John  Shirley

 

 

SCHWARZES GLAS

 

Roman

 

Deutsche Erstveröffentlichung

 

 

Apex-Verlag

 

 

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Alfons Winkelmann

 

Diese Übersetzung entstand mit freundlicher Unterstützung

der Kunststiftung NRW und des Europäischen Übersetzer-Kollegiums Straelen.

 

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

SCHWARZES GLAS 

 

Einige Bemerkungen des Autors über die Lost Cyberpunk Novel 

Schwarzes Glossar 

 

DAS HIER IST KAPITEL EINS - ES IST MEINS UND ES IST DEINS 

 

DIES JETZT IST KAPITEL ZWEI - NUR UNTER UNS, DU BIST DABEI 

 

DIES STÜCK LIT'RATUR, SEI'S, WIE ES SEI HOCHGEISTIG NENN ICH'S KAPITEL DREI 

KAPITEL VIER SCHLEICHT SICH HERAN -  

JETZT PASST BLOSS AUF, SEHT HIN, OH MANN! 

 

KAPITEL FÜNF IST JETZT ERREICHT - ES GEHT ZUR SACHE, UND NICHT LEICHT 

 

ES IST NICHT KOMPLEX, ES IST KEIN GEWÄCHS -  

EY, MANN, ES IST BLOSS KAPITEL SECHS 

 

KAPITEL SIEBEN HAT EIGENES LEBEN; 

DES TEUFELS SEUFZEN, DES ENGELS BEBEN 

 

RENNT, VERDAMMT! BEEILUNG, DASS ES KRACHT! 

VERFLUCHT! IST DAS NICHT - KAPITEL ACHT? 

 

STEH ES DURCH, DARFST DICH RUHIG FREU'N; 

DENN DIES IST KLAR: KAPITEL NEUN 

 

TRITT MIR NICHT AUF DIE ZEH'N BEIM GEHN: 

DU KOMMST SCHON NOCH ZU KAPITEL ZEHN 

 

IST DAS WIRKLICH KAPITEL ELF?WÄRST DU LIEBER SCHON BEI ZWÖLF? 

 

KAPITEL ZWÖLF, EIN FLIEGENDES GEWEHR 

JAGT NICHT ALS LETZTES HINTER DIR HER 

 

KAPITEL DREIZEHN KÖNNTE SCHLIMM ENDEN, 

DOCH NEIN - NICHTS GROSSES - LASS ES DAMIT BEWENDEN 

 

KAPITEL VIERZEHN WIRD SEHR HEFTIG - MIT KUGELHAMMER, RICHTIG KRÄFTIG!   

 

HIER FÄNGT KAPITEL FÜNFZEHN AN, HAST BIS ZUM ENDE FREIE BAHN 

 

KAPITEL SECHZEHN DRÜCKT AUFS GAS WIE NACH 'NER LADUNG GUTEMS GRAS 

 

KAPITEL SIEBZEHN, DANN IST SCHLUSS, ES NOCH ZU LESEN IST EIN MUSS 

 

EPILOG 

Das Buch

 

Richard Candle, ein Ex-Cop, wird aus dem Gefängnis entlassen. Er hat dort vier Jahre als EntBewusster zugebracht, nachdem er eine Straftat – illegales Abschöpfen von Firmengeldern – auf sich genommen hatte, für die eigentlich sein Bruder Danny, ein Rockmusiker, verantwortlich war. Sogleich heftet sich Terrence Grist an seine Fersen, denn Candle weiß, dass Grist ebenfalls Firmengelder unterschlagen hat. Grist ist Aufsichtsratsvorsitzender von Slakon Inc., einem Firmen-Konsortium, das  sogenannte Semblants herstellt: KI-Programme, Abbilder von Leuten, die nicht persönlich irgendwo in Erscheinung treten wollen.

Grist strebt überdies die alleinige Kontrolle über Slakon Inc. an und hat zu diesem Zweck seinen Chefingenieur veranlasst, die Semblants von fünf wichtigen anderen Aufsichtsratsmitgliedern zusammenzuschalten, um daraus eine übergeordnete Intelligenz zu erschaffen, mit deren Hilfe er die Firma unter seine Herrschaft zwingen will. Candle unternimmt jedoch alles, um dies zu verhindern und sich vor allem an Grist dafür zu rächen, dass dieser mit für seinen Gefängnisaufenthalt verantwortlich war...

 

Der Roman Schwarzes Glas von John Shirley erschien erstmals im Jahr 2008 und gilt als das große Cyberpunk-Spätwerk des Autors; der Apex-Verlag veröffentlicht diesen meisterhaften dystopischen SF-Roman als deutsche Erstveröffentlichung, übersetzt von Alfons Winkelmann. 

   SCHWARZES GLAS

 

 

 

 

 

 

 

Für Bruce, Rudy, Bill, Richard, Lew und Pat

 

 

Besonderer Dank an William Gibson und Paula Guran
(Paula, Extra-Dank für Extra-Hilfe beim Lektorat)

 

 

 

 

 

  Einige Bemerkungen des Autors über die Lost Cyberpunk Novel

 

 

Schwarzes Glas haben William Gibson und ich in den frühen Tagen des Cyberpunks unter einem anderen Titel und als andere Art von Projekt entworfen. Das ist übrigens nicht der Dramatiker William Gibson. Ich meine den Autor von Neuromancer und Spook Country (dt. Quellcode) und all seinen Bücher dazwischen. Zuvor hatten wir bei ein paar Projekten zusammengearbeitet. Ich weiß nicht mehr, wer mit der Hauptidee oder der allgemeinen Story von Schwarzes Glas heraufkam. Ich weiß, dass ich, basierend auf unserer Debatte, eine komplizierte Geschichte schrieb. Ich bin derjenige, dem sie Fleisch und Blut zu verdanken hat, und Bill fand sie gut. Aber dann entgleiste das Projekt, wir beide hatten anderes zu tun, und Bill wurde mit Preisen überschüttet, sammelte seine Honorare, chillte mit Rockstars und arbeitete an anderen Projekten. Danach, lange danach, fiel mir das Buch wieder ein, und ich fragte nach. Bill ist schwer beschäftigt und überließ mir das ganze Ding.

Also schrieb ich einige Jahre später den Roman, der für mich die Lost Cyberpunk Novel war. Ich habe ihn völlig allein verfasst. Niemand sonst soll Schuld daran haben.

Cyberpunk Fiction, wie sie Bruce Sterling, Lew Shiner, Pat Cadigan, Richard Kadrey, Rudy Rucker und William Gibson verfassten (oh - und ich), hat mehr Wurzeln als die offensichtliche, nämlich die Romane von Samuel R. Delany (wie Nova und Dhalgreen), John Brunner (wie Shockwave Rider und Stand on Zanzibar) und, nun ja, Romane von Philip K. Dick, Alfred Bester, J. G. Ballard und Michael Moorcocks New Wave SF. Allgemein reichen ihre Wurzeln bis zurück zum Roman Noir, zu hartgesottener Krimiliteratur und gewissen Arten von Detektivromanen. Agatha Christie? Quatsch, nein. James M. Cain? Aber ja! Dashiell Hammett. John D. MacDonald - meiner Erinnerung zufolge erwähnten sowohl Gibson als auch Sterling die beiden mir gegenüber. Sie hatten das meiste von John D. MacDonald gelesen. Wir alle lasen wahrscheinlich auch Jim Thompson. Und gewiss waren sehr harte, düstere urbane Spionageromane wichtig für Cyberpunk: Len Deighton und insbesondere John LeCarré.   

