Zum Text:

Die Reiseberichte von Engelbert Manfred Müller sind alle sehr persönlich gehalten. Sie erzählen nicht nur von landschaftlichen oder kunsthistorischen Details der besuchten Städte oder Landschaften, sondern auch von Ängsten, Hoffnungen, Erwartungen und Enttäuschungen des Autors. Reflexionen psychologischer oder auch historischer Art sind eingeflochten, manchmal in Dialogen mit den Reisebegleitern oder Personen, die dem Autor begegnen. Und in den Berichten über Goslar und Dresden fließen Erinnerungen an die eigene Vergangenheit ein, die zugleich Erinnerungen an Krieg und Nachkriegszeit sind.

Mit den Reiseberichten betritt der Autor ein neues literarisches Gebiet, nach seinen Bänden mit Erzählungen („Das Auge der Stadt“, „Extremadura“, „So nah und so fremd“ und „Wittenberg“), seinem Lissabon-Roman „Nur ein Schlüsselanhänger“, seiner Aphorismensammlung „Nicht der Weisheit letzter Schluss“ und seinen Lyrikbänden „Flechtenblüten“ und „Spätlese im Halbschatten“.

Zum Autor:

Engelbert Manfred Müller wuchs in Köln auf, lebte und lehrte viele Jahre in Leverkusen und Köln und in Chile und Mexiko. Heute lebt er in Bergisch Gladbach und ist Mitglied der Autorenvereinigung „Wort und Kunst“

Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet die Publikation

in der Deutschen Nationalbibliographie, detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Engelbert Manfred Müller

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH Norderstedt

ISBN 9783749475841

Inhalt

Nilkreuzfahrt 2006

Eine gewisse Nervosität beherrschte uns schon, als wir am Köln-Bonner Flughafen endlich in unserer LTU- Maschine saßen. Schließlich hatte Sigrid von Anfang an Bedenken wegen möglicher terroristischer Anschläge gehabt. Immerhin hatte es noch im vorigen Jahr das Attentat in Sharm el Sheik gegeben und vor ein paar Jahren das schreckliche Blutbad im Tal der Könige bei Luxor - Luxor, unserem Zielort! Wir hatten uns einigermaßen beruhigt bei dem „statistischen Gedanken“. Immer noch ca. 6000 Verkehrstote jedes Jahr in Deutschland. Was sind demgegenüber die „wenigen“ Attentatsopfer! Eine makabre, aber doch wohl rationale Rechnung. Unterm Strich heißt das ja wohl, dass eine Straßenüberquerung in Herkenrath gefährlicher ist als eine Reise nach Ägypten.

Nun aber hatte unser Flug schon eine Stunde Verspätung. Die Mitteilung des Bordpersonals, dass sich ein unbegleitetes Gepäckstück an Bord befand und deshalb wieder ausgeladen wurde, wirkte nicht eben beruhigend. Doch ein Terrorist an Bord? Die Frage löste sich aber auf, als eine ältere Frau verspätet an Bord stieg und ihr Gepäckstück wieder eingeladen wurde. Na, dann!

Beim Umsteigen in München stellten wir fest, dass hier noch viel Schnee lag. So waren im Salzburger Land schöne Bergaufnahmen aus dem Fenster heraus möglich. Über Istrien dann und auch später über der Insel Kreta lag beides nebeneinander: schneebedeckte Berglandschaften und sonnenbeschienene braune Küstenlandschaft am blauen Meer. Dann aber nur noch Sonne und Wüste, als wir die ägyptische Küste überflogen, zuerst ein orangegelbes Gebirge, dann flachere Wüste mit langgestreckten Rippen. Dünen? Wohl eher Erhebungen, auf denen sich dann Sanddünen gebildet hatten.

Einerseits begeisterten mich die Ausblicke, andererseits fühlte ich mich ziemlich „fertig“: Schon seit ein paar Tagen hatte ich Herzrhythmusstörungen. War es die Aufregung? War es Bluthochdruck? Ich hatte mich schon gar nicht mehr getraut, meinen Blutdruck zu messen. Und heute kam das Aufstehen um vier Uhr in der Frühe hinzu, die Furcht, den Flug zu verpassen.

Da plötzlich das Delta, grün, dunkelgrün, von blitzenden Kanälen durchzogen, und dann der Flug das Niltal entlang nach Süden, bis wir auf einer Schleife um Luxor herum tiefe Schluchten überflogen, die fast an das Valle de la Luna bei La Paz erinnerten.

Und dann, obwohl wir gewarnt waren, der erste „Reinfall“: Ein Mann mit einer vertraulichverschwörerischen Miene winkte uns zur Polizei, wo wir unsere Pässe mit dem eingelegten, von der Reisegesellschaft bezahlten Visum vorlegten. Der Polizist klebte zwei Marken in den Pass und stempelte sie ab. Dann brachte uns der Mann zu dem Transportband 5 m dahinter, hielt die Hand auf und forderte 5 €. Wir hatten vor der Polizei ein, zwei Leute überholt, was uns nichts brachte, da wir sowieso an dem Transportband auf unsere Koffer warten mussten. Ich gab ihm einen Euro, mit dem er sich lange nicht zufrieden geben wollte, indem er uns immer wieder wortlos einen 5 € - Schein zeigte. Das Transportband erwies sich übrigens als das falsche. Als die Koffer am richtigen Band erschienen, war auch gleich schon der nächste zur Stelle, trug uns die Koffer 3 m weiter und wollte ebenfalls ein Trinkgeld. Wir hatten uns extra Koffer gekauft, an denen sich die Rollen an den Breitseiten befanden, so dass sie leicht zu rollen waren. Deshalb brauchten wir absolut keinen Kofferträger. Es gab also kein Trinkgeld mehr. Auch nicht am Bus fürs Reinhieven in den Kofferraum im Bus.

Dann mussten wir warten. 20 Minuten, eine halbe Stunde, eine ganze Stunde. Die Reiseleiterin von ITS mit ihren stämmigen Beinen, die nicht recht zu ihrem scharf geschnittenen Gesicht passen wollten, erklärte kurz und lakonisch, dass wir so lange warten mussten, weil noch Gäste zusätzlich kommen würden. Immerhin war es jetzt mittlerweile nach drei Uhr, bisher ohne Mittagessen. Wie sollte das weitergehen? Die ganze Reise war ja ein Sonderangebot für 700 € statt für 1200 €. Weil das Schiff ganz neu sei. Und deshalb billiger? Sollte sich das Ganze als Reinfall erweisen?

