, Mylady. Ich heiße Charles. Kann ich Ihnen –“

„Nein, nein. Haben Sie Marlow gesehen?“

„Ja, Mylady. Er ist in das Arbeitszimmer Seiner Durchlaucht gegangen.“

„Danke, Charles.“ Sie zwang sich, mit würdevollen Schritten um den Diener herumzugehen. Es wäre bestimmt nicht hilfreich, wenn die Dienstboten meinten, sie hätte den Verstand verloren.

Schon wieder.

Womöglich würde ein solches Gerücht sogar ihrer Mutter zu Ohren kommen.

Griffiths Arbeitszimmer befand sich neben der Bibliothek, nicht weit von der Eingangshalle entfernt. Wie sollte sie das Gespräch mit Marlow beginnen? Sie drehte den Griff und schob die Tür auf, ohne lange nachzudenken.

Rylands Kopf fuhr ruckartig hoch, als Miranda plötzlich in der Tür stand, den Mund zusammengekniffen und das Kinn entschlossen vorgeschoben. Er hatte Glück, dass er neben der Tür saß, wo sie ihn nicht sofort sehen konnte. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf Griffith, der neben seinem Schreibtisch stand, ein Buch in der Hand und den Mund vor Überraschung leicht geöffnet. Seine Schwester stürmte nie in sein Arbeitszimmer, vor allem nicht, ohne anzuklopfen.

Ryland stand unauffällig auf, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und betete, dass Griffith ihr einen triftigen Grund nennen würde, warum er hier bei ihm war. Sie genossen zwar nicht die Privatsphäre seiner Räumlichkeiten, aber sie hatten gedacht, das Arbeitszimmer wäre sicher genug, um leise über das zu sprechen, worum Ryland Griffith bitten wollte.

Sie hatten nicht damit gerechnet, dass Griffiths Schwester hereingestürmt käme.

Griffith zog die Brauen zusammen. „Ist etwas passiert, Miranda? Ist mit Georgina alles in Ordnung?“

Sie schüttelte den Kopf und legte eine Hand an ihre Stirn. Mit einem Seufzen schloss sie die Augen. „Nein, nein. Es ist alles gut. Bitte entschuldige, dass ich so hereinplatze, Griffith. Ich habe, ähm, jemanden gesucht.“

„Hier sind leider nur Marsh-low und ich.“

Ryland hoffte, Miranda hätte nicht gemerkt, dass sich Griffith fast verplappert hatte.

„Ich müsste kurz mit Marlow sprechen, wenn du nichts dagegen hast.“

„Du musst mit meinem Kammerdiener sprechen?“ Griffith bedachte Ryland mit einem durchbohrenden Blick. „Gibt es seinetwegen Probleme?“

Ryland bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Würde sie die Briefe erwähnen?

„Oh nein. Er hat mir bei einem besonderen, ähm, Projekt geholfen. Ich wollte ihn nur fragen, wie ein bestimmter Schritt gelaufen ist.“

Griffith kniff die Augen zusammen. Ryland versuchte, unauffällig den Kopf zu schütteln, obwohl er selbst nicht wusste, welche Botschaft er seinem Freund damit vermitteln wollte. Er wusste nur, dass Miranda keinen Verdacht in Bezug auf seine Beziehung zu seinem „Herrn“ schöpfen durfte.

„Kann ich einen Moment mit ihm sprechen?“, fragte Miranda erneut.

„Natürlich. Wir sind sowieso fertig.“ Griffith kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und tat, als entlasse er seinen Diener, ohne sich dabei die geringsten Gedanken zu machen.

Ryland schritt aus dem Zimmer, bevor Griffith ihm noch mehr fragende Blicke zuwerfen konnte. Am Abend erwartete ihn in Griffiths Ankleidezimmer sicher eine strenge Befragung.

„Wie kann ich Ihnen dienen, Mylady?“

Miranda blickte in beide Richtungen den Korridor entlang, bevor sie ihn in die Bibliothek zog, die sich gleich nebenan befand. Ihre Hand war klein und zart, ihre Haut kühl und weich. Erinnerungen an ihr nächtliches Gespräch kamen ihm in den Sinn. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, dass sich in dieser Nacht die Grenzen zwischen ihm als dem Diener und ihr als der Herrin angefangen hatten zu verwischen. Und sie hatte keine Ahnung, wie viel er bei dieser Tasse Tee über sie erfahren hatte. Er fing selbst erst an, sich einzugestehen, wie sehr ihm das gefiel, was er über sie erfuhr.

