image1
Logo

Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin der Universität Lausanne, Chefarzt der Abteilung Palliativmedizin am Universitätsspital Lausanne und Lehrbeauftragter für Palliativmedizin der Technischen Universität München.

 

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ralf J. Jox ist Professor für geriatrische Palliativmedizin und für Medizinethik an der Universität Lausanne und leitet die Einheit für Klinische Ethik am Universitätsspital Lausanne.

 

Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim, Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. und ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates.

 

Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen und ehemaliger Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.

Gian Domenico Borasio
Ralf J. Jox
Jochen Taupitz
Urban Wiesing

Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben

Ein verfassungskonformer Gesetzesvorschlag zur Regelung des assistierten Suizids

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

 

 

2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039064-5

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-039065-2

epub:      ISBN 978-3-17-039066-9

mobi:      ISBN 978-3-17-039067-6

Inhalt

  1. Autoren
  2. Vorworte
  3. Vorwort zur 1. Auflage
  4. Vorwort zur 2. Auflage
  5. 1             Einleitung
  6. 1.1         Problem
  7. 1.1.1      Rahmenbedingungen für medizinische Entscheidungen am Lebensende
  8. Definitionen
  9. 1.1.2      Praxis und Regelung der Suizidhilfe in Deutschland
  10. 1.1.3      Urteil des Bundesverfassungsgerichts und gesetzlicher Regelungsbedarf
  11. 1.2         Ziele dieses Gesetzesvorschlags
  12. 2             Gesetzesvorschlag
  13. 3             Begründung
  14. 3.1         Ausgangslage
  15. 3.1.1      Gesellschaftlicher Hintergrund
  16. 3.1.2      Aktuelle Rechtslage
  17. 3.1.2.1   Strafrecht
  18. 3.1.2.2   Betäubungsmittelgesetz
  19. 3.1.2.3   Ärztliches Standesrecht
  20. 3.1.2.4   Verfassungsrechtliche Bewertung
  21. 3.1.2.5   Europarecht
  22. 3.1.3      Regelungen in anderen Ländern
  23. 3.1.3.1   Niederlande, Belgien und Luxemburg
  24. 3.1.3.2   Kanada
  25. 3.1.3.3   Schweiz
  26. 3.1.3.4   USA
  27. 3.2         Die Lösung des Gesetzesvorschlags
  28. 3.2.1      Medizinische Aspekte
  29. 3.2.1.1   Gründe für Wünsche nach Suizidhilfe
  30. 3.2.1.2   Rolle und Reichweite der Palliativmedizin
  31. 3.2.1.3   Suizide bei nicht somatisch kranken Menschen
  32. 3.2.1.4   Abgrenzung zur Tötung auf Verlangen
  33. 3.2.2      Gesellschaftliche Aspekte
  34. 3.2.2.1   Die Einstellungen der Bürger und Ärzte zur Suizidhilfe
  35. 3.2.2.2   Erfahrungen mit gesetzlichen Regelungen der Suizidhilfe
  36. 3.2.3      Ethische Grundlagen dieses Gesetzesvorschlags
  37. 3.3         Begründung des Gesetzesvorschlags im Detail
  38. 3.4         Begleitende Maßnahmen
  39. 3.4.1      Dokumentation und wissenschaftliche Begleitforschung
  40. 3.4.2      Palliativmedizin, Suizidprävention, Übertherapie und soziale Maßnahmen
  41. 3.4.2.1   Palliativmedizin und Hospizarbeit
  42. 3.4.2.2   Suizidprävention
  43. 3.4.2.3   Übertherapie und Unterversorgung
  44. 3.4.2.4   Soziale Maßnahmen
  45. 4             Schlussbemerkung
  46. Literatur

Autoren

 

 

Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio
Lehrstuhl für Palliativmedizin
Universität Lausanne
Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV)
Av. Pierre Decker 5
CH-1011 Lausanne, Schweiz

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ralf J. Jox
Professur für geriatrische Palliative Care
und Einheit für klinische Ethik
Universität Lausanne
Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV)
Av. Pierre Decker 5 CH-1011 Lausanne, Schweiz

Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz
Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim
Universität Mannheim
Schloss
D-68131 Mannheim

Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der
Universität Tübingen
Gartenstr. 47
D-72074 Tübingen

Vorworte

Vorwort zur 1. Auflage

 

Die aktuelle öffentliche Diskussion über die sogenannte »Sterbehilfe« wird teilweise ausgesprochen emotional geführt. Das ist angesichts der existentiellen Dimension der besprochenen Fragen verständlich. Bisweilen entsteht allerdings der Eindruck, dass ausgeprägt weltanschauliche Positionen zur Sprache kommen, die gelegentlich einem gewissen Dogmatismus nahestehen. Eine sachliche Diskussion ist auf dieser Grundlage schwierig.

