Prolog

In der kleinen Stadt ist es ruhig geworden. Nur noch wenige Touristen schlendern die kopfsteingepflasterte Hauptstraße hinunter und ziehen erschrocken ihre Köpfe ein, wenn der Herbstwind wilde Böen durch die Lücken zwischen den Häusern schickt. Im Hafen wartet die Besatzung der Nis Randers, des alten Seenotrettungskreuzers, wie im Sommer auf einen Einsatz und ist doch gleichzeitig froh über jeden Tag, an dem es nicht nötig ist auszulaufen; im Fischereihafen stapeln sich immer noch die bunten Kisten für den Fisch; und am Kai hängen Netze aus, nur dass der Herbstwind jetzt länger braucht, sie zu trocknen, als noch vor Kurzem die Spätsommersonne. Die Segelboote in der Marina sehen aus, als genössen sie die letzten Tage, die sie noch im Wasser bleiben dürfen, während das laute Klirren ihrer Wanten schon anzeigt, dass es bald nötig sein wird, an Land umzuziehen, um dort sicher über den Winter zu kommen.

Das kleine Haus auf der Landzunge gegenüber ist im Nebel und Regen manchmal kaum zu erkennen, aber die Bäume drum herum, die aussehen, als wollten sie es vor den Herbststürmen beschützen, die über den Meeresarm toben, haben noch nicht einmal begonnen, ihre Blätter abzuwerfen.

»So einsam zu leben!«, sagen die Touristen und gucken von der kleinen Stadt hinüber auf die Landzunge mit einer Mischung aus Sehnsucht und Wehmut und Unverständnis. »Wie es wohl sein muss da drüben, jetzt, wo es so trüb ist?«

Aber darüber denkt Oma Inge genauso wenig nach, wie sie in all ihren vielen Jahren unter dem Reetdach bisher darüber nachgedacht hat. Dafür gibt es viel zu viel zu tun. Die allerletzte Marmelade muss eingekocht werden, Hagebutte und Quitte, und bald kommt die Zeit, die Gänse für den Martinsbraten zu verkaufen. Oma Inge erledigt, was zu erledigen ist, wie sie das immer getan hat; nur manchmal erinnert sie sich jetzt mit einem Lächeln an den Sommer zurück und an Martha und Mikkel und Mats und fragt sich, wie es wohl wäre, wenn ihre Enkel wieder einmal zu Besuch kämen.

Aber dann setzt sie entschlossen den Topf mit den letzten Quitten auf den Herd und kocht die Gläser aus. Sie wird ganz bestimmt nicht bei den Kindern anfragen, gebettelt hat sie in ihrem Leben noch nie und um nichts.

Den ersten Schritt müssen schon andere tun.

Zwei Wochen vor dem ersten Tag

1.

Dann reisen die Kinder zum zweiten Mal nach Sommerby, und wie beim ersten Mal ist es eigentlich gar nicht geplant.

»Okay, Gomera wäre vielleicht nicht schlecht«, sagt Martha zögernd und guckt Papa über die Schulter, wie er auf seinem Tablet gerade versucht, für die Herbstferien noch eine schöne Unterkunft zu finden. Isolde hat eine Ferienwohnung auf Gomera, und wenn Isolde auch gerade da ist, könnten sie sich in den Ferien ab und zu mal treffen. »Ja, Gomera ist okay.«

Papa nickt. »Wir sind nur schon spät dran!«, sagt er und runzelt die Stirn. »Die besten Sachen sind weg.«

Der Grund dafür, dass sie spät dran sind, ist Mama. Bis gestern war noch nicht klar, ob sie mit ihnen reisen würde. Dann wären sie vielleicht wieder nach Kreta geflogen. Mama will immer nach Kreta.

Aber jetzt steht fest, dass Mama in den Herbstferien nicht verreisen kann. Im Sommer hat sie in New York einen Unfall gehabt und war lange im Krankenhaus. Nun ist alles wieder gut, aber sie muss noch immer zweimal die Woche zur Physiotherapie, und bei ihrer Bank gibt es auch unglaublich viel zu tun. Darum fliegt Papa in den Herbstferien also allein mit den Kindern. Und Papa findet Gomera besser als Kreta.

Mikkel hat sich gegen Papas Stuhl gelehnt und guckt auch aufs Tablet. »Das sieht doch schön aus, Papa!«, sagt er tröstend. »Das ist nicht zu spät!« Mikkel möchte immer, dass alle Menschen glücklich sind und niemand traurig. Auch nicht, wenn es um das Urlaubsziel geht.

Aber Mats ist es vor allem wichtig, dass er selbst glücklich ist. Mats ist noch so klein. Er knufft Mikkel zur Seite, damit er selbst auf Papas Tablet gucken kann, dann schüttelt er energisch den Kopf. »Ich will nicht nach dem Mera da!«, sagt er entschieden. »Das ist ja immer nur Wasser und Wasser und Berge und Berge! Ich will da nicht hin! Ich will zu Tiger! Und zu den Hühnern!«

»Aber Matsi«, sagt Mikkel, »bei Oma Inge ist es jetzt doch kalt! Und da ist doch drumrum auch alles nur Wasser! Und bei Oma Inge kannst du nicht mal mehr baden, siehst du!« Aber an seinem Ton hört Martha, dass Mikkel genau wie Mats eigentlich viel lieber bei Oma Inge Ferien machen würde.

Mats kneift die Augen zusammen, dass sie nur noch schmale Schlitze sind. »Weißt du ja gar nicht!«, sagt er böse. »Ich will ja gar nicht baden! Ich will zu Tiger!«

Tiger ist Oma Inges Kater, und im Sommer hat Martha eine Zeit lang geglaubt, dass er Mats’ isländischen Kuschelhund Schröderson verschleppt und ihm den Kopf abgerissen hätte. Das war dann aber doch der fiese Makler gewesen.