Viele von William Gibsons Short Storys und frühen Romanen haben einen Tonfall und eine Oberflächenstruktur, die der von LeCarré und, hin und wieder, der hartgesottenen, abgebrühten Detektivromanschreiber sehr ähnlich sindist. Helden von Kriminalromanen sind Leute an der Grenze. Selbst wenn sie für's Gesetz arbeiten, macht es ihnen nichts aus, es zwischendrin zu brechen. Sie sind Schürzenjäger, sie prügeln sich mit Gangstern, sie rauchen, sie trinken. Sie sind mürrische Hurensöhne, die schmutzige Bürgersteige unter flackernden Straßenlaternen hinabschlurfen. Hauptfiguren von Cyberpunk haben dasselbe grimmige, verlorene, resignierte, jedoch schwelend wütende Gefühl in sich.

Sämtliche dieser Vorgänger aus der Vergangenheit sammeln sich in Schwarzes Glas, haben ihr Quartier darin bezogen. Es ist ein Kriminalroman, der in der Zukunft spielt, ohne sich dafür zu schämen. Sein Held, Richard Candle, entstammt, obwohl auch ein nuancierter Typ, der etwas für Meditation übrig hat, den alten Groschenheftromanen. Er hätte sich im Black-Mask-Magazin absolut wohl gefühlt.

Ich habe nicht versucht, technologisch so auf dem neuesten Stand zu sein, wie es zweifelsohne etliche der neuen Cyberpunk-Autoren sind. Heutzutage geschieht alles so rasch, dass ich nie recht mitkomme und nicht in die gegenwärtige Mode der kompakten, kryptographisch eindringlichen Ausdrucksweise passen würde. Ich habe nicht allzu viele neue Ausdrücke, Meme oder Tropen aus dem Wired-Magazin oder Jane's übernommen, oder den trendigsten Technoblogs oder 4chan. Aber die Story des ursprünglichen Projekts ist nach meinen neuesten Erkenntnissen aktualisiert worden. Sie ist sowohl klassischer Cyberpunk als auch moderne Science Fiction. Sie ist auch ein Cyberpunk-Roman von John Shirley, daher der Rückgriff auf musikalische Bezüge, Musik als eine Art von Milieu, von Rockmusik beeinflusste Figuren und andere Eigenarten, die hoffentlich mehr liebenswürdig als ärgerlich sind. Ich habe nicht versucht, das Buch in einem »postmodernen« Stil zu schreiben, und es ist auch kein Post-Gibson-Roman. Ich schrieb dieses Buch in diesem Zeitalter mehr oder weniger so, wie ich diese Bücher damals geschrieben habe. So schreibe ich halt.

Die Sprache von Richard Candles Zukunftsgesellschaft wäre wahrscheinlich für uns Heutige sehr verständlich, hätte jedoch weitaus mehr neuen Slang und Neologismen, als ich hier hinzugefügt habe. Ich habe versucht, ein wenig, einen Geschmack, der Umgangssprache seiner Zeit mitzugeben. Ich bezweifle, dass es die Sprache ist, die wir wirklich in der Zukunft erleben werden, aber ich habe das Gefühl, dass echter Slang mitschwingt, und in meinen Ohren funktioniert das. Ich habe das Black Glossary - das Schwarze Glossar - hinzugefügt, um bestimmte Ausdrücke zu erklären. Und ich möchte gern darauf hinweisen, dass, wie heute auch, Menschen in der Zukunft nicht in jedem Augenblick Slang-Ausdrücke verwenden werden, auch wenn es passend erscheinen mag. Manchmal benutzen sie sie, manchmal benutzen sie etwas anderes.

Mit Schwarzes Glas schließt sich für den Cyberpunk ein Kreis. In gewisser Hinsicht ist es ein Pulp-Roman von Ideen. Aber es ist ein Werk der Cyberpunk-Science-Fiction. Er ist gewebt mit Bildern, die aus der Science Fiction stammen, und es ist von Science-Fiction-Ideen erhellt. Es ist ein Kriminalroman, ein Roman der Straße, und es ist ein Roman der politischen Haltung: In den meisten Cyberpunk-Roman spiegelt sich eine erschöpfte Reaktion auf Autorität wieder, die These, dass eine Welt, die von Konzernen beherrscht wird, eine Welt ist, die dir gestohlen wurde, noch bevor du geboren worden bist.

Aber meine größte Hoffnung für Schwarzes Glas ist einfach die, dass die Leser sich vom Roman gut unterhalten fühlen.

 

 

J. S.,  

Februar 2008

 

 

 

 

 

  Schwarzes Glossar

 

 

Einiges von den Neologismen und vom Slang im Roman, wie UmweltSchaum, erklären sich genügend selbst, so dass sie nicht in das Glossar aufgenommen werden müssen, und einige, wie Schläger, kip und Exosuit werden im Zusammenhang der Geschichte oder durch die Darstellung erklärt. 

Ergänzung durch den Übersetzer: 

Ich habe mir längere Zeit überlegt, wie viel ich von den Neologismen so stehen lasse, wie sie vorhanden sind, und wie viel ich in ein »Quasi-Deutsch« übertrage. Die Entscheidung ist mir nicht immer leicht gefallen, aber ich bin der Ansicht, dass die Neologismen auch auf Deutsch »funktionieren« sollten. Deswegen erschien es mir legitim, einige Ausdrücke anzugleichen. Ob es mir immer gelungen ist, möge der Leser entscheiden. (Wobei die Frage bleibt, inwieweit es in der englischsprachigen Vorlage gelungen ist - aber das war schließlich John Shirleys Entscheidung.) 

 

 

ABGEBROCHEN - miese Info oder schlicht »Bullshit«.

ABSCHLEPPER - Dealer oder andere Quelle für illegale virtuelle Realität. (Kommt wahrscheinlich vom Ausdruck »jmd. abschleppen«.)

BLOGBLUBBERN - Quatschen, Blubbern, oft, wenn jemand betrunken oder stoned ist. Indiskretes Geplapper.

CASH - Geld. Insbesondere elektronisch überwiesene World Dollars.

CASIMIR-EFFEKT - etwas ziemlich Reales in unserer Zeit, ein quantenmechanischer Effekt, der Objekte dazu bringt, aneinander zu kleben. Er kann für den gegenteiligen Effekt umgebaut werden, einen Grad von Levitation.

CHECKERBRAUT - Eine Checkerbraut ist eine attraktive, sehr besonnene Frau, keine Bimbo.

DILL-ETANTEN - Eher abwertend, jedoch meistens dasselbe wie »Dilettanten«, von dem es natürlich abgeleitet wurde, jedoch zweigeteilt und mit der Betonung auf der dritten Silbe, wie im höhnisch gemeinten »A-ma-teure«.

DRAUFGEKLICKT - wie in »wo hast du draufgeklickt?« Wohin jemand verschwunden ist. Wo sie sind.

DRITTKARTE - wenn dein einziges Geld auf der Kreditkarte ist, die du dabei hast, und es ist verdammt wenig. »Dritt« von »Dritte Welt«, nicht von »dritte Karte«.

EGO-KERN - der mögliche mythische Sinn eines unabhängigen Selbst, den ein ausreichend komplexes Computersystem vermutlich entwickeln kann.

EXIT - je nach dem. Als Verb meint es Abgang, verschwinden, abhauen.

FAKELINE - jede dicke Lüge.

GENING - Genetischer Ingenieur. Jeder kann einen anheuern, um sich ein beliebiges Extra einbauen zu lassen. Verb: geningen.

HAPPYCRAP - New-Age-Bullshit.