Die Autoren dieses kleinen Werkes vertreten drei wissenschaftliche Disziplinen, die eng mit der Thematik verbunden sind: die Medizinethik, das Medizinrecht und die Palliativmedizin. Sie halten es für ihre Pflicht, in dieser Situation die Beratungsfunktion für die Politik, die eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft darstellt, proaktiv auszuüben. Sie unterbreiten deshalb an dieser Stelle einen konkreten Gesetzesvorschlag zur Regelung des assistierten Suizids. Dieser ist auf der Basis der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Thematik, einschließlich der neuesten empirischen Daten und der Erfahrungen anderer Länder, entwickelt worden. Auch wenn sich eine gesetzliche Regelung nicht automatisch aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ableiten lässt, so dürften gesetzliche Regelungen, die verlässliche Erkenntnisse über die Realität ignorieren, keine klugen sein. Der hier unterbreitete Vorschlag ist selbstverständlich diskussionsbedürftig. Jedoch sind die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und Daten nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen.

Die Autoren hoffen, mit diesem Vorschlag einen Beitrag zu einer nüchternen und sachgerechten Diskussion dieses kontroversen Themas leisten zu können. Für Kommentare, konstruktive Kritik und Anregungen zur Verbesserung sind wir jederzeit dankbar.

Lausanne/München/Mannheim/Tübingen, im August 2014

Die Verfasser

 

Vorwort zur 2. Auflage

Die Diskussion über die gesetzliche Regelung der Suizidhilfe hat seit dem Erscheinen der ersten Auflage unseres Buches unterschiedliche Phasen durchschritten. Zunächst beschloss der Bundestag Ende 2015 das »Gesetz über die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung«, obwohl zahlreiche Experten aus Medizin, Straf- und Verfassungsrecht nicht zuletzt dessen Verfassungsmäßigkeit in Frage stellten. Tatsächlich war der neue § 217 des Strafgesetzbuches (StGB) im Ergebnis ein Gesetz, das Suizidhilfe de facto verhinderte. Es stellte insbesondere die Ärzte unter erhebliche strafrechtliche Androhung und nahm nur die Angehörigen sowie nahestehende Personen von Strafbarkeit aus – die aber in aller Regel nicht über die nötigen Fachkenntnisse und den Zugang zu geeigneten Mitteln verfügen, um verantwortungsvoll Suizidhilfe zu leisten.

Mehrere Verfassungsbeschwerden wurden unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes am 10. Dezember 2015 in Karlsruhe eingelegt. Eilrechtsanträge, das Gesetz außer Vollzug zu setzen, hat das Bundesverfassungsgericht im Dezember 2015 jedoch abgelehnt. Die politische und gesellschaftliche Kontroverse nahm an Intensität zu, als das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2017 entschied, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) dürfe Anträge, Mittel zum freiverantwortlichen Suizid zur Verfügung zu stellen, unter engen Voraussetzungen nicht ablehnen. Das Bundesministerium für Gesundheit wies daraufhin das BfArM an, trotz des höchstrichterlichen Urteils alle weiteren Anträge abzulehnen, was ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Gesamtthematik umso dringlicher werden ließ. Nach langer Bedenkzeit und einer zweitägigen mündlichen Verhandlung im April 2019 wartete das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2020 mit einem überaus deutlichen Urteil auf: Es erklärte den § 217 StGB für verfassungswidrig und nichtig, da zur Menschenwürde auch das Recht gehöre, freiverantwortlich seinem Leben selbst ein Ende zu setzen und dabei auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen.

Gleichzeitig mit der für viele Beobachter überraschend starken Betonung des Autonomie-Prinzips hat das Gericht auch die Gefahren einer unregulierten Suizidhilfe angesprochen und dem Gesetzgeber Hinweise zu einer verfassungsgemäßen Regelung gegeben. Es obliegt nun dem Deutschen Bundestag, ein Gesetz zu erlassen, das den verfassungsrechtlich wie ethisch hochrangigen Grundsätzen der Selbstbestimmung und der Fürsorge für das Leben auf gesellschaftlich akzeptable und nachhaltige Weise Geltung verschafft. Mit Blick auf diese Aufgabe des Parlaments haben wir unseren Gesetzesvorschlag von 2014 unter Berücksichtigung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse überarbeitet und den Vorgaben des Verfassungsgerichts angepasst.

