image

images

 

Dekonstruktion, der philosophische Ansatz Jacques Derridas, ist die weltweit erfolgreichste und zugleich unbekannteste philosophische Innovation seit Heideggers Fundamentalontologie. In unzähligen Verästelungen hat sich Dekonstruktion in den verschiedensten künstlerischen und literarischen Praktiken etabliert, ohne dass damit eine klare Vorstellung über diesen Begriff und diese philosophische Strategie verbunden wäre. Die antitotalitäre politische Motivation der Dekonstruktion, die für ihr Verständnis wichtig ist, blieb fast völlig ausgeblendet. Tatsächlich macht es Dekonstruktion schwer, sie in einer nüchternen Wissenschaftssprache zu beschreiben, weil sie jede letzte begriffliche Festlegung systematisch verweigert. Diese Eigenschaft ist nicht nur der Kern der philosophischen Intervention Derridas, sondern auch die notwendige Bedingung einer antitotalitären politischen Haltung, die nicht selbst wieder totalitär erstarrt. Engelmann zeigt, dass es mit Saussures Semiotik eine nüchterne Wissenschaftssprache gibt, mit der Derrida Dekonstruktion entwickelt hat und mit der man Dekonstruktion begreifen kann, ohne mit der beschreibenden Sprache ihre Eigenheiten und Erkenntnismöglichkeiten zugleich wieder zu verdecken. Das Buch stellt Dekonstruktion in den größeren Rahmen historischer und zeitgenössischer differenzphilosophischer Ansätze und macht sie so im Kontext philosophischer Diskursivität verständlich.

Peter Engelmann ist Philosoph, Herausgeber der französischen Philosophen der Postmoderne und der Dekonstruktion und Verleger des Passagen Verlages.

Peter Engelmann

Dekonstruktion

Jacques Derridas semiotische Wende
der Philosophie

Herausgegeben von Peter Engelmann

images

 

Deutsche Erstausgabe

 

 

 

ISBN 978-3-85165-957-3

eISBN (EPUB) 978-3-7092-5014-3

© 2013 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

http://www.passagen.at

Grafisches Konzept: Gregor Eichinger

Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

Inhalt

 

Vorwort

Einleitung

1.Differenzphilosophie als kritische Theorie

1.1 Postmoderne und Dekonstruktion als zeitgenössische Kritik autoritärer Strukturen

1.2 Der gesellschaftliche Kontext der Entstehung von Postmoderne und Dekonstruktion: Frankreich in den 1960er Jahren

1.3 Dekonstruktion und Aufklärung

2.Zur Bestimmung der Differenzphilosophie

2.1 Differenzphilosophie und Heterogenität

2.2 Literarische und philosophische Diskursivität: Zum Stil der Differenzphilosophie

3.Zur philosophischen Genealogie der Dekonstruktion

3.1 Dekonstruktion in der neuzeitlichen europäischen Philosophietradition

3.2 Hegels Kritik der neuzeitlichen Subjektzentrismus

3.2.1 Strategie der Hegelinterpretation

3.2.2 Einleitungen in die besonderen philosophischen Wissenschaften

3.2.3 Die Unterscheidung zwischen praktischem und theoretischem Verhalten

3.2.4 Die Differenzierung des theoretischen Verhaltens in den Einleitungen

3.2.5 Hegels Erweis der Überlegenheit philosophischer Wissenschaft auf der Ebene und in der Weise empirischer Wissenschaft

3.2.6 Philosophische Wissenschaft als Überwindung der neuzeitlichen Wissenschaft

3.2.7 Vergleich der Philosophie Hegels und Derridas anhand ihres Differenzbegriffes

3.3 Schopenhauer als Philosoph des Übergangs zur sprachphilosophischen Metaphysikkritik

3.4 Nietzsches Kritik des Subjektbegriffs als Metaphysikkritik der Sprache

3.5 Heidegger und Derrida: Ontologische und semiotische Strategien der Metaphysikkritik

4Dekonstruktion: Die semiotische Wende der Philosophie

4.1 Die Kritik der Nomenklaturauffassung der Sprache in der Philosophie und in der Semiotik: Leibniz und Saussure

4.2 Philosophische Metaphysikkritik und semiotische Argumentation

4.3 Was ist Dekonstruktion? Derridas Randgänge als Philosophie

5Zum Verhältnis von Philosophie und Politik: Dialektik, Dekonstruktion und totalitäre Politikkonzepte

5.1 Dekonstruktion als Anknüpfungspunkt für kritische politische Reflexion

5.2 Totalitarismus als politikwissenschaftliches und als philosophisches Problem

5.3 Dialektik und Totalitarismus

5.3.1 Dialektik im politischen Raum

5.3.2 Dialektik und Systemgedanke

5.3.3 Der Totalitätsanspruch der hegelschen Philosophie und politischer Totalitarismus

5.4 Dekonstruktion und Totalitarismus

5.4.1 Dekonstruktion und politisches Engagement

5.4.2 Politik und Dekonstruktion – Dekonstruktion der Politik

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

 

Für Alexandra

Vorwort

 

In allen meinen philosophischen Arbeiten habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie das Individuelle, das Heterogene gegen jegliche Art von Übergriffen eines wie auch immer bestimmten Allgemeinen seine eigenständige Geltung erhalten könne. Dabei geht es nicht darum, die „Existenz“ eines Allgemeinen oder die Notwendigkeit von Allgemeinem zu negieren, sondern darum, es in seiner Macht über das Heterogene auf das Notwendige zu beschränken. Jedenfalls soll dem Allgemeinen nicht die Bedeutung zukommen, dass das Individuelle seine Geltung nur aus seiner Bestimmung als Moment des Allgemeinen erhält.

