Andrzej Sapkowski

Der Schwalbenturm

Die Hexer-Saga 4

Roman

Aus dem Polnischen von Erik Simon

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Andrzej Sapkowski

Andrzej Sapkowski ist Wirtschaftswissenschaftler, Literaturkritiker und Schriftsteller. Er lebt in Łódź. Seine Fantasy-Serie über den Hexer Geralt hat Millionenauflagen erreicht und Fans weltweit.

Über das Buch

»Was ist mit dem Mädchen? Ihr dürft nicht zulassen, dass sie den Turm betritt! Lasst nicht zu, dass sie den Schwalbenturm betritt  ...«

 

Geralt, der Hexer, und seine Gefährten sind bei der Suche nach Ciri, der verschwundenen Prinzessin von Cintra, bisher erfolglos geblieben. Jetzt will die rivische Königin sie als Partisanenkämpfer in dem blutigen Krieg gegen Nilfgaard verpflichten. Doch sie setzen sich heimlich ab, um ihre unterbrochene Reise zu den Druiden wieder aufzunehmen. Bei einem Überfall gerät Geralts Wolfsmedaillon, das Insignium seines Hexertums, in fremde Hände ...

Ciri, die so hartnäckig Gesuchte, ist von dem gelehrten Einsiedler Vysogota aufgenommen worden. Ihr ganzes Sinnen und Trachten richtet sich jetzt auf den legendären Schwalbenturm — denn dies muss der Ort sein, von dem in der alten Prophezeiung die Rede ist. Allerdings ist der Schwalbenturm nur noch eine Ruine ...

Impressum

Neuausgabe 2019

Veröffentlicht 2010 bei

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 1997 Andrzej Sapkowski

Titel der polnischen Originalausgabe:

›Wieża Jaskółki‹

(Niezależna Oficyna Wydawnicza NOWA sp. z o.o., Warschau)

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Artwork used with permission from Netflix, Inc.

© 2010 der deutschsprachigen Ausgabe:

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung und Illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft

in Zusammenarbeit mit Melanie Korte, Inkcraft und Oswin Neumann

Kartengestaltung: Melanie Korte, Inkcraft

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook 978-3-423-40290-3 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26246-0

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423402903

Sie kamen nach Dun Dâre in grabesschwarzer Nacht,

Wo man die Hexerin verborgen wähnte,

Umzingelten das Dorf von allen Seiten rings,

Damit sie ihnen nicht entkommen könnte.

So wollten sie sie fassen in grabesschwarzer Nacht,

Doch konnte ihre Tücke nichts erreichen:

Es lagen anderntags, eh bleich die Sonne stieg,

Auf kältestarrer Straße dreißig Leichen.

 

 

Die Moritat von den erschrecklichen

Dingen, welche sich in der Nacht auf

Saovine in Dun Dâre zugetragen haben

»Ich kann dir alles geben, was du willst«, sagte die Fee. »Reichtum, Macht und eine Krone, Ruhm, ein langes und glückliches Leben. Wähle.«

»Ich will weder Reichtum noch Ruhm, weder Macht noch eine Krone«, erwiderte die Hexerin. »Ich will ein Pferd, das soll schwarz sein und wie der Nachtwind nicht einzuholen. Ich will ein Schwert, das soll hell und scharf sein wie das Mondlicht. Ich will in schwarzer Nacht auf meinem schwarzen Pferd durch die Welt reiten, ich will die Mächte des Bösen und der Finsternis mit meinem lichthellen Schwert schlagen. Danach verlangt es mich.«

»Ich will dir ein Pferd geben, das ist schwärzer als die Nacht und schneller als der Nachtwind«, versprach die Fee. »Ich will dir ein Schwert geben, das ist heller und schärfer als ein Strahl Mondlicht. Aber du verlangst nicht wenig, Hexerin, darum wirst du mich teuer bezahlen müssen.«

»Womit? Ich habe doch nichts.«

»Mit deinem Blute.«

 

Flourens Delannoy,

Märchen und Volkssagen

DAS ERSTE KAPITEL

Wie allgemein bekannt, dreht sich das Weltall – wie auch das Leben – im Kreis. Es ist ein Rad, auf dessen Felge acht magische Punkte markiert sind, die eine ganze Umdrehung ergeben, also den Jahreszyklus. Diese Punkte, die sich auf der Radfelge paarweise genau gegenüberliegen, sind: Imbaelk oder die Knospung, Lammas oder die Reife, Belleteyn oder die Blüte und Saovine oder das Absterben. Auf dem Rad sind auch die beiden Sonnenwenden bezeichnet, Midinvaerne im Winter und Midaëte im Sommer. Des Weiteren gibt es die beiden Tagundnachtgleichen, Beith im Frühjahr und Velen im Herbst. Diese Daten teilen den Radumfang in acht Teile – und so wird im Elfenkalender auch das Jahr unterteilt.

Als sie an den Stränden in der Gegend der Mündungen von Jaruga und Pontar landeten, brachten die Menschen ihren eigenen Kalender mit, der auf dem Mond beruhte und das Jahr in zwölf Monate einteilte. Doch obwohl die Menschen das Jahr anders einteilten und das Datum anders zählten, nahmen sie das Rad der Elfen mit den acht Punkten an. Die aus dem Elfenkalender übernommenen Imbaelk und Lammas, Saovine und Belleteyn, die beiden Sonnenwenden und die beiden Tagundnachtgleichen wurden auch bei den Menschen zu wichtigen Feiertagen. Sie ragten unter den anderen Daten so hervor, wie ein einzeln stehender Baum aus einer Wiese hervorragt.

Denn es ist die Magie, die diese Daten auszeichnet.

Es war und ist kein Geheimnis, dass jene acht Daten die Tage und Nächte sind, da die zauberische Aura außergewöhnlich an Kraft gewinnt. Niemand wundert sich mehr über die magischen Phänomene und die rätselhaften Erscheinungen, die mit diesen acht Daten einhergehen, insbesondere mit den Tagundnachtgleichen und den Sonnenwenden. An derlei Phänomene haben sich alle längst gewöhnt, und sie erregen selten größeres Aufsehen.

Dieses Jahr aber war es anders.

Dieses Jahr begingen die Menschen die Herbst-Tagundnachtgleiche wie üblich mit einem feierlichen Abendessen im Kreise der Familie, wobei möglichst viele Früchte der diesjährigen Ernte auf dem Tisch liegen mussten, und sei es auch jede nur in einem Exemplar. So verlangte es der Brauch. Nachdem sie gegessen und der Göttin Melitele für die Ernte gedankt hatten, gingen die Menschen zur Ruhe. Und da begann Grauenvolles.

Unmittelbar vor Mitternacht brach ein schreckliches Unwetter los, ein höllischer Sturm kam auf, in dem durch das Rauschen der fast bis zur Erde gebeugten Bäume, das Knarren der Dachsparren und Klappern der Fensterläden hindurch ein gespenstisches Heulen, Schreien und Wehklagen zu hören war. Die am Himmel einherjagenden Wolken nahmen fantastische Gestalten an, unter denen sich am häufigsten die Silhouetten galoppierender Pferde und Einhörner wiederholten. Der Sturm hielt gut eine Stunde lang an, in der plötzlichen Stille jedoch, die danach eintrat, erfüllten Hunderte von Ziegenmelkern die Luft mit ihrem Schnurren und Flügelklatschen, jene geheimnisvollen Vögel, die sich dem Volksglauben zufolge zusammenfinden, um über jemandem, der in den letzten Zügen liegt, eine dämonische Totenklage zu singen. Diesmal war der Chor der Ziegenmelker so groß und laut, als liege die ganze Welt im Sterben.

