Sexy, lustig, charmant, cool … Fake

Über Holly Bourne

Holly Bourne, geboren 1986 in England, studierte Journalismus an der University of Sheffield und hat erfolgreich als Journalistin gearbeitet, bevor sie Autorin wurde. In ihren Büchern schreibt sie über Feminismus, starke Frauen, die Liebe und ernste Themen, die sie mit einer Portion Humor und Ehrlichkeit zu verpacken weiß.

 

Nina Frey studierte Anglistik und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitete lange im Kunsthandel, bevor sie sich als Übersetzerin selbstständig machte.

Über das Buch

April ist nett, lustig, charmant und relativ normal. Und Single, obwohl sie das gar nicht sein will. Manchmal wünschte April, sie wäre eine von den Frauen, die Männer vergöttern – die perfekte Traumfrau ohne Probleme und Vergangenheitsballast. Als April versuchsweise in diese Rolle schlüpft, scheint alles viel einfacher. Zum ersten Mal hat sie die Kontrolle über ihr Leben und die Männer, die sie datet. Bis sie Joshua begegnet, der keine Ahnung hat, wer sie wirklich ist, als er sich in sie verliebt. Wie lange kann April die Fassade aufrechterhalten? Und will sie das überhaupt?

 

Von Holly Bourne ist bei dtv außerdem lieferbar:

This is not a love story

Mein total spontanes Makeover und was dann geschah

Spinster Girls – Was ist schon normal?

Spinster Girls – Was ist schon typisch Mädchen?

Spinster Girls – Was ist schon Liebe?

War’s das jetzt?

Witchy Wishes – Ohne Magie klappt das nie

Happy End gibt’s nur im Film

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2022 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Copyright © Holly Bourne 2020

Titel der englischen Originalausgabe: ›Pretending‹, 2020 erschienen bei Hodder & Stoughton, an Hachette UK Company, London

© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Lektorat: Susann Harring

Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky nach einem Entwurf von Harlequin Enterprises ULC, 2022

 

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eBook-Herstellung: Gaby Michel, Hamburg

 

eBook ISBN 978-3-423-44021-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21987-7

 

ISBN (epub) 9783423440219

Fußnoten

»nörgeln« = Ausdruck des Unwillens gegen jede Art objektiv schlechten Verhaltens; höfliches Bitten, ob dieses Verhalten geändert werden könnte, da es einen zutiefst unglücklich macht.

Für anständige Männer

 

Ich hasse Männer.

Bitte schön, jetzt hab ich’s gesagt. Ich weiß, dass man das nicht sagen soll. Wir tun alle so, als hassten wir sie nicht; wir reden uns allesamt ein, wir hassten sie nicht. Aber ich sag, wie es ist. Hier stehe ich auf meiner Tribüne und spreche es aus.

Ich. Hasse. Männer.

Man muss ja nur einmal kurz nachdenken. Sie sind der reine Horror. Ich ertrage es nicht, wie selbstsüchtig sie sind. Wie viel Raum sie einnehmen in dem Glauben, sie hätten ein Anrecht drauf. Wie sie in den öffentlichen Verkehrsmitteln die Beine spreizen, als müssten sie ihre Eier regelmäßig stoßlüften wegen drohenden Schimmelbefalls. Ich ertrage es nicht, wie sie quasi auf Schritt und Tritt erst mal ihr Revier markieren, den Raum gestalten, damit er ihren Bedürfnissen entspricht. In dem Moment, wo sie zu einer Party dazustoßen, genau die Musik auflegen, nach der ihnen gerade ist, und sich immer im bequemsten Stuhl breitmachen. Wie sie alles befingern müssen, statt es sich einfach nur anzuschauen, sich sogar das Mobiliar zurechtrücken, damit sie es richtig gemütlich haben. Und das alles, ohne je auch nur nachzufragen – niemals wird je vorher gefragt.

Ich ertrage es nicht, wenn sie glauben, ihre Interessen seien wichtiger als deine – selbst wenn sie nur zweimal die Woche lauter Fremden beim Rumkicken einer Kugel auf einem Rasenstück zusehen und dann rumschmollen, wenn die Kugel nicht in die richtige Öffnung geht. Und wie angeödet sie dreinschauen, sobald man mal versucht, ihnen einen Film, eine Band oder auch nur einen verdammten YouTube-Clip zu zeigen, bevor man überhaupt auf Play gedrückt hat.

Ich ertrage ihre grenzenlose Arroganz nicht. Ich ertrage es nicht, wie sie einem ins Wort fallen und sich dann entschuldigen und trotzdem einfach weiterreden. Wie sie dir eine Frage stellen, aber hinterher an deiner Antwort herumkorrigieren. Ich ertrage es nicht, dass sie nie einen Handgriff im Haushalt machen können, ohne einem davon zu berichten. Ich ertrage es nicht, wie sie es einfach nicht aushalten, sich im Auto von einer Frau kutschieren zu lassen, und seien sie selbst noch so miese Fahrer. Ich ertrage es nicht, wie sie sich einbilden, die großartigsten Grillmeister aller Zeiten zu sein. Kaum bricht mal die Sonne durch, schmeißt schon ein Mann den Weber an und verwehrt der Frau den Zutritt zum Fleisch. Lässt verkohlte Hähnchenteile auf ihren Teller plumpsen, zart umweht von Bierrülpsern, wie der letzte Höhlenmensch, als müssten wir jetzt auch noch ganz hingerissen davon sein, uns Salmonellen einzufangen und hinterher alles abwaschen zu dürfen.

Ich ertrage es nicht, wie viel Angst ich vor ihnen habe. Ich ertrage den Lärm nicht, den sie machen, wenn sie in Horden auftreten. Das primitive Gegröle, als hätten sie beim Zusammenrotten ihr Gehirn abgegeben und gegen Testosteron eingetauscht. Wie sie immer ankommen, wenn man allein im leeren Zug sitzt, und sich absichtlich neben dich setzen müssen, alle auf einmal, und extralaut über ihren Machokram reden müssen, wohl um Eindruck zu schinden. Ich ertrage es nicht, wie sie einen anschauen, wenn man an ihnen vorbeigeht – dich automatisch abchecken und auf der Fickbarkeitsskala einordnen. Einem sagen, man solle lächeln, sobald man es wagt, mal nicht ganz so begeistert dreinzuschauen wegen dem ganzen Scheiß, mit dem man Tag für Tag leben muss.

Ich ertrage es nicht, wie schwer sie zu lieben sind. Wie viele von ihnen wirklich, aufrichtig glauben, der Weg zu deinem Herzen führe über das Senden eines Selfies, auf dem sie sich einen runterholen, samt Blick auf ihren haarigen Sack. Ich ertrage es nicht, wie sie Sex haben. Wie sie einem die Finger reinschieben in dem Irrglauben, das würde einem auch nur irgendwas geben. Einem die ungewaschenen Pfoten in die trockene Vagina rammen und darin herumfingern, als wollten sie eine Prostatauntersuchung vornehmen, und sich dann wundern, wieso man plötzlich den Scheidenpilz hat, aber noch immer keinen Orgasmus. Hat denn keiner von denen mal je in einen Sexratgeber geguckt? Mal im Ernst? Keiner? Und ich ertrage es nicht, dass sie dich nicht mehr ertragen, sobald sie gekommen sind. Wie selbst die Netten noch mit kaltem Blick daliegen und Zärtlichkeit heucheln, aber eindeutig Fluchtgedanken hegen.