Einen winzigen Augenblick denkt Martha an die Steuermannsinsel und an die Schnasselbude und an den Leuchtturm und an Enes, wie er sie im Gewitter aus Seenot gerettet hat, dann schiebt sie das Bild in ihrem Kopf energisch beiseite. Wenn einer keine WhatsApps mehr schickt, sollte man ihn am besten vergessen.

Papa seufzt. »Oma Inge geht nicht, Mats-Schatz!«, sagt er. »Wir können sie nicht immerzu belästigen.«

Dabei ist Martha sich gar nicht sicher, dass Oma Inge sich belästigt fühlen würde, wenn sie wieder zu ihr kämen, auch wenn sie sie im Sommer mit dem Luftgewehr empfangen hat. Da waren sie ja auch ganz fremd und einfach so hingefahren, ohne Oma Inge vorher zu fragen, ob es ihr recht war. Einfach nur, weil sie nach Mamas Unfall irgendwo hinmussten. Natürlich war Oma Inge da zu Anfang überrumpelt. Schließlich hatten sie einander viele Jahre nicht mehr gesehen. Und Mikkel und Mats kannte sie überhaupt noch nicht.

Aber seit dem Sommer ist das anders, und manchmal telefonieren sie mit ihr. Obwohl Oma Inge gar kein Telefon hat, weil die Leitung bis zu ihrem Haus dreitausend Euro kosten sollte, die hatte sie nicht. Und ein Handy hat sie natürlich sowieso nicht oder WLAN. Es reicht schließlich, dass Hannes, der Kaufmann aus der kleinen Stadt, zu ihr rüberfährt mit seinem Außenborder, um ihr Bescheid zu sagen, wenn bei ihm jemand für sie angerufen hat. Dann darf sie vom Laden aus zurückrufen.

»Die ist nicht belästigt!«, sagt Mats entschieden. »Die freut sich, Papa! Ich bin ihr tüchtiger Arbeitsmann!«

»Ich weiß, ich weiß!«, sagt Papa und seufzt. »Guck mal, Martha, das hier?« Und er zeigt auf ein kleines Apartment-Hotel auf Gomera, das 38 Menschen im Internet mit »gut« bewertet haben.

Martha zuckt die Achseln. »Kann ich Isolde erst mal fragen, wie weit das von ihrer Ferienwohnung weg ist?«, sagt sie. »Das wäre doch gut mit Isolde, Papa!«

»Wenn es nicht zu lange dauert?«, sagt Papa. »Nicht, dass uns das Hotel auch noch jemand wegschnappt!«

»Nee, keine Sorge!«, sagt Martha und ist schon auf dem Weg in ihr Zimmer. Ihr Handy liegt auf dem Bett. Wo ist eure Ferienwohnung auf Gomera?, schreibt sie an Isolde. Fliegen auch hin. Will in der Nähe!

Dann geht sie zu Papa zurück, und nur aus dem Augenwinkel sieht sie in Mamas Arbeitszimmer ihre beiden kleinen Brüder neben dem Telefon stehen. »Na?«, sagt Mikkel und guckt sie so schuldbewusst an, dass sie sich eigentlich schon etwas hätte denken können.

»Was, na?«, sagt Martha. »Mal ganz fix raus da, aber dalli! In Mamas Arbeitszimmer habt ihr nichts zu suchen!«

Und die beiden Kleinen gehorchen auch sofort. Schon deshalb hätte Martha doch misstrauisch werden sollen! Oder spätestens, als sie nicht wieder bei Papa auftauchen, während der weiter nach Unterkünften auf Gomera sucht.

Später denkt sie, dass sie in Wirklichkeit vielleicht eine Ahnung hatte, was Mikkel und Mats in Mamas Zimmer getan haben. Und dass sie insgeheim froh war, dass jemand anders das erledigt hat, da musste sie es nicht machen. Manchmal weiß man ja selbst nicht so genau, warum man etwas tut. Oder nicht tut.

2.

Marthas Handy kündigt den Eingang einer Nachricht an, und gleichzeitig läutet das Telefon.

Cool!, hat Isolde geschrieben. Sonst immer sch*langweilig! Wohnung ist hier! Dazu hat sie die GPS-Koordinaten ihrer Ferienwohnung geschickt.

Das Telefon klingelt weiter.

»Gehst du mal ran, Martha?«, ruft Papa.

Martha seufzt. Dann hebt sie ab. »Ja, Martha?«, sagt sie im selben Ton, in dem Mama sich auch immer meldet. Das hat Mikkel neulich zu ihr gesagt, und Martha war sauer. Eigentlich will sie nicht klingen wie Mama.

Am anderen Ende ist es einen Augenblick lang still. »Wie schön, mein Deern, dass ich dich gleich an der Strippe hab!«, sagt dann eine alte Männerstimme, die Martha sofort erkennt. »Mit den beiden Bengels hab ich ja auch schon geschnackt!«

»Was?«, fragt Martha verblüfft. Die Stimme gehört Krischan Boysen, dem Schnitzer, der in Sommerby gleich hinter dem Zaun zu Omas Landzunge wohnt. Mikkel hat bei ihm im Sommer ein kleines bisschen Schnitzen gelernt. Da hat er viele Pflaster gebraucht.

»Ich dachte mir schon, dass sie dir nichts davon gesagt haben!«, sagt Krischan und lacht. »Deinen Eltern auch nicht, was? Na, das sind mir vielleicht mal zwei Bagaluten!«

»Was gesagt?«, fragt Martha vorsichtig. Dabei weiß sie es doch, jetzt weiß sie es endgültig.