Die Ziegenmelker sangen mit wilden Stimmen die Totenklage, den Himmel jedoch bedeckten Wolken, die den Rest des Mondlichtes auslöschten. Da begann eine schreckliche Beann’shie zu heulen, die jemandes raschen und gewaltsamen Tod ankündigte, und am schwarzen Himmel preschte die Wilde Jagd einher – ein Heerhaufe flammenäugiger Gespenster auf Pferdegerippen, mit laut flatternden Fetzen von Kleidung und Standarten. Wie alle paar Jahre sammelte die Wilde Jagd ihre Ernte ein, doch seit Jahrzehnten war sie nicht so entsetzlich gewesen – allein in Nowigrad zählte man über zwanzig spurlos verschwundene Personen.

Als die Jagd vorübergaloppiert war und sich die Wolken verzogen, erblickten die Menschen den Mond – abnehmend, wie gewöhnlich zurzeit der Tagundnachtgleiche. In jener Nacht aber hatte er die Farbe von Blut.

Das einfache Volk hatte für die Phänomene der Tagundnachtgleiche viele Erklärungen, die sich übrigens erheblich voneinander unterschieden, je nach den Eigenheiten der regionalen Dämonologie. Astrologen, Druiden und Zauberer hatten ebenfalls Erklärungen, die aber größtenteils irrig und aus dem Stegreif zusammengeschustert waren. Es gab wenig, ungewöhnlich wenig Menschen, die diese Erscheinungen in Zusammenhang mit Tatsachen zu bringen vermochten.

Auf den Skellige-Inseln zum Beispiel sahen ein paar besonders Abergläubische in den merkwürdigen Vorgängen eine Ankündigung von Tedd Deireádh, des Weltendes, der prophezeiten Schlacht Ragh nar Roog, des Endkampfes zwischen Licht und Finsternis. Die mächtige Sturmflut, die in der Nacht der Herbst-Tagundnachtgleiche gegen die Inseln donnerte, hielten die Abergläubischen für die Bugwelle des grausigen Naglfar von Morhögg, des Drachenbootes, auf dem die Armee von Gespenstern und Dämonen des Chaos fährt und dessen Bordwände aus den Fingernägeln der Toten gebaut sind. Aufgeklärtere und besser informierte Leute brachten das Toben von Himmel und Meer indes mit der Person der bösen Zauberin Yennefer in Verbindung – mit ihrem schrecklichen Tode. Wieder andere – die noch besser informiert waren – sahen in dem aufgewühlten Meer ein Zeichen, dass da jemand im Sterben lag, in dessen Adern das Blut der Könige von Skellige und Cintra floss.

Überall auf der Welt war die Nacht der Herbst-Tagundnachtgleiche auch eine Nacht von Albträumen und Wahngesichten, eine Nacht, in der so mancher plötzlich in schweißnassen und zerwühlten Laken erwachte, beklommen und angsterfüllt. Die Gesichte und das jähe Erwachen machten auch um die hellsten Köpfe keinen Bogen – im Goldtürmigen Nilfgaard erwachte mit einem Schrei Kaiser Emhyr var Emreis. Im Norden, in Lan Exeter, fuhr König Esterad Thyssen im Bett auf, dass seine Gemahlin, Königin Suleyka, wach wurde. In Dreiberg schreckte der Erzspion Dijkstra auf und griff nach dem Stilett, und wach wurde davon die Gemahlin des Schatzministers. Im Schloss Montecalvo fuhr die Zauberin Philippa Eilhart aus dem Schlaf, ohne die Gemahlin des Grafen de Noailles zu wecken. Es erwachten – mehr oder weniger jäh – der Zwerg Yarpen Zigrin in Mahakam, der alte Hexer Vesemir in der Bergfeste Kaer Morhen, der Bankangestellte Fabio Sachs in der Stadt Gors Velen, der Jarl Crach an Craite auf dem Deck des Drachenbootes »Ringhorn«. Es erwachte die Zauberin Fringilla Vigo im Schloss Beauclair, es erwachte die Priesterin Sigrdrifa im Tempel der Göttin Freyja auf der Insel Hindarsfjall. Es erwachte Daniel Etcheverry, Graf Garramone, in der belagerten Festung Maribor. Zyvik, Berittführer beim Grauen Fähnlein, im Fort Ban Gleán. Der Kaufmann Dominik Bombastus Houvenaghel in dem Städtchen Claremont. Und viele, viele andere.

Nur wenige waren jedoch imstande, all diese Erscheinungen und Phänomene mit einer wirklichen, konkreten Tatsache in Verbindung zu bringen. Und mit einer konkreten Person. Der Zufall wollte es, dass drei von diesen Leuten die Nacht des Herbst-Äquinoktiums unter einem Dache verbrachten. Im Tempel der Göttin Melitele in Ellander.

 

»Ziegenmelker …«, stöhnte der Schreiber Jarre, den Blick in die Dunkelheit gerichtet, die über dem Tempelpark lag. »Es sind wohl Tausende, ganze Schwärme … Sie schreien von jemandes Tod … Von ihrem Tod … Sie stirbt …«

»Red keinen Unsinn!« Triss Merigold drehte sich jäh um, die geballte Hand erhoben; einen Augenblick lang sah es aus, als wolle sie den jungen Mann vor die Brust stoßen oder schlagen. »Glaubst du an dummen Aberglauben? Der September geht zu Ende, die Vögel sammeln sich zum Abflug! Das ist ganz natürlich!«

»Sie stirbt …«

»Niemand stirbt!«, schrie die Zauberin bleich vor Zorn. »Niemand, verstehst du? Hör auf, dummes Zeug zu reden!«

Im Korridor der Bibliothek fanden sich nach und nach Adeptinnen ein, die der nächtliche Alarm geweckt hatte. Ihre Gesichter waren ernst und blass.

»Jarre.« Triss hatte sich beruhigt, sie legte dem Burschen die Hand auf die Schulter, drückte kräftig. »Du bist der einzige Mann im Tempel. Wir alle blicken auf dich, suchen bei dir Halt und Hilfe. Du darfst dich nicht fürchten, darfst nicht in Panik verfallen. Beherrsche dich. Enttäusche uns nicht.«

Jarre holte tief Luft, versuchte, das Zittern seiner Hände und Lippen zu unterdrücken. »Das ist keine Furcht …«, flüsterte er und wich dem Blick der Zauberin aus. »Ich fürchte mich nicht, ich mache mir Sorgen! Um sie. Ich habe im Traum gesehen …«

»Ich habe es auch gesehen«, presste Triss hervor. »Wir hatten denselben Traum, du, ich und Nenneke. Aber kein Wort davon.«

»Das Blut auf ihrem Gesicht … So viel Blut …«

»Sei still, bitte. Nenneke kommt.«

Die Erzpriesterin trat zu ihnen. Ihr Gesicht war müde. Auf die stumme Frage von Triss antwortete sie mit einer verneinenden Kopfbewegung. Als sie sah, dass Jarre zum Sprechen ansetzte, kam sie ihm zuvor.