Ich ertrage es nicht, dass es nie gerecht zugeht. Dass sie einem die ganze emotionale Verantwortung aufbürden und sich dann aufregen, dass man gestresster ist als sie. Ich ertrage es nicht, dass sie einen nie verstehen, sosehr sie sich auch bemühen, obwohl sie sich, mal ganz ehrlich, nie besonders ins Zeug legen. Und ich ertrage es nicht, dass man sich ständig daran aufreibt, ihren angeödeten Gesichtern auch nur die simpelste, begreiflichste der eigenen emotionalen Reaktionen zu erklären.

Ich ertrage es nicht, wie sie alle, aber wirklich alle Probleme mit ihrem Vater haben.

Und wisst ihr, was ich am wenigsten ertrage?

Dass ich trotz allem, trotz all dieser Verachtung, immer noch auf Männer stehe. Dass ich immer noch will, dass sie auf mich stehen, mich wollen, mich lieben. Ich hasse mich dafür, wie sehr ich sie will. Warum stehe ich noch immer so auf Männer? Was läuft da falsch mit mir? Warum sind sie alle solche psychischen Wracks? Bin ich ein psychisches Wrack, weil ich immer noch mit einem zusammen sein will, nach alldem? Ich sollte alleine sein. Das ist der einzig gesunde Weg. ABER ICH WILL NICHT ALLEIN SEIN. Ich hasse Männer, das ist das Problem. GOTT, ICH HASSE SIE SO SEHR – sie meinen, ihnen steht alles zu, und sie sind kaputt und faul und kapieren nichts und …

Moment mal …

Mein Handy.

ER HAT ZURÜCKGESCHRIEBEN!!!

MIT EINEM KUSS AM ENDE!

Egal.

Vergesst es. Ich hab nichts gesagt. Alles wunderbar.

 

Ich glaube, ich bin drauf und dran, mich zu verlieben«, berichte ich Katy, als wir neben dem verbeulten Wasserkocher stehen und auf sein lustloses Brodeln warten.

»Vielleicht einen Tick zu früh dafür, oder?«

»Ich weiß. Aber irgendwie, na ja, weiß ich es schon, weißt du?«

Katy schließt die Augen etwas länger als notwendig, durchaus verständlich. Ich höre mich ja selbst, mit eigenen Ohren. Ich kann so ein Mensch nicht sein. Ich bin nicht so eine Frau. Obwohl ich es bin, ich bin es tatsächlich. »Du schaltest schon wieder deinen Verstand aus, oder?« Sie wäscht unsere Becher mit einem Miniklecks Spülmittel ab, auf dessen Flasche ein Zettel mahnt: »Ein Tropfen reicht!« Als könne die Beratungsstelle, für die wir arbeiten, durch besonders ressourcenschonendes Abwaschen vor dem Untergang bewahrt werden.

»Das sind fünf Verabredungen gewesen! Fünf! Hast du irgendeine Vorstellung, was für ein Meilenstein das ist? Ich hab im Internet nachgeschaut, und das ist einer, wirklich. Wirklich!«

»Haben wir das Thema mit den Beziehungstipps aus dem Internet nicht gerade gehabt, April?«

»Ich kann nichts dafür. Unser Büro hat unbeschränktes Internet und ich bin ja nicht Gandhi. Und selbst der, darauf wette ich, hätte ›5 Dates was heißt das‹ gegoogelt, wenn er in meiner Lage gewesen wäre.«

Sie lacht so laut, dass im Büro sämtliche Köpfe hochschießen. Ich mache »Psst!« und verteile den Kaffee auf drei Becher. Sie gibt Milch in gerechten Spritzern dazu und ich stimme in ihr Gekicher ein, obwohl mir ihre Heiterkeit unwillkürlich einen kleinen Stich versetzt. Katy ist seit vier Jahren verheiratet, mit einem Mann, der sie anbetet und auf Händen trägt. Sie ist selbstzufrieden und huch-so-was-wär-mir-völlig-fremd und entspannt, was ja kein Kunststück ist, wenn man schon vier Jahre verheiratet ist mit einem Mann, der einen anbetet und auf Händen trägt. Ich wäre genauso entspannt, wenn ich mit einem Mann wie Jimmy verheiratet wäre. Zu Tode gelangweilt, aber entspannt.

Wir klappern zurück zu unseren Schreibtischen, durch ein Büro, das nur so schwirrt vor verfrühter Freitagabendenergie. Das Wochenende ist zum Greifen nahe. Die Schultern der Tippenden entkrampfen sich, die Meetings sind witzgetrüffelt und das Radio läuft. Niemand arbeitet ganz so intensiv, wie er oder sie sollte, und am Montag werden wir uns für diesen Schlendrian verfluchen. Aber Montag ist Montag und jetzt ist jetzt, und ich habe eine sechste Verabredung und das ganze Wochenende vor mir und die Hoffnung auf einen Neubeginn.

Im selben Augenblick, als ich mich setze, stürze ich mich auf mein Handy. Diese süße Todesqual des Wartens auf den roten Punkt, der mir eine Nachricht verkündet – meine ganze zukünftige Laune hängt davon ab. Die Millisekunde, bis die Bildschirmsperre vorbei ist, stelle ich mir vor, wie sich alles in Luft auflöst. Dass ich mir die Schwingungen zwischen uns nur einrede, dass er vielleicht nicht geantwortet hat, dass ich vielleicht völlig durchgeknallt bin und Sachen zusammenfantasiere, die es nicht gibt, und dass er das rausgekriegt hat und mich jetzt erklärungslos ghostet. Dann muss ich wieder von vorn anfangen. Mich aus dem Staub erheben. Versuchen, mir wieder Hoffnung einzuhauchen. Ein dunkler Abgrund tut sich in meinem Magen auf … ah, Moment!

Nachricht!

Er hat geantwortet!

Dies ist mein Lohn dafür, dass ich beim Kaffeekochen mein Handy auf dem Schreibtisch habe liegen lassen. Ich habe den Liebesgöttern ein Schnippchen geschlagen, indem ich in die Küche gegangen bin. Das hat sie glauben lassen, ich schere mich nicht um Simons Antwort, und nur deshalb haben sie sie mir gesandt. Aber jetzt sind sie die Dummen, denn ich hatte noch nicht mal Lust auf diesen Kaffee. Ich hab einfach einen Grund gebraucht, von meinem Handy wegzukommen.