»Sie haben gesagt, sie wollen Inge in den Herbstferien wieder besuchen!«, sagt Krischan. »Und ich soll ihr Bescheid sagen. Aber vorher rede ich wohl besser mal mit deinen Eltern, was? Ob denen das recht ist? Kannst du mir mal einen ans Telefon holen?«

»Ja, klar, mach ich!«, sagt Martha. Dann dreht sie sich um. »Papa!«, ruft sie. »Herr Boysen ist am Telefon für dich!«

Von Mikkel und Mats ist natürlich nichts zu sehen.

Papa hat das Tablet in der Hand, als er in Mamas Zimmer gestürmt kommt. »Es ist doch nichts passiert?«, ruft er ins Telefon, ohne sich zu melden. »Mit meiner Schwiegermutter ist doch alles in Ordnung?« Seit er im Sommer den Anruf von Mamas Unfall bekommen hat, rechnet er jetzt vielleicht immer gleich mit dem Schlimmsten.

Martha hört, wie am anderen Ende gesprochen wird, aber was der Schnitzer sagt, versteht sie nicht. Sie sieht nur, wie sich Papas Gesicht zuerst entspannt und er dann immer nachdenklicher guckt.

»Ja, vielen Dank, Herr Boysen!«, sagt er. »Da muss ich mir die beiden kleinen Rabauken wohl erst mal zur Brust nehmen! Und Sie unternehmen bitte noch nichts, bevor Sie nicht von mir gehört haben, ja? Danke, dass Sie angerufen haben!« Dann stellt er das Telefon zurück in die Station.

»Was?«, fragt Martha. »Was ist, Papa?«

Dabei weiß sie doch Bescheid.

»Du steckst da nicht dahinter, oder?«, fragt Papa. »Das haben die beiden ganz alleine gemacht?«

Martha nickt.

»Nee, klar, du willst ja natürlich lieber nach Gomera!«, sagt Papa und seufzt. »Wo doch deine beste Freundin auch da ist. Keine Sorge, ich buch gleich das Hotel. Ist ihre Wohnung denn auch in der Gegend?«

Aber Martha stützt sich auf Mamas Schreibtisch und wundert sich, warum es in ihrem Kopf so schwirrt. Von ihr hängt es jetzt ab: Gomera oder Sommerby.

Auf Gomera ist es immer noch warm, und sie könnten im Meer schwimmen. Isolde wohnt ganz in der Nähe, und sie würden sich jeden Tag treffen. Auf Gomera gibt es WLAN und ein Netz und einen Fernseher mit deutschem Programm.

Bei Oma Inge gibt es all das nicht. Aber es gibt einen merkwürdig hohen Himmel über dem Wasser und ein Holzboot mit Außenborder, mit dem sie in die kleine Stadt fahren darf, ganz allein; und es gibt Hühner und Gänse und Tiger und ein Haus, in dem man sich immer ein bisschen fühlt wie in einer altmodischen Geschichte oder einem Film; und auf der Steuermannsinsel gibt es Enes.

»Martha?«, sagt Papa.

Natürlich ist sie nicht in Enes verliebt, das hat sie im Sommer bestimmt nur kurz mal geglaubt, weil sie in Sommerby diesen Liebesroman gelesen hat, Désirée, über eine, die später schwedische Königin geworden ist. Aber Enes hat Mikkel und Mats und ihr auf dem Meer das Leben gerettet, und dabei hätte er selbst sterben können. Wenn einer so was für einen tut, denkt vielleicht jede, dass sie in ihn verliebt ist. Außerdem hat sie mit Enes zusammen dem Makler aufgelauert, der sich Omas Haus unter den Nagel reißen wollte, und dabei hat er ihr den Arm um die Schultern gelegt, als ob er sie beschützen wollte.

Aber als sie wieder zu Hause war, hat Enes nach einer Weile auf ihre WhatsApps nicht mehr geantwortet, und das würde einer, der verliebt ist, ja wohl tun. Jungs sind eben so, hat Isolde gesagt, da brauchst du gar nicht zu hoffen. Und sei bloß froh!

Isolde hat Martha vor Enes gewarnt.

»Enes?«, hat sie gesagt, als Martha ihr ein Foto auf dem Handy gezeigt hat. »Der sieht ja aus wie ein Türke!«

»Es heißt nicht Türke, es heißt mit Migrationshintergrund!«, hat Martha gesagt, aber sie ist sich selbst bescheuert vorgekommen dabei. Das macht fürs Verliebtsein schließlich keinen Unterschied.

»Na, wenn du meinst!«, hat Isolde gesagt und komisch geguckt. Die Jungs auf ihrem Handy, mit denen sie in den Sommerferien auf den Malediven gesurft hat, sehen alle aus, als hätten sie nichts weniger als einen Migrationshintergrund. Obwohl, woher will man das denn eigentlich genau wissen?

»Martha?«, sagt Papa wieder.

Bei Oma Inge gibt es kein WLAN und kein Netz und keinen Fernseher. Aber fernsehen tut Martha sowieso nicht so oft. Und am Zaun zum Dorf kann sie trotzdem Fotos verschicken, da muss sie eben nur hinlaufen. Vielleicht ist es ja auch mal ganz schön zu sehen, was Oma Inge im Herbst so macht, wenn sie keine Marmelade mehr kocht. Und mit der Schrecken der Meere würde Martha auch gerne mal wieder fahren, rüber in die kleine Stadt, um einzukaufen. Mit Enes hat das gar nichts zu tun.

»Also wenn Mats und Mikkel das so gerne wollen«, sagt Martha. »Dann würde ich auch mitfahren. Also das wird ja auch viel billiger als Gomera.«

Papa starrt sie an. »Ist das dein Ernst?«, fragt er.