»Nichts, leider. Die Wilde Jagd ist über den Tempel dahingezogen, fast alle sind erwacht, aber keine hatte eine Vision. Nicht einmal so eine nebelhafte wie wir. Geh schlafen, Junge, du hast hier nichts zu schaffen. Mädchen, bitte, ins Dormitorium!« Sie rieb sich mit beiden Händen Gesicht und Augen. »Ach … Das Äquinoktium! Eine verdammte Nacht … Geh, leg dich hin, Triss. Wir können nichts tun.«

»Diese Ohnmacht« – die Zauberin ballte die Fäuste – »bringt mich zur Raserei. Bei dem Gedanken, dass sie dort irgendwo leidet, dass sie blutet, dass ihr … Verdammt, wenn ich nur wüsste, was ich machen soll!«

Nenneke, die Erzpriesterin im Tempel der Melitele, wandte sich um. »Hast du es mit Beten versucht?«

 

Im Süden, weit hinter den Amellbergen, in Ebbing, in einer Gegend namens Pereplut, wo die Flüsse Velde, Lete und Arete ausgedehnte Sumpfebenen durchschneiden, an einem Ort achthundert Meilen in gerader Linie von der Stadt Ellander und dem Tempel der Melitele entfernt, riss gegen Morgen ein Albtraum den alten Einsiedler Vysogota aus dem Schlafe. Als er wach war, vermochte sich Vysogota partout nicht an den Inhalt des Traumes zu erinnern, doch eine seltsame Unruhe ließ ihn nicht wieder einschlafen.

 

»Kalt, kalt, kalt, brrr«, redete Vysogota vor sich hin, während er den Pfad durchs Röhricht entlangging. »Kalt, kalt, brrr.«

Wieder war eine Falle leer. Keine einzige Bisamratte. Ein außerordentlich schlechter Fang. Vysogota reinigte die Falle von Schlick und Wasserlinsen, stieß dabei Verwünschungen aus und schniefte durch die kalt gewordene Nase.

»Kalt, brrr, hu-ha«, murmelte er, während er zum Rand des Sumpfes ging. »Dabei ist es noch September! Dabei ist es erst vier Tage nach der Tagundnachtgleiche! Ha, an solche Kälte Ende September kann ich mich nicht erinnern, solange ich lebe. Und ich lebe ja schon ziemlich lange!«

Die nächste Falle – schon die vorletzte – war ebenfalls leer. Vysogota war sogar das Fluchen vergangen.

»Kein Zweifel«, quasselte er beim Gehen, »das Klima wird von Jahr zu Jahr kälter. Und jetzt sieht es aus, als ob die Abkühlung lawinenartig voranschreiten würde. Ha, die Elfen haben das schon vor langer Zeit vorhergesehen, aber wer hat an Prophezeiungen der Elfen geglaubt?«

Über dem Kopf des Greises begannen wieder kleine Flügel zu schwirren, huschten graue, unheimlich schnelle Gestalten dahin. Der Nebel über dem Sumpfland ertönte abermals vom wilden, abgehackten Schnurren der Ziegenmelker, vom raschen Flügelschlag. Vysogota beachtete die Vögel nicht. Abergläubisch war er nicht, und Ziegenmelker gab es in den Sümpfen immer reichlich, vor allem im Morgengrauen flogen sie so dicht, dass einem angst werden konnte, am Kopf gestreift zu werden. Nun ja, vielleicht waren es nicht immer so viele wie jetzt, vielleicht riefen sie nicht immer so unheimlich … Je nun, in letzter Zeit spielte die Natur sonderbare Streiche, ein Kuriosum jagte das andere, jedes immer noch kurioser als das vorangegangene.

Er zog gerade die letzte – leere – Falle aus dem Wasser, als er ein Pferd wiehern hörte. Die Ziegenmelker verstummten auf einen Schlag, wie auf Kommando.

Im Sumpfland des Pereplut gab es Werder, trockene, höher gelegene Stellen, bewachsen von Schwarzbirke, Erle, Hartriegel, Kornelkirsche und Schlehdorn. Die meisten Werder waren derart vollständig von Moor umgeben, dass ein Pferd oder ein Reiter, der die Pfade nicht kannte, absolut unmöglich dorthin gelangen konnte. Trotzdem kam das Wiehern – Vysogota hörte es abermals – just von solch einem Werder.

Seine Neugier überwand die Vorsicht.

Vysogota kannte sich mit Pferden und ihren Rassen schlecht aus, doch er war ein Ästhet, er vermochte Schönheit zu erkennen und zu schätzen. Und der Rappe, dessen Fell wie Anthrazit glänzte und den er vor dem Hintergrund der Birkenstämme erblickte, war ausnehmend schön. Er war die reine Quintessenz der Schönheit. Er war so schön, dass er irreal wirkte.

Aber er war real. Und steckte ganz real in einer Falle, mit Zügeln und Zaumzeug in den blutroten, hakigen Zweigen des Hartriegels. Als Vysogota näher heranging, spitzte das Pferd die Ohren, stampfte, dass der Boden bebte, warf den anmutigen Kopf hin und her, drehte sich um. Jetzt war zu sehen, dass es sich um eine Stute handelte. Und noch etwas war zu sehen. Etwas, das Vysogotas Herz wie rasend loshämmern und die unsichtbaren Scheren des Adrenalins ihm die Gurgel abschnüren ließ.

Hinter dem Pferd, in einer flachen Mulde, lag ein Leichnam.

Vysogota ließ den Korb fallen. Und schämte sich für seinen ersten Gedanken: kehrtzumachen und wegzulaufen. Er ging näher, wahrte Vorsicht, denn die Rappstute stampfte, legte die Ohren an, bleckte die Zähne an der Gebissstange und wartete nur darauf, dass sie ihn beißen oder treten könnte.

Es war die Leiche eines vielleicht halbwüchsigen Burschen. Er lag mit dem Gesicht zum Boden, die eine Hand gegen den Körper gepresst, die andere ausgestreckt und in den Sand gekrallt. Der Bursche trug ein kurzes Wildlederwams, eine eng anliegende Lederhose und bis zu den Knien reichende Elfenstiefel mit Schnallen.

Vysogota beugte sich hinab, und in diesem Augenblick stöhnte die Leiche laut. Die schwarze Stute wieherte anhaltend, trommelte mit den Hufen auf den Boden.

Der Einsiedler kniete sich hin, drehte den Verwundeten vorsichtig herum. Instinktiv riss er den Kopf zurück und zischte, als er die grässliche Maske von Schmutz und getrocknetem Blut sah, die der Bursche statt eines Gesichts hatte. Sorgsam löste er Moos, Blätter und Sand von dem mit Schleim und Speichel überzogenen Mund, versuchte, die von Blut zu einem harten Weichselzopf zusammengeklebten Haare von der Wange abzuziehen. Der Verwundete stöhnte dumpf auf, spannte sich an. Und begann zu zittern. Vysogota löste ihm die Haare vom Gesicht.

