Was soll der Staat regeln – und was nicht? Diese Diskussion bekommt neue Qualität und Dringlichkeit: Was kann und darf der Staat in Situationen kollektiver Herausforderung überhaupt (noch) leisten? Und was muss er leisten können, wenn er heute im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen Bürgerbeteiligung und Digitalisierung, bestehen soll?
Dieser Band dokumentiert eine von Hans Ulrich Gumbrecht und René Scheu angeregte Debatte – mit Essays von Miriam Meckel, Fred Turner, Melanie Möller, Dieter Grimm und vielen anderen.
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Hans Ulrich Gumbrecht und René Scheu
Um 1990, am Ende des Kalten Kriegs, schien die eine große Frage der zweiten Jahrhunderthälfte – die Frage nach dem Staatsmodell der Zukunft – ihre definitive Antwort gefunden zu haben. Die demokratisch-marktwirtschaftliche Ordnung hatte demnach über die sozialistische Planwirtschaft gesiegt. Was dabei gerne vergessen wurde (und zuweilen noch immer wird): ›Kalt‹ war jener Krieg trotz aller nuklearen Hochrüstung der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten als Führungsmächten des Sozialismus und des Kapitalismus ja immer nur deshalb gewesen, weil er sich seit den späten 1940er Jahren als ein Effizienz-Wettbewerb zwischen zwei ›modernen‹ Auffassungen und Formen von Staatlichkeit vollzogen hatte. Nicht das moralischere, sondern das effizientere System sollte triumphieren.
Die gemeinsame genealogische Beziehung auf die Moderne war dabei zu jenem Konsensus-Hintergrund für das Staatsverständnis auf beiden Seiten geworden, ohne den es zu einem derart dramatischen unauflösbaren Widerspruch wie im Kalten Krieg sonst nie hätte kommen können. Genauer beruhte der Konsens auf drei aus den Traditionen der europäischen Aufklärung übernommenen Prinzipien:
Erstens vor allem auf dem Paradox von der Volkssouveränität als Prinzip der Legitimität, dem Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zuerst eine begriffliche Form gegeben hatte: In der Existenz und im Handeln des Staates soll das Volk zugleich zum kollektiven Herrscher und zum kollektiven Untertanen werden.
Zweitens galt die von Montesquieus Denken abgeleitete Gewaltenteilung als Prinzip der Struktur: Die Macht des Staates ist in die drei voneinander unabhängigen Dimensionen der Legislative, Exekutive und Judikative aufzuteilen.
Und schließlich erkannten die antagonistischen Kräfte des Kalten Kriegs drittens auch beide das Prinzip vom staatlichen Gewaltmonopol an, demzufolge allein durch Handlungen des Staats das Potential von Macht in Gewalt als physische Wirklichkeit umschlagen darf.
Nach dem Sieg der westlichen Alliierten und der Sowjetunion über die europäisch-asiatische ›Achse‹ des Faschismus im Zweiten Weltkrieg hatte sich die gemeinsame Matrix der Auffassung vom modernen Staat dann fortschreitend zu einem geradezu idealtypischen Kontrast auseinanderentwickelt. Der Staatssozialismus war seit der Oktoberrevolution des Jahres 1917 offiziell und explizit von einem geschichtsphilosophischen Rahmen für sein Selbstverständnis ausgegangen, nämlich der von Karl Marx (1818–1883) inspirierten Prognose, dass die Menschheit in ihrer Geschichte durch eine Phase von Klassenkämpfen zum Idealzustand der klassenlosen Gesellschaft gelangen werde. Aufgabe des Staates sollte es sein, die Gesellschaft unbedingt auf diesem Weg zu halten, an dessen Endpunkt er sich als Realisierung der Volkssouveränität selbst überflüssig machen würde. Deutlich stellten die Anhänger der Vorstellung von der klassenlosen Gesellschaft den Wert der Gleichheit über den Wert der Freiheit. Dies führte schließlich dazu, dass der Staatssozialismus seinen Bürgern die Freiheit der Wahl von Vertretern der Legislative und der Exekutive, aber auch die Freiheit der Wahl in den Zielorientierungen des staatlichen Handelns verweigerte. Schon in Rousseaus Unterscheidung zwischen der zu vernachlässigenden volonté de tous (frei übersetzt: ›dem Willen der meisten‹) und der ausschlaggebenden volonté générale (›dem übergeordneten Willen‹) war eine solche Selbstermächtigung des Staats angelegt gewesen. Daran schloss bald eine Tendenz des sozialistischen Staats mit seiner aus der Geschichtsphilosophie abgeleiteten Agentenfunktion an, das Prinzip der Gewaltenteilung in die Inszenierung einer permanenten Konvergenz von Legislative, Exekutive und Judikative zu überführen. Angesichts dieses Schwundes interner Kontrollstrukturen entwickelte sich der Staat der sozialistischen Praxis zu einer brutalen Allmachtinstanz gegenüber dem individuellen und dem sozialen Leben.