GARAGENBETRIEB - Ein Betrieb, der ein verlassenes Firmengelände vereinnahmt, »unter dem Radar« funktioniert, ohne Zulassung, sehr improvisiert. Ursprung des Namens im 20. Jahrhunderts, damals nicht unbedingt illegal.

HOSCHI - ein Ausdruck, der mehr oder weniger den Ausdruck »Kumpel« oder etwas Ähnliches ersetzt hat.

HOSCHI-BRUDDER - dasselbe wie Hoschi, jedoch liebevoller.

I-O-TYP - Jemand, der in Ordnung ist, cool, dem man vertrauen kann.

KEX - Eine Straßendroge. Herkunft von MDMA, alias »X«, gerüchteweise jedoch zum Teil aus Extrakten von Tiergehirnen hergestellt, einige davon oft verfault, so dass die Pille einen Geruch nach verfaultem Fleisch hat. Daher »Kex« mit »K« für »kotzen« in Kombination mit »X«.

KORALLEN - Sich gut fühlen, positiv, mit etwas vorangehen. Oder ein Adjektiv (»korall«) für jemand, der in Ordnung ist.

Ju-Knast - Ein größeres, Bootcamp-gleiches Straflager für Jugendliche.

MINGBING - recycelte Materialien aus wahrlich rätselhaften, möglicherweise toxischen Quellen. Alles könnte drinstecken.

PAGOTHS - Pagan Goths (ausgesprochen: pay-goths)

PAPPKLAPP - Baumaterial, hergestellt aus einer sehr, sehr breiten Spannbreite von recycelten Materialien, oft recyceltes Papier und geschredderter Kunststoff, dazu Teile von Tierknochen. Nicht so mysteriös wie Mingbing, das aus China kommt.

RAUSCHER - Ein Programm, das Tausende unechter Transaktionen und scheinbare Datenübertragungen erzeugt, um echte zu verbergen. Eine Online-Nebelwand im Tech-Business.

ROTTER - von »verrotten«, mikroskopische, roboterförmige Nanomaschinen, die durch das Gehirn treiben und Gehirnzellen stimulieren, können leicht ferngesteuert manipuliert werden, so dass sie über-stimulieren und die Zellen »verrotten« lassen.

SCHLUFFI - Ein Weichei. Deezy »Schluffi« Collins war ein extravaganter feminisierter männlicher Video-Streamer, bekannt für sein Quietschen, wenn er anfing. Nicht homosexuell.

SEXSUIT - ein eng anhaftender Anzug, der deinen Körper vom Mund bis zu den Zehen umhüllt und das geisterhafte, computer-generierte Gefühl einer/s Geliebten an deiner Haut überträgt, während VR (Virtuelle Realität) die Anblicke und Geräusche einer sexuellen Begegnung erzeugt. Das Basismodell umfasst eine Auswahl an genitalen Saug-Socken oder Penetrations-Bohrern.

SHORT - kürzeste Erklärung

SIGNALER - Ein illegales Mittel, um ein Handy oder Fon-Implantat oder Bluetooth zu aktivieren, wenn sie wegen Nichtbezahlens der Rechnung abgestellt wurden.

SNAPPER - auch Snaptop genannt, entspricht einem Laptop in Candles Zeit, nach dem Zusammenklappen sehr klein, wie eine Brieftasche. Klappt auf, nach und nach, wird ziemlich groß, wie ein heutiger Laptop. Flexibler Bildschirm. Snapper hat in Großbritannien eine andere Bedeutung.

STONY - jemand, der berauscht ist. Eher von Drogen als von Alkohol.

SÜNKITTIES - Mädchen, insbesondere »leichte« Mädchen. (Ursprung dieses Ausdrucks: Zusammenfassung von »Sünde« und »Kitties«, »Kätzchen«.)

TROLL - ein beleidigender Ausdruck, ursprünglich im Zusammenhang mit einem nervigen Verhalten im Internet, oder Hoaxes, jetzt ein allgemein beleidigender Ausdruck.

V-RATTE - Ein echter Abhängiger der illegalen virtuellen Realität (kann als allgemeine abwertende Verleumdung verwendet werden, wie »Cracksüchtiger«.) Er ist besessen davon, einen V-Trip zu unternehmen.

WASLOS - Was ist los?

WD - World Dollars sind eine globale Währung, eingeführt nach der dritten globalen weltweiten Krise und in der ganzen Welt benutzt. Nur wenige Länder beharren auf ihrer alten Währung. Ein WD in Candles Zukunftswelt ist mehr wert als ein US-Dollar heutzutage.

WEE-TEE-EFF - Verbalisiertes »What the fuck«. 

WENX - ein leichter, unernst gemeinter abwertender Ausdruck für einen Freund oder Bekannten, wahrscheinlich abgeleitet von »Wichser«. Nicht ganz so abwertend wie dieser Ausdruck.

WI-HIGH - Sucht, ursprünglich technologisch basierte Sucht jeder Art. Der Ausdruck lässt sich jedoch auf jede Art von Sucht anwenden. So kann ein Alkoholiker z.B. als Wein-Wi und so weiter bezeichnet werden.

 

 

 

 

 

  DAS HIER IST KAPITEL EINS -

  ES IST MEINS UND ES IST DEINS

 

 

STAATSGEFÄNGNIS VON KALIFORNIEN - ABTEILUNG DOWNLOAD - AD 2033

 

 

Als der Bildschirm für ein ReBewussten piepte, dachte »Pup« Benson gerade an Cabo San Lucas. Von Cabo war heutzutage nicht mehr viel zu sehen, da der größte Teil, zusammen mit einem ziemlichen Stück der mexikanischen Küste, unter Wasser lag, aber in den alten Tagen konnte man da eine tolle Zeit erleben - etwa zur Zeit von Pups erstem Frühjahrsurlaub, also vor dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahren, lange bevor er davon träumte, als Wärter in einem Zellenblock für EntBewusste zu enden. Damals, als ein Collegeschüler in Cabo immer wieder von einem heißen Gipfel der Selbstbefriedigung hinunterrutschen konnte: zu Margueritas, freiverkäuflichem mexikanischem Dexedrin, endlos strömendem goldenem San-Miguel-Cerveza, zum Tanzen, zu Strandspielen - und einer lebenden Suchmaschine für willige Frauen. So lange die Kreditkarte deiner Eltern mitspielte, warst du ein Gott.

Das Mädchen in Cabo, an das er sich äußerst lebhaft erinnerte (obwohl er ihren Namen vergessen hatte), war diese durchgeknallte japanisch-amerikanische Barbie, die kicherte, wenn er sie bumste, und überhaupt so gut wie allzeit bereit war. »Was ist das?«, fragte sie jedes Mal spielerisch, wenn er seinen Dicken herausholte, und tat so, als würde sie große Augen bekommen. »Das ist mein kleiner Welpe«, erwiderte er. Sie kicherte, und sie tätschelte seinen Welpen, und er fragte sich, was aus diesem Mädchen wohl geworden war...

»BENSON, KOMM IN DIE GÄNGE, VERDAMMT NOCH MAL...«

Pup schoss praktisch aus seinem orangefarbenen Kunststoffsitz in der Personal-Lounge, weil Stremp mit seiner schwarzen DJ-Stimme den Ruf von seinem Hinterkopf hatte abprallen lassen. »Verdammt, Stremp, du bist nicht mehr in der beschissenen Kommi...« Stremp, ein großer, untersetzter, kahlköpfiger Schwarzer, war Ausbilder für die kommunale Miliz gewesen. War ein großer, harter Mann gewesen, und jetzt hatte diese Tätigkeit mit den EntBewussten aus Stremp einen großen weichen Mann gemacht.