»Ein Mädchen«, sagte er laut, außerstande, zu glauben, was er direkt vor der Nase hatte. »Es ist ein Mädchen.«

 

Wenn es an diesem Tage jemandem gelungen wäre, sich nach Einbruch der Dunkelheit zu der inmitten der Sümpfe verborgenen Hütte mit dem eingesackten und moosbewachsenen Strohdach zu schleichen, wenn er durch die Spalten in den Fensterläden gelugt hätte, hätte er im von Talglichtern spärlich erhellten Inneren ein halbwüchsiges Mädchen erblickt, dessen Kopf dick mit Verbänden umwickelt war. Sie ruhte reglos, fast leichenstarr auf einer mit Fellen bedeckten Pritsche. Er hätte auch einen Greis mit grauem Spitzbart und langen weißen Haaren erblickt, die dem Alten vom Rande einer mächtigen Glatze, die die Stirn bis weit hinter den Scheitel verlängerte, auf Schultern und Rücken fielen. Er hätte gesehen, wie der Alte noch ein Talglicht anzündete, wie er eine Sanduhr auf den Tisch stellte, wie er eine Feder spitzte, sich über einen Bogen Pergament beugte. Wie er nachdachte und in Gedanken etwas vor sich hin murmelte, ohne den Blick von dem Mädchen auf der Pritsche zu wenden.

Doch das war nicht möglich. Niemand konnte das sehen. Die Hütte des Einsiedlers Vysogota war gut inmitten der Sümpfe verborgen. In einer ewig in Nebel gehüllten Einöde, in die sich niemand wagte.

 

»Schreiben wir« – Vysogota senkte die Feder in die Tinte – »wie folgt. Es ist die dritte Stunde nach der Behandlung. Diagnose: vulnus incisivum, Schnittwunde, zugefügt mit großer Kraft mit einem scharfen Gegenstand unbekannter Art, vermutlich mit gekrümmter Schneide. Umfasst die linke Gesichtshälfte, ausgehend von der Gegend unterhalb der Augenhöhle verläuft sie über die Wange bis in die Gegend des Kaumuskels. Am tiefsten, nämlich bis zur Knochenhaut, reicht die Wunde im Anfangsteil, unterhalb der Augenhöhle auf dem Jochbein. Geschätzter Zeitraum, der von der Verwundung bis zum Augenblick der Erstversorgung verstrichen ist: zehn Stunden.«

Die Feder kratzte übers Pergament, doch das Kratzen dauerte nur ein paar Augenblicke. Und ein paar Zeilen lang. Vysogota hielt nicht alles, was er vor sich hin sagte, für wert, aufgeschrieben zu werden.

»Um wieder zur Versorgung der Wunde zu kommen«, fuhr er nach einer Weile fort, während er in die flackernde und rußende Flamme eines Talglichtes blickte, »schreiben wir wie folgt. Ich habe die Wundränder nicht aufgeschnitten, sondern mich darauf beschränkt, einige nicht durchblutete Lappen und natürlich die Blutgerinnsel zu entfernen. Ich habe die Wunde mit einem Extrakt aus Weidenrinde ausgewaschen. Ich habe Verunreinigungen und Fremdkörper entfernt. Ich habe Nähte gelegt. Aus Hanf. Andere Arten von Fäden, sei festgehalten, hatte ich nicht zur Verfügung. Ich habe einen Umschlag aus Bergarnika angewandt und einen Formverband aus Musselin angelegt.«

In die Mitte der Hütte kam eine Maus gelaufen. Vysogota warf ihr ein kleines Stückchen Brot hin. Das Mädchen auf der Pritsche atmete unruhig, stöhnte im Schlaf.

 

»Achte Stunde nach der Behandlung. Zustand der Kranken: unverändert. Zustand des Arztes … Das heißt, meiner, hat sich verbessert, denn ich habe ein wenig Schlaf gefunden … Ich kann die Notizen fortführen. Denn es ist angebracht, diesen Unterlagen einige Informationen über meine Patientin anzuvertrauen. Für die Nachwelt. Soweit irgendeine Nachwelt in diese Sümpfe gelangt, ehe hier alles vermodert und zu Staub zerfällt.«

Vysogota seufzte schwer, tauchte die Feder ein und wischte sie am Rand des Tintenfasses ab.

»Was die Patientin angeht«, murmelte er, »soll notiert werden wie folgt. Alter anscheinend ungefähr sechzehn Jahre, groß, von mäßig schlanker, aber keineswegs hagerer Statur, ohne Anzeichen von Unterernährung. Muskulatur und Körperbau, wie sie eher für eine junge Elfe typisch sind; es wurden aber keine Merkmale eines Mischlings festgestellt … bis einschließlich Viertelelfe. Ein geringerer Anteil von Elfenblut kann bekanntlich vorkommen, ohne Spuren zu hinterlassen.«

Erst jetzt schien es Vysogota aufzufallen, dass er noch keine einzige Rune auf den Bogen geschrieben hatte, kein einziges Wort. Er setzte die Feder aufs Papier, doch die Tinte war getrocknet. Der Alte kümmerte sich nicht darum.

»Notiert werden soll auch«, fuhr er fort, »dass das Mädchen nie ein Kind geboren hat. Und ebenso, dass es auf dem Körper keinerlei alte Male, Narben, Schrammen gibt, keine Spuren, wie sie schwere Arbeit, Unfälle, ein risikoreiches Leben hinterlassen. Ich betone: Es ist von alten Spuren die Rede. An frischen Spuren fehlt es an ihrem Körper nicht. Das Mädchen ist geschlagen worden. Verprügelt, und keineswegs von väterlicher Hand. Wahrscheinlich auch mit Stiefeln getreten.

Ich habe an ihrem Körper ein recht sonderbares Zeichen eigener Art gefunden … Hmmm … Schreiben wir es auf, im Interesse der Wissenschaft … In der Leistengegend, direkt neben dem Schamhügel, hat das Mädchen eine tätowierte rote Rose.«

Vysogota betrachtete konzentriert das angespitzte Ende der Feder, worauf er sie ins Tintenfass tauchte. Diesmal vergaß er jedoch nicht, zu welchem Zweck er das tat – er begann, den Bogen geschwind mit gleichmäßigen Zeilen schräger Schrift zu füllen. Er schrieb, bis die Feder trocken war.

»Halb bei Bewusstsein, hat sie gesprochen und geschrien«, fuhr er fort. »Ihr Akzent und ihre Ausdrucksweise, abgesehen von zahlreichen Einsprengseln aus dem obszönen Jargon der Kriminellen, sind ziemlich verwirrend, schwer einzuordnen, doch ich würde die Behauptung wagen, dass sie eher aus dem Norden als aus dem Süden stammen. Manche Wörter …«

Wieder kratzte er mit der Feder übers Pergament, nicht allzu lange, viel zu kurz, um alles aufzuschreiben, was er zuvor gesagt hatte. Woraufhin er den Monolog wieder aufnahm, genau dort, wo er ihn unterbrochen hatte.

»Manche Wörter, Namen und Bezeichnungen, die das Mädchen im Fieberwahn gestammelt hat, sind es wert, festgehalten zu werden. Und untersucht. Alles weist darauf hin, dass eine sehr, wirklich sehr ungewöhnliche Person den Weg zur Hütte des alten Vysogota gefunden hat …« Er schwieg eine Weile, lauschte.