»Dein Handy hat gebrummt!«, unterrichtet mich Matt unnötigerweise, während ich bereits draufstarre. Über seinen Monitor späht er zu mir herüber, blickt freundlich durch seine dicke schwarze Brille. »War das Simon?«

Ich nicke. »Glaub schon. Aber ich kann jetzt ja nicht gut nachschauen, oder?«

»Warum nicht? Na klar kannst du.«

Katy knallt ihm seinen Kaffeebecher hin und er nickt dankend. »Google hat ihr vermutlich davon abgeraten«, sagt sie und lässt sich neben ihm nieder. Sie zieht sich die Tastatur heran und beginnt, ernst vor sich hin zu tippen.

»Nicht nur deshalb«, protestiere ich. Ich ziehe meine oberste Schublade auf und lege mein Handy hinein, aus den Augen, aus dem Sinn. Es kuschelt sich zwischen ein paar vollgekritzelte Notizbücher und die Werbepostkarten, die wir an die Studentenvertretungen verteilen. »Ich will nur einfach nicht, dass er glaubt, ich starre den ganzen Tag auf mein Handy, ob er jetzt schreibt.«

»Obwohl du ja genau …«, wagt Matt sich vor.

»Ja, aber ich hab auch andere interessante Sachen gemacht und auch andere interessante Gedanken gehabt.«

»Wie zum Beispiel …?«

»Tja, eben hatten wir dieses Meeting …«

»Bei dem du dein Handy dabeihattest … und permanent nur in deinen Schoß gestarrt hast.«

Ich schüttle den Kopf und schlürfe aus meinem ungewollten Liebesgötter-Austricks-Kaffeebecher. »Okay, okay, ich bin total jämmerlich, und Simon wird schnallen, wie verrückt ich bin, und mich sitzen lassen, und ich werde allein in meiner Wohnung sterben und meine Katze wird mein Gesicht fressen, weil die Viecher völlig illoyal sind.«

»Du hast keine Katze«, erinnert mich Katy.

Matt streckt mir seinen Zeigefinger hin. »Genau das schreibst du ihm jetzt zurück.«

»Was? ›Bitte lass mich nicht sitzen, wenn du rauskriegst, wie sehr ich spinne. Du bist meine einzige Chance, dass mein verwesendes Gesicht nicht von einer Katze gefressen wird‹, oder was?«

Er reckt mir energischer den Finger entgegen. »Jupp. Unterzieh ihn dem Stresstest. Schau, was passiert. Wenn er der Richtige ist, dann kapiert er es schon.«

Katy und ich sehen uns kopfschüttelnd an. Katy ist schon so ewig mit Jimmy zusammen, dass sie völlig eingerostet ist, aber selbst sie weiß, dass so was nicht geht.

»Du weißt, dass es so nicht läuft.«

 

Die Sache ist ja die: Ich weiß auch nicht, warum ich mich in Liebesdingen so schwertue. Ich bin hübsch. Ich bin klug. Ich habe einen okayen Job. Freunde. Hobbys. Ich bin lustig. Ich verwirkliche mich selbst. Ich ziehe mich gut an. Ich habe keine besonders hohen Ansprüche. Ich will von niemandem errettet werden. Ich habe realistische Vorstellungen von einer Beziehung. Ich weiß, dass sie anstrengend sind. Ich weiß, dass niemand perfekt ist, und ich schon mal gar nicht. Ich weiß, dass man »auch mal was riskieren muss«, und das tue ich auch. Ich bin eine gute Gesprächspartnerin. Ich komme gut allein zurecht. Wirklich.

Aber irgendwie will ich trotzdem eine Beziehung.

Ich will so dringend eine Beziehung.

 

Nicht, weil ich glaube, ohne würde mir was fehlen oder damit wären alle meine Probleme vom Tisch. Nicht, weil ich eine große Hochzeit möchte oder in einem teuren Kleid erstrahlen. Eigentlich noch nicht mal, weil ich Kinder möchte, denn ich könnte notfalls auch ohne welche überleben.

Ich möchte eine Beziehung, weil es so ein normaler, natürlicher Wunsch ist. Und trotzdem hat es bisher nicht geklappt bei mir. Das macht fertig, so anstrengend ist das. Ich weiß wirklich nicht, wieso das so anstrengend ist …

Aber vielleicht wird es jetzt nicht mehr so anstrengend sein. Nicht mit Simon.

Gott, ich mag Simon wirklich, so richtig.

 

Ich versuche, in meine Arbeit abzutauchen. Meine wichtige Arbeit in meinem wichtigen Beruf in meinem unabhängigen Leben. Ich versuche darüberzustehen. Weniger bedürftig zu sein. Weniger besessen. Heute Nachmittag werde ich für den Posteingang verantwortlich sein, und das ist immer eine traumatische Schinderei, also muss ich effizient arbeiten und mich durch meine E-Mails wühlen und so sein, wie ich weiß, dass ich sein kann. Ich tippe die Notizen vom letzten Treffen über die Sicherheitsmaßnahmen ab. Ich erstelle den neuen Monatsplan für das Buddy-Projekt und schicke ihn raus an die Ehrenamtlichen. Ich absolviere ein weiteres Treffen über Budgetkürzungen: wie wir mit viel weniger zurechtkommen, als wir haben, und wie sehr es nächstes Jahr wohl weiter zusammengeschrumpft sein wird, aber wie zuversichtlich wir doch sind, dass wir es trotzdem hinkriegen. Doch das Handy in meiner Schublade kann ich regelrecht fühlen. Die ungelesene Nachricht pocht Edgar-Allan-Poe-mäßig durchs Eichenholz, wie das tote Herz eines Menschen, den ich ermordet und zu verstecken versucht habe. Immer wieder starre ich ins Leere, während ich manisch über den Inhalt der Nachricht spekuliere. Er wird kaum für heute Abend absagen, oder? Zuletzt schien er doch richtig Lust drauf zu haben. Er hat ausdrücklich die Worte »freu mich auf dich« benutzt. Er hat einen Kuss hinten drangehängt. Aber was, wenn er sich umentschieden hat? Was, wenn ihn gestern Nacht plötzlich seine Ex angerufen und ihm gesagt hat, dass sie ihn immer noch liebt, und dann haben sie die ganze Nacht lang durchgevögelt wie die Karnickel, und erst eben ist ihm wieder eingefallen, dass er heute Abend ja verabredet war? »Upsi, da sollte ich wohl besser absagen«, lacht der Simon in meinem Kopf unbeschwert und sorglos, als sie ihm die Arme um den Hals schlingt. Sie heißt Gretchen, habe ich beschlossen. Aus unerfindlichen Gründen heißen alle perfekten Frauen, die sich in Beziehungen perfekt zu verhalten wissen, bei mir immer Gretchen. Gretchen küsst sein Gesicht und sagt: »Tja, da kannst du wohl jetzt kaum hingehen, was? Wo wir doch gerade miteinander nach Gretna Green durchbrennen wollen«, und – O GOTT, SPINNE ICH DENN? Was soll jetzt dieses schräge Bild von ihm mit seiner Ex in meinem Kopf? Ich kenne ihn ja gar nicht, das waren grade mal fünf Verabredungen, warum tu ich mir das an? Ich muss die Nachricht lesen. Er wird absagen. Ich weiß es, ich weiß es. Ich sollte die Enttäuschung rasch hinter mich bringen, das Pflaster abreißen, Luft an die Wunde lassen, damit sie heilen kann und …

Die Schublade ist auf, mein Handy draußen, zusammen mit einem Schwung Postkarten, die wie Bombensplitter auf den grauen Teppich regnen. Ich pikse mit dem Daumen drauf, um es zu öffnen, frage mich schon, ob meine Mitbewohnerin Megan heute Abend Zeit haben wird, sich tröstungshalber mit mir zu betrinken. Ich öffne die Nachricht.