In den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und in Frankreich hingegen waren Formen des Staats eher auf Distanz zum Überbau geschichtsphilosophischer Zielvorstellungen geblieben. Sie mochten in verschiedener Weise die Praxis einer kapitalistischen Wirtschaft befördern, aber erhoben diese Funktion nie zu einer expliziten Leitvorstellung. Eher entstand und verstärkte sich eine offene Konkurrenz zwischen verschiedenen Vorstellungen vom Gebrauch der staatlichen Macht, die nicht auf End- oder Ideal-Vorstellungen zustrebten. Im je eigenen Interesse betonten solche zu politischen Wirklichkeiten werdenden Konzeptionen sowohl die Einhaltung der Regeln von Gewaltenteilung als auch eine Priorität des Werts individueller Freiheit gegenüber dem Wert der Gleichheit. Je freier die Bürger in der gegebenen rechtsstaatlichen Ordnung agieren (so die implizite Überzeugung), desto wohlhabender und fairer dürften die Gesellschaften sich in der Folge entwickeln.
Die Diskussion über mögliche Gründe für den erstaunlich schnellen Kollaps des sowjetischen Sozialismus bzw. der von ihm abhängigen Staaten am Ende des 20. Jahrhunderts und über den sich daraus ergebenden Sieg der weniger konturierten westlichen Staatsformen hat bis heute kein Ende gefunden. Dies muss angesichts der Tatsache, dass Antworten zu Fragen solcher Art allein auf Interpretationen, aber nie auf harten Fakten beruhen können, niemanden überraschen. Überraschend hingegen wirkt vor dem Hintergrund der Zukunftserwartungen um 1990 die steile Zunahme der Komplexität in den Debatten über den Staat. Offenbar hatte der Abschluss des Kalten Kriegs doch nicht zu deren Ende geführt.
Noch 1989 fand der amerikanische Politikwissenschaftler Frances Fukuyama (*1952) breite Resonanz mit einem Essay (und dann 1992 mit einem Buch) unter dem auf Hegel und Nietzsche anspielenden Titel The End of History and the Last Man. Darin vertrat er die These, mit dem Ende des Kalten Kriegs und der Kanonisierung des westlichen Typs von Staat und Gesellschaft zur einzig verbleibenden Option sei eine in der Aufklärung einsetzende Bewegung der Geschichte zu ihrem Ende gekommen. Auf Protest stieß Fukuyama allein bei Lesern, die seine historisch spezifisch gemeinte Formulierung vom »Ende der Geschichte« im Sinn eines »Endes der Zeit als Agent jeglicher Veränderung« missverstehen wollten. Denn die Zukunft des Staats als Zukunft einer Ausschließlichkeit der westlichen Staatsform schien zunächst tatsächlich festzustehen – sowohl bei Fukuyama-Fans als auch bei seinen Kritikern.
Bald jedoch setzte sich stattdessen ein markantes Bewusstsein vom Unterschied zwischen zwei Grundtypen des westlichen Staats durch, an die bald jeweils spezifische Krisengefühle und Krisendiskurse anschlossen. Denn vor dem ›eisernen Vorhang‹ des Kalten Kriegs hatte sich (zuerst wohl in Skandinavien und weitgehend unabhängig von den jeweils regierenden Parteien) ein neuer Typ des Sozial- und Wohlfahrtsstaats entwickelt, welcher (anders als der Staatssozialismus) der Öffentlichkeit als Medium politischer Willensbildung eine solide Zentralstellung einräumte. Mit regionalen Varianten begann dieser Staat, eine zuvor unvorstellbare Vielfalt von Dienstleistungen zu übernehmen, die man aufgrund ihres Totalanspruchs der Versorgung kaum als spezifische Funktion identifizieren und umreißen konnte: Sie reichten von persönlicher Sicherheit und präventiver medizinischer Betreuung über Bildung und Forschung bis hin zu Verkehr und Kommunikationsmedien. Zugleich hat sich dieser unaufhaltsam wachsende, überaus großzügige und vor allem in Europa sehr beliebte Sozialstaat jedoch Zurückhaltung im Verhältnis zur Privatsphäre seiner Bürger auferlegt. Wenn vergleichsweise hohe Steuerforderungen (mit anderen Worten: drastische Umverteilungsmaßnahmen durch den Staat) schon unvermeidlich waren, so bleiben Verpflichtungen im Militärdienst und andere auferlegte Solidaritätsbeiträge eher begrenzt. Selbst Begeisterung für das eigene Gemeinwesen wirkt heute in Europa wie ein problematisches Relikt aus nationalistischen Zeiten. So steil stieg die Erfolgskurve des sozialdemokratistischen (›sozialdemokratistisch‹ deshalb, weil sich dieser Konsens weit über die sozialdemokratischen Parteien hinaus etablierte) Wohlfahrtsstaats, dass sie den Entwurf eines Über-Staats inspirierte, der bald als ›Europäische Union‹ Gestalt annahm.