»Wir haben zwei ReBewusste und einen EntBewussten zu verarzten«, fauchte Stremp, ohne die Lautstärke seines Gebrülls groß zu verringern, »und ich habe keine Zeit für deinen jämmerlichen Blödsinn. An die Arbeit!«

Pup strich sich mit einer Hand durch das sich lichtende Haar, zuckte die Achseln und begab sich zum Boss, tat aber so, als ob er erst pissen müsste, nur damit der Hurensohn warten musste. Er hasste Mittwoche. Er hasste jeden Arbeitstag. Er arbeitete in jeder Schicht, die ihm das privatisierte Gefängnissystem zuwies. Wochenenden waren so gut wie ausgestorben, als die Gewerkschaften ausgestorben waren.

Auf der Toilette sah Pup in den Spiegel und drückte an ein paar Pickeln auf seiner Nase herum. Der Dok hatte gesagt, seine Äderchen würden wegen der Sauferei reißen. Wenn du hier arbeitest, musst du dir manchmal einen zwitschern.

»BENSON...!« 

Fuck. Pup wollte einen Drink.

 

*

 

Pup drückte den schmierigen Knopf am Zellenschloss. Das Paneel in der Tür wurde durchscheinend, und automatisch fiel ein Strom aus Helligkeit auf den Knacki, der auf dem gepolsterten Bord lag, dem Bett eines EntBewussten.

Richard Candle. 

Pup sah erst den Gefangenen an, den EntBewussten, dann das digitale Abbild auf der Fernbedienung. Zwei Ansichten des Burschen, samt seiner Nummer. Gesicht und Nummer passten.

»Ja, das ist er.«

Er schaltete das Paneel ab und tippte den Code ein. Vertat sich beim ersten Mal, das Paneel in der Tür blinkte rot. »Scheißdreck.« Ein erneuter Versuch. Tür glitt auf. Gefangener 788843, in gefängnisblauen Klamotten und Schlappen, lag auf dem Rücken, wie es alle taten - weil es die Vorschriften so von ihnen verlangten -, hatte wie ein Toter die Hände über der Brust gekreuzt und hielt die Augen geschlossen, und man konnte ihn nicht mal atmen sehen.

EntBewusst war er ja, aber jeder konnte nach wie vor Candles Persönlichkeit in seinen Gesichtszügen erkennen. Ein hageres,  fast quadratisches Gesicht mit tief liegenden Augen, harter Kinnlinie, leicht pervers verzogene Lippen. Ein Gesicht von mittlerem Alter, das sagte: Ich möchte dich mir gern warmhalten, also leg dich nicht mit mir an. Ein Gesicht, das über lange Zeit hinweg den Ausdruck einer freundschaftlichen Warnung bewahrt hatte.

Pup tippte auf die Fernbedienung am Handgelenk. Als Reaktion darauf öffnete Candle die Augen. Sah zur Decke auf. Kein Ausdruck in diesen rauchig grau-blauen Augen.

»Rauskommen, Candle 788843«, sagte Stremp.

Sogleich schwang sich Candle vom Tisch. Er stand auf und sah sie erwartungsvoll an. Kein besonderer Ausdruck, kein besonderes Fehlen eines Ausdrucks. Nicht wie ein Zombie, jedoch auch nicht anwesend.

»Stremp - rebewussten wir ihn jetzt?«

»Nö-ö. Er soll ein paar Stunden arbeiten, damit der Blutfluss in die Gänge kommt, und wir haben sowieso einen Rückstand.«

»Okayyyy - Candle, 788843: also los, nach rechts, rausgehen, der gelben Linie zum Arbeitseinsatz folgen.«

Als Reaktion auf die Kombination von Name und Nummer machte sich Candle auf den Weg. Sein Ausdruck blieb unverändert.

 

*

 

Die Nachricht, die über die Decke scrollte, lautete: Sie lassent Fängnissin Caning etheu rückzu Seinwusst in Perperkör. 

Terrence Grist langte an Lisha vorbei und drückte auf den Decoder. Jetzt lautete die Nachricht:

Sie setzen Candles Bewusstsein in seinen Körper zurück. Sie entlassen ihn aus dem Gefängnis. Heute. 

Grist lag auf dem Rücken und las erneut die Botschaft, die immer wieder über den Deckenbildschirm abgespult wurde. Lisha arbeitete weiter, sie hockte mit gespreizten Beinen auf ihm, behielt seine schrumpfende Männlichkeit weiterhin im Schnittpunkt ihrer Weiblichkeit fest und blickte mit geübter Vortäuschung von Verehrung auf ihn hinab. Sie war daran gewöhnt, dass Grist beim Sex las und telefonierte.

Er las die Nachricht erneut, und da er seine Erektion beibehalten wollte, bewegte er weiterhin die Hüften und gab sich Mühe, den Rhythmus nicht zu unterbrechen...

Candle.

Du möchtest ihn hoch halten, denk nicht an Rick Candle. 

Er hatte diese Bettsache in einen vollen Terminkalender gequetscht, und er wollte sie nicht vergeuden. Lisha war kostspielig - alles an ihr. Sogar ihr Gesicht, für das er bezahlt hatte: Grist war im Bett mit sich selbst.

Lisha hatte sich einer plastischen Operation unterzogen und trug jetzt sein Gesicht - natürlich weiblich stilisiert, mädchenhaft hübsch, aber es war Grists Gesicht, nano-chirurgisch reproduziert. Keine allzu große Strapazierung: Er hatte immer schon die Züge eines »hübschen Jungen« gehabt, schmal, fast wie ein Rehkitz, kein transsexuelles Gesicht, aber es hätte das androgyne Gesicht eines Rockstars aus dem letzten Jahrhundert sein können. Lishas Variante seines Gesichts war nicht virtuell, nein. Virtuell war billiger Scheißdreck. Lisha war aus Fleisch und Blut, gesichtsgeformt und bezahlt. Sie war eine teure Vertragsehefrau - allerdings sehr teuer, ihre Agentin war verdammt gut gewesen. Sie hatte gleich, als die Formmaske entfernt worden war, so getan, als würde ihr das neue Gesicht gefallen. Dabei hatte sie die Schauspiel-Fähigkeiten eingesetzt, die Teil ihrer Ausbildung bei der Agentur gewesen waren. Sie wusste, dass sie es ziemlich leicht zurückhaben oder zu einem anderen Gesicht ändern lassen konnte.

»Narzissmus ist in Verruf gekommen«, hatte er zu ihr gesagt, als sie vor einem Jahr ihr neues Gesicht im Spiegel betrachtet hatten. »Das Ego, das wirklich völlig da ist, ist das eines Mannes oder einer Frau. Es gibt keine Seele. Es gibt nichts weiter als das Ego und die Erinnerungen. Die Mei-trix, wie wir es im Semblant-Geschäft nennen, meine Liebe. Und wenn du genügend meine Frau sein willst, meine gehätschelte Frau, sei mein liebliches, verweiblichtes Spiegelbild und sei glücklich.« 

Heute, in seinem Schlafzimmer, vervielfachten vier Digicams ihn auf den Rundum-Bildschirmen. Dämpfe aus milden Designer-Stimulanzien verstärkten die sauerstoff-angereicherte häusliche Umgebung, veranlassten ihn mit versteinerten Miene zu der Überlegung: Hier war er vollständig, zwei Identitäten, ästhetisch zu einer verschränkt, wie der Schwanz einer Taube, und was war das für ein Bild: »wie der Schwanz einer Taube«, gerade im Augenblick betrachtet, der Schwanz einer Taube, der weiße Vogel, der...