Mit dem Bus vom Flughafen zur Stadt. Grüne Felder, Reis, Luzerneklee, einzelne Palmen, aufgerissene Seitenstreifen, Busse, Minibusse, vollgepfropft mit Menschen, in Turbanen und Galabeas, teilweise aus dem hinten offenen Fahrzeug herausquellend, Eselskarren, immerhin mit bereiften Rädern. Mit so viel Orient hatte ich nicht gerechnet. Und dann befanden wir uns schon auf dem Schiff. Vor dem Kai lagen unabsehbare Mengen von Passagierschiffen, unseres in der dritten Reihe, so dass wir zwei andere Schiffe durchqueren mussten. Die Empfangshalle, aufgrund der Wandverkleidung mit Macoree-Imitation etwas verstaubt-plüschig wirkend. 5-Sterne-Unterkunft? Dann bekamen wir an der Rezeption unser Zimmer zugeteilt. Nr. 405. Also 4. Stock

“Is it Upper Deck?”

“Yes, sir.”

Das hörte sich ja schon mal gut an. Also nicht das untere Deck, von wo aus man lediglich auf das Wasser schauen könnte, mit den Maschinengeräuschen des Dampfers in den Ohren. Der Angestellte in hellbrauner Uniform, der unsere Koffer ins Zimmer trug, zeigte uns, wie man die Tür öffnete, mit einer Art Scheckkarte, die man außen an der Tür in einen senkrechten Schlitz steckte und die, wenn man sie wieder herauszog, ein zufriedenstellendes Geräusch von sich gab, was wohl soviel wie „Alles in Ordnung. Bisher war das Zimmer verschlossen. Jetzt kannst du die Klinke runterdrücken“ bedeuten sollte. Das heißt, eigentlich machte das Geräusch eher den Eindruck, als wenn es uns siezen würde. Auch der Angestellte war von einer freundlichen Selbstverständlichkeit, und als ich ihm einen Euro Trinkgeld gab, den er ja nun wirklich verdient hatte, lächelte er, als wolle er sagen:

„War nicht nötig. Das ist meine normale Arbeit. Und außerdem wird ja von der Reisegesellschaft pro Tag und Person ein Trinkgeld von 5 € eingesammelt und gerecht an das Personal verteilt. Sie sollen ja nicht ständig mit dem Geben von Bakschisch belästigt werden. Schließlich befinden Sie sich hier auf einem Luxusschiff, wo Sie sich rundum wohlfühlen sollen.“

Dann waren wir allein in unserem Reich für 7 Tage. Ein angenehmes kleines Reich, das gar nicht so klein war. Ein umfangreiches Doppelbett mit fester Matratze, wie wir es lieben. Wenn man reinkam, rechts die Schiebetür zum Bad, mit Marmor auf dem Boden, neben dem Waschbecken und auf der Ablage. Eine gute Dusche in der Badewanne, die zur Hälfte von einer dicken Glasscheibe abgeschirmt war. Links hinter der Tür der geräumige Kleiderschrank mit zwei Schiebetüren, voll von Kleiderbügeln aus Holz, so dass wir wirklich alle unsere Kleidungsstücke für die nächsten Tage bequem erreichbar im Schrank unterbringen und unsere Koffer im Wesentlichen in Ruhe neben dem Bett stehenlassen konnten. Geradeaus das riesige Panoramafenster mit Aussicht auf den Nil, vor dem allerdings im Moment noch die Vorhänge zugezogen waren, da der Blick noch verstellt war vom Nachbarschiff. Und vor dem Fenster ein rundes Glastischchen mit gusseisernen Löwentatzen, dazu zwei Polstersessel. An der linken Wand zu allem Überfluss noch ein Tisch, den ich ab und an zum Tagebuchschreiben nutzen konnte, obwohl ich das meistens oben auf dem Sonnendeck tat, entweder dort wirklich in der Sonne oder meistens auf einem der schönen hölzernen Stühle unter dem Sonnenschutz aus weißem Segeltuch. Aus weißem Segeltuch waren dort auch die offenen Kojen, die mit etlichen farbigen Kissen versehen waren, zum Liegen im Schatten, wo man bei Bedarf, um fremde Blicke abzuhalten, sogar das ganze Separee zuziehen konnte. Wir hatten dazu gar keine Zeit, lagen entweder auf unserer Liege, Sigrid meistens während der Fahrt ihren „Sinuhe, der Ägypter“ lesend, oder ich vor Aufregung ständig die Seite wechselnd, um nur ja keinen der vorbeiziehenden Anblicke zu verpassen.

Die Einweisung durch die deutsche Reiseleiterin (mit den unpassenden stämmigen Beinen) begann mit der Vorstellung eines Teils der Crew, einer Rede des Managers, bei der ich erst nach einiger Zeit mitbekam, dass es sich hier um Englisch und nicht etwa Arabisch handelte. Es wurde mehr oder weniger deutlich, dass sich die Mannschaft vor allem um die Sicherheit der Passagiere kümmern wollte, wie, blieb allerdings offen. Vertrauen sollte wohl vor allem geschaffen werden.

Durch den Kapitän in schwarzer Galabea mit weißem Turban und malerisch um den Hals geschlungenem weißen Schal, der am Ende der Reihe stand? Beim Essen würden wir Tischpartnern zugewiesen werden, die wir dann die ganze Reise über beibehalten sollten. Nach welchen Kriterien? Und wenn das schiefging?

Vor dem Abendessen schlüpfte ich noch einmal schnell aus unserem hermetischen Zuhause heraus auf die Kaimauer, wo ich sofort von einem Ägypter in Beschlag genommen wurde. Wo ich herkäme, ob ich alleine sei, ob ich die Stadt gezeigt bekommen wolle, ob ich etwas einkaufen wolle. Ein junger Mann, 27 Jahre alt, angeblich seit 7 Jahren Bäcker auf einem Nachbarschiff. Hatte er jetzt dienstfrei? Seine Frau, Nura mit Namen, wohne in Assuan, er habe eine kleine Tochter, worauf ich meine Familiendaten bekanntgeben musste, was ja in vielen Ländern der erste Schritt der vertrauensbildenden Maßnahmen ist. Und Enkelkinder kommen immer besonders gut an. Neben uns standen mehrere Händler, die Erdnüsse oder andere Kleinigkeiten anboten und lächelnd zuhörten. Zurück zur Frau auf dem Schiff zu müssen, war ein gutes, akzeptiertes Argument, um das Gespräch schließlich abbrechen zu dürfen.