»Für das gesparte Geld könnten wir Oma Inge dann vielleicht einen neuen Fernseher kaufen!«, sagt Martha. »Dann haben die Jungs was zu tun, wenn es regnet.«

»Bist du dir ganz sicher?«, fragt Papa. Aber er hat das Telefon schon in der Hand und ruft die letzte Nummer auf. »Na, dann soll Herr Boysen eure Oma mal fragen, was sie dazu sagt. Er kann sie ja zu Fuß über die Weide in seine Werkstatt holen. Dann muss der Kaufmann nicht erst rüberfahren.«

»Kommst du auch mit, Papa?«, fragt Martha. Nach Gomera wäre Papa schließlich auch mitgeflogen.

Papa lächelt sie an. »Ich freu mich, dass es zwischen Oma Inge und uns jetzt wieder so gut klappt!«, sagt er. »Aber gleich zwei ganze Wochen zusammen in ihrem Haus, da bin ich mir nicht sicher, ob das funktionieren würde. Aber ich komm euch mal besuchen. Am Wochenende.«

Martha nickt. Sie ist nicht traurig. Sowieso hat sie das Gefühl, dass Papa in Sommerby vielleicht nur stört.

Der erste Tag

3.

»Na, jetzt bin ich gespannt, wie es aussieht!«, sagt Mama, als sie in Sommerby in die kleine Nebenstraße einbiegen, an deren Ende die Landzunge beginnt, auf der Oma Inges Haus steht. Diesmal wollte Mama die Kinder unbedingt selbst zu Oma Inge bringen. »Ob wir immer noch über den Zaun klettern müssen, wenn wir zu meiner Mutter wollen?« Das mussten sie im Sommer nämlich. Oma Inge war viele Jahre lang mit dem ganzen Dorf Sommerby zerstritten, darum gab es keinen Weg von dort zu ihrem Haus.

Die Fahrt hat sich ganz anders angefühlt als im Sommer, und einen winzigen Moment lang fragt sich Martha erschrocken, ob es nicht doch vielleicht schlauer gewesen wäre, mit Papa nach Gomera zu fliegen. An den ersten Bäumen haben die Blätter sich schon verfärbt, golden oder orange, und wenn die tief stehende Sonne sie von hinten bescheint, leuchten sie wie die Buntglasfenster in alten Kirchen. Das Licht über den Wiesen ist golden und herbstlich und irgendwie mild, das ist ja sicher wunderschön. Aber wie wird es sein, wenn der Himmel grau ist und voller Wolken hängt oder wenn es regnet und stürmt? Es ist Herbst, das wird Martha jetzt erst so richtig klar, und dass es im Herbst in Sommerby ganz anders sein wird als im Sommer.

»Ah, Gott sei Dank!«, sagt Mama und schaltet den Motor aus. »Ich hätte auch überhaupt nicht gewusst, wie wir den Fernseher sonst über den Zaun hätten hieven sollen!«

Am Ende der kleinen Straße, direkt neben dem Haus von Krischan Boysen, sehen sie jetzt die Pforte. Der Zaun ist immer noch ein alter Bretterzaun, und sein Holz ist von Regen und Sonne und Hagel und Stürmen vieler Sommer und Winter grau geworden; aber mitten hinein hat jemand eine neue Pforte gesetzt, roh gezimmert, deren Holz ist noch gelb und frisch, und an manchen Stellen schimmern darauf sogar noch kleine Harztropfen.

Die Kinder holen ihre Koffer und Taschen aus dem Auto, und Mats klemmt sich Haldór Schröderson unter den Arm, seinen Kuschelhund. Mama ächzt unter dem Gewicht des Fernsehers. »Na dann!«, sagt sie und seufzt. »Ohne Pforte würde ich das nicht schaffen!«

Jetzt fliegt in Krischan Boysens Haus die große Tür zur Diele auf, die im Sommer immer offen gestanden hat, damit man auf den Tischen seine Schnitzereien sehen konnte: Tiere und altmodische Leiterwagen und Feuerwehrautos und Schiffe.

»Hallooo, hallooo!«, ruft er. »Seid ihr wieder da, Jungs und Deerns! Ich hab schon auf euch gewartet!« Und dabei geht Krischan Boysen geradewegs auf Mama zu und nimmt ihr einfach den Fernseher ab. »Gib mal her, Leonie, das ist Männerarbeit!« Krischan Boysen hat Mama ja schon gekannt, als sie noch ein kleines Mädchen war, darum darf er so mit ihr reden.

Martha denkt, dass das trotzdem vielleicht ein bisschen sexistisch ist, aber praktisch ist es auch. Und Mama sagt auch nicht, dass Frauen genauso gut Fernseher tragen können wie Männer. Mama schüttelt ihre Arme aus und sagt: »Danke, Krischan!«

»Du hast eine Tür gemacht, Krischan Boysen!«, ruft Mats begeistert. »Im Zaun! Hast du die selbst gebastelt? Kannst du das?«

»Du weißt doch, dass Holz mein Leben ist, mein Jung!«, sagt der alte Mann, und dabei gibt er Martha ein Zeichen, dass sie die Pforte öffnen soll. »Na, da wird Inge aber staunen, wenn sie den sieht!« Er guckt ein bisschen skeptisch auf den Fernseher in seinen Armen und klingt nicht so, als ob er glaubt, dass staunen auch freuen bedeutet.