Wie schon 2014 hoffen wir, mit diesem konkreten Vorschlag einen Beitrag zu einer nüchternen und sachgerechten Diskussion dieses kontroversen Themas leisten zu können. Für Kommentare, konstruktive Kritik und Anregungen zur Verbesserung sind wir auch diesmal jederzeit dankbar.

Lausanne/Mannheim/Tübingen, im Juni 2020

Die Verfasser

1

Einleitung

1.1

Problem

1.1.1     Rahmenbedingungen für medizinische Entscheidungen am Lebensende

In Deutschland stirbt die Mehrzahl der Bürger1 im Rahmen von fortschreitenden, unheilbaren Erkrankungen, bei denen das Lebensende Wochen oder gar Monate im Vorhinein absehbar und gestaltbar ist. Das gilt selbst für die gegenwärtige Situation, in welcher die Pandemie Covid-19 auf dramatische Art und Weise in Erinnerung ruft, dass der Tod auch schnell und unvorhergesehen eintreten kann. Gleichwohl geht die langfristige Tendenz in unserer Gesellschaft dahin, dass die weit überwiegende Mehrheit der Menschen an chronischen Erkrankungen verstirbt, die allermeisten davon hochbetagt.

Jeder Bürger, der die Fähigkeit zur rechtsgültigen Einwilligung in medizinische Maßnahmen besitzt, kann lebenserhaltende Behandlungen (z. B. Reanimation, Beatmung, Chemotherapie, Dialyse) ablehnen, um das Sterben zuzulassen. Die Umsetzung des Willens kann, ethisch und rechtlich gleichwertig, durch Unterlassen einer potenziell lebenserhaltenden Behandlung oder durch Beendigung einer bereits begonnenen lebenserhaltenden Behandlung erfolgen.2 Gleichermaßen muss eine Behandlung unterbleiben oder beendet werden, wenn dies aus einer Patientenverfügung, einer im Voraus mündlich geäußerten Behandlungsablehnung oder dem mutmaßlichen Willen des Patienten eindeutig ersichtlich wird.3 Der Gesetzgeber hat mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts von 2009 hierfür klare Regelungen erlassen. Zudem hat der Bundesgerichtshof (BGH) die strafrechtlichen Bedingungen für einen erlaubten Behandlungsabbruch festgestellt.4

Die palliativmedizinische und hospizliche Betreuung und Begleitung am Lebensende haben sich in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren deutlich verbessert. Auch wenn Deutschland dadurch im internationalen Vergleich gut dasteht,5 ist die Versorgung in manchen Bereichen des Gesundheitswesens und bei manchen Krankheitsbildern noch unzureichend, insbesondere bei nicht-onkologischen Erkrankungen und speziell bei Demenzerkrankungen. Die schmerz- und symptomlindernde Therapie ist noch nicht überall auf höchstem Standard. Dies liegt unter anderem daran, dass bei manchen Ärzten immer noch die Befürchtung besteht, durch Verabreichung von hochwirksamen Schmerzmitteln gegen betäubungsmittelrechtliche Vorschriften oder gar gegen das Tötungsverbot zu verstoßen. Dabei hat der Bundesgerichtshof schon im letzten Jahrhundert klargestellt, dass eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Maßnahme auch dann durchgeführt werden darf, wenn als mögliche (nicht beabsichtigte) Nebenfolge der Tod früher eintreten könnte (sogenannte »indirekte Sterbehilfe«).6

Im Gegensatz hierzu ist die Tötung auf Verlangen in Deutschland nach § 216 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar. Aktuell lassen weltweit lediglich die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Kanada und Kolumbien sowie der australische Bundesstaat Victoria die Tötung auf Verlangen unter gesetzlich definierten Bedingungen straffrei (Images Kap. 3.1.3). Deutlich von der Tötung auf Verlangen zu unterscheiden ist die freiverantwortliche Selbsttötung und die Hilfe dazu (auch assistierter Suizid genannt). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die freiverantwortlich handelnde Person selbst die Tatherrschaft innehat, also die letzte zur Tötung führende Handlung (etwa die Einnahme eines Medikaments) selbst durchführt, während ihr eine andere Person nur bei der Vorbereitung hilft, zum Beispiel indem sie das tödliche Mittel verschafft.