Was war mit Candle? Wenn dieser Pit-Bull, dieser Ex-Bulle...

Seine Hingabe an die Lust des Augenblicks schmolz dahin. Er spürte, dass er von Lisha wegfiel, direkt durchs Bett hinabfiel in kaltes Alleinsein.

Ein Nebeneffekt der Dämpfe, redete er sich ein. Du bist nicht allein. Du bist von denen umgeben, die für sich arbeiten. 

Candle... Maeterling...

Was von seiner Erektion verblieben war... war weg.

»Was, äh, ist los?«, fragte Lisha nuschelnd und unterdrückte ein Gähnen.

»Mir ist... mir ist nur gerade etwas eingefallen, ein Notfall. Geschäftlicher... Notfall. Runter... bitte.«

Pflichtschuldig wälzte sich Lisha herab, locker und professionell, wie eine freundliche Restaurantangestellte, die den Tisch abräumte.

Grist setzte sich auf, griff nach der Flasche aus geschliffenem Glas neben dem Bett, schenkte Brandy in einen kristallenen Cognacschwenker, trank ihn fast zur Hälfte leer und fühlte sich etwas ruhiger. Er ging ins nächste Zimmer hinüber, schloss die Tür, stellte sich über den Smarttisch, schaltete ihn ein, fuhr rasch mit den Fingern über das Auswahlfenster für Targer und hinterließ die grundlegendste aller Nachrichten überhaupt: »Targer? Sieh mal, wen du bestechen kannst. Candle soll drin bleiben. Tu, was du zu tun hast. Oder arrangiere einen Unfall mit seinen... Maschinen. Mir egal, wer mal seine Freunde waren.« 

Bring Candle aus deinem Kopf...

Aber Candle hatte herausgefunden, dass Grist die Gaunerei mit der Abschöpfung zu seinem Vorteil ausgenutzt hatte, die Maeterling zusammengebraut hatte. Er hatte es herausgefunden, nachdem er die Schuld für seinen Bruder auf sich genommen hatte, kurz vor dem EntBewussten. Zu spät. Keine Unterstützung mehr seitens der Polizei. Keinen Zugang mehr zu deren Datenbanken. Aber Candle hatte es von Maeterling erfahren. Ehemaliger Angestellter von Grist. Das kleine Wiesel hatte einen Kuhhandel mit Candle versucht... zu spät. »Mr. Grist hat abgewartet, bevor er die Polizei von meinem Abschöpfen in Kenntnis setzte, und es selbst ausgenutzt, da bin ich mir ziemlich sicher. Wenn du einen Beweis findest, können wir ihn erpressen...« 

Grist hatte sich Maeterlings entledigt. Und Candle hatte das EntBewussten auf sich nehmen müssen, um seinen Bruder zu beschützen. Keine Zeit für etwas anderes. Hätte sich um Candle kümmern sollen, während er entbewusstet war - aber Candle hatte Freunde bei den Gesetzeshütern, die verlautbart hatten: Jeder Unfall, der Candle im Gefängnis zustößt, wird gründlich untersucht.

Und jetzt wurde Candle entlassen.

Grist war kalt, obwohl die Zimmertemperatur ausnehmend genau kontrolliert wurde, und er kehrte zu Lisha zurück.

Er setzte sich aufs Bett, tippte auf den Smarttisch gleich daneben und spielte seine V-Mail erneut ab, während Lisha sich auf die Kissen zurücklegte, mit dem ganzen Körper ein Schulterzucken ausdrückte, das Gesicht ihrer eigenen Konsole zuwandte und dort iVogue aufrief.

Er dachte: Sie verliert ihre Fähigkeit, so zu tun, als ob es ihr etwas ausmacht, wenn ich aufhöre, sie zu lieben. Es lag ein verräterischer Geruch im Zimmer, der auf seinen Genitalien haften blieb - ein chemischer Geruch, über den zu beklagen er versucht war. Es handelte sich um ihr zuvor aufgebrachtes Gleitmittel. Sie hatte es offenbar direkt vor ihrer Sitzung eingeführt. Es war parfümiert, aber man konnte die Gleitmittelchemikalien darunter riechen. Was bedeutete, dass sie nicht ausreichend erregt wurde, um natürlich feucht zu werden. Zumindest durch ihn. Er spielte mit dem Gedanken, jemanden anzuheuern, der sie erregte, vielleicht einen Bodybuilder. Aber es wäre ein Affront, wenn er das tun müsste. Nein: Sie würde sich Mühe geben müssen. Er würde später mit ihr reden. Er griff nach dem Handtuchspender und wischte das Gleitmittel mit einer Hand ab, während er mit der anderen durch die Nachrichten scrollte.

Es gab eine V-Mail von Mitwell - ein engelhafter Manager, der ein formelles Halsband aus blauer Seide trug, dessen unverändertes, plebejisches Gesicht für Grist ein Ärgernis war.

Wirklich, dachte Grist, diese ganze Geschichte von wegen, sich gegen Gesichtsveränderungen wehren, war angesichts der so praktischen Nanochirurgie für die Betuchten eine widerwärtige Marotte. »Naturalismus«. Gesichter ansehen zu müssen, die so angeboren unattraktiv waren, war wie der Anblick des männlichen Skrotums. Aber Mitwell war ein »Naturalist«. Obwohl ein Heuchler, denn er benutzte oft ein Semblant. Taten sie alle.

»Wenn Sie so weit sind, Sir«, sagte Mitwell (oder sein Semblant?) gerade. »Drücken Sie einfach die »Zwei« für den Semblantspot - der ist für Managerclubs gedacht.«

Grist tippte auf die Tastatur der Konsole, und Mitwells Abbild wurde durch eine hübsche blonde Sprecherin ersetzt, deren Haar kunstvoll verwuselt, deren Tonfall intim war. »Ich verstehe. Wirklich. Sie sind beschäftigt. Das ist der Punkt. Sie haben von Semblants gehört - nur dass Sie noch nicht davon gehört haben, nicht richtig. Sie glauben es nur. Siebzig Prozent Ähnlichkeit war für Slakon nicht genug. Die neuen Slakon-Semblants kopieren... Sie. Ihr Abbild, Ihr Äußeres, Ihre Persönlichkeit... komplett.« 

Auf Grists Drängen hin hatte Slakon das Wort »Semblant« vor zwei Jahren als Marke eintragen lassen. Das Wort »Simulation« erschien wie etwas Gefälschtes und sogar Billiges. Und sie wollten nicht billig sein - bei »Semblants« sollte es um Glamour gehen. Erfolg. Geld. Der Ausdruck »Semblant« ersetzte rasend schnell ältere Worte wie »Bewusstseinsklon« und »Cyberklon« und all die anderen geschmacklosen, veralteten »Klon...«Ableitungen. An einem Semblant war schließlich nichts Biologisches.

Während Grist zuschaute, ging der neue Werbespot zum Bild eines jungen männlichen Managers über, der kritisch die Varianten eines eigenen Semblants musterte. Sie wirkten verschwommen. »Alles, was Sie sind...« Daraufhin wurden die Bilder scharf. Der Manager blickte in die Kamera und legte einen Finger über seine lächelnden Lippen: Pscht! »...bearbeiten Sie nach Belieben, wie es Ihnen gefällt.« Zwei der Semblantabbilder legten den Finger über den Mund, mit jeweils etwas anderem Ausdruck. Das dritte blinzelte lediglich.