»Aber einen Weg hast du noch nicht gemacht!«, sagt Mikkel nachdenklich. »Da hattest du keine Zeit, oder? Das ist ja auch viel Arbeit, ein ganzer Weg.«

Krischan Boysen antwortet nicht. Hinter der Pforte liegt die Weide genau wie im Sommer und ist immer noch grün; und wie im Sommer grasen darauf die schwarzbunten Kühe und heben neugierig ihre Köpfe. Aber vielleicht sind in den letzten Wochen oft genug Menschen über ihre Weide gelaufen, dass sie sich daran gewöhnt haben? Jedenfalls machen sie keine Anstalten, auf die Gruppe zuzugehen, die sich jetzt langsam auf das Haus zubewegt, das halb versteckt in der Baumgruppe liegt. Vielleicht sind Oma Inge und Krischan Boysen so oft über die Weide gestapft, dass die Kühe sich nicht mehr für Besucher interessieren?

»Wenn man nur oft genug geht, wird schon ein Weg daraus«, hat Oma Inge im Sommer zum Abschied gesagt und gemeint, dass sie gar nicht extra einen Weg über die Weide von ihrem Haus nach Sommerby anlegen muss, der kommt schon von ganz allein. Aber jetzt sieht Martha, dass es doch noch keinen Weg gibt. Eine Spur gibt es, die unregelmäßig ins Gras getreten ist, aber wenn Oma Inge und Krischan Boysen einander jeden Tag besucht hätten, wäre da doch bestimmt längst mehr. Wenn man nur oft genug geht, wird schon ein Weg daraus. Oma Inge und Krischan Boysen sind vielleicht nicht oft genug gegangen.

Noch immer sieht die Kate zwischen den Bäumen in der Herbstsonne aus wie ein Haus in einem Film und als könnte es sie in Wirklichkeit gar nicht geben: mit ihren niedrigen, weißen Mauern und dem Fachwerk und dem bemoosten Reetdach; und auf einmal weiß Martha ganz sicher, dass es doch richtig war, herzukommen. Der Herbst ist ihr ganz egal.

»Oma!«, ruft Mikkel aufgeregt und fängt an zu rennen. »Wir sind da!«

Und da öffnet sich wirklich die Haustür, und Oma Inge kommt heraus, und diesmal hat sie kein Luftgewehr im Arm. Martha sieht sofort, dass sie ihre Gäste erwartet hat, weil sie keine schäbige Jeans trägt wie sonst immer und keinen alten Pullover, sondern eine altmodische Hose und sogar eine Bluse wie an den Tagen, an denen sie im Sommer mit der Schrecken der Meere über den Meeresarm in die kleine Stadt gefahren sind.

»Na, das wurde aber auch Zeit!«, ruft Oma Inge. Sie wird ganz starr, als Mikkel zur Begrüßung seine Arme heftig um ihren Bauch schlingt. Dann tätschelt sie ihm ein bisschen unbeholfen den Kopf wie jemand, der so was nicht so oft macht.

»Hallo, Mutter!«, sagt Mama, und Martha denkt, wie komisch und ungewohnt das klingt. Aber sie haben sich ja auch vor dem letzten Sommer jahrelang nicht gesehen, weil Mama und Papa Streit mit Oma Inge hatten. »Wie nett, dass die Kinder kommen dürfen. Aber du musst wirklich sagen, wenn es dir zu viel wird.«

»Papperlapapp!«, sagt Oma Inge, und jetzt tätschelt sie auch Mats den Kopf, der sich neben Mikkel gedrängelt hat. »Zu viel! Du denkst wohl, deine Mutter ist eine alte Frau, was? Das sind doch meine tüchtigen Helfer!« Und sie schiebt die Jungs vorsichtig von sich weg.

Mikkel hat sie sowieso schon losgelassen. »Bin ich echt, Oma!«, ruft er und stürmt auf den Kater zu, der sich in der warmen Herbstsonne auf dem großen Stein vor dem Haus rekelt wie im Sommer. »Tiger, ich bin wieder da, Tiger! Freust du dich?«

»Das ist mein Tiger!«, ruft Mats böse und versucht, Mikkel zur Seite zu drängen. »Guck mal Tiger, dein Freund Schrödi!« Und er schwenkt Schröderson am Kopf vor Tigers Augen so wild durch die Luft, dass Martha schon vom Zugucken schwindelig wird. Aber Tiger erhebt sich nur hoheitsvoll, gähnt und reckt sich ein wenig und stolziert dann mit hoch aufgerichtetem Schwanz davon.

»Der freut sich doch«, sagt Mats energisch. »Der tut nur so.«

Dann dreht er sich wieder zu Oma Inge um.

Aber die hat inzwischen auch ihren Nachbarn entdeckt. »Wat schall dat denn wee’n, Krischan?«, fragt sie, und Martha denkt, dass sie das doch eigentlich sehen müsste. So schwer ist ein Fernseher ja nicht zu erkennen. »Was schleppst du denn da an?« Und das klingt überhaupt nicht freundlich, nicht mal überrascht. Das klingt ein winziges bisschen ärgerlich.

»Ja, da staunst du, was deine Leute dir mitgebracht haben, was, Inge?«, sagt Krischan Boysen. »Fernseher ist das, Full HD mit integriertem DVB-T2-Tuner, das Neuste vom Neuen, dass du wieder gucken kannst! Wo dein alter doch schon lange schlapp gemacht hat.«

»Der hat nicht schlapp gemacht, ich wollte den Schiet nicht mehr!«, sagt Oma Inge böse. Dann dreht sie sich zu Mama hin. »Den nimm man gleich wieder mit, Leonie. Was mir ins Haus kommt, entscheide immer noch ich.«

»Das darfst du nicht, Oma!«, ruft Mats empört, bevor Mama antworten kann. »Das ist doch eine Überraschung! Da musst du dich freuen!«

Oma Inge sieht ihn nachdenklich an.