Da saßen sie schon an unserem großen runden Tisch, der eigentlich für mindestens 6 Personen Platz bot: Heidemarie (wie die Entwicklungshilfeministerin) und Herbert (fast wie der Kölner Heilige, der das Benediktinerkloster in Deutz und St. Aposteln gegründet hat). Manche Eselsbrücken fallen einem spontan ein. Ein Heiliger schien er aber nicht gerade zu sein, eher ein Sunnyboy mit blondem zerzausten Modeschopf, ein wenig einem gemütlichen Kater ähnelnd. Sie strahlte schon eher den Ernst einer Entwicklungshilfeministerin aus, ein Ernst, der manchmal etwas Sadistisches zu haben schien, aus einem Gesicht heraus, mit dunklem Haar und dunklen Brauen. An welchen Vogel erinnerte es? Rabe? Nicht so gesetzt. Elster? Nicht so bunt und nicht so geschwätzig. Krähe? Eine schlanke, drahtige vielleicht. Bis wie ein Sonnenstrahl ein fast bärbeißiges Lächeln aus dem umwölkten Antlitz herausstrahlte, manchmal noch mütterlich in Watte gehüllt, wenn sie sich liebevoll regierend um ihren Sunnyboy kümmerte, was dem gar nicht immer recht war. So was kennt man ja! Architekten beide, gut im Geschäft, mit 40 Angestellten, Wohnung in Wien, wo sie vor kurzem ein Stadtpalais auf der Ringstraße erneuert hatten, und ein Haus in Neusiedl am Neusiedler See. Beide interessante Gesprächspartner, mit denen wir uns während der Woche immer enger befreundeten, Gespräche über Architektur, die jeweiligen Lebensumstände und Lebensläufe, viele Gespräche über Lateinamerika, das sie nach Beendigung ihres Studiums ein Jahr lang bereist hatten.

Mit ihnen waren wir auch am nächsten Tag und den übrigen Tagen zusammen in der Gruppe von Aladin, dem ägyptischen Reiseführer und Ägyptologen, 30 Leute insgesamt, genau wie in der Gruppe von Abel, dem Führer der anderen Hälfte der Touristen auf unserem Schiff Alyssa, in dem somit nur die Hälfte seiner 62 Kabinen belegt waren. Es sollte sich zeigen, dass auch Aladin ein regelrechter Glücksfall war, da er eine angenehme, kompetente Art hatte, sein Amt zu versehen. Vor allem beherrschte er das exemplarische Prinzip bei seinen Vorträgen, so dass er jedes Mal einen anderen Schwerpunkt bei den vielen Tempeln und anderen Sehenswürdigkeiten herausstellte.

Im Tempel von Karnak war es vor allem der „Obergott“ Amun und die außerordentliche Größe und Bedeutung des Tempels, die er in den Mittelpunkt stellte. Dazu gehörten auch die Besuche bedeutender Persönlichkeiten, die von diesem Wunderwerk fasziniert waren, zum Beispiel Rainer Maria Rilke, in dessen Gedicht eine der wunderbaren Säulen des Großen Vorhofs von Karnak erwähnt wird, die nach den riesigen Pylonen, der Eingangsfassade mit einer Breite von 113 m und einer Höhe von 43 m, ein Vorspiel bildet zu dem Weltwunder des Großen Säulensaals, in dem einen 134 reliefverzierte Säulen vor Ehrfurcht erstarren lassen.

Auf den noch vorhandenen Architraven über den Säulen beschattete früher ein Dach den riesigen Raum, der nur durch die Steingitter in den Seitenschiffen beleuchtet wurde, so dass ein dämmeriges Halbdunkel den Besucher umfing, der sich der Gewalt und dem Zauber dieses Raums wohl kaum entziehen konnte. Auch wir standen wie verzaubert inmitten dieses monumentalen steingewordenen Schilfwalds. Was rührte uns an? Der große unfassbare Gott, der hier herrschte, die gewaltigen Herrscher, deren Macht keinen Widerspruch duldete, oder hauptsächlich die Zeiten, die Jahrtausende menschlicher Kultur, die hier überdauerten? Um uns herum schwirrten Schwalben in der frischen Morgenluft, die von einem leichten Brandgeruch durchzogen war. Einmal zeigte uns Aladin einen Falken. Horus in Person? Und als wir später die drei Gipfel des Gebirges im Osten von Theben sahen, erinnerten wir uns an das, was Sinuhe, den Ägypter, auf seinen Reisen an Theben erinnerte: die Kochfeuer vor den Häusern, die Schwalben und die drei Gipfel der Berge. Hinzu trat etwas Neues, das er nicht erwähnen konnte: der Ruf der Muezzine von vielen Seiten. Ihr dunkles und langgedehntes „Allahu akbar“ tauchte uns im Jahr 2006 in eine Atmosphäre allgegenwärtiger religiöser Herrschaft. Anrührend und ein wenig unheimlich zugleich.

Säulenwald in Karnak

Die Weihe deiner Größe und

die Würde von viertausend Jahren

sogleich den Atem uns verschlägt,

und Säulen stehn auf altem Grund,

die endlos Menschliches erfahren

und die der Hauch des Ewgen prägt,

Nachfolger eines Walds in alten

Sümpfen, die das ganze Leben

in Überfülle uns gebaren,

und deren Schäfte mit bemalten

Flächen schon ein Schauerbeben

unsern Vorzeiteltern waren.

Ließt ihr des Gottes Dämmrung schimmern,

Verbeugung vor dem ewig andern,

weil selbst euch tränkte ein Gefühl

der Ehrfurcht vor der großen Bahn

und kosmisch weiten Dimensionen?

Oder sollten wir vor Kleinheit wimmern,

im Staube auf dem Bauche wandern,

nach fein berechnetem Kalkül

verehrn des Herrschers Größenwahn,

den Glanz von seinen goldnen Kronen?