„Sie haben meinen Brief abgeschickt.“

Er wusste natürlich, von welchem Brief sie sprach. Er hielt es jedoch für besser, wenn er sich unwissend stellte. „Mylady?“

„Vergangene Woche. Nachdem Sie …“ Sie brach ab und deutete auf ihre Nase. „Nach dem kleinen Zwischenfall. Sie haben für mich einen Brief abgeschickt.“

„Ja, Mylady.“

„Er war blau.“

„Ja, Mylady.“

„Warum haben Sie den blauen Brief abgeschickt?“

„Da der letzte Brief, den ich für Sie abgeschickt hatte, blau war, ging ich davon aus, dass es der richtige Brief wäre.“

Sie schloss die Augen und seufzte. „Ich dachte, Sally hätte Ihnen gesagt, dass Sie die blauen nicht abschicken sollen?“

„Ich entschuldige mich, Mylady, aber ich habe keinen anderen Brief gesehen, der an den Herzog von Marshington adressiert war.“ Ryland schwieg einen Moment und beschloss dann, sie noch ein wenig mehr aus der Reserve zu locken. „Verzeihen Sie bitte, aber warum schreiben Sie Briefe, die Sie nicht abschicken wollen?“

An ihrem Hals waren plötzlich rote Flecken zu sehen. Seine Wangen brannten vor Anstrengung, sich ein Grinsen zu verkneifen. Wie würde sie auf diese Frage reagieren? Er bezweifelte, dass sie ihm gestehen würde, dass sie eine Art Tagebuch in Form von Briefen führte.

Ein Schatten zog über den Fußboden, als jemand draußen vor den Glastüren vorbeiging, die von der Bibliothek in den Garten führten. Mirandas Blick wanderte zur Tür und eine sichtliche Erleichterung trat auf ihr Gesicht.

„Ich muss gehen. Das war der Gärtner.“ Sie trat an die Tür. „Ich muss mit ihm sprechen. Der Westgarten befindet sich in einem schrecklichen Zustand. Offenbar ist einer der Hilfsgärtner ausgefallen. Wir müssen einen neuen Mann einstellen.“ Sie öffnete die Tür, hielt aber noch einmal inne. Sie öffnete den Mund, beschloss aber, dass nun alles gesagt war, denn sie eilte jetzt hinter dem Gärtner her.

Ein Hilfsgärtner fehlte? Hatte das etwas zu bedeuten? Er könnte einfach gekündigt haben. Vielleicht verrichtete er seine Arbeit nur nachlässig. Natürlich konnte sich ein Gärtner unauffällig auf dem Gelände bewegen. Er konnte Nachrichten und Pakete verstecken und holen. Er beobachtete die Gärtner, so gut er konnte, aber da diese Männer noch mehr Freiheit hatten als die Stallknechte, war es schwer, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Und aus der Ferne war es nicht so einfach, sie auseinanderzuhalten.

Ryland widerstand dem Drang, sich mit der Hand frustriert durch die Haare zu fahren. Er müsste noch mehr Orte unter die Lupe nehmen. Das würde schwer werden.

Als er sich umdrehte, stand der Butler in der Tür zur Bibliothek und schaute ihn mit höhnisch hochgezogener Braue an. Wie hatte ihm entgehen können, dass der Mann das Zimmer betreten hatte? Ryland schalt sich, weil er nicht darauf geachtet hatte, ob sich auf dem Korridor Schritte näherten, und verbeugte sich kurz vor dem Mann. „Mr Lambert.“

„Marlow, was machen Sie hier drinnen?“

Eine gute Frage. Dieselbe Frage hätte er dem Butler auch gern gestellt. Was tat Lambert in der Bibliothek? „Lady Miranda wollte etwas mit mir besprechen.“

Lambert schaute sich vielsagend im leeren Raum um.

„Sie ist gerade in den Garten gegangen, um den Gärtner zu suchen.“

„Verstehe. Nun, unten gibt es viel zu tun. Ich gehe daher davon aus, dass Sie keine Zeit haben, um in der Bibliothek herumzulungern.“ Der Mann drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum.

Was hatte der Butler in der Bibliothek gewollt? Wenn sich jemand frei im ganzen Haus bewegen konnte, dann war das der Butler. Jemand durchsuchte Griffiths Unterlagen und seine Post nach Informationen. Und bei dieser Person handelte es sich vermutlich um jemanden, der über den anderen Bediensteten stand.

Ryland folgte Lambert aus dem Zimmer. Wenigstens hatte er jetzt einen Verdächtigen, auf den er sich konzentrieren konnte.