»Wir dachten, wenn es mal regnet …«, sagt Martha vorsichtig. Sie will keinen Streit, aber sie will auch nicht, dass Mama den Fernseher wieder mitnimmt. »Dann wissen Mats und Mikkel ja vielleicht mal nicht, was sie machen sollen!«

Im Sommer haben die Jungs bei Regen gemalt, ganze Nachmittage lang, oder Martha hat ihnen vorgelesen. Aber der Sommer war der Sommer, und nach dem Regen ist immer schnell wieder die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen. Obwohl sie jetzt extra Buntstifte eingepackt haben und Wachsmaler und echtes Malpapier, damit sie nicht mehr Omas Kugelschreiber und ihren Briefblock nehmen müssen, weiß Martha nicht, ob das mit dem Malen funktioniert, wenn das schlechte Wetter zu lange anhält.

»Deine Tochter wollte dir eine Freude machen, Inge!«, sagt Krischan Boysen und ist mit dem Fernseher schon fast an der halb geöffneten Haustür angekommen. »Da kannst du dich doch auch mal freuen. Und mir fallen gleich die Arme ab von dem schweren Trumm hier.«

Er verschwindet im Haus, und Oma Inge seufzt. »Freude machen!«, murmelt sie. »Na!«

Aber dann guckt sie die Kinder an, und plötzlich hellt ihr Gesicht sich auf. »Und ihr wollt jetzt bestimmt ganz schnell in euer eigenes privates Schlafzimmer und auspacken, was? Solange kann ich mich ja mit eurer Mutter unterhalten.«

4.

Auf dem Dachboden ist alles noch wie im Sommer, das sieht Martha sofort. Nichts hat sich verändert. Auf den breiten, ungehobelten Dielen liegen drei Matratzen, frisch bezogen, und in den Sonnenstrahlen, die jetzt fast waagerecht durch die Gaubenfenster fallen, schwirren winzige Staubteilchen. Das Reet über ihren Köpfen hat Oma Inge bestimmt vor dem Besuch extra mit dem Staubsauger bearbeitet, aber hier und da entdeckt Martha doch noch Spinnennetze und Staub, und auf dem Boden direkt vor ihren Füßen taumelt ein Schuster. In der Ecke stehen wie im Sommer sorgfältig aufgetürmt und eingeschweißt die Marmeladengläser, in denen Oma Inge ihre selbst eingekochte Marmelade mit dem Leuchtturm auf dem Etikett an die Touristen verkauft, und daneben der Sessel, der eigentlich zwischen die Matratzen gehört, damit sich ihr Schlafplatz ein winziges bisschen wie ein eigenes Zimmer anfühlt.

»Ich freu mich so, ich freu mich so!«, ruft Mikkel und hüpft auf und ab, nachdem er seinen Rucksack abgesetzt hat. Einen Schrank, in den sie ihre Sachen tun könnten, gibt es ja nicht. Sein Gesicht leuchtet. »Freust du dich auch so, Martha?«

Martha guckt aus dem Fenster. Draußen erstreckt sich die hügelige Landschaft, man kann sie auch auf der anderen Seite des Meeresarms sehen: die abgeernteten Felder, gelb nach der Maisernte mit den noch nicht untergepflügten Stängeln oder braun und frisch gepflügt; und an manchen Stellen sogar schon wieder von zartem Grün bedeckt nach der Aussaat von Raps und Winterweizen. Dazwischen die Knicks mit ihren Hecken, deren Grün schon ein wenig grau geworden und hier und da gelb und braun getupft ist. Die leuchtend goldenen Blätter der Birken sehen von Weitem aus wie ein zarter Vorhang aus Goldstücken, und zwischen dem immer noch grünen Laub der Ebereschen prunken die Dolden der Vogelbeeren in kräftigem Rot. Ahorn und Kastanien sehen aus, als hätten sie sich noch nicht entschieden, wie sie ihre Blätter färben wollen, bevor die von den ersten Herbststürmen zu Boden geweht werden: Grün mischt sich mit Gelb und Braun, und über allem spannt sich der Himmel in einem verwaschenen Blau.

Warum seh ich so was zu Hause nie?, denkt Martha. Gibt doch auch Bäume und Himmel in Hamburg! Aber die sind mir irgendwie ziemlich egal. Jedenfalls kriege ich von ihnen da nie so ein Gefühl wie hier.

Sie nimmt ihr Handy und versucht, den ganzen Dachboden auf ein Foto zu kriegen. Vielleicht für Isolde, vielleicht für Instagram. Dabei weiß sie doch, dass sie extra zum Zaun gehen muss, um ein Netz zu haben. Aber das hat im Sommer ja auch immer geklappt.

»Ich freu mich auch, Mikkel, und wie!«, sagt Martha, und plötzlich spürt sie eine Zärtlichkeit für ihren kleinen Bruder, wie sie sie von zu Hause nicht kennt. Sie knuddelt ihn einmal ganz fest, aber Mikkel windet sich schnell aus ihren Armen.

»Ich muss doch zu meinen Hühnern!«, ruft er. Dann ist er schon auf der Treppenleiter nach unten unterwegs.

»Das sind gar nicht seine Hühner!«, sagt Mats empört. Er hat seine SpongeBob-Tasche neben der Matratze abgestellt und Schröderson aufs Kopfkissen geworfen. Ganz sicher will er nicht, dass Mikkel so tun darf, als ob ihm die Tiere hier alle gehören, und Mats gehört gar nichts. »Das sind Oma Inges Hühner! Und mir gehören die auch vielleicht. Ein bisschen gehören die mir.«

»Klar, die gehören uns allen«, sagt Martha. Sie hat keine Lust auf eine Diskussion. Mats kann ziemlich schnell ziemlich wütend werden, und das ist dann kein Spaß. »Komm mit runter, Matsi, ich glaub, Oma Inge hat Kuchen gebacken.«

Mats nickt. »Schrödi mag Kuchen«, sagt er und schnappt sich seinen Hund.