Diese Motivation resultiert aus meinen Erfahrungen mit dem politischen System, in dem ich aufgewachsen bin. Für mich, der ich aus Ostberlin komme und dort mit dem politischen System der DDR kollidierte, ist diese Fragestellung auch die Übersetzung persönlicher Erfahrungen mit der „Diktatur des Proletariats“, mit der Willkür des Parteiapparates, mit den alltäglichen Schikanen, denen Menschen bürgerlicher Herkunft ausgesetzt waren, und schließlich mit der gnadenlosen Allmacht der Stasi, in das Feld philosophischer Forschung. Über diesen biografischen Hintergrund hinaus ist es allgemein die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die die Frage nach der eigenständigen Geltung des Heterogenen zu einer über das Persönliche hinausgehenden Problematik macht.

Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem sich zwei totalitäre politische Systeme, Nationalsozialismus und „Diktatur des Proletariats“, im Namen einer Allgemeinheit über das Individuum hinweggesetzt und unendliches Leid über die Menschen gebracht haben, bis hin zum millionenfachen Mord aus ideologischen Motiven. Aufgrund dieser Erfahrung mit totalitären Gesellschaftssystemen, einer mittelbaren und einer unmittelbaren, musste die Generation der nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen und womöglich in der DDR aufgewachsen Deutschen nicht nur klären, wie die Verbrechen der Nationalsozialisten möglich gewesen waren, sondern auch, wie sich direkt im Anschluss daran ein neues totalitäres Regime in Ostdeutschland etablieren konnte.

Die Nachkriegsgeneration in Deutschland musste eine Erklärung dafür finden, wie selbst ihre humanistisch gebildete Elterngeneration in der Mehrheit das System des Nationalsozialismus mittragen konnte, aber auch dafür, wie diese Generation und auch sie selbst im Namen des Sozialismus eine totalitäre „Diktatur des Proletariats“ errichten konnten, als wäre nicht gerade eine Periode totalitärer Herrschaft zu Ende gegangen.

Die Entwertung des Individuellen zugunsten eines übergeordneten Allgemeinen war mit dem Zweiten Weltkrieg nicht beendet. In Deutschland prägte sie die DDR bis zu deren Untergang 1989. „Die Partei hat immer recht“ war in der DDR mehr als ein Slogan, dieses Motto war lebensbestimmende Norm und diente dem Repressionsapparat als einfache Richtschnur. Der sowjetische Überfall auf die Tschechoslowakei 1968 zur Beendigung des Prager Frühlings machte klar, dass es einen demokratischen Sozialismus nicht geben konnte, wenn schon seine Anfänge auf diese Weise vernichtet werden mussten. In den Augen der in der DDR herrschenden Schicht handelte es sich bei der Verknüpfung von Sozialismus und Demokratie offensichtlich um einen Systembruch, der mit den schärfsten Mitteln bekämpft werden musste.

Tatsächlich erwies sich damit das sozialistische Lager als nicht reformierbar und kollabierte dann auch 1989. Die wesentliche Strukturursache für den Zusammenbruch dieser Gesellschaftsform war die mangelnde Flexibilität und die deshalb fehlende Anpassungsfähigkeit des sozialistischen Systems.

Auf einer abstrakteren Ebene war die Ursache für den Zusammenbruch des sozialistischen Systems die mangelnde Verbindung eines sich selbst überhebenden Allgemeinen mit dem Individuellen, das es nur als Moment seiner selbst, nicht aber in seiner Eigenheit, seinem Eigensinn wahrzunehmen in der Lage war. Das System erhielt auf die Weise keine Rückmeldungen mehr. Statt zu reagieren und sich anzupassen, brach das System bei verstärktem Druck zusammen.

Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989, mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und der Auflösung der Sowjetunion 1991, schien sich die Frage nach dem Totalitarismus zunächst von selbst erledigt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt, am Ende des 20. Jahrhunderts, konnte man noch annehmen, dass der Kampf gegen totalitäre Strukturen, die dieses Jahrhundert geprägt hatten, gewonnen sei. Sowohl der Faschismus als auch der Kommunismus waren besiegt, ein demokratisches Zeitalter schien sich anzukündigen, in dem rechtsstaatliche Verhältnisse herrschen und die Menschenrechte für alle gelten würden. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sich nicht nur in den westlichen Demokratien, sondern weltweit menschenwürdige Verhältnisse durchgesetzt hätten.

Das Thema Totalitarismus war mit dem Zusammenbruch des Systems des realen Sozialismus historisch jedoch nicht erledigt. Heute muss man feststellen, dass der Traum vom Ende totalitärer politischer Verhältnisse nach 1989 nicht wahr geworden ist. Gefestigte demokratische Verhältnisse herrschen nach wie vor allein in den traditionellen Kernländern der Demokratie, auch wenn die Europäische Union sich nach Osten ausgeweitet hat, was auch dort – mit Ausnahme der seit 2011 zu beobachtenden Entwicklungen in Ungarn – zu einer Stabilisierung der 1989 errungenen Demokratie führte.

In den USA kann man spätestens seit 9/11 eine Re-Ideologisierung der Politik und eine Einschränkung der Bürgerrechte unter dem Titel der Terrorabwehr in bisher unbekanntem, besorgniserregendem Ausmaß beobachten. Dem islamischen Fundamentalismus stellte sich als Reaktion auf seinen Terroranschlag auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington DC am 11. September 2001 auf amerikanischer Seite mit George W. Bush und den Republikanern ein christlicher Fundamentalismus entgegen, der den Eindruck vermittelt, es hätte die Aufklärung nie gegeben, und der den Anschein erweckt, wir wüssten nichts mehr von den Folgen ideologisch gesteuerter Politik. Heute gilt es daher, vor den Gefahren einer längst re-ideologisierten Politik zu warnen, die zum einen als religiös-fundamentalistische und zum anderen als nationalistisch-fundamentalistische Politik auftritt.

Die islamisch-fundamentalistische Ideologie, die Selbstmord und Mord zu heiligen und Heil bringenden Taten verklärt, folgt mit ihrer Ausgrenzung der Andersgläubigen traditionellen totalitären Ideologien. Auf der anderen Seite stellen wir in den westlichen Demokratien eine schleichende Erosion der wesentlichen Errungenschaften demokratischer Verfassungen im Namen der Verteidigung dieser Errungenschaften fest.