Mindestens zwölf Tempel und Kapellen umfasst der riesige Komplex von Karnak, so dass von daher Aladin, unser Führer, schon gezwungen war, eine Auswahl von wenigem zu treffen. Als nächstes erklärte er uns so die Bedeutung, die die Aufstellung von Obelisken für die Reputation der ägyptischen Herrscher hatte. Schon der Obelisk von Thutmosis dem Ersten mit seinen 20 m Höhe und 130 Tonnen Gewicht war eine gewaltige technische und künstlerische Leistung. Seine Tochter Hatschepsut stellte ihn aber mit 30 m Höhe und fast dem dreifachen Gewicht weit in den Schatten. Da sie ihren Neffen Thutmosis den Dritten jahrelang an seiner legitimen Machtübernahme gehindert und stattdessen selber den Thron usurpiert hatte, rächte sich dieser später an ihr, indem er ihren Obelisken einmauern ließ, was ihn allerdings unbeschadet bis in unsere Zeit überdauern ließ. Paradoxien der Geschichte. Ebenso überdauerten ihre Bildnisse recht gut, da ihr Neffe sie zerschlagen und vergraben ließ. In unserer Zeit konnten sie leicht wieder zusammengesetzt werden. So ist uns das schöne Antlitz dieser machtbesessenen Frau recht gut bekannt.

Sparsam und exemplarisch machte uns Aladin nun auch mit einem ersten der zahlreichen altägyptischen Symbole bekannt, dem Skarabäus, dessen Abbild vor dem Heiligen See stand. Der Mistkäfer oder Pillendreher, der Käfer, der seine Kugel vor allem bei Sonnenaufgang dreht, die Kugel, aus der dann später neues Leben schlüpft. So verknüpfen sich in ihm die Mythen um den Lauf der Sonne, die beim Untergang in das Reich der Finsternis taucht, wo sie die Nacht verbringt, von Geistern und Schlangen gefährdet und bedrängt, und die Mythen von Werden und Vergehen, Tod und Auferstehung. Der Käfer ist es dabei, der der Sonne dazu verhilft, den Sprung aus dem Reich der Unterwelt ans Licht zu schaffen. Die Mistkugel, gleichzeitig ein Anklang an den fruchtbaren Nilschlamm, ist die Sonne, die dank des Käfers ihren Lauf fortsetzen kann. So würde uns der Skarabäus auch am letzten Tag der Reise in den Malereien in den Gräbern im Tal der Könige erscheinen.

Ob er uns aber bis zu Hause beschützen würde?

Am Nachmittag die zweite große Sehenswürdigkeit, der Luxor-Tempel. Konnte die Reise da überhaupt noch weitere Höhepunkte bieten? Vor dem Tempel ein recht langes Stück der Sphingenallee, die einmal mit mehr als drei Kilometern Länge die beiden Tempelkomplexe miteinander verband, um den Gott in einer großen Prozession von dem einen Tempel in den anderen zu geleiten. Und auf der anderen Seite die wieder riesige Front des ersten Pylons mit den beiden Kolossalstatuen Ramses’ des Zweiten und einem Obelisken. Der zweite, der dort gestanden hatte, befindet sich heute auf der Place de la Concorde in Paris. Über Höfe und einen mächtigen Säulengang gelangt man schließlich zum Allerheiligsten, das Alexander der Große errichten ließ. Er fädelte sich ein in die Traditionen des Landes, das er erobert hatte, ließ sich auf einem Relief mit erigiertem Penis darstellen, aus dem sein Heldensaft in eine Schale träufelte, die er dem Gott als Opfergabe anbot. Überhaupt sind die Reliefs in diesem Teil des Tempels sehr interessant, ist in dem sogenannten Mammisi, dem Geburtsraum, doch eine Vorwegnahme der christlichen Weihnachtsgeschichte abgebildet, Verkündigung und Geburt des Gottessohns, die Begegnung von zwei schwangeren Müttern, eine davon die Göttin Iris, die sowieso große Ähnlichkeit mit der Jungfrau Maria aufweist. Eine Moschee auf den Mauern einer ehemaligen christlichen Kirche bildet noch heute einen Teil des Tempels und an einer anderen Stelle weisen Reste von Fresken und eine Art Apsis auf die Zeit, in der der Tempel dem römischen Kaiserkult diente.

Als Aladin uns die Bedeutung der ägyptischen Tempel erklärte, beging er einen der wenigen Irrtümer in seinen Vorträgen. Die Götter seien nach altägyptischem Glauben in den Tempeln wirklich anwesend gewesen, nicht nur wie in den christlichen Kirchen symbolisch. Da war er wohl von einem Protestanten informiert worden. Denn nach katholischem Glauben ist Gott ja im Tabernakel oder im Sakramentshaus auch wirklich anwesend.

Profaneres danach in einem Papyrusladen. Hier wurde uns vorgeführt, wie Papyrus hergestellt wird. Der Stängel wird geschält, dann zugeschnitten, mit einem Hämmerchen plattgeklopft, mit einer Nudelrolle ausgewalzt und schließlich zu einem Flechtmuster zusammengelegt. Dieses legt man dann unter eine Presse, bis der letzte Saft aus der nun entstehenden Fläche entwichen ist. Wahrscheinlich war dieser Teil der Reise für Aladin so etwas wie eine für ihn lukrative Kaffeefahrt, in Form einer Provision für getätigte Käufe der Touristen. Dass er nicht nur ein guter und hingebungsvoller Reiseführer war, sondern sich auch gleichzeitig gut verkaufte, zeigte sich später in den CDs mit Bildern der Tempel, die er uns gezeigt hatte, und die leider nicht alles hielten, was er vorher versprochen, wenn sie auch Innenaufnahmen von Abu Simbel und den Gräbern im Tal der Könige enthielten, die man selber nicht machen darf.

Die Inhalte von altägyptischen Papyri sollten uns später in Berlin eindrucksvoll durch den Audioguide im Ägyptischen Museum nahegebracht werden, die Originalstory von Sinuhe, dem Ägypter, die Rechtfertigungen des Verfassers des Totenbuchs, der nach seiner Meinung von Osiris positiv beurteilt werden musste, da er zum Beispiel in seinem Leben nie eine Frau vergewaltigt hatte, und die mahnende und zugleich äußerst faire Ankündigung des Besuchs eines Revisors, der einen faulen und schlitzohrigen Bauern vor seinem Besuch eindringlich auffordert, sich gehörig auf die Revision vorzubereiten. Fast so „fair“ wie unsere heutigen Lebensmittelkontrollen!