»Wenn nur«, murmelte er, »die Hütte des alten Vysogota sich nicht als Ende ihres Weges erweist.«

 

Vysogota beugte sich übers Pergament und setzte sogar die Feder auf, schrieb aber nichts, keine einzige Rune. Er warf die Feder auf den Tisch. Eine Weile lang schnaubte er, murmelte zornig, schniefte. Er schaute zur Pritsche hin, hörte auf die von dort herandringenden Laute.

»Man muss feststellen und notieren«, sagte er mit müder Stimme, »dass es sehr schlecht steht. Alle meine Bemühungen und Maßnahmen können sich als unzureichend erweisen, meine Anstrengungen als vergeblich. Meine Befürchtungen waren begründet. Die Wunde ist infiziert. Das Mädchen hat hohes Fieber. Es sind bereits drei von den vier Hauptanzeichen einer schweren Entzündung aufgetreten. Rubor, calor und tumor kann man schon jetzt durch Augenschein und Berührung feststellen. Wenn der Schock nach der Behandlung vorübergeht, wird auch das vierte auftreten: dolor. Es soll vermerkt werden, dass fast ein halbes Jahrhundert vergangen ist, seit ich mich der medizinischen Praxis gewidmet habe; ich spüre, wie die Jahre auf meinem Gedächtnis und meiner Fingerfertigkeit lasten. Meine Fähigkeiten sind gering, meine Möglichkeiten noch geringer. An Mitteln und Medikamenten habe ich so gut wie gar nichts. Alle Hoffnung ruht auf den Schutzmechanismen des jungen Organismus …«

 

»Zwölfte Stunde nach der Behandlung. Erwartungsgemäß hat sich das vierte Hauptmerkmal einer Infektion eingestellt: dolor. Die Kranke schreit vor Schmerzen; Fieber und Krämpfe nehmen zu. Ich habe nichts, kein Mittel, das ich ihr geben könnte. Ich verfüge über eine geringe Menge von Datura-Elixier, doch das Mädchen ist zu schwach, um seine Wirkung zu überleben. Ich habe auch etwas Aconitum, aber Aconitum würde sie unweigerlich umbringen.«

 

»Fünfzehnte Stunde nach der Behandlung. Das Fieber nimmt zu. Rubor, calor, tumor und dolor erreichen, wie mir scheint, die Grenze des Erträglichen. Aber das Mädchen hat keine Chancen zu überleben, auch nur bis an diese Grenzen zu leben. So werde ich denn schreiben … Ich, Vysogota von Corvo, glaube nicht an die Existenz von Göttern. Doch wenn sie zufällig existieren sollten, mögen sie dieses Mädchen beschützen. Und mir mögen sie verzeihen, was ich getan habe … Wenn das, was ich getan habe, sich als Irrtum erweist.«

Vysogota legte die Feder weg, rieb sich die geschwollenen und juckenden Lider, presste die Fäuste gegen die Schläfen.

»Ich habe ihr eine Mischung von Datura und Aconitum gegeben«, sagte er dumpf. »In den nächsten Stunden wird sich alles entscheiden.«

 

Er schlief nicht, döste nur vor sich hin, als ihn ein Poltern aus dem Dösen riss, begleitet von einem Stöhnen. Eher vor Wut als vor Schmerz.

Draußen tagte es, die Ritzen der Fensterläden ließen einen winzigen Lichtschein durch. Die Sanduhr war abgelaufen, und das seit Langem – Vysogota hatte wie üblich vergessen, sie umzudrehen. Das Talglicht glomm kaum noch, die rubinrote Glut der Feuerstelle erhellte schwach einen Winkel der Hütte. Der Greis stand auf, schob den improvisierten Wandschirm beiseite, mit dem er die Pritsche vom übrigen Raum abgetrennt hatte, um der Kranken Ruhe zu verschaffen.

Die Kranke hatte es schon wieder geschafft, vom Fußboden aufzustehen, auf den sie soeben gefallen war; sie saß am Rande der Lagerstatt und versuchte, sich das Gesicht unterm Verband zu kratzen.

Vysogota räusperte sich. »Ich habe dich gebeten, nicht aufzustehen. Du bist zu sehr geschwächt. Wenn du etwas willst, ruf. Ich bin immer in der Nähe.«

»Ich will gerade nicht, dass du in der Nähe bist«, sagte sie leise, fast ohne den Mund zu bewegen, doch durchaus verständlich. »Ich will pinkeln.«

Als er zurückkam, um den Nachttopf wegzubringen, lag sie rücklings auf der Pritsche und rieb auf dem Verband, der mit Stoffstreifen um Stirn und Hals an der Wange befestigt war. Als er nach einer Weile wieder zu ihr trat, hatte sie ihre Lage nicht verändert.

»Vier Tage?«, fragte sie, den Blick zur Decke gerichtet.

»Fünf. Seit unserem letzten Gespräch ist fast ein Tag vergangen. Du hast den ganzen Tag durchgeschlafen. Das ist gut. Du brauchst Schlaf.«

»Ich fühle mich besser.«

»Das freut mich zu hören. Lass uns den Verband abnehmen. Ich helfe dir, dich hinzusetzen. Halt dich an meiner Hand fest.«

Die Wunde heilte gut und trocken, diesmal ging es fast ohne das schmerzhafte Abreißen des Verbandes vom Grind ab. Das Mädchen berührte vorsichtig die Wange. Sie verzog das Gesicht, doch Vysogota wusste, dass das nicht nur am Schmerz lag. Sie überzeugte sich jedes Mal wieder davon, wie ausgedehnt die Verletzung war, wusste um den Ernst der Wunde. Sie vergewisserte sich – mit Entsetzen –, dass das, was sie bei der vorangehenden Berührung gefühlt hatte, kein Fiebertraum gewesen war.

»Hast du irgendeinen Spiegel?«

»Nein«, log er.

Sie schaute ihn an, wohl zum ersten Mal vollends bei Bewusstsein. »Das heißt, so schlimm ist es?«, fragte sie und strich vorsichtig mit den Fingern über die Nähte.

»Es ist eine sehr ausgedehnte Verletzung«, stieß er hervor, wütend auf sich selbst, dass er sich bei einer Rotznase entschuldigte und vor ihr rechtfertigte. »Dein Gesicht ist immer noch sehr geschwollen. In ein paar Tagen werde ich die Fäden ziehen, bis dahin werde ich Arnika und Weidenrindenextrakt auftragen. Den ganzen Kopf werde ich dir nicht mehr verbinden. Es heilt gut. Wirklich gut.«

Sie antwortete nicht. Sie bewegte Lippen und Kiefer, runzelte und verzog das Gesicht, probierte aus, was die Wunde erlaubte und was nicht.

»Ich habe eine Taubenbrühe gekocht. Isst du mit?«

»Ja. Aber diesmal versuche ich es selbst. Es ist erniedrigend, wie eine Gelähmte gefüttert zu werden.«

Sie aß lange. Den Holzlöffel führte sie vorsichtig und mit solcher Anstrengung zum Munde, als wiege er zwei Pfund. Doch sie kam ohne Hilfe von Vysogota aus, der sie mit Interesse beobachtete. Vysogota war neugierig – er brannte vor Neugier. Er wusste, dass mit der Genesung des Mädchens der Austausch von Ansichten beginnen würde, der vielleicht Licht auf den geheimnisvollen Fall werfen würde. Er wusste es und konnte den Augenblick kaum erwarten. Zu lange hatte er allein in der Einöde gelebt.