Auch die Wiederbelebung nationalistischer Politikkonzepte im ehemaligen Jugoslawien und in der ehemaligen Sowjetunion hat totalitäre Züge.

Heute können wir feststellen, dass erstarkender Nationalismus und religiöser Fundamentalismus einerseits, Einschränkungen der Bürgerrechte und Verletzungen von Verfassungsnormen im sogenannten „Krieg gegen den Terror“ andererseits, die Gefahr totalitärer Entwicklungen auch in den westlichen Demokratien wieder heraufbeschwören und damit eine erneute Reflexion des Totalitarismus verlangen.1

Durch die Kriege im Irak und in Afghanistan und durch die innere Aufrüstung ist die Verschuldung der USA ausgeufert. Die US-Immobilienkrise 2007 hat eine Krise des amerikanischen und dann des weltweiten Finanzsystems ausgelöst. In Europa führte diese Bankenkrise zur Krise von Staaten, die sich für die Bezahlung der Gläubiger und für die Rettung der Banken selbst immer höher verschulden mussten. Diese Entwicklung führte schließlich zu einer bis heute andauernden Legitimationskrise des politischen Systems der westlichen Demokratien. Denn es wurde immer schwerer zu erklären und zu verteidigen, dass einer ungekannten privaten Bereicherung nicht eine ebenso radikale Haftung für den Fall von Fehlspekulationen gegenüberstand. Die Summen, die für die Abdeckung der Spekulationsverluste aufgewendet wurden, fehlten zudem für Sozialleistungen der Staaten. Das brachte die Frage nach gesellschaftlichen Alternativen zu Recht wieder auf die Tagesordnung westlicher Demokratien.

Je länger die Krise dauert und je unfähiger die Politik erscheint, die Finanzindustrie so zu regulieren, dass ihre unheilvollen Wirkungen auf die Realwirtschaft und schließlich auf unsere gesellschaftliche Verfassung ausgeschlossen werden können, desto mehr Menschen stellen sich die Systemfrage. Die Occupybewegung ist ein gutes Beispiel dafür, wie selbst die Mittelklasse durch die Bankenkrise antikapitalistisch politisiert wurde. Denn diese Krise zeigte, dass unsere politischen Institutionen nicht in der Lage sind, für unsere westliche Gesellschaft vertretbare Lösungen zu entwickeln. Die bisherigen Maßnahmen der Politik laufen in Europa z.B. auf eine Vergesellschaftung der Schulden hinaus, während die Profite, die mit diesen Krediten gemacht wurden, durchaus privat waren und zu ungeheurem Reichtum bei Bankern führte.

Auf den ersten Blick scheint heute vor allem Wirtschafts- und Finanzwissen gefragt. Aber das allein wird nicht reichen, weil es längst nicht mehr nur um finanztechnische Fragen geht. Inzwischen wird immer klarer, dass die durch die Finanzindustrie induzierte Krise alle Bereiche der Gesellschaft erfasst hat und dabei ist, die Grundlagen unserer westlichen Demokratien zu zerstören. Die Kritik an der Finanzindustrie und an der Politik, die scheinbar hilflos zuschaut wie ein Partikularinteresse an Profitmaximierung durch Spekulation unsere Gesellschaft zerfrisst, hat inzwischen alle Kreise und Schichten unserer Gesellschaft erreicht.

Nachdem die Finanzindustrie trotz ihrer ungeheuren Hebelwirkung auf die Realwirtschaft und auf unsere sozialen und politischen Strukturen, und trotz vieler kluger Vorschläge bis jetzt politisch nicht regulierbar erscheint, werden verständlicherweise immer mehr Metafragen nach unserem System laut, in dem es aus heutiger Sicht unmöglich erscheint, die Finanzindustrie so zu regulieren, dass ihre Profite nicht mehr nur privat eingestrichen und die Kosten der Fehlspekulationen nicht mehr nur gesellschaftlich getragen werden.

Die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen drängt sich angesichts der krisenhaften Entwicklung der westlichen Demokratien heute immer stärker auf. Wenn man die ungeheuren gesellschaftlichen Verwerfungen und Zerstörungen des Faschismus und des Sozialismus nicht vernachlässigen will, darf man aber nicht auf die totalitären politischen Konzepte des 20. Jahrhunderts zurückgreifen. Die Frage nach dem gesellschaftlichen System kann nicht mit der einfachen Wiederbelebung eines Systemkonzepts beantwortet werden, das im 20. Jahrhundert unendliches Leid über die Menschen in seinem Einflussbereich gebracht und sich ökonomisch als nicht erfolgreich erwiesen hat.

Heute wird der Kommunismus nicht nur von der Nachfolgepartei der SED, der Linkspartei, wieder als Lösungsmodell für die gegenwärtige Gesellschaftskrise ins Spiel gebracht, sondern auch von Intellektuellen und Philosophen wie Alain Badiou oder Slavoj Žižek.2 Mit der Rückkehr zu historisch längst verworfenen Vorschlägen wird jedoch die Suche nach wirklich neuen Alternativen behindert oder unmöglich gemacht, weil sie die kritischen Energien in eine historische Sackgasse lenkt. Deshalb soll dieses Buch auch eine warnende Stellungnahme zu der heute unbekümmert wieder aufflammenden Sehnsucht nach einer Rückkehr des Kommunismus sein.

Das vorliegende Buch ist von der Überzeugung getragen, dass die Kritik totalitärer Konzepte, die als Ausweg aus den gesellschaftlichen Krisen der Gegenwart gehandelt werden, die Voraussetzung dafür ist, neue Ansätze zur Krisenbewältigung zu finden, die einerseits entschlossen die Missstände unserer Gesellschaft zu beseitigen suchen, andererseits die historischen Fortschritte der westlichen Demokratien dafür nicht aufgeben wollen. Denn erst mit der Ablehnung, historische Fehlentwicklungen zu revitalisieren, wird der Weg dafür frei, neue gesellschaftliche Konzepte zur Überwindung der der unsere Lebensform bedrohenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Krise zu erarbeiten.