Nach dem wieder exzellenten Mittagessen, das man sich an dem aufgebauten Büffet abholte, und wo es zusätzlich zu vielen warmen Speisen noch Suppe und Salate jeder Art gab, auf die ich verzichtete, was sich auszahlte, da ich keinerlei Rache des Pharao oder ähnliche Beschwerden während der ganzen Reise verspürte, begann die berauschende Nilfahrt. Vorher noch mehrere Sorten Fleisch, Fisch und ein Nachtischbüffet, das aus ungefähr 20 verschiedenen Kuchen, Puddings und Teigwaren bestand, mit anschließendem Obstbüffet. Zusätzlich konnte man sich noch Nudeln zubereiten lassen, wie man sie am liebsten mochte.

Vom Sonnendeck aus eröffnete sich ein Zauberland. Palmengesäumte Ufer, mit schilfigen Abschnitten, kubische Häuser aus braunen Lehmziegeln, einzeln oder in Dörfern oder kleinen Städten, Moscheen mit schlanken Minaretten, träge schwarze Wasserbüffel auf den grünen Feldern, einzelne Reiter in Galabea und Turban auf kleinen schnellen Eseln, fast keinerlei Frachtschiffe außer wenigen mit Zuckerrohr beladenen. Sonst nur die angeblich fast 300 Schiffe, die Passagiere wie uns durch dieses Zauberland gleiten ließen, so dass sie mit der bitteren Armut, die hinter all diesem Paradiesischen steckt, nicht in Berührung kamen. Ab und an ein knatternder Motor, der das Wasser des Nils in die Bewässerungskanäle pumpte, die die Felder mit Reis, Luzerneklee und Gemüse und die Plantagen mit Palmen und Mangobäumen versorgten. Diese Pumpen hatten die eselgetriebenen Schöpfräder von vor 50 und 100 Jahren ersetzt. Sonst hätte der Anblick sich in nichts von dem zu biblischen Zeiten unterschieden. Natürlich gab es an einigen Stellen auch die Hässlichkeiten der Moderne, nicht zu übersehen die qualmenden Schlote einer Fabrik, einer Zuckerfabrik? Nicht zu übersehen auch hässliche Wohnblocks, die fatal an Köln-Chorweiler erinnerten, oder planiertes und asphaltiertes Gelände, für eine künftige Industrieanlage bereitet. Voraussetzungen für das Überleben einer auf mittlerweile mehr als 70 Millionen angewachsenen Bevölkerung. Hässlichkeit als eines der Naturgesetze der Zivilisation unserer Zeit? Oder haben wir da nur einen falschen Blick? Aladin sah das vielleicht ganz anders. Auf seinen Fotos auf seiner CD-ROM, die ich ihm später abkaufen würde, tauchten die malerischen Figuren und Winkel, die ich im Bilde festhielt, nicht auf. Oder weil er sich schämte?

Seine Religiosität und eine gewisse konservativpatriotische Haltung wurden uns im Laufe der Woche immer deutlicher. Zum ersten Mal vielleicht, als uns vor dem Karnak-Tempel eine Schlagzeile entgegensprang, in einer deutschen Zeitung, die dort von Händlern den Touristen angeboten wurde: „Teheran vergleicht Merkel mit Hitler“. Als ich mich überrascht mit Aladin darüber unterhielt, bekam ich zu meinem Erstaunen zu hören, das sei nur eine Retourkutsche dafür, dass Merkel Ahmadinedschad mit Hitler verglichen habe. Das konnte ich nun überhaupt nicht glauben. „Das kann sich kein deutscher Politiker erlauben. Eine Justizministerin musste zum Beispiel ihren Hut nehmen, nachdem sie Bush mit Göbbels verglichen hatte,“ meinte ich skeptisch. „Ja, das war auch Bush, und nicht Ahmadinedschad“, erwiderte Aladin. Trotzdem hielt ich seine Information für falsch, entweder von ihm falsch wiedergegeben oder von vornherein von der Kairoer Zeitung, aus der er sie hatte, falsch in die Welt gesetzt. Aber in Ägypten, in diesem doch äußerst gemäßigten moslemischen Land?

Nach der Reise sollte ich im Internet feststellen, dass Merkel tatsächlich auf der Wehrtagung in München indirekt die iranische Regierung mit dem Naziregime verglichen hatte. Die ägyptische Presse und, wie ich lesen konnte, auch zum Beispiel eine australische Zeitung hatten die Sache nur auf den Punkt gebracht. „Merkel likens Ahmadinedschad with Hitler,“ hieß es dort. Nachträglich musste ich einsehen, dass Merkel tatsächlich eine grobe Unvorsichtigkeit begangen hatte, sozusagen Öl ins Feuer gegossen hatte, in dieser angespannten Situation, in der es in der arabischen Welt schon diese Aufregung um die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung gab. Und warum? Um den Amerikanern einen Gefallen zu tun? Und der Aufschrei in der westlichen Welt wegen der angeblich gefährdeten Pressefreiheit! Eine Woche nach unserer Rückkehr würde der WDR aus religiös-katholischen Rücksichten die Kölner Stunksitzung nur gekürzt senden, ohne die „Karikatur“, in der Kardinal Meisner mit Ratzinger im Bett liegt. Großer Unterschied? Keine Pressezensur? Nur vorauseilender Gehorsam? Die Schere im Kopf? All das soll natürlich nicht in Zweifel ziehen, dass Ahmadinedschad ein geistiger Brandstifter ersten Ranges ist. Nur sollten wir nicht das gleiche tun.