Simon: Hey, wie ist der Freitag bis jetzt? Treffen wir uns um 19 Uhr in Gordon’s Weinbar? X

Der übliche Emotionskick setzt ein. Himmelhochjauchz! Er hat geschrieben! Er mag mich! Ich mag ihn! Ich hab mir das nicht nur eingebildet! Menschen können einander treffen und mögen und daraus kann sich etwas entwickeln, und ich kann einer dieser Menschen sein! Ich krieg das gebacken mit Beziehungen! Ich krieg das so was von gebacken! Bei mir stimmt doch alles! Ja! Oh, ich mag ihn so arg! Gordon’s! Was für eine Superidee! Ich finde es so super da! Normalerweise finde ich es dort grauenhaft, aber jetzt ist es perfekt! Oh, er ist wirklich perfekt. Ich glaube, ich werde mich in ihn verlieben und es wird immer perfekt sein! Wie dumm von mir! Upsi! Wie unglaublich dumm von mir, das zu bezweifeln.

Aber Moment …

Ich hab mir gerade in Technicolor zusammenfantasiert, wie er unfassbar guten Versöhnungssex mit seiner Ex-Freundin hat. Ich hab sie sogar Gretchen getauft.

Das ist nicht normal, was?

Zum Henker noch mal, das ist so was von unnormal.

Was stimmt nicht mit mir?

ER DARF NIE HERAUSKRIEGEN, WIE UNNORMAL ICH BIN!

Matt wirft mir einen Blick zu und sieht, wie meine schlotternden Hände sich ums Handy krampfen. Er zieht die Kopfhörer ab und weist auf meine Hände. »Alles okay? Du schaust drein, als hätte er dir eine Todesdrohung geschickt.«

Ich blicke peinlich berührt auf. »Er will in Gordon’s Weinbar.«

»Boah, das toppt die Todesdrohung.« Er kann sich gerade noch unter der Kopfnuss wegducken, die ich ihm verpassen will. »Ist doch gut, dass er dich wiedersehen will, oder?«

»Denk schon.«

»Was wirst du antworten?« Er spricht langsam, wie ein Lehrer, der zum Schüler sagt: »Was für ein tolles Bild – malst du am Himmel wohl noch eine Sonne dazu?«

»So wird das ja üblicherweise gehandhabt, oder?«

»Ja, scheint mir allgemein das Schema zu sein. Die anderen schreiben. Man selbst schreibt zurück. Und so weiter und so fort.« Er will gerade die Kopfhörer wieder aufsetzen, als er innehält.

»Herrje, was kommt jetzt?«, frage ich. »Du wirst mir jetzt aber keinen brillanten Datingtipp aufs Auge drücken, oder? So à la: ›Wenn er der Richtige ist, dann kannst du’s gar nicht verbocken, und wenn nicht, dann helfen auch keine Tipps und Tricks‹ – für den großen Sinnspruchspender hab ich dich bisher eher nicht gehalten.«

»Nein, also eigentlich wollte ich mit dir über deine Schicht reden.«

Herzkrampf. Blick wird trüb. Ich weiß schon, was jetzt kommt.

»Ich hab mal in den Posteingang geschaut und da ist ein ziemlicher Klopper drin. Ich bin dein Buddy, also hab ich gedacht, ich warn dich vor und …«

Ich schneide ihm das Wort ab. »Ich weiß, was du sagen willst, aber mir geht’s gut.«

»Sicher?«

Mein Lächeln sitzt, obwohl ich schon richtig spüre, wie mir vertraute Trigger durchs Nervensystem surren und alles wieder zur Zündung bringen. Wie sie mir sämtliche Schalter im Körper umlegen. Alles um mich herum ist dunkel dunkel dunkel und ich tief im Allerschrecklichsten des Lebens. Hinter meinen Augenlidern verschwimmt die weiße Tapete. Das Prägemuster beginnt zu kreiseln. Ich bin hier im Zimmer, und die Sache ist aus dem Ruder gelaufen und ich weiß gar nicht, wie, weil alles eben einfach so unglaublich schnell passiert ist, aber die Tapete und … Nein. Da bin ich nicht. Ich bin hier, im Büro. Es ist Freitag. Mir kann gar nichts passieren.

»Sicher«, sage ich.

Anscheinend glaubt er mir, denn er setzt sich die Kopfhörer wieder auf. Matt kommt mit dem Radiosender nicht zurecht, der hier im Büro läuft. Wenn sich ein Lied nicht um irgendeinen traurigen Typen dreht, den sein mieses Selbstwertgefühl und die Erinnerung an sämtliche Verflossenen peinigen, klinkt Matt sich aus.

Ohne weitere Überlegungen lasse ich mein Telefon wieder in die Schublade gleiten. Simons Nachricht ist mir einstweilen entfallen. Ich stöpsele meine eigenen Lärmunterdrückungs-Kopfhörer ein. Klar, es ist Freitag und alle wollen Magic FM hören und dürfen das auch, aber über sexuelle Gewalt zu lesen, während Wham! läuft, halte ich nicht aus. Ich klicke auf Regen & sanfte Klaviermusik, logge mich in den Posteingang der Beratungsstelle ein und harre der neuesten Schreckenstat, die ein Mann einer Frau angetan hat.

Richtig übel, meine Schicht. Ich meine, übel ist sie immer, aber mir verschlägt es fast den Atem, als ich die Nachricht im Posteingang lese:

Eingang: 15:34

War das Vergewaltigung? Er ist mein Freund. Ich begreif’s nicht. War das jetzt ernst gemeint?

Matt schaut öfter zu mir herüber, als er zugeben würde. Ich spüre es jedes Mal, wenn sein Kopf zuckt, wenn sein Blick mein Gesicht abtastet.

Unvermittelt stehe ich auf. »Ich bin dran mit Tee. Mag noch wer?«, frage ich etwas zu aufgekratzt.

Er legt sich die Kopfhörer um den Hals. »Für mich nicht, danke. Alles gut? Ehrlich, April, ich mach die Schicht gern, wenn du lieber nicht möchtest.«

»Alles okay!« Ich schnappe mir meine Tasse und schicke Katy eine Daumen-hoch-runter-Geste, ob sie dabei ist. Sie schüttelt den Kopf. Ich tue, als hätte sich nicht der ganze Tag unter mir verschoben, als fühle sich mein Leben nicht an wie in einer aufgeschüttelten Schneekugel. »Tee ist schon unterwegs«, nuschle ich vor mich hin.