 

In der Küche hat Oma Inge ein echtes Stofftischtuch über das Wachstuch gebreitet, das sonst da liegt, und den Tisch mit ihrem schönsten Geschirr gedeckt, bei dem passt alles zusammen. Martha hat gar nicht gewusst, dass Oma Inge so was hat. Und in der Mitte, neben dem altmodischen, silbernen Tablett mit dem Milchkännchen und der Zuckerdose, steht ein Teller, auf dem Pflaumenkuchen sorgfältig in kleinen Stücken gestapelt ist. Es gibt sogar eine Schale mit Schlagsahne.

»Mhm, Kuchen!«, sagt Martha. »Du hast noch nie Kuchen gebacken, Oma Inge!«

Oma Inge guckt sie nachdenklich an.

»Das mach ich nur, wenn Besuch kommt!«, sagt sie und reicht Martha einen Tortenheber. »Früchtetee?«

»Als wir im Sommer bei dir waren, hast du aber keinen Kuchen gebacken!«, sagt Martha.

»Ihr wart ja auch kein Besuch«, sagt Oma Inge kurz. »Ihr seid Familie.«

Martha überlegt, warum dann Mama Besuch ist. Oder meint Oma Inge Krischan Boysen? Der lehnt neben der Tür an der Wand und sieht aus, als ob er nicht weiß, ob er sich setzen soll oder nicht. Dass er den Fernseher tragen würde, konnte Oma Inge doch eigentlich vorher nicht wissen. Für ihren Nachbarn ist der Kuchen also sicher nicht.

»Wir sind deine tüchtigen Arbeitsleute, Oma!«, sagt Mats. Im Sommer hat er noch immer Frau Oma gesagt. Da kannte er sie ja auch noch nicht. »Ich will Zucker auf die Pflaumen!«

»Es heißt: Ich möchte bitte!«, sagt Martha, und: »Kinder mit ’nem Willen kriegen was auf die Brillen!«, sagt gleichzeitig Oma Inge.

Mama lacht. »Zucker ist außerdem schlecht für die Zähne!«, sagt sie und nimmt Mats die Zuckerdose aus der Hand, aus der sich bisher noch niemand Zucker in den Kaffee getan hat. Oder in den Tee. »Willst du dich nicht setzen, Krischan?«

Täuscht Martha sich, oder guckt Oma Inge jetzt ein bisschen streng? Aber was kann sie denn dagegen haben, dass Krischan Boysen sich zu ihnen setzt? Oder ist sie nur böse, dass Mama sich schon wieder in ihre Angelegenheiten mischt, und mit Krischan Boysen hat das eigentlich gar nichts zu tun?

Krischan Boysen winkt ab, und Martha sieht, dass es auch gar keinen Platz für ihn gäbe. Oma Inge hat vier Stühle und einen Hocker an den Tisch gestellt, da passt er gar nicht mit dran.

»Ich kann meinen Kuchen auch im Stehen essen, wenn die Damen erlauben!«, sagt er und verneigt sich ein bisschen. »Lecker wie immer, Inge! Aber ein bisschen schimpfen muss ich ja nun doch! Hast du die Pflaumen ganz alleine gepflückt? In unserem Alter so auf der Leiter, da kann leicht mal was schiefgehen!«

Jetzt guckt Oma Inge wirklich böse. »Kümmere du dich um deinen eigenen Schiet, Krischan Boysen!«, sagt sie. »Da sind übrigens noch genug Pflaumen am Baum für deine Kühltruhe, aber wenn du dich zu alt fühlst, pflück sie lieber nicht!«

»Du bist nicht zu alt, Krischan Boysen!«, sagt Mikkel, und es klingt, als wollte er den Schnitzer trösten. »Ich kann die Leiter für dich festhalten, dann ist das nicht gefährlich!«

Krischan Boysen lacht. »So machen wir das, Jung!«, sagt er. »Ich komm vorbei!«

»Und was gibt es sonst Neues?«, fragt Mama, als ob sie ablenken möchte, und Martha guckt von einem zum anderen und denkt, dass sie nicht wirklich versteht, was hier zwischen den Erwachsenen gerade passiert. Aber das muss sie auch nicht. Sie ist wieder in Sommerby, und die Sonne scheint, und wer weiß, wen von all den Menschen, die sie im Sommer kennengelernt hat, sie in den kommenden Tagen wiedertrifft.

Genau, das kann man nie wissen.

5.

So ganz lange kann Mikkel leider nicht bei den anderen in der Küche sitzen bleiben. Natürlich musste er sich zuerst dazusetzen und ein bisschen Kuchen essen. Wenn es geht, muss man immer höflich sein. Und Oma Inge wäre auch bestimmt traurig gewesen, wenn er nicht gesagt hätte, dass ihm ihr Kuchen gut schmeckt. Aber dann hat er es doch nicht mehr so gut ausgehalten und angefangen, auf seinem Stuhl zu kippeln, und Mama hat ihm zugenickt, ohne dass er fragen musste. Da ist er nach draußen geflitzt. Zum Glück ist Mats nicht mitgekommen, der isst wohl lieber noch ein Stück Kuchen, der alte Gierlappen.

Tiger liegt wieder auf seinem Stein in der Sonne und hebt gelangweilt den Kopf, als er Mikkel bemerkt, aber dem Kater hat er ja vorhin schon Guten Tag gesagt. Jetzt will er endlich die anderen alle begrüßen! Seine Hühner und Oma Inges Gänse und überhaupt alle.

Die Hühner picken vor ihm auf dem Boden und flattern nur ein winziges bisschen auf, als Mikkel zwischen ihnen durchgeht.