Unsere österreichischen Tischgenossen sahen das alles nicht viel anders, obwohl sie als freie Unternehmer von einem uns fremden (neo-)liberalen Denken wenig entfernt waren. Das zeigte sich unter anderem bei Heidemarie, als ich von der Bürgerinitiative gegen das Cross-Border-Leasing-Geschäft der Stadt Bergisch Gladbach erzählte. Sie schien da offensichtlich meine völlige Ablehnung nicht ganz zu teilen. Die große Gemeinsamkeit zwischen uns stellte sich vor allem her, wenn wir unsere lateinamerikanischen Erinnerungen austauschten. Auch wenn wir Gemeinsamkeiten in der Rolle der Geschlechter entdeckten. Heidemaries skeptisch-realistische Haltung und Herberts mehr zu Begeisterung und Optimismus neigendes Gemüt. Ein Sunnyboy eben, der auch viel Verständnis dafür hatte, wenn ich eine Erzählung über Erlebtes einer Pointe wegen auf den Punkt bringen wollte, während unsere beiden Frauen auf jeden Fall der genauen Wahrheit die Ehre geben wollten, auch wenn sie noch so langweilig sein sollte. Und doch war es Heidemarie, die davon erzählte, wie Herbert als Blondschopf in Südamerika vergöttert wurde, so dass ihm vor lauter Begeisterung an der Copacabana auf den Hintern geklatscht wurde – von Männern! Die realistischere, vielleicht ehrgeizigere Haltung von „ihr“ war wohl auch zurückzuführen auf ihre bäuerliche Herkunft, der sie mit aller Gewalt entfliehen wollte und dank liberal denkender Eltern auch konnte. Vielleicht ist es auch dieser Ehrgeiz, der sie heute – zum Leidwesen eines genussfreudigeren Herberts – oft in der Nacht bis zwei am Schreibtisch sitzen lässt, obwohl sie ein gutgehendes Architekturbüro mit ca. 40 Angestellten ihr eigen nennen. Er hat sich auch nicht so hochgestrampelt wie sie, stammt aus einem Elternhaus, in dem schon der Vater Architekt ist und war und dazu 30 Jahre lang den Posten des Ortsbürgermeisters versehen hat. Heute entwerfen sie Weingüter im Burgenland und zählen einen Flick zu ihren Kunden, mit dem sie auch auf die Jagd gehen. Eigentlich viele Dinge, die nicht gerade zu unserem Lebensstil gehören. Und doch verband uns allerlei: die Freude an allem Neuen, die Zufriedenheit mit gutem Essen, ohne dass wir die Notwendigkeit sahen, es mit noch besserem Essen zu vergleichen oder scharfe Kalkulationen über Preis-Leistungsverhältnisse anzustellen, wie es einige unserer anderen Mitreisenden taten.

Die Neugier auf die anderen Lebens- und Herkunftsgeschichten und das Genießen des leichten Prickelns beim Beobachten der jeweiligen Paarbeziehungen, wo sich trotz aller Unterschiede immer wieder merkwürdige Parallelen ergaben. Zum Beispiel wenn sie in einer übertriebenen Vorsorge sich Sorge um die schlanke Linie ihres Partners machte oder ihm einzelne Speisen mitbrachte, von denen sie annahm, dass er sie unbedingt probieren müsste. Als leidenschaftliche selbstständige Unternehmerin schien sie zum Schluss sogar ein wenig Verständnis für Sigrids fast „nur“ Hausfrauen- und Mutter-Dasein zu gewinnen. Zum mindesten schien sie ein wenig nachdenklich zu werden. In ihrer fast immer schwarzen Kleidung mit mehr oder weniger Rotkontrast, den ich täglich kommentierte, zuerst noch skeptisch von ihr aufgenommen, zum Schluss aber vielleicht regelrecht genossen. Wie alle Frauen, denen es dann doch angenehm aufstößt, wenn ein männliches Wesen in ihrer Nähe ihre textilen Verwandlungen zumindest bemerkt. Schließlich war dann ja nicht alles umsonst gewesen. Dieses Schwarz verstärkte ihren Typ erheblich und in meinem Kopf die Frage nach Rabe oder Krähe, von Nasen- und Kinnform und auch der kecken Frisur erheblich unterstützt. Das sagte ich ihr natürlich nicht. Auch nicht, als Herbert bei einer abendlichen Veranstaltung in der Bar, in der die Frauen von den nubischen Tänzern aufgefordert wurden, meinte:

„Der weiß gar nicht, wie sehr er von Heide in der Luft zerrissen würde, wenn sie sein Angebot annehmen würde.“

Hacken, Zerfleischen, irgendso etwas Martialisches strahlte sie schon aus, immer gedämpft durch seinen Charme oder durch die friedliche Umgebung. Bei dem Gedanken, sie als Chefin zu haben, konnte mir leicht mulmig zumute werden. Einmal ging es auch darum, wie sie Fleisch zerlegte. Nach der Jagd vielleicht? Ich habe den Zusammenhang vergessen. Auf jeden Fall ist mir etwas Zerhackendes, Geierhaftes im Sinn geblieben. Aber Herbert mochte das alles. Ein aufregendes Pendant zu seiner optimistischen Gutmütigkeit, ohne welches er sonst zu behäbig geworden wäre? Zu meiner Befriedigung und Beruhigung schien sie eine gewisse kaum sichtbare Rührung zu zeigen, als ich sie zum Abschied umarmte.

„Und diese 15 Pfund (etwas mehr als zwei Euro) geben Sie ihm erst, wenn sie nach der Rückfahrt aussteigen. Und keinen Cent mehr. Wenn er Sie anbettelt, reagieren Sie nicht. Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert. Aber immer versuchen sie irgendwie, die Touristen weiter auszuquetschen. Ich habe zehn Kinder, und das Pferd frisst so viel. Irgendetwas fällt ihnen immer ein. Dabei ist mit ihnen vereinbart, dass sie das Trinkgeld zum Schluss kriegen und sonst während der Fahrt den Mund halten.“

So instruierte uns Aladin und gab jeder Gruppe, die sich zu viert eine Kutsche teilte, diese 15 ägyptische Pfund. Dabei hatte er von uns das vereinbarte Trinkgeld immer noch nicht eingesammelt. Es war ihm peinlich. Und dann ging es in einem erstaunlichen Galopp durch die Straßen der Stadt, die für uns die erste eigentlich ägyptische war. Denn Luxor bot auf seiner Uferpromenade und den nahegelegenen Straßen doch ein recht europäisches Bild, geprägt von Hotelbauten, Museen, Banken und flanierenden Touristen, Kutschen und Taxen. Hier aber dunkle Seitengassen, Männer in Cafes die Wasserpfeife rauchend, abgerissene, teils merkwürdige Hauskonstruktionen, dahinter das eine oder andere schlanke Minarett auftauchend, viel Polizei oder Militär an allen Ecken und Enden, lange Mauern von Kasernen oder ähnlichen öffentlichen Gebäuden, mit Wachttürmen auf den Mauern, bei denen man sich immer fragte, wie der Wachtposten, der herauslugte, da hineingekommen sei, und schließlich in staubig langer Reihe schwarze Kutschen, wo unsere Fahrt endete, Geruch von Staub in der Sonne, von Pferdekot und Pferdepisse.