Ich stehe in der siffigen Küche und schlucke den Tee in Riesenschlucken hinunter, ohne ihn zu schmecken. Ich bin hier im Büro. Hier im Büro, wo mir nichts passieren kann. Hier ist jetzt. O Mann, ist das ein Drecksloch, dieses Büro. Als ich noch klein war, hab ich mir vorgestellt, Büro, das ist so ein Ort, wo Männer Anzüge aus der Reinigung und Seidenkrawatten tragen und perfekt manikürte Frauen Powerheels. Wo die Leute in windschnittigen Glasaufzügen die Stockwerke emporsausen, um mit Blick auf die Londoner Skyline ihre Meetings zu absolvieren. Das Büro einer Beratungsstelle sieht anders aus, vor allem das einer Beratungsstelle in Unterfinanziertheits-Endlosschleife. Seit die letzte Förderung gestrichen worden ist, haben wir schon wieder umziehen müssen. Jetzt kuscheln wir uns ungemütlich in ein Objekt im Obergeschoss eines Maklers auf der Hauptstraße. Wir teilen uns zu zwanzigst ein Unisex-Klo, wo jeder alles hören kann, und ein Fenster, um den Gestank rauszulassen, gibt es auch nicht. Oder einen frischen Blumenstrauß am Empfang oder irgendwelche schlanken Touchscreen-Teile auf dem neuesten Stand der Technik. Nur einen Dienstplan gibt es, wer diese Woche dran ist mit Telefondienst, und einige Computerknochen, die bei einer Geschäftsauflösung billig zu haben waren. Ach, und viel zu viele verzweifelte junge Menschen, die Hilfe brauchen, und zu wenige von uns, um ihnen wirklich helfen zu können.

Ich zwinge mich zurück zu meinem Arbeitsplatz und wühle dann in meiner übervollen Handtasche nach dem Lavendelöl. Davon sprenkle ich mir etwas auf die Handgelenke und atme tief ein, um mich zusätzlich im Geruch zu verankern.

»Ehrlich«, sagt Matt wieder. »April, ich kann echt übernehmen.«

Ich hebe den Kopf und lächle, weil er so besorgt dreinblickt. Matthew ist einer der wenigen Aspekte an diesem Beruf, die mein Vertrauen in Männer nicht komplett untergraben. »Du bist super«, sage ich zu ihm, weil es nämlich stimmt.

»Hinterher ein Eis?«

»Mehr als super.« Ich inhaliere noch mal ausführlich meine duftgetränkten Pulszonen und lese die E-Mail zum zweiten Mal. Ich mache mir Notizen, prüfe, ob ich auch nichts vergessen habe, keines der vielen Bruchstücke ihrer Geschichte, ihres Leids. Dann minimiere ich das Fenster, doppelklicke auf den Ordner »Dokumentvorlagen Antworten« und öffne die Textdatei »Vom_Freund_vergewaltigt.docx«. Weil vom eigenen Freund vergewaltigt zu werden so normal ist, dass es dafür eine eigene Antworten-Dokumentvorlage gibt. Ich tune die Vorlage, in der schon die ganzen wichtigen Sätze stehen, wie dass sie keine Schuld trifft und dass es keine richtige oder falsche Reaktion darauf gibt, und frage sie, ob sie jemanden hat, dem sie vertraut und mit dem sie reden kann. Ich verweise sie auf spezialisierte Anlaufstellen, die ihr weiterhelfen können. Ich schreibe, dass ich hoffe, dass sie später irgendwann das alles wird einordnen können und es schafft, diese Geschichte nicht ihre Person oder ihr Leben bestimmen zu lassen. Ich schlürfe an meinem Tee und überprüfe meine Antwort auf Tippfehler. Dann setze ich die Tasse ab, lese alles noch mal durch und drücke auf Senden. Irgendwas an meiner Atmung stimmt nicht so richtig. Die Luft steckt in meinem Zwerchfell fest wie ein Klumpen feuchter Lehm. Mein Computer meldet mir mit aggressivem Piepsen, dass meine Antwort empfangen worden ist. Ich stelle mir vor, wie sie im Posteingang dieses gesichtslosen Mädchens eintrifft – wo auch immer in diesem Land sie gerade ist. Ich stelle mir vor, wie sie ihren Bildschirm aktualisiert, auf diese Antwort wartet, und jetzt ist sie gekommen. Ich hoffe, sie hilft ihr. Ich stelle mir vor, wie sie darin Trost findet, wie das Gefühl der Einsamkeit nachlässt. Wie sie weint – auf gute Weise, so, wie man weint, wenn sich der schwere, aber richtige Weg vor einem auftut.

Ich helfe, ich helfe, ich helfe, sage ich mir in einem fort und lasse den Gedanken in mich einsinken, sich ausbreiten, mich zur Ruhe bringen.

Wieder Matt. Der mich über den Bildschirm hinweg anschaut. »Grad deine Antwort gelesen«, sagt er. »Hast den Ton perfekt getroffen.«

Ich seufze und lege den Kopf in den Nacken, starre hinauf zu einer losen Deckenkachel. »Danke, Buddy.«

»Sag nur Bescheid wegen dem Eis. Der ganze Rest im Posteingang ist ziemlich nullachtfünfzehn. Kannst dich auf eine 23-jährige Jungfrau freuen und auf noch eine, die wissen will, ob man von einem Toilettensitz schwanger werden kann.«

Ich lächle zu ihm empor. »Bei meiner Verabredung heute Abend ist das Jobthema tabu, oder?« Jetzt, wo ich mich durch den Trigger gekämpft habe, ist Simon in meinen Kopf zurückgekehrt. In meinen Adern keimt Hoffnung auf. »Ist Sperma auf Toilettensitzen überhaupt ein angemessener Date-Gesprächsstoff?«

»Frag Google«, antwortet Matt mit einem Lächeln.

Ich tippe los.

»O Gott«, sagt er, »du googelst das jetzt tatsächlich, was?«

 

Das hier sind die Gründe, warum ich glaube, dass Simon anders ist und ich mich deshalb in ihn verlieben könnte: Er schreibt immer zurück. Er scheint sich zu freuen, wenn er mich sieht. Seine Eltern sind nicht geschieden. Er hat noch nicht verkündet, ich sei die Liebe seines Lebens, was angemessen ist, doch seine Zuneigung für mich scheint mit jedem Treffen zu wachsen, was ebenfalls angemessen ist. Er hat einen festen Job und ist weder verkrachter Musiker noch verkrachter Schriftsteller noch verkrachter Schauspieler, der seinen Brotberuf nur ausübt, weil er gescheitert und deshalb verbittert und wunderlich und depressiv ist. Er hat mal ehrenamtlich im Obdachlosenheim ausgeholfen, wo ich ihn auch kennengelernt habe, was bedeutet, dass er innerlich nicht völlig abgestorben sein kann. Er hat eine Schwester, was, wie wir alle wissen, eine echte Empfehlung ist. Er ist attraktiv, aber nicht so sehr, dass sich ihm alle an den Hals werfen und er deshalb ein Mordsego hat und das ausnutzt. Er bringt mich zum Lachen und ich bringe ihn zum Lachen. Er küsst richtig gut. Als ich seine Ex-Freundin online gestalkt habe, war sie ungefähr mein Level, wenn nicht einen Tick hässlicher, und von der Timeline her konnte ich erkennen, dass sie vor grob einem Jahr und zwei Monaten Schluss gemacht haben müssen, was eine gute Zeitspanne ist, um über jemanden hinwegzukommen. Er scheint richtig angetan von mir – bislang.