»Ihr kennt mich noch, was?«, sagt er zufrieden. »Freut ihr euch, dass ich wieder da bin?« Und das tun die Hühner bestimmt, jedenfalls widersprechen sie nicht und suchen einfach weiter nach den leckersten Körnern und den appetitlichsten Regenwürmern; und Mikkel denkt, dass sie sich jetzt daran erinnern, wie er im Sommer immer ihre Eier eingesammelt hat, damit Oma Inge zum Abendbrot etwas Gutes kochen konnte.

Bevor er endlich um die Hausecke biegt, trödelt er ein bisschen. Nun wird sich zeigen, ob er Oma Inge noch lieb haben kann oder nicht.

Eingezäunt hinter dem Haus, haben im Sommer ihre Gänse gewohnt, aber nicht, weil Oma Inge es so schön findet, wenn man ein Tier haben darf. Oma Inge züchtet ihre Gänse zum Geldverdienen, das hat sie Mikkel erklärt, damit irgendwer sie kauft und dann einen Braten daraus macht.

Mikkel hat ihr beim Abschied im Sommer noch extra gesagt, dass sie das nicht tun darf. Die Gänse möchten doch auch leben! Nun wird sich ja zeigen, ob sie sich daran gehalten hat. Er kneift die Lippen zusammen, dann biegt er um die Ecke.

Und da sieht er es, und ein Stein fällt ihm vom Herzen. Oma Inge ist doch eine nette Frau! Oma Inge hat auf ihn gehört! Die Gänse schnattern immer noch wie verrückt in ihrem Gehege. Oma Inge hat gesagt, die Gänse sind ihre Alarmanlage, die machen so einen Krach, wenn ein Fremder kommt, da hat kein Einbrecher eine Chance.

Nur der gemeine Verbrecher hat es im Sommer natürlich trotzdem geschafft.

»Ihr seid ja echt noch alle da!«, ruft Mikkel glücklich und beugt sich über den Gehegezaun, aber das mögen die Gänse gar nicht und schnattern wie verrückt. »Sie hat euch nicht geschlachtet!«

Alles ist gut. Die Hühner sind noch da und kennen ihn noch, und auch die Gänse werden sich bestimmt ganz schnell wieder an ihn erinnern. Er ist in Sommerby, und obwohl es Herbst ist, fühlt sich alles noch ganz und gar richtig an.

»Ich freu mich so!«, flüstert Mikkel wie vorhin schon. Dann geht er zurück zum Haus, um Mama Tschüs zu sagen.

6.

Als Mama abfährt, bringen die Kinder sie noch bis zum Zaun. Ob sie nicht auch gerne hierbleiben würde?, denkt Martha. Aber sie hat ja so wenig Zeit.

Nachdem sie alle noch einmal fest umarmt hat und bevor sie endlich ins Auto steigt, zögert Mama einen Augenblick. »Wir chatten, Martha, oder?«, sagt sie. »Jetzt ist es ja anders als im Sommer, Papa und ich können jederzeit herkommen und euch abholen, wenn irgendwas sein sollte. Ihr meldet euch, wenn etwas nicht stimmt, okay?«

»Das stimmt hier!«, sagt Mats mit Überzeugung, und Mama lacht.

»Na dann!«, sagt sie und winkt zum Abschied. Danach flitzen die Jungs gleich zurück zum Haus, aber Martha beschließt, die Gelegenheit zu nutzen. Wenn sie schon mal am Zaun ist, wo sie Empfang hat!

Sind angekommen!, schreibt sie an Isolde und hängt das Foto vom Dachboden an. Es sieht romantisch aus, fast ein bisschen wie in den Zeitschriften, aus denen Isoldes Mutter immer die Ideen für ihr Landhaus nimmt. Vielleicht sehen die Dinge auf Fotos immer romantischer aus als in der Wirklichkeit.

Cool!, schreibt Isolde von Gomera sofort zurück. Vermiss dich! Sie hat einen kummervollen Smiley angehängt.

Während Martha noch schreibt, dass sie Isolde logisch auch vermisst, kommt schon die nächste Nachricht. Und? Hast du ihn schon getroffen? Dazu drei Herzen.

Eine Sekunde lang muss Martha überlegen, dann weiß sie, wen Isolde meint. Isolde hat neulich sofort gefragt, ob das der Grund dafür ist, dass Martha bei dem schietigen Herbstwetter lieber nach Sommerby möchte als nach Gomera: Weil sie Enes wiedersehen will. Martha hat gesagt, Quatsch, du spinnst doch!

Kann ich hexen?, schreibt Martha. Bin doch grade erst hier! Und damit Isolde nicht weiterfragt, schreibt sie noch: Akku fast leer!

Dann guckt sie nach, wer ihr noch alles geschrieben hat, und als die nächste Nachricht von Isolde eingeht, öffnet sie sie nicht. Zuerst muss sie das mit Enes klären.

Sie überlegt, ob sie ihm einfach eine WhatsApp schreiben soll. Hallo, Enes, ich bin bei meiner Oma!, könnte sie schreiben. Dann würde sie ja sehen, wie er reagiert.

Aber eine Nachricht, dass sie kommt, hätte sie ihm schließlich auch schon von zu Hause schicken können. Das wollte sie nur nicht, damit er nicht denkt – damit er nicht irgendwas Blödes denkt, was ja sowieso gar nicht stimmt. Es ist besser, wenn sie ihn zufällig trifft. Viel besser.

Martha lächelt. Morgen schnappt sie sich ein paar Marmeladengläser und die beiden Kleinen und fährt zur Steuermannsinsel. Dann hat Enes’ Mutter in ihrer Schnasselbude wieder Marmeladen-Nachschub, den sie für Oma an die Touristen und die Segler verkaufen kann, und Mats kann mit Dilara spielen. Dafür, dass sie dann auch Enes wiedersieht, kann Martha ja nichts. Das lässt sich eben nicht vermeiden.

7.

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