Wie Pilger näherten wir uns von der Seite der mächtig aufragenden Fassade des Horustempels, die gut erhalten, ockergelb in der Sonne glänzte, groß darauf der Pharao, mit schnellem Schritt die Feinde des Reichs beim Schopf ergreifend. Der prächtige Innenhof und das geheimnisvolle Innere mit seinem mächtigen Säulenwald, über und über mit Reliefs geschmückt. Ich war vor Ehrfurcht klein und lief etwas verwirrt und aufgeregt herum, gelangte zum Allerheiligsten, das aus einem Block gearbeitet war, zu einer Kammer, in der man ein Sakralschiff aufgestellt hatte, auf dem früher das Bildnis des Gottes gestanden, lief unter dem Gezwitscher von Schwalben und Spatzen, die in den Reliefs nisteten, um den Tempel herum, verlor eine Zeitlang meine Gruppe. Als ich sie schließlich fand, erklärte Aladin gerade, dass es sich bei dem Säulenwald mit seinen Papyrus-, Lotus- und Palmenkapitellen eigentlich um einen Säulensumpf handele, „weil aus dem Sumpf die Welt entstand“.

Und auf der Mauer hinter dem Tempel, ebenfalls über und über mit Reliefs geschmückt, die Horus-Legende. Horus, der falkenköpfige Sohn von Isis und Osiris. Gezeugt, damit er später seinen Vater räche. Osiris war, wie Abel von Kain, von seinem Bruder Seth beneidet. Deshalb war Seth darauf aus, seinen Bruder zu beseitigen. Bei einem Fest ließ er ein seltsames Spiel spielen. Er hatte vorher einen Sarg anfertigen lassen, und nun mussten sich alle Gäste probeweise in diesen Sarg legen. Von Protesten oder Sichverwundern der Gäste berichtet die Legende nicht. Auch nicht von Misstrauen von Seiten des Osiris. War Isis auch dabei? Jedenfalls legte sich Osiris in den Sarg, in den er als einziger passte. Weil er der Kleinste war, oder weil er ihm wie ein Maßanzug stand? Seth hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als den Sarg zu schließen und ihn mitsamt Osiris in den Nil zu werfen. Isis macht sich umgehend auf, Osiris zu suchen und findet ihn auch, zum Entsetzen von Seth, der ihn darauf wütend in Stücke reißt und wiederum in den Nil wirft. Er hat natürlich nicht mit Isis’ treuer Liebe und Kunstfertigkeit gerechnet. Sie sucht und findet Osiris, setzt ihn wieder zusammen, was nicht schwierig scheint, bis auf Osiris’ Glied, das unglücklicherweise von einem Fisch gefressen wurde. Doch stellt sie ihm ein neues her und beim Probelauf entsteht dann Horus, ihr gemeinsamer Sohn, den sie sicherheitshalber in den Deltasümpfen versteckt. Von dort bricht er später auf, um seinen Vater an Seth zu rächen. Mittlerweile ist Osiris der Herrscher des Totenreichs geworden, während Horus als Pharao über die Lebenden herrscht. Die Reliefs zeigen allerdings nur diesen letzten Akt, die Verfolgung und Tötung des Bösen, personifiziert in einem kleinen Nilpferd, das Horus aus einem Boot heraus mit einem Speer tötet, ein wenig an St. Georg, den Drachentöter, erinnernd.

Wer hätte gedacht, dass wir schon die ganze Zeit diesen Ritter Horus auf dem Schiff mit uns führten? Kühn sah er aus, mit herausgestreckter Brust, herausgestrecktem Hinterteil und leicht geblähten Nüstern. Sein gepflegter blonder Schnurrbart hatte nichts von einem Walross, sondern erinnerte eher, wie die kleine starke Brille, an einen Medizinprofessor an der Charité, Mitglied einer (schlagenden?) Verbindung. Jedenfalls hatte er die Angestellten auf dem Schiff schon zur Verantwortung gezogen, wie sich dieses mit fünf Sternen schmücken könnte. Vielleicht, um seiner nicht unhübschen Frau zu imponieren, die er noch nicht lange zu kennen schien, und die sich mit ihrem scharfgeschnittenen, aber etwas fleischigen Profil jeden Tag durch eine andere auffällige Garderobe hervortat.

Jetzt aber war er unübersehbar geworden. Als wir voll von den Eindrücken dieses wunderbar erhaltenen Tempels, der vollplastischen Figur des Horusfalken davor und dem Allerheiligsten aus grünlichem polierten Granit, zurückkehrten zu der langen Kutschenreihe, standen dort schon etliche aus unserer Gruppe mit betretener Miene herum. Was war los? Aladins sonst so gelassenes Gesicht hatte einen angespannten, fast verärgerten Ausdruck. Ein Stück daneben der „Horusfalke“ mit seiner Frau, schweigend jetzt, und offensichtlich von den anderen gemieden. Wir erfuhren nun, dass es einen Streit gegeben hatte. Wie man zulassen könne, dass die Pferde so schlecht gehalten wurden. Mager und schlecht oder gar nicht beschlagen. Als Aladin auf das Gemotze nicht reagierte, setzte Horus noch eins drauf und machte die Bemerkung:

„Das geht dem am Arsch vorbei!“

Etwas wenig vornehm eigentlich. Und das war dann Aladin auch zuviel. Er ermahnte ihn ernsthaft und forderte ihn auf, wenigstens die Formen der Höflichkeit zu wahren. Und das ihm, dem Horusfalken! Allgemeine Betretenheit, wobei die Sympathien offensichtlich auf Seiten Aladins waren.

Aladins Trinkgeldregelung mit den Kutschern klappte übrigens – fast. Als ich unserem Kutscher nach der Rückkehr zum Schiff das Trinkgeld übergab, forderte er ziemlich hartnäckig noch eine Zugabe, mit dem Argument, er habe vor der Rückfahrt ja ein Foto von uns gemacht, mit meinem Apparat, und nachdem er uns die Aufnahme angeboten, um nicht zu sagen, aufgedrungen hatte. Naja, Kleinigkeiten. Aber es hört nie auf.

Nachdem wir uns auf dem Sonnendeck an der Bar einen leckeren Guavesaft bestellt hatten, ließen wir bzw. ich, da Sigrid sich wieder auf ihrer Liege „Sinuhe, dem Ägypter“ widmete, den ununterbrochenen Uferfilm an uns vorübergleiten: immer wieder große, bewirtschaftete oder beweidete Inseln, ganz im Hintergrund Berge, und immer wieder die Pumpen für die Bewässerungskanäle. Der Himmel wurde etwas diesiger und war von leichten Federwolken überzogen.