 

Ich erspähe ihn, bevor er mich erspäht, und so kann ich den prickelnden Anblick eines Mannes genießen, der auf einen wartet. Ach, Simon, ich möchte mich wirklich in dich verlieben, wenn ich es irgendwie gebacken kriege. Er sieht gut aus in seiner Arbeitskluft – die Ärmel seines blauen Hemds sind hochgekrempelt und stellen die gebräunten Arme zur Schau. Er hat schon eine Flasche Roten bestellt – weil er noch vom letzten Mal her weiß, dass ich lieber rot trinke. Er hat es geschafft, uns draußen ein winziges Fasstischchen und zwei Hocker zu organisieren. Er hängt an seinem Handy, scrollt mit dem Daumen durch, völlig entrückt vom lauten Wochenendgebrabbel der Feiernden um ihn herum. Dann spürt er meine Anwesenheit und blickt auf. Seine Augen bilden beim Lächeln kleine Fältchen, was laut dem Beziehungsexperten Roald Dahl bedeutet, dass es sich um ein aufrichtiges Lächeln handelt. Ich winke beschämt und lächle zurück, ebenfalls mit Roald-Dahl-Gütesiegel. Das ist es, Leute. Das könnte es wirklich sein. So lächelt ein Mann nicht, wenn es nicht wirklich was sein könnte. Ich gehe zu ihm hinüber, extremst befangen, und wünsche mir, ich hätte dieses zweite Glas Wein nach der Arbeit nicht getrunken. Ich hatte das eigentlich gar nicht vor, aber London trumpft gerade mit einer höchst ungewöhnlichen Hitzewelle auf, und da haben wir kurz entschlossen den Stier bei den Hörnern gepackt und etwas Wein mit in den Regent’s Park um die Ecke geschleppt. Ich wollte den hartnäckigen Nachgeschmack meiner Schicht loswerden. Außerdem ist mir nach einem neuen Rechercheanlauf aufgegangen, dass Simon vielleicht heute mit mir schlafen wollen würde, und ich bin prompt völlig durchgedreht. Der Wein hat meiner Angst, es könnte nicht klappen oder wieder passieren, die Spitze genommen. Ich schwebe einfach so dahin und bin überzeugt, dass schon alles laufen wird, obwohl ich meine Vaginaldehner schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt habe.

Wir wissen noch nicht ganz, wie wir einander begrüßen sollen. Bei unserem letzten Treffen standen wir gegen eine Wand in der U-Bahn-Station gepresst und haben uns so heftig geküsst, dass es schon an ein Wunder grenzt, dass wir nicht verhaftet wurden. Ich bin mir sicher, dass wir beide gerade daran denken, und trotzdem sind wir wieder in steifem Balzverhalten verfangen.

»Hallo, du!« Er küsst mich auf die Wange und ich murkse irgendwie eine Umarmung daraus.

»Du riechst gut«, höre ich mich angeschickert sagen, als wir uns voneinander lösen. »Wir würden genetisch total gesunde Kinder haben.«

Zwei Sekunden lang versinke ich im Erdboden, bis er in schnaubendes Gelächter ausbricht und mein Magen sich wieder entkrampft. Er lacht so breit, dass ich mindestens drei Plomben ausmachen kann, was ich auch noch erotisch finde, oxytocingetränkt, wie ich bin.

Er beugt sich zu mir her und schnüffelt an meinem Hals. »Mmmm, du riechst, als hättest du einen breit gefächerten Genpool.«

»Unsere Kinder werden nicht mal Impfungen brauchen!«

Dann küssen wir uns auf eine Art, die ich eigentlich in der Öffentlichkeit verabscheue, machen da weiter, wo wir beim Ende unseres letzten Dates aufgehört haben. Der Wein ist vorübergehend vergessen, das Stimmengewirr der Menge um uns herum verschmiert wie Vaseline, und ich schmecke Simons Mund und bin mir wirklich ziemlich sicher, dass das Liebe sein muss.

Ich breche es ab. »Bitte unterlass es aber, jetzt auch noch hundemäßig meinen Hintern zu beschnüffeln«, sage ich.

Er stellt wieder seine sexy Füllungen zur Schau. »Aber das ist mein bester Move!«

Wir wenden uns unserer Rotweinflasche zu und dem prickelnden Gefühl des Kontakts mit einem Menschen, auf den man so richtig steht.

Das ist es alles wert gewesen, beschließe ich, als er schließlich die letzten Tropfen Wein in mein Glas leert. All den Herzschmerz und die Trennungen und die grauenhaften Verabredungen und die Anrufe bei meinen Freundinnen, wie erschöpft ich doch bin und dass ich es nicht mehr schaffe, und die ständige Sorge, »ob ich das je erleben darf«, und das Weinen, bis mir die Luft wegbleibt, und das Jahr nach Ryan, wo ich in all den leeren Stunden nichts anderes gemacht habe, als nach Methoden zu googeln, wie ich mich umbringe, ohne dass meine Mutter beim Finden meiner Leiche zu sehr leidet … das ist es alles wert gewesen, wegen jetzt. Simon. Dem hier. Der Art, wie wir einander ergänzen.

»Ich bin nicht wie die anderen Typen in der Finanzwirtschaft«, sagt er und schwenkt seinen Wein so im Glas, dass er bis an den Rand züngelt, aber nie hinüberrinnt. »Die sind alle nur wegen des Geldes dabei. Ich nicht. Ich bin Ombudsmann; ich passe nur auf, dass sich alle benehmen. Wenn man sagt, man ist in der Finanzwirtschaft, dann nehmen alle einfach an, man sei so ein Bankerarschloch, aber einer muss ihnen ja auf die Finger schauen.«

Ich nicke bedeutsam, schaue drein, als mache ich mir Gedanken über irgendwelche Einzelheiten des Zahlensalats, den er mir da auseinanderpflückt, obwohl ich in Wahrheit den äußerst entsetzlichen Gedanken hege, dass er in der Finanzwirtschaft arbeitet und das bedeutet, dass er so richtig Geld verdient, selbst wenn er kein Banker ist, und das doch durchaus nützlich sein kann, weil ich ja für eine Wohlfahrtseinrichtung arbeite und deshalb chronisch pleite bin. Vielleicht hat er genug gespart, um ein Haus zu kaufen? In dem ich dann auch wohnen kann? Und dann, wenn wir heiraten, wird das Haus auch irgendwie mir gehören? Ich meine, ich mag Simon, weil er Simon ist – nicht, weil er Geld hat. Aber Geld ist wirklich nützlich. Moment mal, was hat er gerade gesagt? Ich zwinkere unser grundsaniertes viktorianisches Reihenhaus mit drei Schlafzimmern in Greenwich beiseite. »Bitte?«, frage ich.