Definitionen

Der hier unterbreitete Vorschlag orientiert sich an der Terminologie, die unter anderem der Nationale Ethikrat, Vorgänger des Deutschen Ethikrats, im Jahre 2006 vorgeschlagen hat:7

Images  Beim Sterbenlassen des Patienten (früher als »passive Sterbehilfe« bezeichnet) wird eine lebensverlängernde medizinische Behandlung unterlassen. Dadurch kann der krankheitsbedingte Tod früher eintreten, als dies mit der Behandlung aller Voraussicht nach der Fall wäre. Das Sterbenlassen kann darin bestehen, dass eine lebensverlängernde Maßnahme erst gar nicht eingeleitet wird oder dass eine bereits begonnene Maßnahme nicht fortgeführt oder durch aktives Eingreifen beendet wird (juristischer Begriff: »Behandlungsabbruch«).8

Images  Bei Therapien am Lebensende können Maßnahmen durchgeführt werden, die das Ziel haben, Leiden zu lindern, bei denen jedoch in Kauf genommen wird, dass sie möglicherweise die letzte Lebensphase verkürzen und dadurch einen vorzeitigen Tod herbeiführen (früher als »indirekte Sterbehilfe« bezeichnet). Daten aus der palliativmedizinischen Forschung weisen allerdings darauf hin, dass eine korrekt durchgeführte Schmerz- und Symptombehandlung nur äußerst selten ein lebensverkürzendes Risiko birgt, vielmehr in aller Regel eher lebensverlängernd wirkt.9

Images  Tötung auf Verlangen (früher als »aktive Sterbehilfe« bezeichnet): Hierbei tötet jemand einen anderen auf dessen ernsthaften Wunsch hin, etwa indem er ein todbringendes Mittel per Injektion verabreicht, um dadurch den Tod herbeizuführen, der krankheitsbedingt zu diesem Zeitpunkt noch nicht eintreten würde. Die Tatherrschaft liegt nicht beim Betroffenen, sondern bei der anderen Person, etwa beim Arzt.

Images  Hilfe zur Selbsttötung liegt vor, sofern ein Arzt oder eine andere Person jemanden bei der Vorbereitung oder Durchführung einer freiverantwortlichen Selbsttötung unterstützt, etwa indem der Helfende ein todbringendes Mittel verordnet oder verschafft. Dabei führt der Betroffene die Tat selbst aus und behält die Tatherrschaft. Dadurch ist die Hilfe zur Selbsttötung klar von der Tötung auf Verlangen abgegrenzt.

1.1.2     Praxis und Regelung der Suizidhilfe in Deutschland

Die Selbsttötung und ihr Versuch sind in der Bundesrepublik Deutschland nicht strafbar. Konsequenterweise traf dies bis zum Jahre 2015 ebenfalls auf die Hilfe zur Selbsttötung zu, sofern die Selbsttötung oder deren Versuch freiverantwortlich erfolgte. Nachdem in den Jahren vor 2015 vermehrt Suizidhilfe durch private Vereine und Einzelpersonen in Deutschland durchgeführt und auch medial darüber berichtet wurde, entstand eine gesellschaftliche Diskussion um eine mögliche gesetzliche Regelung der Suizidassistenz. Die erste Auflage des vorliegenden Buches, die im Jahr 2014 erschien, wurde durch diese Diskussion veranlasst und brachte einen konkreten Gesetzesvorschlag in die Debatte ein. Im Deutschen Bundestag entstanden schließlich vier verschiedene Gesetzesentwürfe interfraktioneller Gruppen. Am 5. November 2015 entschieden sich die Parlamentarier mehrheitlich für einen Entwurf, der als »Gesetz über die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« am 10. Dezember 2015 schließlich Gesetzeskraft erlangte.

Dieses Gesetz hat über den neuen § 217 StGB geregelt, dass eine Förderung der freiverantwortlichen Selbsttötung dann strafbar ist, wenn sie geschäftsmäßig geschieht. Dabei bezieht sich der juristische Fachbegriff der »Geschäftsmäßigkeit« auf eine Tätigkeit, welche auf Wiederholung bzw. Dauer angelegt ist. Ein Gewinnerzielungsinteresse ist hierbei nicht notwendig. Ausgenommen von dieser Strafbarkeit wurden ausdrücklich Angehörige und Nahestehende.