Plötzlich stand er neben mir, der Horusfalke. Offensichtlich suchte er aus dem Käfig, den die Missbilligung der Mitreisenden um ihn gebildet hatte, auszubrechen. Er machte mehrere Bemerkungen, aus denen hervorging, dass er ein weitgereister Mensch sei.

„Sie kommen wohl viel auf der Welt herum?“ fragte ich pflichtgemäß, aber auch von einer gewissen Neugier geplagt, was das wohl für ein Mensch sei. Ja, er kam viel herum.

„Beruflich oder als Tourist?“

Wie ich es geahnt hatte, natürlich beruflich. „Und was machen Sie da?“

Er sei als Entwickler von medizinischen Geräten auf der ganzen Welt unterwegs. Die Frage, ob er Medizin studiert habe, bejahte er zuerst, schraubte aber später seine Antwort zurück, indem er erklärte, er habe nach dem Abitur zuerst eine Lehre als Zahntechniker absolviert. Von einem Studium war dann keine Rede mehr.

„Ich muss immer was erfinden. Die Welt ist ja zu faul dazu. Es sind immer nur zwei oder drei, die vorpreschen und kreativ sind. Die anderen machen alle nur etwas nach. Es macht ja auch keiner den Mund auf. Alle wollen ihre Ruhe haben. Keiner will richtig arbeiten.“

Als ich ihm widerspreche, weicht er interessanterweise zurück, wie ich es ja häufig festgestellt habe bei Menschen, die so ein überzogenes Selbstbewusstsein an den Tag legen. Dann kommt es aber immer dicker. Er ist selbstständig, verbreitet seine selbstentwickelten Geräte in China, in Indien und in Russland beispielsweise.

Dann kommt er unvermittelt auf die Pferdegeschichte, die Auseinandersetzung mit Aladin, wahrscheinlich der eigentliche Zweck seiner Annäherung, ein Rechtfertigungsversuch.

„Ich kann es nicht ertragen, wenn Pferde gequält werden. Da muss man doch was ändern. Und das könnten die Reiseführer bewirken. Die brauchen sich doch nur alle einig zu sein.“

„Und wie soll man das erreichen, dass die sich alle einig sind?“

„Es muss einfach einer anfangen. Wie ich es in Russland gemacht habe. Wie heißt der Präsident noch mal?“

„Putin. “

„Nein, den meine ich nicht. Den davor.”

“Jeltzin?“

„Nein, der auch nicht.“

„Oder meinen Sie Gorbatschow?“

„Ja, Gorbatschow. Was waren die Russen damals zurück! Es hätte nur einer den Mund aufmachen müssen. Aber es traute sich ja keiner. Und als ich dann ein entsprechendes kritisches Interview im russischen Fernsehen gab, waren alle froh, und das Interview wurde immer wieder ausgestrahlt. Ich konnte danach machen, was ich wollte. Ich wurde in Ruhe gelassen.“

Fast hatte man den Eindruck, er sei der eigentliche Erfinder der Perestroika gewesen. „Schauen Sie mal da!“ unterbrach er sich plötzlich und wies auf einen freien Platz am Ufer, „die spielen Fußball statt zu arbeiten. So sind sie, die Araber. Nichts als faul rumzuliegen. Die Araber, die Neger und .....“

Die Aufzählung ging noch eine Zeitlang weiter.

Was man auch nur antippte, er hatte eigentlich alles schon einmal selber gemacht. Als die Rede auf die Vögel auf dem Fluss kam, wusste er gleich, dass es sich um Kormorane handelte, da er jagte. Als es ums Fotografieren ging, erklärte er, dass das einmal sein Hobby war. Er entwickelte natürlich auch selber. Die Liste sollte später noch ihre Fortsetzung finden. Ein Angeber lediglich, oder ein Verrückter? Wenn ja, schon eine merkwürdige Art von Verrücktheit, durchsetzt mit allerlei Kenntnissen. Oder waren die nur vorgetäuscht? Auf jeden Fall wurde alles vorgetragen mit dieser überzeugend vorgewölbten Brust, der betont aufrechten Haltung und den geblähten Nüstern, wie bei dem Horusfalken halt, wie er in seiner strammen Haltung und seinem festen grauen Stein im Innenhof des Tempels gestanden hatte.

Welch einen Kontrast bildete dazu der Ostfriese, dessen durchgängige Haltung in Bescheidenheit oder Understatement zu bestehen schien! Er zeigte eine erstaunte leichte Bewunderung für meine Begeisterung und nicht das mäkelnde Unverständnis des Münsteraners, der, als wir an der Reling auf die vorbeiziehende Landschaft schauten, auf meine Bemerkung „Ist das nicht phantastisch?“ nur trocken mit „Was?“ antwortete und mir dann von der schönen Landschaft des Münsterlandes redete und von den dortigen guten Möglichkeiten von Fahrradtouren. Allerdings muss man hinzufügen, dass er ziemlich erkältet war und sich später auch noch den Magen am Essen verdorben hatte, wie er meinte. Der Ostfriese aber berichtete in seiner ruhigen Art von Segeltörns mit seinen Freunden. Seine Berliner Frau war da nicht mit von der Partie.

„Und die haben zuerst über mich gelacht, weil ich Nachts einen Eimer neben mir stehen haben musste. Jetzt hat jeder seinen eigenen Schlafplatz. Weil alle Schwierigkeiten mit dem Pinkeln haben. So ist das eben in unserem Alter.“

Nach kurzer Zeit musste ich eine Ausrede suchen, um die Gespräche abzubrechen, weil ich das Gefühl hatte, ich würde etwas von der Landschaft verpassen.

Bei Kom Ombo traten die Berge etwas zurück, und der Fluss wand sich in Schleifen durch eine weite Ebene, von den wegen des Assuanstausees umgesiedelten Nubiern in Zuckerrohrfeldern bearbeitet. In altägyptischen Zeiten ein Gebiet mit großen Sümpfen, in denen das Krokodil hauste. Deshalb ist der Tempel von Kom Ombo auch das Zuhause von Sobek, dem Krokodilgott. Er wurde dort lebendig von den Priestern in einer Art Zisterne gehalten und nach seinem Tode wie die Pharaonen mumifiziert. Zwei dieser Mumien sind in einem kleinen Seitentempel noch heute zu sehen. Der eindrucksvoll über dem Niltal liegende Tempel ist ein Doppeltempel für Horus und Sobek und war auch Sitz eines berühmten Orakels, dessen für den Priesterzauber notwendigen unterirdischen Gang, über den der Gott erscheinen konn