Ganz anders versteht sich der nicht nur außerhalb der Vereinigten Staaten primär mit der Hauptstadt Washington, dem Weißen Haus und dem Präsidenten identifizierte amerikanische Staat, der (zumal in der Epoche des Kalten Krieges) vor allem als institutioneller Rahmen einer aktiv handelnden Weltmacht hervorgetreten war. Seine innenpolitischen Wirkungen und Vorgaben gehen nur selten über die Bewahrung der Rechtsstaatlichkeit hinaus, während kulturpolitische Initiativen aufgrund des zehnten Zusatzes zur amerikanischen Verfassung (Tenth Amendment) den 50 Bundesstaaten überlassen bleiben. Auch Funktionen, die man in Europa unter dem Begriff der Sozialpolitik zusammenfasst, gehören in den Vereinigten Staaten bis heute zu einem Verantwortungsbereich, auf den sich durch private Spenden getragene Einrichtungen konzentrieren, ohne dabei den national existierenden Bedarf auch nur annähernd abzudecken. Andererseits erscheinen in dem vor allem durch seine außenpolitischen Funktionen bestimmten amerikanischen Staat gewisse Institutionsbereiche (etwa das Militär) und bestimmte symbolische Handlungen (etwa der Gruß der Flagge oder das Singen der Nationalhymne) viel deutlicher ausgeprägt als in Europa.
Nachdem die schon während des Kalten Kriegs bestehenden Unterschiede zwischen dem europäischen Sozialstaat und dem amerikanischen Weltmachtstaat nach dem Verschwinden der gemeinsamen Kontrastfolie des Staatssozialismus so viel klarer ins Bewusstsein getreten waren, verdichteten sich im zweiten Jahrzehnt des gegenwärtigen Jahrhunderts auf beiden Seiten Gefühle der Unzufriedenheit und mithin Eindrücke von veritablen Krisensituationen. Donald Trump (*1946) wäre 2016 nicht zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden ohne die Unzufriedenheit weiter Wählerschichten mit den von seinen Vorgängern unterstellten und verkörperten Auffassungen der amerikanischen Weltmachtrolle. Sie mögen nach dem Eindruck der Kritiker zu ausschließlich auf Vermittlungsleistungen zwischen anderen Nationen konzentriert gewesen sein (daher die Wirkung von Trumps Slogan »Make America great again«). Zugleich reagierten dieselben Wähler auf vorsichtige Ansätze zu sozialstaatlichen Initiativen unter Präsidenten wie Clinton und Obama mit Nervosität, Phobie und sogar Verachtung. Denn viele von ihnen verstehen solche Strategien (selbst dann, wenn sie zu ihrem eigenen Vorteil ausschlagen) als illegitime Interferenzen eines grundsätzlich auf Eigentumsschutz und Außenpolitik festgelegten Staats in ihr privates Leben.
Die andere, in Europa um sich greifende Unzufriedenheit richtet sich einerseits gegen den massiven Wohlfahrtsstaat mit seinen drastischen Umverteilungsmaßnahmen in Form von anscheinend unendlich steigenden Steuern und mit seinen immer häufigeren Eingriffen in die Privatsphäre unter dem Anspruch ethischer Verantwortlichkeit. Andererseits zieht der europäische Wohlfahrtsstaat aber auch Proteste aus der Gegenrichtung auf sich, wenn er Maßnahmen zur Reduktion seiner allumfassenden Versorgung ergreift, die man polemisch, wenn auch ideengeschichtlich unzutreffend, ›neoliberal‹ nennt. Dies zeigte sich gegen Ende des Jahrs 2018 im intensiven und das öffentliche Leben Frankreichs über Wochen stilllegenden Protest der sogenannten Gelbwesten gegen Präsident Emmanuel Macrons (*1977) an sich bescheidene Reformpläne des französischen Staats. Für manche Kritiker des ›Neoliberalismus‹ wird selbst die Staatsform der Volksrepublik China (trotz ihrer demonstrativen Ausblendung der Öffentlichkeit) zu einer Alternative. Vor allem aber war es die Überschneidung der intensiven Proteste in Frankreich mit dem Vorausblick auf eine nach vier Jahren Trump für die Zukunft des amerikanischen Staats entscheidende Wahl, welche uns überzeugte, dass die Zeit für eine neue Debatte gekommen war. Und so machten wir uns an die Planung einer Reihe von Essays, die den Horizont der Gedanken über die Zukunft des Staats und den Staat der Zukunft vermessen sollten. Sie erschienen über das Jahr 2020 im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung.