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Passagen Heft 16

Herausgegeben von
Peter Engelmann

Colin Crouch

Der Kampf um die
Globalisierung

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Inhalt

Das Argument in Kürze

Die vier Wellen der Globalisierung

Gewinne und Verluste

Der Mythos der Nation

Die Rückkehr von Konflikten aus dem 18. Jahrhundert

Was nun?

Anmerkungen

Das Argument in Kürze

Ein epischer Kampf zwischen der Globalisierung und dem wiederauflebenden Nationalismus verändert die politischen Konflikte und Identitäten auf der ganzen Welt. Von einer Entwicklung, die uns allen günstigere Produkte aus dem Ausland und neue Exportmöglichkeiten zu versprechen schien, wurde die Globalisierung für viele zum Sinnbild des Verlusts; und dabei geht es nicht nur um den Verlust einzelner Arbeitsplätze, sondern um den Niedergang ganzer traditioneller Industrien sowie jener Gesellschaften und Lebensformen, die mit diesen verbunden sind und in denen sich eine immer größere Verunsicherung ausbreitet angesichts der fremden Bräuche und der großen Zahl von Menschen aus anderen Kulturen, die die vertrauten Orientierungspunkte des Lebens besetzen und zu verfremden drohen. Das daraus resultierende Unbehagen teilen ehemalige Stahlarbeiter aus Frankreich und Amerika – die mit ansehen mussten, wie ihre Industrien und damit die dort ansässigen Gesellschaften verschwanden – mit Deutschen – die von Heimat sprechen und dabei das Gefühl haben, dass dies etwas bezeichnet, was sie verloren haben, ohne jedoch genau zu wissen was –, mit Russen, Briten und Australiern – die ihren untergegangenen Imperien nachtrauern und die Idee ablehnen, dass „Souveränität“ in einer globalisierten Welt geteilt werden muss –, mit Menschen in der islamischen Welt – die sowohl die Invasion amerikanischer und britischer Kampfflugzeuge als auch die der westlichen Kulturen und der freizügigen Sitten befürchten – und mit Menschen überall in Europa und Nordamerika – die entsetzt sind aufgrund vereinzelter Terroranschläge und der Tatsache, dass es in ihren Straßen Frauen gibt, die den hajib tragen. Obwohl die Globalisierung im Kern ökonomische Fragen zu betreffen scheint, zeigt diese Auflistung, dass sie einen noch tieferen Punkt berührt, nämlich den Wunsch der Menschen, auf ihre Lebensumstände stolz sein zu können: auf ihre Arbeit, ihre Gesellschaften, die Städte und Großstädte, in denen sie leben – auf ihre Heimat. Viele Menschen sind noch immer in der Lage, diesen Stolz zu fühlen, weil ihre Gegenden und Regionen von der Globalisierung profitieren konnten; sie haben eine entspannte oder sogar ambitionierte Haltung angesichts der Möglichkeiten, die das Kaleidoskop eines immer vielfältiger werdenden kulturellen Universums ihnen eröffnet. Es gibt aber auch solche, die andere Erfahrungen machen. Auch wenn sie selbst wohlhabend und erfolgreich sind, sehen sie sich mit einer Welt voller beunruhigender Veränderungen konfrontiert und sehnen sich nach Sicherheiten, von denen sie – wahrscheinlich zu Unrecht – glauben, dass es sie in einer früheren Welt gegeben habe.

Im Zuge der erneuten Debatte über den Austritt aus der Europäischen Union (EU), die in Großbritannien nach dem Referendum von 2016 stattfand (denn vor dem Referendum gab es weniger Diskussionen), interviewte die British Broadcasting Cooperation (BBC) einige Menschen in Middlesbrough, einer ehemaligen Industriestadt im Nordosten von England, der es wirtschaftlich sehr schlecht geht und in der größtenteils für den Austritt aus der EU gestimmt wurde. Ein wiederkehrendes Motiv in diesen Interviews waren Aussagen wie: „Wir haben alles verloren, die jungen Leute ziehen von hier weg, weil sie keine Perspektiven für die Zukunft sehen. Aber zumindest wissen wir, dass wir Briten sind, und darauf sind wir stolz.“ Deswegen haben sie für den Austritt aus der EU gestimmt. Diese Argumentationskette folgt zwar keiner Logik im strengen Sinn, aber dafür einer kraftvollen emotionalen Logik. Sie hilft zu begreifen, warum sich im frühen 21. Jahrhundert ein wiedererwachender Nationalismus bei der breiten Masse zur herrschenden Kraft entwickelt.

Aber wir müssen gegen diesen Mangel an exakter Logik vorgehen. Nur mithilfe eines Ausbaus demokratischer Institutionen und Regierungsinstitutionen, die ihrerseits in der Lage sind, global zu operieren, können wir es schaffen, ein gewisses Maß an Kontrolle über eine Welt zu gewinnen, in der sich die gegenseitigen Abhängigkeiten immer weiter verstärken. Diese Aufgabe zu lösen ist an sich schon schwer genug, aber es wird nahezu unmöglich, wenn viele Politiker die Menschen dazu auffordern, das genaue Gegenteil zu tun: sich hinter nationalen Grenzen abzuschotten und den Kontakt zum Rest der Welt auf die Beziehungen zwischen unabhängigen Handelspartnern zu beschränken.