Wieder langt er über das Fasstischchen nach meiner Hand. »Ich hab mich nur nach deiner Arbeit erkundigt. Weil du bisher kaum was erzählt hast.«

»Tja, klar, das liegt daran, dass ich für eine Fachstelle für Sex- und Beziehungsberatung arbeite. Kein optimales Thema für Dates. Das ist alles schwer anstößig.«

Er drückt meine Hand fester. »Das hier ist unsere sechste Verabredung, April, ich glaube, da ist ein bisschen Anstößigkeit durchaus erlaubt.«

Und dann macht er dieses Männerdings mit den Augen, wenn sie einem ganz klarmachen wollen, dass sie wirklich Sex mit dir wollen. O Gott, jetzt geht’s los. Es wird klappen, es wird klappen. Wenn er derjenige ist, welcher, dann wird es klappen.

»Also, dein Job?«, ermuntert er mich, macht es sich bequem und schraubt den Blick zurück. »Erzähl mir was darüber.«

»Was möchtest du wissen?«

»Tja, machst du ihn gern?«

»Ich liebe ihn.« Ich schwenke begeistert mein Weinglas herum und lasse die Freude über meine Arbeit meine aufkeimende Angst übertünchen. »Also, wir sind quasi dauerpleite und letztes Jahr konnten wir uns nicht mal eine Weihnachtsfeier leisten. Aber die Arbeit gibt einem viel und meine Kollegen sind toll. Meine Aufgabe ist zweigeteilt«, erkläre ich. »Die Hälfte meiner Zeit mache ich Organisatorisches – mich um die Ehrenamtlichen kümmern, um die Sicherheitsmaßnahmen und so weiter. Im Grunde bin ich dafür verantwortlich, Freiwillige zu rekrutieren, sie auszubilden, dafür zu sorgen, dass sie auch bei uns bleiben, und sicherzustellen, dass sie auch noch ungefähr wissen, was sie da machen. Und die andere Hälfte meiner Zeit übernehme ich die Schichten bei unserem Beratungsdienst.«

»Was für ein Beratungsdienst?« Er wirkt jetzt nur noch halb interessiert, aber vielleicht hab ich mir nur eingebildet, dass er gerade auf sein Handy geschielt hat?

»Also, ich arbeite bei unseren Online-Angeboten. Die Leute schicken uns ihre Fragen zu Sex und Beziehungen und wir antworten dann.«

»Sexfragen? Da geht’s sicher ganz schön zur Sache, was?«

Ich lache und leere mein Glas, spüre, wie mich die Wärme durchsickert. Es ist die sechste Verabredung und so langsam fühle ich mich wohl mit Simon. Nicht wegen des Weins, ganz sicher. »Mich kann nichts mehr schocken«, sage ich zu Simon, meinem Ehemann in spe.

»Ach ja?«

»O ja. Bei diesem Job kann man gar nicht prüde sein. Also, an meinem ersten Tag musste ich ein Meeting über unsere Richtlinien zu Analverkehr leiten.«

Er spuckt beinahe den Wein aus. »Und wie lauten die Richtlinien zu Analverkehr?«

»Meine oder die meiner Arbeitsstelle?«

Er schluckt schwer und für den Spruch klopfe ich mir innerlich auf die Schulter. Ich lache wieder und genieße es, wie er sich windet. »Ich hab dir gesagt, mich kann nichts schocken. Zu meiner Verteidigung, du hast mit dem Thema angefangen. Obwohl mir mein Kollege Matt geraten hat, ich soll mich über meine Arbeit noch ein bisschen ausschweigen.«

Er neigt den Kopf. Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Ach, du hast also deinen Kollegen von mir erzählt?« Er stellt sein Glas ab, damit er über den Tisch langen und wieder meine Hand nehmen kann.

Ich nicke schüchtern und kann nicht mal beschreiben, wie unglaublich sich seine Haut auf meiner anfühlt. »Warum? Hast du deinen Kollegen etwas von mir erzählt?«

Jetzt nickt er. »Vielleicht hab ich mal erwähnt, dass ich schon ein paar Dates hatte.«

Das ist es. Hab ich doch gesagt, dass es das ist. Wenn er Leuten von mir erzählt, dann muss das heißen, dass er sich auch in mich verliebt. Meine Muskeln entkrampfen sich, seufzen laut auf und machen sich locker. Ich versuche, den Moment in mich aufzusaugen und ihn mir einzuprägen, damit ich ihn später in allen Einzelheiten unseren Enkelkindern erzählen kann. Die Sonne, die am Himmel schwitzt, der Geruch der nahen Themse in meiner Nase, was genau ich anhabe, was genau er anhat, wo genau unser Weinfasstisch steht, welche Geräusche die Grüppchen um uns herum machen. Alles ist so wunderbar, dass ich den tödlichen Fehler begehe.

Ich glaube dran.

Und deshalb lasse ich langsam los.

»Ich frage mich immer, wie das wäre, ganz normale Arbeitsbeziehungen zu seinen Kollegen zu haben statt diese richtig intensiven«, sinniere ich und streiche mir mit dem Rand meines Weinglases über die Lippen. »Wenn man für einen Verein wie ›IstDaJemand?‹ arbeitet, dann verlangt es die Professionalität einem ab, auf Anhieb extrem persönliche und unprofessionelle Gespräche miteinander zu führen.«

»Was meinst du damit?«, fragt Simon und kippt den Kopf etwas zu weit in den Nacken, um an den Bodensatz seines Weinglases zu kommen. Nicht die attraktivste Pose, aber das ist egal, weil er mein potenzieller Ehemann ist und deshalb alles, was er macht, automatisch herzerwärmend wirkt.

»Na ja, wenn man wie wir mit aufgewühlten Leuten arbeitet, die einem aufwühlende Dinge erzählen, ist es ungesund, immer den professionellen Alleschecker zu spielen. Wir müssen in uns selbst ruhen, um gut mit den Klienten umgehen zu können. Man kann keine Beratungsschicht machen, wenn es einem nicht gut geht. Das ist unverantwortlich. Das sickert dann vielleicht in die Antworten hinein. Darum sind meine Kollegen und ich, also, supereng miteinander. Wir haben immer einen Buddy, mit dem wir nach jeder Schicht eine Nachbesprechung machen, und wir müssen ständig über unsere Gefühle sprechen. Ich weiß im Grunde alles Schreckliche, was ihnen jemals widerfahren ist, und umgekehrt. Auf die Weise kennen wir alle unsere Trigger und können während der Schichten aufeinander aufpassen.«

Simon verzieht das Gesicht. »Trigger?«, fragt er.