Das Mädchen war fertig mit Essen, ließ sich auf die Kissen fallen. Einen Moment lang schaute sie starr zur Decke, dann wandte sie den Kopf. Die ungewöhnlich großen grünen Augen, stellte Vysogota zum wiederholten Male fest, gaben ihrem Gesicht einen unschuldig kindlichen Ausdruck, der momentan in schreiendem Widerspruch zu dem hässlich verunstalteten Gesicht stand. Vysogota kannte diese Art von Schönheit – das großäugige ewige Kind, dessen Physiognomie instinktiv Sympathie hervorruft. Ein ewiges Mädchen, selbst wenn der zwanzigste, ja sogar der dreißigste Geburtstag längst in Vergessenheit geraten ist. Ja, Vysogota kannte diese Art von Schönheit gut. Seine zweite Frau war so gewesen. Seine Tochter war so gewesen.

»Ich muss von hier verschwinden«, sagte das Mädchen plötzlich. »Und zwar schnell. Ich werde verfolgt. Das weißt du doch.«

»Ich weiß.« Er nickte. »Das waren deine ersten Worte, die entgegen dem Anschein keine Fieberfantasien waren. Genauer gesagt, einige von den ersten. Zuerst hast du nach deinem Pferd und deinem Schwert gefragt. In dieser Reihenfolge. Als ich dir versichert habe, dass sich sowohl Pferd als auch Schwert in guter Obhut befinden, ist dir der Verdacht gekommen, ich sei der Komplize von irgendeinem Bonhart, darauf aus, dich nicht zu heilen, sondern dich einer Folter der Hoffnung zu unterziehen. Als ich dir diesen Irrtum mit einiger Mühe ausgeredet hatte, hast du dich als Falka vorgestellt und mir für die Rettung gedankt.«

»Das ist gut.« Sie drehte den Kopf zu den Kissen, als wolle sie der Notwendigkeit ausweichen, ihm in die Augen zu sehen. »Das ist gut, dass ich nicht vergessen habe, mich zu bedanken. Ich erinnere mich daran wie durch einen Nebel hindurch. Ich weiß nicht, was wirklich war und was Traum. Ich habe gefürchtet, ich hätte mich nicht bedankt. Ich heiße nicht Falka.«

»Das habe ich auch erfahren, wenn auch eher zufällig. Du hast im Fieber gesprochen.«

»Ich bin geflohen«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Ein Flüchtling. Es ist gefährlich, mir Unterschlupf zu gewähren. Es ist gefährlich, zu wissen, wie ich wirklich heiße. Ich muss mich aufs Pferd setzen und fliehen, ehe sie mich hier aufspüren …«

»Eben erst«, sagte er sanft, »hast du mit Mühe auf dem Nachttopf gesessen. Ich sehe dich nicht recht auf einem Pferd sitzen. Aber ich versichere dir, dass du hier außer Gefahr bist. Niemand wird dich hier aufspüren.«

»Gewiss werden sie mich aufspüren. Sie folgen meiner Spur, krempeln die Gegend um …«

»Beruhige dich. Es regnet jeden Tag, niemand findet die Spur. Du bist hier in einer Einöde. Im Hause eines Einsiedlers, der sich von der Welt losgesagt hat. So, dass es auch der Welt nicht leichtfallen würde, ihn zu finden. Wenn du es aber möchtest, kann ich einen Weg suchen, um deinen Nächsten oder deinen Freunden Nachricht von dir zukommen zu lassen.«

»Du weißt nicht einmal, wer ich bin …«

»Du bist ein verwundetes Mädchen«, fiel er ihr ins Wort. »Auf der Flucht vor jemandem, der nicht zögert, Mädchen zu verwunden. Möchtest du, dass ich irgendeine Nachricht übermittle?«

»Es gibt niemanden, dem du sie übermitteln könntest«, erwiderte sie nach einem Augenblick, und Vysogota hörte, wie sich die Stimme verändert hatte. »Meine Freunde leben nicht mehr. Sie sind alle ermordet worden.«

Er sagte dazu nichts.

»Ich bin der Tod«, fuhr das Mädchen mit tönender Stimme fort. »Jeder, der meinen Weg kreuzt, stirbt.«

»Nicht jeder«, widersprach er und schaute sie aufmerksam an. »Nicht Bonhart, der, dessen Namen du im Fieber geschrien hast, der, vor dem du jetzt fliehen willst. Dass er deinen Weg gekreuzt hat, hat eher dir geschadet. Hat er … dich im Gesicht verwundet?«

»Nein.« Sie presste die Lippen zusammen, um etwas zu unterdrücken, das entweder ein Stöhnen oder ein Fluch war. »Im Gesicht hat mich der Uhu verwundet. Stefan Skellen. Aber Bonhart … Bonhart hat mich viel schwerer verwundet. Tiefer. Habe ich auch davon im Fieber gesprochen?«

»Beruhige dich. Du bist geschwächt, du musst starke Erregung vermeiden.«

»Ich heiße Ciri.«

»Ich mache dir einen Umschlag mit Arnika, Ciri.«

»Warte noch … einen Moment. Gib mir irgendeinen Spiegel.«

»Ich habe dir gesagt …«

»Bitte!«

Er tat wie ihm geheißen, denn er war zu dem Schluss gelangt, dass es sein musste, dass er es nicht länger hinauszögern durfte. Er brachte sogar ein Talglicht. Damit sie besser sehen konnte, was mit ihrem Gesicht gemacht worden war.

»So also«, sagte sie mit veränderter, brechender Stimme. »So also. Ganz so, wie ich’s mir dachte. Fast so, wie ich’s mir dachte …«

Er ging hinaus und zog den aus Brettern improvisierten Wandschirm hinter sich zu.

Sie bemühte sich, leise zu schluchzen, dass er es nicht hörte. Sehr leise.

 

Tags darauf zog Vysogota die Hälfte der Fäden. Ciri betastete ihre Wange, zischte wie eine Schlange und beklagte sich über starke Ohrenschmerzen und eine Überempfindlichkeit des Halses im Kieferbereich. Doch sie stand auf, zog sich an und ging nach draußen. Vysogota hatte nichts dagegen. Er begleitete sie. Ihr zu helfen oder sie zu stützen brauchte er nicht. Das Mädchen war gesund und viel kräftiger, als zu erwarten war.

Erst draußen begann sie zu wanken, hielt sich am Türrahmen fest.

»Das …« Sie schnappte heftig nach Luft. »Das ist vielleicht hundekalt! Frost, oder was? Ist schon Winter? Wie lange habe ich hier gelegen? Ein paar Wochen?«

»Genau sechs Tage. Wir haben den fünften Oktober. Aber der Oktober verspricht sehr kalt zu werden …«

»Den fünften Oktober?« Sie runzelte die Stirn, zischte vor Schmerz. »Wie das? Zwei Wochen …«

»Was? Was für zwei Wochen?«

»Egal.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht verwechsle ich etwas … Oder auch nicht. Sag mal, was stinkt denn hier so grässlich?«

»Felle. Ich fange Bisamratten, Biber, Nutrias und Fischotter, gerbe die Felle. Sogar ein Einsiedler muss von etwas leben.«

»Wo ist mein Pferd?«

»Im Stall.«

Die schwarze Stute begrüßte die Eintretenden mit lautem Wiehern, und Vysogotas Ziege sekundierte ihr mit Meckern, in dem eine große Unzufriedenheit klang, dass sie die Örtlichkeit mit einem Mitbewohner teilen musste. Ciri schlang dem Pferd die Arme um den Hals, tätschelte es, strich über die Mähne. Die Stute schnaubte und scharrte mit einem Huf im Stroh.