Obwohl der Widerstand gegen die Globalisierung von allen erkennbaren Teilen des politischen Spektrums ausgeht und zugleich von keinem bestimmten, lag seine Führung von jeher fest in den Händen der Rechten. Das ergibt natürlich Sinn, wenn der Träger eines großen Teils dieses Protests der Nationalismus ist, der historisch hauptsächlich, wenn auch keineswegs ausschließlich, mit der politischen Rechten in Verbindung gebracht wird. Aber es gibt dabei eine gewisse Ambiguität. Die ökonomische Globalisierung ist hauptsächlich (wenn auch wiederum nicht ausschließlich) das Projekt des Neoliberalismus, der einige Jahrzehnte lang die herrschende Ideologie einer breiter gefassten modernen Rechten darstellte. Bedeutet dies, dass die Unterschiede zwischen Links und Rechts im Kampf um die Globalisierung keine Bedeutung mehr haben? Oder heißt das, dass nur die Linke bedeutungslos geworden ist und das Feld einem neuen Konflikt zwischen verschiedenen Flügeln jener Ausrichtung überlassen hat, die wir gemeinhin als Rechts bezeichnen?

Ich werde hier dafür argumentieren, dass Rechts und Links keineswegs bedeutungslos geworden sind, sondern dass die sozialdemokratische und grüne Linke sehr wohl in der Lage sind, einen entscheidenden Beitrag in diesem Konflikt zu leisten; dass sie sich auf die Seite der Globalisierung und gegen den neuen Nationalismus stellen, aber auch auf Reformen bestehen müssen, um die Weichen für die Entwicklung der Globalisierung zu stellen. Dies stellt eine Zukunft in Aussicht, in der sich Sozialdemokraten, Umweltschützer, moderate Konservative und realistische Neoliberale verbünden, um für eine geregelte Globalisierung und gegen nationalistische, nativistische und fremdenfeindliche Kräfte einzutreten. Das heißt jedoch keineswegs, dass nationale oder lokalere Identitäten aufgegeben werden müssen, sondern vielmehr dass man alle Identitäten, die in der heutigen Welt verfügbar sind, als eine Folge konzentrischer Kreise begreifen sollte, die sich gegenseitig bereichern und in partnerschaftlicher Subsidiarität verwurzelt sind. Wir sollten stolz sein auf unsere Stadt oder Großstadt, auf die Region, in der sie angesiedelt ist, auf das Land, zu dem diese gehört, und auf die europäischen sowie die größeren globalen Institutionen. Das ist nur möglich, wenn auf jeder dieser Ebenen konstruktive Entwicklungen angestoßen werden und wenn ihre gegenseitige kreative Abhängigkeit erkannt wird. Wir brauchen politische und gesellschaftliche Führungskräfte, die bereit sind, sich dafür einzusetzen, die Verknüpfungen zwischen diesen Kreisen zu stärken und sie in positiver Weise wirken zu lassen, Führungskräfte, die aufhören, Katalonien gegen Spanien auszuspielen oder Großbritannien gegen Europa, die nicht länger an absurden Rivalitäten und dem überholten Streben nach Souveränität festhalten in einer Welt, in der keine einzelne Region, kein einzelnes Land alleine und ohne die intensive Zusammenarbeit mit anderen bestehen kann.

Hinter all diesen Problemen verbirgt sich eine neue Phase im großen Konflikt zwischen den Werten des ancien régime und der Aufklärung, der auf das 18. Jahrhundert zurückgeht: zwischen der Sicherheit der konservativen Autorität und der vertrauten Tradition auf der einen und der Freiheit der Innovation und der Veränderung auf der anderen Seite. Wir leben in bewegten Zeiten.

Die vier Wellen der Globalisierung

Zunächst ist es notwendig, die Komplexität und die Geschichte der Globalisierung zu erfassen und ihren Konflikt mit der Idee der Nation herauszuarbeiten. Wir können vier Wellen der modernen Globalisierung unterscheiden.

Die erste Welle: Der europäische Imperialismus

Am Anfang steht die Ausbreitung des Welthandels im späten 19. Jahrhundert. Dieser Prozess wurde stark von den westeuropäischen Imperien kontrolliert, insbesondere von Großbritannien, aber auch von Frankreich, den Niederlanden, Portugal und so weiter. Ein Imperium zu sein, hatte sowohl eine militärische als auch eine kommerzielle Seite und schloss nicht zuletzt den „Wettlauf um Afrika“ mit ein, der wiederum einer der Gründe war, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs herbeiführten. In der Zwischenkriegszeit kam es zu einem großflächigen Rückzug vom Welthandel, zum Ausbau des Protektionismus, zur Lähmung der Bemühungen des Völkerbundes um internationale Zusammenarbeit und zum Aufstieg des militarisierten Nationalismus, insbesondere in Nazideutschland und auf Seiten seiner italienischen und japanischen Verbündeten. Dies wurde schließlich zum Hauptauslöser des Zweiten Weltkriegs.

Die zweite Welle: Abbau der Zölle und europäische Integration unter der Schirmherrschaft der USA