»Und jetzt kann Slakon Ihr Bewusstsein für bis zu fünfzehn Besprechungen auf einmal »semblen«.« 

Der Spot zeigte, wie der Manager sich in einem Sessel zurücklehnte, einen farbenfrohen Cocktail in der einen Hand. Die andere Hand ruhte leicht auf dem Schenkel der hübschen blonden Sprecherin. Die trug elegant drapierte, duftige blaue Lingerie und saß jetzt mit einer unwahrscheinlichen Beschwingtheit auf der Lehne seines Stuhls. Hinter ihnen zeigte ein mehrfach unterteilter Bildschirm die Semblants des Managers, die an digitalen Besprechungen teilnahmen,  fröhlich mit anderen, endlos sich replizierenden Bildschirmen plauderten...

»Erledigen Sie Ihre Geschäfte...« 

»...mit Semblants von Slakon!«, warf der Manager ein und hob sein Glas in die Kamera.

Dann folgte der letzte Slogan, gesprochen von einer autoritären männlichen Stimme: »Ihre Gesprächspartner werden glauben... dass Sie wirklich dort sind.« 

Kleine Bänder mit Erklärungen liefen über den unteren Bildrand: »Von Semblants geschlossene Verträge sind nicht gesetzlich bindend, außer sie sind selbsterklärend.« 

Es gab eine weitere Variante für weibliche Manager. Grist stufte alle beide als zu sehr mit dem Holzhammer gemacht für die Zielgruppe ein. Und allzu retro.

Grist drückte die Rückruftaste, wobei er sein Standard-Semblant fürs Geschäft einsetzte, dessen digitales Gesicht sich seinen Worten anpasste. Aber das Gesicht, das Mitwell sah, war beherrscht, nüchtern, auf einen vollständig bekleideten Körper gesetzt. Für Mitwell keine Live-Übertragung seiner Nacktheit. »Mitwell? Ich find's scheußlich! Zu sehr Holzhammer, zu retro. Wie etwas aus dem letzten Jahrhundert... bäh.«

»Ich dachte, es sollte tuntig sein oder so.«

»Wir machen nicht auf tuntig. Besorg etwas Kunstvolles, etwas ohne diese steife Voice-over-Kiste. Hol Jerome-X oder jemanden, die sollen ein Musik-Vid machen. Wenn ich es recht verstanden habe, hat er sich sowie schon verkauft. Mach dich ran.«

Grist schaltete ab und trank noch etwas Brandy. »Möchtest du einen Drink, Lisha?«

»Nö-ö.«

»Du schmollst?«

»Nö-ö.«

»Nein?« Ihn überkam ein Impuls, ihr zu gefallen. Merkwürdig, da er eigentlich sauer auf sie sein sollte, weil sie das Gleitmittel verwendet hatte, um es mit ihm zu treiben, aber ihm war, auf irgendeine undefinierbare Weise, nach einer Entschuldigung zumute. »Möchte dein kleines rundes Popöchen ein bisschen Shoppen gehen?«

»Ja!« Plötzlich setzte sie sich ganz munter auf und spielte strahlend das glückliche kleine Mädchen.

Glückliches kleines Mädchen, aber es war fast sein Gesicht, und plötzlich wurde er an sich selbst als kleiner Junge erinnert.

Kleiner Junge in Los Angeles. Damals, bevor sie den Damm errichtet hatten, um L.A. vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen. So weit zurück. Ein Besuch bei seinem Vater im Jet Propulsion Lab. Der knauseriger alte Hurensohn war bereits fast an seinem Krebs gestorben, weigerte sich jedoch, seinen Schreibtisch zu räumen, bis sie ihn gewaltsam vor die Tür setzten. Sein Vater, der ihn blinzelnd von seinem Bürostuhl aus ansah - gebeugt dort sitzend, und die Füße krallten sich in den Fußboden, als würde er sich mit dem ganzen Körper dagegen wehren, für den Nachfolger an die Luft gesetzt zu werden. Ein ausgemergeltes Komma eines Mannes, der sich zu erinnern versuchte, weshalb der Junge dort war. Er sprach nicht direkt aus: »Warum bist du hier?« Und der Junge erwiderte nicht direkt: »Das gehört zu meinem Besuch bei dir. Ich sollte dich bei der Arbeit sehen.« Später, zuhause, bekam er ein Telefongespräch seiner Mutter mit ihrer Schwester mit, in dem es darum ging, dass sie das Kindergeld verlor, wenn Vater starb. Ihre Hauptsorge. Geld übertraf Tod. Es war eine Lektion.

Er wollte allein sein und einfach stony werden. Er wälzte sich herum, drehte die Dämpfe hoch und stellte die Kameras auf Playback.

Dow Jones/Pacific Industries tickerte digital vorüber, an der Decke, unterhalb der Bilder, wie er selbst und Lisha heftig bei der Sache waren. Seine vorherige Vertragsfrau war wütend geworden, wenn er nach dem Aktienindex sah, während er sie bumste.

Ohne Lisha auch nur anzusehen, überwies er zusätzliche zehn Riesen auf ihre Karte. Schickte sie zum Shoppen. Wollte sie so rasch wie möglich loswerden. »Da, bitte...«, murmelte er. Lisha gab ihm ein Küsschen auf die Wange, als das »Überweisung bestätigt« auf dem Bildschirm erschien, und sie hüpfte aufgeregt aus dem Bett, weil sie Shoppen gehen konnte.

 

*

 

Ist wie Wächterroboter, dachte Pup. Was ist der Sinn? 

Obwohl der einzige richtige Roboter hier ein einzelner Robot-Wächter war, eine Säule auf Rädern mit zwei ausfahrbaren Armen, die rumpelnd langsam hin und her gingen und Identitäten prüften, biometrisch Gesichter auf Übereinstimmung musterten und ansonsten nichts in dem langen, niedrigen Raum aus Betonziegeln zu tun hatten. Eine Decke aus mattem Panzerglas erhellte den Raum in schattenloser Uniformität. Ein Raum von Männern, die Maschinen bedienten. Das Tuckern-Quietschen von hartem Metall, das weiches Metall küsste. Ein schwaches Klirren, ein Surren, die gelegentliche Bemerkung eines Wächters zu einem anderen und eine besinnliche Abwesenheit anderer menschlicher Geräusche. Die Maschinen formten und programmierten Autokennzeichen mit dem digitalen Abbild des Besitzers darin, wobei das Gesicht des Besitzers zwischen der Ansicht frontal und im Profil hin und her wechselte und das Kennzeichen langsam neben dem Gesicht herabscrollte, immer und immer wieder. Ab und zu äußerte sich ein Abgeordneter mürrisch dahingehend, wie langsam der Kennzeichenhersteller arbeitete, weil Menschen die Maschinen bedienten - die ganze Sache könnte vollautomatisiert werden. Aber das Gesetz sagte, dass die Menschen einer Art körperlicher Tätigkeit nachzugehen hätten. Arbeitsbeschaffung, fleißige Arbeit für menschliche Hände.

Jene menschlichen Hände waren jetzt die von Candle und Garcia. Die beiden schoben ausdruckslos Kennzeichen unter den Digidrucker und holten sie wieder heraus, während andere Männer Kennzeichen nach regionalen Nummern sortierten. Weitere EntBewusste, deren Identitäten irrelevant waren - lebende Karikaturen von Menschen, wie die animierten Bot-Figuren in Digi-Games, vollführten Routinebewegungen ohne das Gezänk und Geschwätz, das sie hätte menschlich machen sollen. Und ohne Beziehungen, oftmals verstörende Beziehungen, zwischen den Gefangenen. Keine Freundschaft konnte in der Dürre der EntBewussten erblühen - und keine Feindschaft.