»Wo ist mein Sattel? Die Schabracke? Das Zaumzeug?«

»Hier.«

Er widersprach nicht, machte keine Bemerkungen, hielt sich mit seiner Meinung zurück. Er schwieg, auf die Krücke gestützt. Er regte sich nicht, als sie zu ächzen begann, während sie den Sattel anheben wollte, zuckte nicht, als sie unter der Last zu wanken begann und schwer, mit einem lauten Stöhnen, auf den strohbedeckten Boden sackte. Er trat nicht hinzu, half ihr nicht beim Aufstehen. Er schaute aufmerksam hin.

»Na ja«, presste sie zwischen den Zähnen hervor und stieß die Stute weg, die versuchte, ihr die Nase hinter den Kragen zu stecken. »Alles klar. Aber ich muss von hier fliehen, verdammt! Ich muss einfach!«

»Wohin?«, fragte er kalt.

Sie rieb sich das Gesicht, wobei sie noch immer neben dem Sattel im Stroh saß.

»So weit wie möglich.«

Er nickte, als sei die Antwort zufriedenstellend, mache alles klar und lasse keinen Raum für Vermutungen. Ciri stand mit Mühe auf. Sie versuchte nicht einmal, sich nach dem Sattel und dem Zaumzeug zu bücken. Sie vergewisserte sich nur, dass die Stute Heu und Hafer im Futtersack hatte, begann, Rücken und Flanken des Pferdes mit einem Strohwisch abzureiben. Vysogota wartete schweigend, bis es so weit war. Das Mädchen lehnte sich an einen Pfeiler, der das Strohdach stützte, und wurde kreideweiß. Wortlos reichte er ihr die Krücke hin.

»Es ist nichts. Nur …«

»Nur im Kopf dreht es sich dir, weil du krank bist und schwach wie ein Neugeborenes. Lass uns zurückgehen. Du musst dich hinlegen.«

 

Bei Sonnenuntergang, nachdem sie etliche Stunden durchgeschlafen hatte, ging Ciri wieder hinaus. Vysogota, der vom Fluss zurückkam, traf sie an der natürlichen Brombeerhecke.

»Geh nicht zu weit von der Hütte weg«, sagte er scharf. »Erstens bist du zu sehr geschwächt …«

»Ich fühle mich besser …«

»Zweitens ist das gefährlich. Ringsum liegt ein riesiger Sumpf, ein endloses Röhrichtfeld. Du kennst die Wege nicht, du kannst dich verirren oder im Morast versinken.«

»Aber du« – sie zeigte auf das Bündel, das er trug – »kennst die Wege natürlich. Und du gehst nicht einmal weit auf ihnen, also ist der Sumpf nicht gar so groß. Du gerbst Felle, um dir den Lebensunterhalt zu verdienen, klar. Kelpie, meine Stute, hat Hafer, aber Felder sehe ich hier nicht. Wir haben ein Huhn und Graupen gegessen. Und Brot. Richtiges Brot, keinen Aschkuchen. Das Brot hättest du von einem Trapper nicht bekommen können. Also gibt es in der Gegend ein Dorf.«

»Eine fehlerlose Deduktion«, bestätigte er gelassen. »In der Tat, ich versorge mich im nächsten Dorf. Im nächsten, das aber beileibe nicht nahe ist, es liegt am Rand des Sumpfes. Das Sumpfland liegt an einem Fluss. Ich tausche die Felle gegen Lebensmittel, die man mir im Boot bringt. Brot, Grütze, Mehl, Salz, Käse, manchmal ein Kaninchen oder ein Huhn. Manchmal Nachrichten.«

Eine Frage blieb aus, also fuhr er fort.

»Ein Trupp Berittener war auf der Verfolgung zweimal in der Siedlung. Beim ersten Mal wurden die Bauern gewarnt, dich nicht zu verstecken, man drohte ihnen mit Feuer und Schwert, falls du im Dorf angetroffen würdest. Beim zweiten Mal wurde eine Belohnung für das Auffinden der Leiche versprochen. Deine Verfolger sind davon überzeugt, dass du tot im Walde liegst, in irgendeiner Schlucht oder Senke.«

»Und sie werden nicht ruhen«, murmelte sie, »bis sie die Leiche gefunden haben. Ich weiß das genau. Sie brauchen einen Beweis, dass ich nicht mehr am Leben bin. Ohne diesen Beweis werden sie nicht aufgeben. Sie werden alles durchstöbern. Schließlich werden sie auch hierhergelangen …«

»Es ist ihnen wichtig«, bemerkte er. »Ich würde sagen, ungewöhnlich wichtig.«

Sie presste die Lippen zusammen. »Hab keine Angst. Ich reite weg, ehe sie mich hier finden. Ich werde dir keinen Schaden zufügen … Fürchte dich nicht.«

»Wie kommst du darauf, dass ich mich fürchte?« Er zuckte mit den Schultern. »Gibt es einen Grund dazu? Hier gelangt niemand her, niemand spürt dich hier auf. Wenn du dich hingegen aus dem Röhricht herauswagst, läufst du deinen Verfolgern direkt in die Arme.«

»Mit anderen Worten«, sagte sie mit einer stolzen Kopfbewegung, »ich muss hierbleiben? Wolltest du das sagen?«

»Du bist keine Gefangene. Du kannst wegreiten, wenn du willst. Genauer gesagt, wenn du kannst. Aber du kannst auch bei mir bleiben und abwarten. Die Verfolger werden irgendwann die Lust verlieren. Sie verlieren immer die Lust, früher oder später. Immer. Das kannst du mir glauben. Ich kenne mich da aus.«

Ihre grünen Augen blitzten, als sie ihn anschaute.

»Übrigens«, sagte er rasch mit einem Schulterzucken und wich ihrem Blick aus, »wirst du tun, was du willst. Ich wiederhole, ich halte dich hier nicht gefangen.«

»Heute werde ich wohl doch nicht wegreiten«, schnaubte sie. »Ich bin schwach … Und gleich geht die Sonne unter … Und ich kenne ja die Wege nicht. Gehen wir also in die Hütte. Mir ist kalt.«

 

»Du hast gesagt, ich habe sechs Tage bei dir gelegen. Ist das wahr?«

»Warum sollte ich lügen?«

»Reg dich nicht auf. Ich versuche, die Tage zusammenzuzählen … Ich bin geflohen … Verwundet wurde ich … zur Tagundnachtgleiche. Am dreiundzwanzigsten September. Wenn du lieber nach Art der Elfen zählst, am letzten Tag von Lammas.«

»Das kann nicht sein.«

»Warum sollte ich lügen?«, schrie sie und stöhnte, griff sich ans Gesicht. Vysogota betrachtete sie ruhig.