Das große Thema Jacques Derridas war die Prägung unserer Kultur durch das, was er Metaphysik nannte. Bisher wurde in der Diskussion seiner Thesen meines Erachtens zu wenig beachtet, dass die Metaphysikkritik Derridas eine wesentlich politische Motivation hatte. Mein Buch will diesen Zusammenhang sichtbar machen, indem es Dekonstruktion nicht nur als philosophisch begründetes Konzept erklärt, sondern immer auch den politischen Sinn und die politischen Konsequenzen dieses Unternehmens ins Licht rückt.

Im besten Fall ergeben sich aus diesen Überlegungen philosophische Argumente und Positionen, die uns helfen, bewusst Politikkonzepte gegen Totalitarismus zu entwickeln, die in der Lage sind, ihre eigene Tendenz zu totalitären Positionen zu kontrollieren und immer wieder zu brechen.

Abschließend möchte ich nicht versäumen allen zu danken, die an der Entstehung dieses Buches hilfreich beteiligt waren und so dessen Fertigstellung ermöglicht haben. Mein erster Dank gilt Jacques Derrida, der nicht nur mein Passagen Projekt, sondern auch meine philosophische Arbeit stets gefördert und unterstützt hat. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik hat mich auf die Idee gebracht und ermutigt, dieses Buch zu beginnen. Er, Mihály Vajda und Maria Bussmann haben Abschnitte der Arbeit gelesen und durch wertvolle Kritik und Ideen sowie durch viele Anregungen und Ermutigungen zu diesem Buch beigetragen. Bei Eva Luise Kühn, Dario De Rose und Georg Bauer bedanke ich mich für Lektorat, Korrektorat, Kontrolle der Bibliografie, Vereinheitlichung der Zitierweise und Satz. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Passagen Verlages haben mir immer wieder Arbeit abgenommen, sodass ich mich auf die Fertigstellung dieses Buches konzentrieren konnte. Ohne Johanna Hofleitner, Christina Pieber, Markus Mittmansgruber und die oben Genannten hätte ich nicht die Zeit für dieses Projekt gefunden. Schließlich danke ich besonders Alexandra Reininghaus Engelmann nicht nur für ihre geduldige Begleitung und Unterstützung meines Projektes über Jahrzehnte, sondern auch für ihre kompetente Hilfe beim Schlusslektorat dieses Buches.

Einleitung

 

Die Arbeit an diesem Buch begann mit einer Zusammenstellung von Texten, in denen ich mich mit der Dekonstruktion und ihren philosophischen und semiotischen Wurzeln sowie von Beginn an mit ihrer Beziehung zur Politik beschäftigt hatte. Zunächst wollte ich nur meine verstreut über einen längeren Zeitraum in verschiedenen Zeitschriften und Büchern erschienenen Aufsätze in einem Buch zusammenstellen, um sie so wieder zugänglich zu machen. Bei der erneuten Lektüre dieser Texte bestätigte sich für mich, dass die unterschiedlichen philosophischen Arbeiten, die ich in diesem Buch zusammenfassen wollte, über den langen Zeitraum ihrer Entstehung hinweg aus einem zentralen Motiv gespeist waren. Um diesen Zusammenhang besser sichtbar zu machen, begann ich damit, die vorhandenen Texte zusammenzuführen, immer mehr umzuschreiben und neue hinzuzufügen, bis schließlich aus dieser Arbeit ein neuer Text, das vorliegende Buch, entstand.1 Ich hoffe, dass durch dieses Buch meine philosophische Interpretation des Gesamtzusammenhanges der Dekonstruktion als neues philosophisches Paradigma, ihre Einbettung in philosophische und semiotische Überlegungen sowie ihre Implikationen im Feld der Politik klarer erkennbar und verständlicher werden als zuvor in meinen verstreuten Aufsätzen.

Ich sehe in diesem Buch Dekonstruktion als zeitgenössische Antwort auf sowohl philosophiegeschichtlich als auch durch die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts aufgeworfene Fragen. Das Buch bemüht sich daher, Referenzraum, Ziele und Möglichkeiten der Dekonstruktion zu erklären und auf dieser Basis ihre Bedeutung im Feld der Politik zu erläutern. Insbesondere will es herausfinden, ob und wenn ja, auf welche Weise Dekonstruktion ein Potenzial zur Vermeidung von totalitären politischen Strukturen bereitstellen kann.

Nach der anfänglichen Ablehnung der Dekonstruktion als neue philosophische Denkform in Deutschland, nach dem folgenden Hype, ihrer Ausbreitung in die verschiedenen Felder des Wissens, aber auch der Kunst, der Architektur und Literatur, und schließlich nach der Ermattung der Diskussion, ist es nun an der Zeit, Dekonstruktion nüchtern zu betrachten und ihre Bedeutung für unsere Kultur mit einigem Abstand abwägend zu analysieren und zu bestimmen.

Dekonstruktion ist eine philosophische Strategie, die der französische Philosoph Jacques Derrida seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts für die Lösung von Problemen entwickelt hat, die sich in der Geschichte der Philosophie mit der Kritik metaphysischer Ansätze gestellt haben. Für ihr Verständnis müssen wir deshalb versuchen, die Problematik der Metaphysik und ihrer Kritik herauszuarbeiten, um dann Derridas Vorschlag erklären und beurteilen zu können. Für das Verständnis von Derridas Vorschlag ist nicht nur die Erklärung der Problemlage wichtig, sondern auch die Beschreibung und Erklärung vorangegangener Versuche, die philosophischen Probleme der Metaphysikkritik zu lösen. Die Besonderheiten von Derridas Strategie der Dekonstruktion, die man grob als die immer wieder erfolgende Streichung ihrer selbst beschreiben kann, werden im Lauf der Analyse benannt, beschrieben und verständlich. Wenn wir trotz des Substanzialisierungsverbots von der Dekonstruktion sprechen, als gäbe es sie, wenn wir sie als Methode oder Strategie bezeichnen und beschreiben, obwohl sie das nicht sein darf, dann tun wir das in dem Maße, in dem Derrida das selbst getan und vertreten hat.