Das bereitete Pup Sorgen, er gewöhnte sich nie daran. Es gab kein Risiko hier. Keine zwischenmenschliche »Hitze« irgendwelcher Art von Seiten eines Mannes, der völlig einem Apparat an seiner Schädelbasis untergeordnet ist.

Also war es fast eine Erleichterung, wenn ein- oder zweimal im Jahr einer der Gefangenen einen Fehler machte. Vielleicht blieb die Maschine stecken, oder vielleicht bewegte sich der Gefangene langsam wegen - wer weiß? - eines Virus, der dem Blutmonitor entgangen war.

Heute war es die Maschine: Der Bildner musste gereinigt werden, und ein Kennzeichen blieb auf halbem Weg nach draußen stecken, und Garcia griff automatisch hinein, zog, und der Bildner löste sich plötzlich, und der Stempel fuhr auf den Abbildungsbereich herab, blieb einen halben Zentimeter über dem Kennzeichen stehen, und - knirsch, die Knochen von Garcias Hand waren zerschmettert.

Garcia reagierte nicht - und das war Grund dafür, dass Pup noch flauer im Magen wurde, als allein durch das Knirsch. Da er keinen Schmerz spürte, zog Garcia nicht einmal die Hand heraus, und der Bildner kam wieder herab, als Pup hinüberrannte, um den Mann wegzureißen. Eine Sekunde zu spät - die Hand wurde so sehr zerquetscht, dass sie ihre Form verlor. Es war eine blutige Zahnpasta, die aus einem flach gedrückten Handschuh hervorquoll, und Pup hätte sich fast übergeben.

Stremp hörte den Verletzungs-Alarm, kam herbeigeeilt - und gab eine Art Schnauben von sich, als ob es Pups Schuld wäre. »Garcia 667329, geh zur Krankenstation.«

Garcia ging ruhig und gehorsam - die Hand hinterließ eine Blutspur - zur Tür hinaus. Sie wussten, dass er dorthin gehen würde, wohin er geschickt worden war, und natürlich überwachten ihn sowieso die Kameras.

Stremp rief Sokio Wojakowski herbei, den japanischen Wärter, oder halb-japanischen, und sagte ihm, er solle aufpassen, sie würden einen Digi-Bericht über die Verletzung anfertigen müssen, obwohl die ganze Sache bereits von den Überwachungskameras gespeichert worden war, und - Stremp warf einen Blick auf seine Uhr - es war auch etwa an der Zeit, Candle zu rebewussten und zu entlassen.

 

*

 

Grist lehnte sich in die perfekte Umarmung seines Schreibtischstuhls zurück, blickte zur durchsichtigen Büromauer hinaus, beobachtete die Landung des Hubschraubers auf dem Helipad gleich draußen und dachte, wie sehr doch die neuen, vom Casimir-Effekt unterstützten Hubschrauber so aussahen, als ob sie ein losgelöstes Teil der Gebäude wären, auf denen sie landeten: glatte Metall- und Glasbögen, fast keine Nähte und von derselben Farbe wie das Gebäude, Sklakons Metallisch- und Chrom-Blau mit den dünnen roten Streifen. Die Hubschrauberlandung war wie die Wiedervereinigung einer Gliedmaße mit einem Körper. Was gut war. Alles an der Firma sollte so aussehen, alles sollte Zusammenhalt suggerieren, einen zentralen Zweck. Manchmal dachte er, dass Unternehmens-Autorität zu neunzig Prozent aus Architektur und Ingenieursdesign bestand.

Beruhigende Gedanken waren ihm eine große Hilfe dabei, seine Wut zu zügeln. Unter der Oberfläche schäumte er. Das Risiko, dass Candle vielleicht entlassen wurde. Und die Anschuldigungen eines Bill Hoffman. Der Aufsichtsrat beschuldigte ihn, sie gehackt zu haben - beschuldigte ihn so weit, wie sie es sich trauten.

Gerade entstieg Targer dem Hubschrauber und trottete zur Tür hinüber. Er sah Grist beim Herankommen nicht an, weil er von seiner Seite aus nicht zum Fenster hineinsehen konnte. Grist wies den Smartschreibtisch an, die Tür zu öffnen, so dass Targer keine Zeit mit der Sicherheitsüberprüfung verschwenden musste.

Targer war etwa fünfzig, und sein Haar war stahlgrau, die Nase wie die eines Adlerschnabels, kein Jota verschwendeter Energie in seinen Bewegungen. Er war Brite, wie irgendwer noch britisch sein konnte. Die meisten sozialisierten Menschen waren WorldWeb, in denen nicht mehr viel heimische Kultur verblieben war. Targer trug die Uniform der Sicherheitskräfte von Slakon, die ziemlich paramilitärisch wirkte. Nicht überrascht, dass Grist ihn »kip« sehen wollte, körperlich in personam. Dies war eine Sache von höchster Sicherheit.

Targer kam gleich zur Sache. »Ich fürchte, ich kann Candles Entlassung nicht verhindern«, sagte er schlicht.

Grist beugte sich vor und setzte die UV-Brille ab, die er auf den Kopf geschoben hatte, um sein glänzendes Haar zurückzuhalten. Er war gerade vom Putting-Grün auf der anderen Seite des Dachs zurückgekommen.

Gereizt schleuderte er die Brille auf den Schreibtisch und winkte Targer in einen Stuhl. Die anderen drei Wände des Raums zeigten Bilder, bei zweien waren es Echtzeitaufnahmen der Rocky Mountains in tiefem Schnee, wo Grist gern Ski fuhr. Auf der dritten Wand waren in Endlosschleife Grists beste Augenblicke als Golfspieler zu sehen. Ein ewiger sonniger, erfolgreicher Tag auf den Links, diese Wand.

»Es war deine Aufgabe, ihn im Gefängnis festzuhalten, Targer. Ich habe dir einen fetten Bonus gegeben, damit du ihn im Gefängnis festhältst. Du bist mein verdammter Sicherheitschef. Und jetzt fühle ich mich nicht sicher.« Er wandte den Blick von einem seiner wenigen Asse ab und richtete ihn auf Targer, der nicht mal blinzelte. »Das ist verdammt unsicher, Targer.«

»Ich hatte Ihnen den Rat gegeben, ihn umzubringen, Sir«, sagte Targer mit einer Ruhe, die einen wahnsinnig machen konnte.

Grist knurrte. »Zu viel Überwachung bei Candle.« Er seufzte. »...aber ich hätte es tun sollen.«

»Es war nicht leicht, ihn wegstecken zu lassen. Candle war ein hoch dekorierter Bundespolizist mit jeder Menge Freunde. Senator Williger...«

»Senator Williger! Dieses Arschloch hätte ich mir ebenfalls vom Hals schaffen sollen.«

Targer nickte. »Ja, Sir.«

»Steckt Williger hinter dieser raschen Entlassung?«

»Vielleicht. Glaube aber nicht. Er hat gut mit diesem Skandal wegen dieser koreanischen Schülerinnen zu tun. Ich sehe nicht, dass er es ist. Jemand auf der privatisierten Ebene der Regierung, vermute ich. Jemand mit Verbindungen zur Justiz. Gibt viele Ex-Polizisten da, sind vielleicht loyal zu Candle. Oder es könnte ein Konkurrent sein - hat etwas darüber rausgefunden. Möchte Ihnen schaden.«

»Könnte so gewesen sein - das umfasst den größten Teil der Reichen 33. Hoffman, Bill Hoffman - das ist sehr gut möglich. Wir können garantiert keinen Arbeitsunfall für Candle arrangieren, bevor er zu dieser Tür rausgeht?«