Das Gesetz hat von Beginn an viel Kritik und Ablehnung erfahren, sowohl in der Politik, in juristischen und medizinischen Fachkreisen, als auch in der Öffentlichkeit. Wir selbst haben im Jahr 2017 ausführliche Kommentare zu diesem Gesetz aus ethischer, juristischer und medizinischer Sicht veröffentlicht.10 Dieser Paragraf hat faktisch die Möglichkeit zur Hilfe bei freiverantwortlichen Suiziden in Deutschland abgeschafft. Da die Anwendung des Begriffs »geschäftsmäßig« unklar und kontrovers blieb, haben selbst Ärzte, welche der Suizidhilfe offen gegenüberstanden, eine solche Handlung aus Angst vor strafrechtlichen Folgen gescheut. Hinzu kommt, dass das ärztliche Standesrecht in Bezug auf die ärztliche Suizidhilfe nicht bundeseinheitlich ist: Während die (Muster-)Berufsordnung der Bundesärztekammer (MBO-Ä) einen Verbotspassus empfiehlt (»Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten«11), haben nur zehn der 17 Landesärztekammern diesen Passus in ihre Berufsordnungen übernommen. Sechs Landesärztekammern (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein) verzichten bewusst auf diesen Satz und erlauben damit die ärztliche Suizidhilfe. Die Berufsordnung in Westfalen-Lippe wählt einen Zwischenweg: Ärzte »sollen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.«12

Da Angehörige in der Regel weder das erforderliche Wissen noch den Zugang zu den nötigen Medikamenten haben, kam es im weiteren Verlauf zu zwei parallelen Entwicklungen: Einerseits versuchte der Verein Sterbehilfe Deutschland e. V. um Roger Kusch, aus der Schweiz heraus Suizidhilfe für Deutsche anzubieten. Zugleich blieb die Zahl der Deutschen hoch, die mit Hilfe des Vereins Dignitas in der Schweiz aus dem Leben schieden. Laut den von Dignitas veröffentlichten Statistiken kommen knapp 44 % aller Menschen, die durch Dignitas Suizidhilfe erhalten, aus Deutschland.13 Bezogen auf die Zahlen der letzten Jahre nehmen demnach etwa 73 deutsche Bürger jährlich in der Schweiz Suizidhilfe von Dignitas in Anspruch.

Andererseits gab es Betroffene, welche das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) um die Abgabe todbringender Betäubungsmittel baten. Diese Anfragen mehrten sich insbesondere, nachdem das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 2. März 2017 auf der Basis grundgesetzlicher Erwägungen entschied, dass der Erwerb eines Betäubungsmittels zur freiverantwortlichen Selbsttötung unter bestimmten Ausnahmesituationen nicht verwehrt werden könne. Diese Situationen seien dann geben, wenn (1) der Betroffene unter einer schweren und unheilbaren Erkrankung leide, die zu unerträglichem und nicht zu lindernden Leiden führe, (2) der Betroffene entscheidungsfähig sei und sich frei und ernsthaft zum Suizid entschieden habe, und (3) eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches nicht zur Verfügung stehe. Auf Weisung der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und Jens Spahn wurden die über 100 beim BfArM eingereichten Anfragen trotz der höchstrichterlichen Entscheidung nicht bearbeitet bzw. abschlägig beschieden, weshalb der Unmut der Antragstellenden zunahm.

1.1.3     Urteil des Bundesverfassungsgerichts und gesetzlicher Regelungsbedarf

Das Bundesverfassungsgericht hat auf der Basis zahlreicher Anträge von Ärzten, Juristen und Vereinen den § 217 StGB überprüft und mit Urteil vom 26. Februar 2020 für verfassungswidrig und nichtig erklärt (Images Kap. 3.1.2.4). Der Zweite Senat unter Führung des Präsidenten Andreas Voßkuhle hat klargestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf dem Boden der Menschenwürde ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben enthalte, welches auch das Recht einschließe, freiverantwortlich seinem Leben selbst ein Ende zu setzen und dabei auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen. Dieses Recht lief aber gemäß dem Gericht durch § 217 StGB faktisch leer. Zugleich hat das Gericht dem Gesetzgeber durchaus Spielräume einer Regelung eröffnet und Kriterien nahegelegt, welche den Schutz der Selbstbestimmung des Einzelnen ins Zentrum stellen.