Zu Lebzeiten Derridas war eine nüchterne Betrachtung der Dekonstruktion kaum möglich. Sie wurde zerrieben zwischen der aggressiven Gegnerschaft eines Großteils der akademischen Philosophie, die ihre Grundlagen bedroht sah, und einem teilweise abstrusen Kult seiner Jünger, die jede dekonstruktive Bewegung Derridas mimetisch aufnahm, verklärte und jede Kommunikation verweigernd, in sich kreisend wiederholte. Während die feindselige akademische Philosophie der verschiedenen Richtungen sich mit dem Hinweis auf diesen Derridaismus eine ernsthafte Beschäftigung mit dem philosophischen Gehalt der Positionen Derridas meist ersparte, hatte der Derridaismus kein Interesse an einem abwägenden, argumentierenden Verständnis und einer nachvollziehbaren Darstellung von Derridas Denken. Angeblich ließe die Philosophie Derridas das auch gar nicht zu. Eine kommunikative Darstellung, die Derridas Position philosophiegeschichtlich einordnet, ginge an ihrem Wesen vorbei, das keine Festlegung des Sinnes erlaube, und wäre ein Rückfall in den Diskurs der Metaphysik.

Ich denke dagegen, dass man auch unter Beachtung der wesentlichen Einschränkungen, die aus der sprachkritischen Philosophie Derridas folgen, seine Philosophie in eine beschreibbare philosophiegeschichtliche Problemlage einordnen und als Beitrag zur Lösung tradierter philosophischer Problemstellungen begreifen kann.

Man kann diese Haltung auch mit Hinweis darauf vertreten, dass Derrida zu dieser Problematik selbst Stellung genommen hat. Zudem legt sein umfangreiches Werk ja Zeugnis von einer philosophischen diskursiven Praxis ab, die auch kommunikativ ausgerichtet war, wobei diese kommunikative Ausrichtung eben keine ausschließliche Festlegung des Sinnes war, sondern eine der möglichen Sinnebenen eröffnet.

Meine zentrale politische Motivation für die philosophische Untersuchung der Dekonstruktion ist die Frage, wie man dem Individuum, dem Heterogenen, in unserer Lebenswelt, unseren politischen Strukturen, unserer Kultur, unserem philosophischen Denken, eine ihm eigene Geltung aus sich selbst heraus verschaffen kann, um von ihm aus dann den gesellschaftlichen Zusammenhang in einer Weise denken und gestalten zu können, die seine Geltung erhält.

Aus drei Gründen beziehe ich in diese Untersuchung auch die Frage ein, ob Dekonstruktion für den Bereich der Politik eine Rolle spielen könnte und wenn ja, auf welche Weise. Erstens blieb die Frage nach der Bedeutung der Dekonstruktion für die Politik in ihrer bisherigen Rezeptionsgeschichte bisher eher unterbelichtet. Im Vergleich mit der Literatur, der Kunst oder der Architektur schien Dekonstruktion im Feld der Politik bedeutungslos zu sein und war im Vergleich zu diesen Feldern äußerst selten Gegenstand von Untersuchungen und Analysen. Man darf daher vermuten, dass die Frage nach dem Zusammenhang von Dekonstruktion und Politik besonders schwierig zu handhabende Probleme aufwirft. Der Grund für diese Probleme liegt in der antitotalitären politischen Motivation der Dekonstruktion, die für ihr Verständnis wichtig ist, die aber auch umgekehrt nicht verstanden werden kann, wenn man die Kernproblematik des Sprechens über Dekonstruktion übergeht. Denn Dekonstruktion macht es schwer, sie in einer nüchternen Wissenschaftssprache zu beschreiben, weil sie jede letzte begriffliche Festlegung systematisch verweigert. Diese Eigenschaft ist nicht nur der Kern der philosophischen Intervention Derridas, sondern auch die notwendige Bedingung einer antitotalitären politischen Haltung, die nicht selbst wieder totalitär erstarrt. Insofern ist die politische Dimension ein wichtiges, erhellendes Moment, auch für das Verständnis der Dekonstruktion als Philosophie.

Zweitens war die politische Dimension der Dekonstruktion für Derrida immer bedeutender als die Rezeption seines Werkes vermuten ließ. Dabei gibt es viele Hinweise darauf, dass Derrida sich nicht nur als politischer Mensch verstand, sondern seine philosophische Arbeit auch in diesen Kontext stellte. Sei es, indem er seine internationale Reputation einsetzte, um verfolgten Intellektuellen zu helfen, sei es, indem er Dekonstruktion als Möglichkeit verstanden wissen wollte, einem totalitären Diskurs nicht wieder mit einem anderen totalitären Diskurs begegnen zu müssen.

Hinzu kommt drittens ein eher äußerliches Argument, das aber dennoch seine Wirkung entfaltet. Seit der durch die Finanzindustrie induzierten Krise 2007 und den dadurch ausgelösten politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen drängen politische Fragen machtvoll in den Vordergrund – auch der philosophischen Forschung. Alle philosophischen Ansätze, und damit auch die Dekonstruktion, müssen sich seither fragen, ob sie vielleicht bedeutende Aussagen und Überlegungen zur Verfügung stellen können, die zu einer verbesserten, qualifizierten Politik für den Erhalt unserer Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftsordnung beitragen könnten.

Das vergangene Jahrhundert war durch die totalitären politischen Systeme des Faschismus und des realen Sozialismus geprägt. Die geschichts- und politikwissenschaftliche Reflexion dieser Erfahrungen soll in diesem Buch durch die philosophische Frage nach ideologischen Mustern totalitärer Herrschaft ergänzt werden. Ich gehe hier der Frage nach, ob es in unserer Kultur ein Dispositiv der Vorherrschaft eines in sich abgeschlossenen Allgemeinen gibt, in dem das Individuelle allenfalls die Geltung besitzt, die ihm vom Allgemeinen als seinem Moment zugewiesen wurde und ob dieses ideologische Dispositiv auf politischer Ebene die Konstruktion totalitärer Systeme legitimiert.

Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist der Ansatz Hannah Arendts, die sich als Philosophin und politische Theoretikerin in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft2 mit der Zerstörung von Pluralität auf dem Weg zu und in totalitären Herrschaftssystemen auseinandergesetzt hat. Arendt zeigt in ihrem Buch, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Ideologie und der Praxis totalitärer Systeme besteht und verdeutlicht die Bedeutung des theoretisch-ideologischen Hintergrundes totalitärer Herrschaftssysteme. Das in sich geschlossene Weltbild, das in der Ideologie der totalitären Staaten produziert wird, liegt der Staatsform der totalen Herrschaft als Prinzip zugrunde und legitimiert sie.

Hannah Arendt hat den Zusammenhang von Faschismus und ideologischem System analysiert. Sie hat damit über diesen konkreten Zusammenhang hinaus Leitbegriffe für die Beschreibung und Analyse eines Gesellschaftstyps entwickelt und die Basis für eine philosophische Totalitarismustheorie geschaffen. Die Totalitarismustheorie wendete diese Leitbegriffe auch auf andere politische Systeme des 20. Jahrhunderts an und erkannte und beschrieb Strukturgleichheiten des Faschismus mit den kommunistischen Diktaturen. Dies führte jedoch auch zu heftigen Diskussionen darüber, ob mit einem übergreifenden Totalitarismusbegriff nicht die Verbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere der Holocaust verharmlost würden.3

Dieser von Arendt nachgewiesene Zusammenhang zwischen ideologischen, philosophischen und politischen Strukturen des Faschismus wird hier auch für die Betrachtung des politischen Systems des realen Sozialismus in der Sowjetunion und den von ihr beherrschten Ländern herangezogen. Nach dem Faschismus des Dritten Reichs wird die DDR als zweiter totalitärer Staat in Deutschland angesehen. Ich gehe davon aus, dass wie beim Faschismus, zwischen dem politischen System der DDR und dem zugrunde liegenden Weltbild, dem ideologischen System und seinem philosophischen Referenzsystem, ein Zusammenhang besteht. Ziel der Beschreibung und Analyse dieser Zusammenhänge ist es, Auswege aus, Alternativen zu und Warnungen vor Wiederholungen totalitärer Herrschaftssysteme zu formulieren.

Der ideologische Leitdiskurs des realen Sozialismus und damit auch der DDR war der Marxismus, der sich wiederum zumindest in seiner Variante als dialektischer Materialismus als materialistische Umstülpung des hegelschen Systems verstand. Daher gehe ich der Frage nach, welcher Zusammenhang zwischen dem ideologischen Muster des dialektischen Materialismus als Legitimationsdiskurs totalitärer Herrschaft und dem hegelschen System als philosophisches Referenzsystem des Legitimationsdiskurses totalitärer Herrschaft festgestellt werden kann. Das hegelsche System wird wiederum als Form eines Diskurstyps betrachtet, der als Identitätsphilosophie Philosophien der Differenz gegenübersteht. Die Frage lautet hier, ob totalitäre Herrschaft an den einen oder anderen Typ philosophischer Diskursivität gebunden ist.

Die Dekonstruktion geht aber über diese Frage noch hinaus. Sie argumentiert, dass nicht die Diskurstypen Identitätsphilosophie oder Differenzphilosophie über die Nutzbarkeit in Legitimationsdiskursen totalitärer politischer Strukturen entscheiden. Denn beiden sei gemeinsam, dass sie dem gleichen Typ der elementaren Bedeutungskonstitution auf der Ebene des Zeichens zugehören. Diskurstypen seien auf einer grundlegenderen Ebene hinsichtlich der Bedeutungskonstitution nicht verschieden. Die Frage müsse in der Perspektive der Dekonstruktion daher auf der Ebene der elementaren Bedeutungskonstitution des Zeichens wiederholt werden und dort lauten, ob es eine Weise der elementaren Bedeutungskonstitution gibt, die auf der komplexeren Ebene diskursiver Systeme eine Verwendung als Legitimationsdiskurs totalitärer Politik unmöglich macht, oder, wenn das nicht der Fall ist, wenigstens Widerstände gegen diese Verwendung erzeugt.

Ich werde weiter der Frage nachgehen, ob es auf der Ebene des Zeichens Eigenschaften des Prozesses der Bedeutungskonstitution und sich aus diesen Eigenschaften ergebende Strukturen gibt, die sich mit Legitimationsmustern totalitärer Herrschaft vergleichen lassen – oder ob es Möglichkeiten gibt, den Prozess der elementaren Bedeutungskonstitution so zu denken, dass er die Sprache widerständiger gegen eine Verwendung in Legitimationsdiskursen totalitärer Herrschaft macht. Jacques Derrida beansprucht mit seinem Konzept der différance eine solche Möglichkeit entwickelt zu haben, wenn auch nicht im Sinne eines handlungsleitenden Konzepts.

Das hegelsche System erfuhr im Marxismus eine explizit politische Interpretation mit großer politischer Gestaltungskraft und Wirkung bei der Legitimation eines totalitären politischen Systems. Deshalb ist es für eine vergleichende Analyse mit jenem philosophischen Konzept geeignet, das beansprucht, eine Möglichkeit zu entwickeln, seiner Verwendung als Legitimationsdiskurs für totalitäre Politik zu widerstehen.

Ziel meiner Untersuchung ist es, den Zusammenhang von Allgemeinem und Besonderem in unserer philosophischen Kultur zu untersuchen. Von Hegel aus muss sich diese Untersuchung auf den Referenzraum Hegels ausdehnen, denn die Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ist eine der durchgehenden Fragen der abendländischen Philosophie. Hier müssen auf der einen Seite der Gründungsgestus der neuzeitlichen, subjektzentrischen Erkenntnisdisposition durch Descartes angesprochen werden, auf der anderen Seite aber auch die Philosophien Schopenhauers und Nietzsches, die als die Auflösungsformen dieses Dispositivs gelten.