»Alles, was in diesem Gefängnis passiert, wird überwacht und in der Blackbox abgespeichert. Wir können nach wie vor nicht in diese Blackboxes eindringen. Es wäre schwer, so etwas ohne viel Vorbereitung durchzuziehen, würde viel schwere Bestechung erfordern. Bis dahin ist er wieder auf der Straße, mit vollem Bewusstsein - und seiner Erinnerung.«

Grist schnaubte. »Ziemlich leicht, ihn zu töten, sobald er draußen ist. Aber wenn wir nicht - vielleicht können wir umgekehrt einen Schuh draus machen, Targer. Ich würde gern erfahren, wer mich so in die Pfanne hauen will. Jemand hat diese Entlassung arrangiert, um sich mit mir anzulegen. Sie werden Candle kontaktieren...«

»Vielleicht.«

»Wen hast du darauf angesetzt?«

»Halido. Und ich habe Pup Benson drinnen, aber ich weiß nicht, was er tun kann, bei dieser Kameraüberwachung... Er ist sowieso nicht von großem Nutzen.«

»Also gut... Lass mich mit Halido reden. Hol ihn dort hoch.«

Targer tippte auf den Schreibtisch, und ein »Fenster« teilte sich auf dem Display ab, ein Lateinamerikaner mit Augen tief in den Höhlen und einer schmutzigen Baseballkappe drehte sich um, sah in das schwebende Videoauge und wich zurück. Die Kamera bewegte sich auf ihn zu. Auf Halidos Schneidezähnen war ein Stern aus Diamanten zu erkennen. »Mein Gott, Targer, Sie lassen mich von einem ferngesteuerten Vogel verfolgen?«

»Halt's Maul. Mr. Grist möchte mit dir reden.«

»Ich sehe ihn nicht.«

»Und du wirst ihn auch nicht zu sehen bekommen. Mund halten und zuhören.«

Wie Grist wusste, verärgerte es Targer, die Kommandokette auf diese Weise hinabzusteigen, aber da draußen lief eine hässliche Variable frei herum. Candle. Ein menschlicher X-Faktor. Es verschaffte Grist ein gutes Gefühl, aktiv damit umzugehen.

»Halido«, sagte Grist, »wenn Candle rauskommt, bringst du ihn erst um, wenn ich es dir sage. Bleib in seiner Nähe. Erstatte jedes Mal Bericht, wenn er mit jemandem Kontakt aufnimmt, oder wenn jemand mit ihm Kontakt aufnimmt.«

»Wird erledigt, Sir.«

Grist winkte Targer zu, und Halido verschwand vom Bildschirm und wurde durch einen Blick auf die Fairway ersetzt.

Der Bildschirm sagte: »Anruf vom Gericht, Mr. Grist.«

Grist schüttelte den Kopf. »Soll mein Semblant mit ihnen reden.«

»Ja, Sir...«

»Targer?«, sagte Grist in diesem gewissen Tonfall, den er drauf hatte.

»Ich weiß«, sagte Targer. »Lasse ich erledigen.« Er salutierte mürrisch und kehrte zum Hubschrauber zurück.

 

*

 

Candles Brechreiz war fast vorüber. Warte mal... Okay, da. Er war vorüber. Er richtete sich auf, blickte sich auf der Gefängnistoilette um und berührte die kahle Stelle an seiner Schädelbasis, wo die Bewusstseinsklammer sich befunden hatte.

Schaute sich um, sah wirklich hin, zum ersten Mal seit... wie lange war es her gewesen? Jahre auf jeden Fall. Was sah er jetzt, nach all diesen Jahren?

Eine Reihe frei stehender Toiletten, Fliesen, rostfreier Stahl, alles von Robotern auf Hochglanz gereinigt. Ein kleiner, ovaler Roboter arbeitete sich langsam an der Wand entlang, unter den Waschbecken, die er im Vorangehen säuberte.

»Bist du fertig oder was?«, fragte ihn der Wärter. BENSON stand auf dem Namensschildchen.

Candle nickte und trank Wasser aus dem Spender. Er spülte sich den Mund aus. »Ist das normal?«

»Was, zu kotzen, nachdem du dein Bewusstsein wiedergekriegt hast? Oh, ja, das tun alle, schätze ich. Kotzen, weil sie wieder sie selbst sind. Sich ihrem beschissenen Leben gegenübersehen. Das war immer meine Theo...«

Er hielt mitten im Wort inne, als sich Candle zu ihm umwandte und sich den Mund wischte. Musste den Typen härter angesehen haben, als ihm klar war, weil der Wärter einen Schritt zurück machte, eine Hand auf den Piepser an seinem Gürtel legte und mit der anderen den Schlagstock hob.

»Du fällst über mich her, und du kommst nie hier raus, Kumpel«, sagte Benson.

»Zittert deine Stimme immer so, wenn du Leuten Angst einjagen möchtest, Benson?«, fragte Candle und rieb sich die Augen.

Dann, ohne dass es ihm gesagt worden wäre, ging Candle zur Tür hinaus und in den Gefängniskorridor. Nach einem Augenblick folgte ihm der Wärter. Bei einem Blick zurück bemerkte Candle, dass Benson stinksauer war. Aber er schien nicht geneigt, etwas deswegen zu tun.

Gut für beide Seiten.

 

*

 

»Sie sind...« Der Psychiater hielt inne und warf erneut einen Blick auf den Bildschirm, der in seinen Schreibtisch eingelassen war. »...Buddhist. Oh, ein »Shiva-Buddhist«?« Das Büro des Psychiaters wies die üblichen Monetdrucke und ein gerahmtes Zertifikat auf. Der Psychiater hatte einen Bürstenhaarschnitt, ein abgestumpftes, faltiges Gesicht und ein abgestumpftes Verhalten. Wahrscheinlich ein ehemaliger Militärarzt.

»Shiva-Buddhist... der Ausdruck verwirrt die Leute«, sagte Candle erschöpft. Ihm war nicht danach, darüber zu reden. Sein Magen schlug noch immer Kapriolen. Manchmal schien der kleine Raum das ebenfalls zu tun. Er rückte in dem unbequemen Plastikstuhl umher. »Dieses Zeug über Shiva-Buddhismus. Hat wirklich nicht viel mit Hindugöttern zu tun. Einige der Tibeter, die in der Volksrepublik festsitzen, sind Buddhisten geblieben, aber...« Er zuckte die Achseln. »...sie bestehen auf bewaffnetemm Widerstand. Während der tibetischen Diaspora haben einige von ihnen ein paar Hindu-Symbole aufgeschnappt, leben in Indien... passt zur Idee des bewaffneten Widerstands.«

»Also ist es philosophisch gesehen so, dass sie - und Sie - einen Feind töten und dennoch Buddhist bleiben können. Das erschiene wie... eine Verdrehung der Lehre des alten Gautama.«

»Hängt davon ab, zu welchen Buddhisten Sie sprechen: War immer so. In diesem Fall ist es eine Adaption. Ein Wiedererkennen des...« Die Worte schienen aus seinem Gehirn zu entweichen, ein paar Augenblicke lang. Er schüttelte sich.

»Ein wenig Aphasie ist anfangs normal, nach einem ReBewussten«, sagte der Psychiater.

Lächerlich, jetzt über so etwas zu reden, dachte er. Er wollte einfach nur diesen verdammten Bau verlassen. Wollte irgendein privates Plätzchen finden, wo er herumschreien konnte, wenn er wollte.

etwas gestorben wäre,