»Ich weiß nicht, warum«, sagte er kalt. »Aber ich bin früher Arzt gewesen, Ciri. Vor langer Zeit, aber ich kann immer noch eine vor zehn Stunden zugefügte Wunde von einer vier Tage alten unterscheiden. Ich habe dich am siebenundzwanzigsten September gefunden. Verwundet worden bist du also am sechsundzwanzigsten. Am dritten Tag des Velen, wenn du lieber nach Art der Elfen zählst. Drei Tage nach dem Äquinoktium.«

»Ich bin genau zum Äquinoktium verwundet worden.«

»Das kann nicht sein, Ciri. Du musst die Daten verwechselt haben.«

»Ganz bestimmt nicht. Du bist es, der hier irgendeinen veralteten Einsiedler-Kalender hat.«

»Meinetwegen. Ist das denn so wichtig?«

»Nein. Überhaupt nicht.«

 

Drei Tage später zog Vysogota die letzten Fäden. Er hatte allen Grund, zufrieden mit seiner Arbeit und stolz darauf zu sein – die Naht war gleichmäßig und sauber, es war keine Tätowierung durch in die Wunde eingewachsenen Schmutz zu befürchten. Die Befriedigung wurde dem Chirurgen jedoch vom Anblick Ciris verdorben, die mit mürrischem Schweigen die Narbe aus verschiedenen Winkeln im Spiegel betrachtete und – ohne Erfolg – versuchte, sie mit auf die Wange gekämmten Haaren zu verdecken. Die Narbe entstellte sie. Der Fakt blieb, da war nichts zu machen. Es nützte nichts, so zu tun, als sei es anders. Die rote, wie ein Strick angeschwollene, von den Spuren der Nadelstiche punktierte und von den Abdrücken der Fäden gezeichnete Narbe sah wahrlich makaber aus. Dieser Zustand konnte sich allmählich und sogar rasch bessern. Vysogota wusste jedoch, dass keinerlei Chancen bestanden, dass die Narbe verschwinden und nicht mehr verunstaltend wirken würde.

Ciri fühlte sich wesentlich besser, und zu Vysogotas Erstaunen und Befriedigung sprach sie überhaupt nicht vom Wegreiten. Sie führte ihre schwarze Kelpie aus dem Stall – Vysogota wusste, dass der Name »Kelpie« im Norden einen Tangling bezeichnete, ein schreckliches Seeungeheuer, das die Gestalt eines prächtigen Rosses, eines Delfins und sogar einer schönen Frau annehmen konnte, in Wahrheit aber immer wie ein Haufen Unkraut aussah. Ciri sattelte die Stute und trabte ein paarmal um den Hof und die Hütte, worauf Kelpie in den Stall zurückkehrte, um der Ziege Gesellschaft zu leisten, Ciri indes in die Hütte, um sich zu Vysogota zu gesellen. Sie half ihm sogar – wenngleich aus Langeweile – bei der Arbeit mit den Fellen. Während er die Nutrias nach Größe und Farbton sortierte, teilte sie die Bisamratten in Rücken- und Bauchseiten, indem sie die Felle an einem hineingesteckten Brettchen zerschnitt. Sie hatte ausgesprochen geschickte Finger.

Es war bei dieser Beschäftigung, dass es zwischen ihnen zu einem ziemlich seltsamen Gespräch kam.

 

»Du weißt nicht, wer ich bin. Du hast nicht einmal eine Ahnung.«

Sie wiederholte diese banale Behauptung mehrmals und verärgerte ihn damit ein wenig. Natürlich ließ er sich die Verärgerung nicht anmerken – das fehlte noch, dass er seine Gefühle vor so einer Rotznase verriet. Nein, so weit durfte er es nicht kommen lassen, er durfte auch die Neugier nicht verraten, die ihn plagte.

Eine im Grunde unbegründete Neugier, denn er konnte sich ja mühelos denken, wer sie war. Auch zu Vysogotas Zeit waren Jugendbanden keine Seltenheit gewesen. Die Jahre, die vergangen waren, hatten nicht die magnetische Kraft vermindern können, mit der solche Banden das Jungvolk anzogen, das es nach Abenteuern und starken Eindrücken verlangte. Nur allzu oft zu seinem Verderben. Die Rotznasen, die mit einer Narbe im Gesicht davonkamen, konnten von Glück reden – auf die weniger Glücklichen warteten Folter, Strick, Haken oder Pfahl.

Tja, seit Vysogotas Zeiten hatte sich nur eins geändert – die fortschreitende Emanzipation. Den Banden schlossen sich nicht nur junge Burschen an, sondern auch halbwüchsige Mädchen, die Pferd, Schwert und Abenteuer der Nadel, der Kunkel und dem Warten auf die Brautwerber vorzogen.

Vysogota sagte ihr das alles nicht geradezu. Er sagte es ihr durch die Blume. Aber so, dass sie merkte, dass er es wusste. Um ihr klarzumachen, dass, wenn hier jemand ein Rätsel war, dann gewiss nicht sie – die durch ein Wunder der Verfolgung entkommene minderjährige Banditin aus einer Bande von ebensolchen Minderjährigen. Eine verunstaltete Rotznase, die versuchte, sich mit einem Nimbus des Geheimnisvollen zu umgeben.

»Du weißt nicht, wer ich bin. Aber fürchte nichts. Ich werde bald wegreiten. Ich werde dich keiner Gefahr aussetzen.«

Vysogota hatte genug. »Mir droht keine Gefahr«, sagte er trocken. »Welche denn auch? Sogar wenn die Verfolger hier auftauchen, woran ich zweifle, was kann mir schon passieren? Flüchtigen Verbrechern zu helfen ist strafbar, aber nicht im Falle eines Einsiedlers, denn ein Einsiedler weiß nichts von weltlichen Dingen. Mein Vorrecht ist es, jeden als Gast aufzunehmen, der in meine Einsiedelei gelangt. Du hast ganz richtig gesagt: Ich weiß nicht, wer du bist. Woher soll ich, ein Einsiedler, wissen, wer du bist, was du angestellt hast und weshalb dich das Recht verfolgt? Und welches Recht? Ich weiß ja nicht einmal, wessen Recht in dieser Gegend gilt, welche und wessen Jurisdiktion. Und es geht mich nichts an. Ich bin ein Einsiedler.«

Er hatte das Einsiedlertum ein wenig zu oft erwähnt, er spürte es. Doch er machte sich nichts daraus, der Blick ihrer wütenden grünen Augen bohrte sich in ihn wie Sporen.

»Ich bin ein armseliger Eremit. Für die Welt und ihre Angelegenheiten bin ich gestorben. Ich bin ein einfacher und ungebildeter Mann, hab von den Dingen der Welt keine Ahnung …«

Er hatte übertrieben.

»Von wegen!«, schrie sie und warf Fell und Messer auf den Fußboden. »Hältst du mich für dumm, oder was? Ich bin nicht dumm, bild dir nur nichts ein. Du Einsiedler, armseliger Eremit! Als du fort warst, habe ich mich umgeschaut. Ich habe dort in den Winkel geschaut, hinter diesen nicht allzu sauberen Vorhang. Wo kommen dort im Regal die gelehrten Bücher her, he, du einfacher und ungebildeter Mann?«

Vysogota warf ein Nutriafell auf einen Haufen. »Hier hat mal ein Steuereintreiber gewohnt«, sagte er unbekümmert. »Das sind Kataster und Kontobücher.«

»Du lügst.« Ciri verzog das Gesicht, massierte sich die Narbe. »Du lügst unverfroren!«