Das erste Kapitel dieses Buches bestimmt Differenzphilosophie als kritische Theorie autoritärer gesellschaftlicher Strukturen. Ihre zeitgenössischen Formen sind Postmoderne und Dekonstruktion. Postmoderne und Dekonstruktion werden dabei als zwei Ansätze zeitgenössischer kritischer Theorie unterschieden und es wird begründet, warum wir hier vor allem Dekonstruktion näher untersuchen. Anschließend wird der gesellschaftliche Kontext der Entstehung von Postmoderne und Dekonstruktion anhand von Statements von Michel Serres, Michel Foucault und Jacques Rancière aus zum Teil unveröffentlichten Gesprächen näher betrachtet. Am Ende dieses Kapitels wird schließlich Dekonstruktion als zweite Aufklärung von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule abgesetzt.

Das zweite Kapitel gibt eine vorläufige Bestimmung des hier verwendeten Begriffs von Differenzphilosophie. Wir untersuchen, ob es im Rahmen der Differenzphilosophie möglich ist, Heterogenität anders zu denken als in der identitätsphilosophischen Tradition und sie in diesem Feld unter Berücksichtigung der diskursiven Probleme ihrer Selbstbehauptung zu eigenständiger Geltung zu bringen. Abschließend untersucht dieses Kapitel den Stil der Differenzphilosophie. Zu diesem Zweck werden literarische und philosophische Diskursivität miteinander verglichen, der bewusste Umgang der Differenzphilosophie mit verschiedenen Diskursformen herausgearbeitet und gezeigt, dass dieser begründet ist.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der philosophischen Genealogie der Dekonstruktion. Es wird gezeigt, dass die Dekonstruktion, wie sie Derrida entwickelt hat, nicht nur in der subjektkritischen und metaphysikkritischen Tradition von Nietzsche und Schopenhauer, sondern auch von Hegel steht. Die offenliegende genealogische Linie der Subjektkritik als Metaphysikkritik muss durch die hegelsche Kritik des neuzeitlichen Subjektzentrismus ergänzt werden. Hegels Argumentation steht daher in diesem Kapitel im Zentrum der Aufmerksamkeit. Seine Analyse der grundlegenden Sprachlichkeit des Gegebenen in der Phänomenologie des Geistes wird eingehend untersucht und das Prinzip der bestimmten Negation als Bewegungsprinzip des Wissens in einem nicht mehr subjektzentrischen System des Wissens erarbeitet. Gegen Hegels System des Wissens entwickeln sich die differenzphilosophischen Motive und Ansätze bei Schopenhauer und Nietzsche, die die Leiblichkeit gegen das reine Denken in Anschlag bringen und auch bei Heidegger, der die Seinsvergessenheit beklagt. Schon in diesen genealogischen Untersuchungen sind die systematischen Gesichtspunkte leitend, die später weiter entfaltet werden.

Das vierte Kapitel befasst sich mit der titelgebenden semiotischen Wende der Philosophie. Zu Beginn werden zwei Begriffe von Nomenklatur unterschieden. Diese Unterscheidung wird gebraucht, um die Begründungsbewegung einer autonomen Sprachwissenschaft und die Grundlegung der semiotischen Wende der Philosophie bei Derrida beschreiben und erklären zu können. Nach der Analyse semiotischer Motive bei Leibniz werden hier die systematischen Überlegungen Saussures und Derridas untersucht, die zur Grundlegung einer differenziellen Semiotik bei Saussure und schließlich zur neuen Wissenschaft der Grammatologie bei Derrida führen. Mit der Grammatologie versucht Derrida eine Argumentation zu gewinnen, die es ermöglicht, Bedeutungskonstitution, abweichend von der metaphysischen Tradition, nicht als referenzielle sondern als differenzielle zu verstehen. Dieses differenzielle Verständnis von Bedeutungskonstitution bildet wiederum die Grundlage für die metaphysikkritische Argumentation Derridas im Rahmen der Philosophie. Es stellt die eigentliche philosophische Neuerung Derridas gegenüber seinen metaphysikkritischen Vorgängern dar, auch wenn sich etwa bei Nietzsche Versuche in Richtung differenzieller Bedeutungskonstitution finden.

Im fünften Kapitel finden sich abschließend Überlegungen zur antitotalitären politischen Motivation und zu den politischen Konsequenzen der Dekonstruktion. Zuerst werden Hannah Arendts und Hermann Lübbes Gedanken zum Zusammenhang von Philosophie und Totalitarismus angesprochen. Danach wird der Zusammenhang zwischen der hegelschen Dialektik und ihren politischen Derivationen genauer betrachtet – als dialektischer Materialismus einerseits, als totalitäre politische Konzepte und totalitäre Praxis in den Staaten des sozialistischen Lagers andererseits. Im Gegenzug wird schließlich Derridas Argumentation zum Verhältnis von Dekonstruktion und Politik untersucht. Im Hinblick auf das Problem des Totalitarismus geht es nicht um jene Arbeiten Derridas, die um die Begriffe Gerechtigkeit und Freundschaft kreisen und als Beiträge zu einer praktischen Philosophie verstanden werden können, sondern um die im Zusammenhang mit der Affäre Paul de Man von Derrida untersuchte Frage, ob die als Kritik totalitärer Diskurse und Politiken auftretende Dekonstruktion ihrerseits in der Lage ist, totalitäres Denken und totalitäre Politik strukturell zu vermeiden.

1. Differenzphilosophie als
kritische Theorie

1.1Postmoderne und Dekonstruktion als zeitgenössische Kritik autoritärer Strukturen

Etwa Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts verdichtete sich in Frankreich ein philosophisches Denken, das die Frage nach der Möglichkeit des Holocaust aus der Mitte des aufgeklärten Europas heraus, die Kritik an den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts sowie an den autoritären, zentralistischen Strukturen in Staat und Parteipolitik, zu einer Kritik zugrundeliegender philosophischer Konzepte weiterzuführen versuchte. Neben den lange Zeit unangefochten vorherrschenden orthodox marxistischen Konzepten der Gesellschaftskritik entstanden, neben neuen marxistischen Ansätzen, wie etwa dem von Luis Althusser, auch kritische Ansätze, die den Rahmen marxistischer Gesellschaftstheorie und Philosophie sprengten und neue Wege gingen. Wirkungsmächtig wurden neben der Arbeit Michel Foucaults, die eher historisch und auf neue soziale Bewegungen ausgerichtet war, vor allem die Ansätze von Jacques Derrida und Jean-François Lyotard.

Ideengeschichtlich sind Postmoderne und Dekonstruktion gleichzeitig als differenzphilosophische Ansätze aufgetreten. Das Postmodernekonzept war dabei zunächst gesellschaftlich und politisch weitaus wirkmächtiger als das Konzept der Dekonstruktion, das eher im Bereich der Kunst und der Literatur Resonanz fand, weil es geeignet schien, kreative Prozesse so zu beschreiben, dass es der Erfahrung von Künstlern und Schriftstellern entsprach. Das postmoderne Wissen von Jean-François Lyotard, im französischen Original 1979 erschienen, wurde zum Referenzbuch einerseits für künstlerische Avantgarden, andererseits für politische Aktivisten außerhalb der organisierten politischen Opposition.1

Zwar spielte Lyotards Postmodernekonzept vordergründig in der politischen Entwicklung eine wichtigere Rolle als die Dekonstruktion. Diese Rolle ergab sich daraus, dass das Postmodernekonzept direkt als Kritik des Marxismus auftrat und in dieser Auseinandersetzung nicht nur eine philosophische, sondern auch eine politische Position formulierte. Die Dekonstruktion ist jedoch das philosophisch und letztlich auch politisch bedeutendere Konzept, weil sie, wie ich in diesem Buch darlegen möchte, eine neue Möglichkeit politischen Verhaltens erprobt, die nicht von einer Überwindung der Metaphysik ausgeht, da sie anerkennt, dass wir dem Zirkel der Metaphysikkritik nicht entkommen können.

Gemeinsam war der Postmoderne und der Dekonstruktion nicht nur, dass sie sich als Kritik der Aufklärung zur Erhaltung ihrer Impulse und Ziele verstanden, sondern auch, dass sie die philosophische Kritik mit einem sprachtheoretischen Ansatz verbanden. In einem humanwissenschaftlichen Kontext, der die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften durch semiotische Fundierung erreichen wollte, wie es etwa Claude Lévi-Strauss für die anthropologische Forschung getan hatte oder Algirdas J. Greimas für die Wissenschaftstheorie versuchte, war ein kritisches Denken auf die Problematisierung der Sprache als Grundlage für die Reformulierung sowohl gesellschaftskritischer als auch weiter zu den philosophischen Grundannahmen vordringender Ansätze verwiesen.

In je verschiedenen semiotischen und sprachphilosophischen Kontexten sahen Derrida und Lyotard bei der Sprache den Ansatzpunkt, sich aus den Bindungen tradierter Denkweisen zu lösen und sowohl neue Erkenntnismöglichkeiten im wissenschaftlichen, philosophischen und ästhetischen Feld zu erarbeiten als auch in der Folge neue Handlungsansätze im Raum gesellschaftlichen und politischen Handelns zu entwickeln. Während sich das differenzphilosophische Konzept Postmoderne von Lyotard auf diskursanalytische Überlegungen stützt und auf der Ebene von Sätzen ansetzt, geht Derridas differenzphilosophisches Konzept der Dekonstruktion von zeichentheoretischen Überlegungen aus und setzt auf der Zeichenebene bei der unmittelbaren Bedeutungskonstitution an.

Wenn im Folgenden das differenzphilosophische Konzept der Dekonstruktion eingehender betrachtet werden soll als das Postmodernekonzept, dann deshalb, weil ich davon ausgehe, dass die zeichentheoretische Ebene die elementarere Ebene ist und deshalb ein differenzphilosophisches Konzept auf dieser Ebene tragfähiger sein müsste.

In der Diskussion um Postmoderne und Dekonstruktion taucht häufig der Vorwurf auf, sie seien keine rationalen Theorien. Auf philosophischer Ebene werden sie als Theorien angegriffen, die ihre Rationalität im Raum der philosophischen Diskursivität nicht argumentieren könnten.2 Diese meist nicht begründete Feststellung wird dann als Argument benutzt, Postmoderne und Dekonstruktion ohne weitere Auseinandersetzung abzulehnen. Dagegen möchte ich hier zeigen, dass sowohl Postmoderne als auch Dekonstruktion rational argumentierende Theorien im Sinne der Normen traditioneller philosophischer Diskursivität sind.

Beide differenzphilosophischen Konzepte berufen sich auf anerkannte philosophische Theorien und leiten sich von ihnen ab. Sowohl Postmoderne als auch Dekonstruktion betrachte ich als zeitgenössische Ansätze eines differenzphilosophischen Denkens, das sich dadurch auszeichnet, dass es im Lauf der Philosophiegeschichte immer wieder den Standpunkt des Individuellen gegen eine es subordinierende und beherrschende Abstraktion als legitimen Gesichtspunkt in den Diskurs einzuführen versuchte. Sofern sich der Gesichtspunkt des Individuellen oder des Heterogenen nicht in einem auf Diskursivität verzichtenden Gestus verlor, suchten differenzphilosophische Überlegungen immer wieder nach Anerkennung im argumentativen Kontext der Identitätsphilosophien, denen sie sich kritisch entgegensetzten, weil ihnen der Standpunkt des Individuellen, des Heterogenen, zu wenig Beachtung oder Anerkennung fand.