Ich nicke. Ich rede wirklich so richtig gern über meine Arbeit. Unseren kleinen gemeinnützigen Verein. Ihm ist so viel Gutes in meinem Leben entsprungen, nach Ryan. »Ja, Themen, die einen besonders aufwühlen – meist, weil es irgendwas ist, das man selbst schon mal durchgemacht hat. Wenn einen bei der Arbeit ein bestimmtes Thema besonders mitnimmt, dann wühlt einen das vielleicht zu sehr auf und dann muss man an eine Kollegin oder einen Kollegen übergeben.« Ich lächele und denke voller Wärme an Matt und Katy und all die anderen in unserem kleinen Kosmos des gegenseitigen Unter-die-Arme-Greifens. »Und deshalb sind wir alle sehr eng miteinander. Zum Beispiel weiß ich, dass mein Buddy nichts übernehmen kann, was mit Alkoholismus zu tun hat, weil sein Vater Alkoholiker war. Und meine Chefin hält sich besser bei Fragen zu Geschlechtskrankheiten zurück, weil sie eine Bazillenphobie hat, und eine von unseren Ehrenamtlichen, die beste von allen, kann nicht so mit Drogensachen.« Ich blicke zu Simon auf, grinsend, erwarte, dass er mein Grinsen erwidert. Darum erschreckt es mich, dass sein Gesicht nicht aussieht, wie ich es mir vorgestellt habe. Stattdessen hat er sich zurückgelehnt, mit leicht angeödetem Gesichtsausdruck. Ich kann sehen, wie er die Nachrichten auf seinem Handy checkt, und mir dreht sich der Magen um.

»Alles vielleicht ein bisschen heftig«, sagt er mit gerümpfter Nase.

Ich merke, wie die Stimmung zwischen uns kippt, spüre sein Unbehagen und komme mir sofort unbeholfen und blöd vor.

»Möchtest du noch woandershin?«, wechselt Simon äußerst bewusst das Thema, die Arme vor der Brust gefaltet. »Oder«, fragt er und hebt eine vielsagende Augenbraue, um die Stimmung noch ein bisschen weiter zu drehen, »sollen wir einfach bei mir noch was trinken?«

Ich bin immer noch verstört, als er mit dem Sex-Zaunpfahl winkt, auf der Suche nach meinem Patzer. Ich ringe mir ein Lächeln ab, hinter dessen Schutz ich laienpsychologisch eruieren kann, was da grade vor sich geht. »Dann gehen wir mal zu dir?«

Es wirft mich aus der Bahn, dass ich ihn verstimmt habe, mir ist, als taumelte ich am Rande eines Abgrunds entlang, wild mit den Armen fuchtelnd, um nicht umzukippen.

Aber Sex … wenn man mit ihnen ins Bett geht, bringt das alles wieder ins Lot. Jetzt will ich mit ihm ins Bett, nicht aus Lust, sondern weil ich es wiedergutmachen will. Mich selbst als Entschuldigung dafür darbieten, ich selbst gewesen zu sein.

Er schnellt empor und schlingt mir den Arm um den Rücken, während ich mich mühsam aufrapple. Ein Knäuel betrunkener Anzugträger quetscht sich an uns vorbei, kapert unseren Tisch, noch bevor ich meine Handtasche vom Hocker genommen habe. Ich grüble immer noch hektisch, als wir auf den Fußweg am Embankment ausgespuckt werden, wo ein Verkäufer der Obdachlosenzeitung verzweifelt ein Exemplar an uns loswerden will. Ich versuche, mich wieder in die gute Stimmung zu versetzen. Hab ich mir das nur eingebildet, dass unsere Verbindung abgerissen ist? Vielleicht. Besonders weil …

Keine Zeit für weitere Gedanken. Simon hat mich an sich gezogen, stöhnt, als sich unsere Lippen treffen. Gute zwanzig Minuten machen wir vor dem Obdachlosenzeitungsverkäufer herum und London verschwimmt im Nichts. Ich vergesse immer wieder, wie sehr mich Küssen außer Gefecht setzt. Mein Gefahrensensor setzt völlig aus, wenn die Biologie das Ruder übernimmt und mich mittels körpereigenem Drogencocktail high macht. Simon legt ein Päuschen ein, nimmt meine Hand und zerrt mich zur U-Bahn-Station, ganz erhobene Augenbrauen und dringliche Sexualerwartung. Ich weise mich an, Aufregung statt Anspannung zu empfinden.

Noch vier Minuten bis zur nächsten Circle-Line-Bahn, also küssen wir weiter, halten nur kurz inne, um zu diskutieren, ob wir bei Tower Hill umsteigen sollen.

»Spart uns zwei Minuten«, sage ich.

»Was sind schon zwei Minuten?«, entgegnet Simon und zieht mich wieder an sich.

Die Bahn fährt zischend ein. Wir taumeln in den halb leeren Waggon. Angesichts der gleißenden Beleuchtung einigen wir uns stillschweigend darauf, die öffentlichen Zuneigungsbekundungen vorübergehend einzustellen, und setzen uns einander gegenüber. Der eskapistische Knutschrausch hält eine ganze Station weit vor, bis meine Angst sich wieder meldet. Ich starre zu Simon rüber und fange war-ja-so-klar-mäßig an, mich an dem Vorangegangenen und dem Bevorstehenden abzumartern. Er hat sein Handy rausgezogen und scrollt wie weggetreten darauf herum. Warum starrt er nicht bewundernd zu mir rüber, so wie ich zu ihm? Das ist das erste Furchtflattern. Und dann, als wir gerade an der Station Monument vorüberrattern: Warum ist er so schräg geworden, als ich von meinem Job gesprochen habe? Habe ich’s übertrieben? Ich übertreibe es immer. Warum hab ich nicht meine Vaginalübungen gemacht? Wird es klappen? Werde ich es schaffen?

Sag nichts, weise ich mich an. Verlier kein Wort drüber. Genieß es. Schlaf mit ihm. Hol dir die Nähe zurück. Du weißt, wie Sex funktioniert. Du hast es schon mal gemacht. Verlieb dich. Der Mann mag dich, ganz klar! Schau doch! Er hat gerade von BBC Sport aufgeblickt und dir zugezwinkert! Zugezwinkert! Was für ein schönes, romantisches Zwinkern … oh, jetzt schaut er wieder auf sein Handy, aber das ist okay. Du kannst kaum erwarten, dass er dich die ganze Fahrt hindurch bewundernd anstarrt. Das wäre zu viel verlangt. Du verlangst zu viel, wie immer.

Aber mein Mund steht offen und die Worte sind bereits draußen:

»Simon? Ist alles okay?«

Er löst den Blick von seinem Display und rümpft zum zweiten Mal an diesem Abend die Nase. »Ja, warum?«

Halt den Mund, halt den Mund, halt den Mund.

»Ich wollte dich nicht mit meinem Job zuquatschen …«

»Mach dir keinen Kopf. War nur ein bisschen heftig für Freitagabend, oder? Schau! Hier müssen wir raus.« Er streckt seine Hand nach mir aus und verwebt wieder unsere Finger, und ich trete hinaus auf den Bahnsteig, mit dem vagen Gefühl, als habe man mir ins Gesicht geschlagen, ich sei aber irgendwie selbst schuld daran und müsse es wiedergutmachen.

»Ich kann es kaum erwarten, bis ich dich in meiner Wohnung habe«, raunt Simon gegen meinen Hals, bevor er ihn küsst.

Ich gebe einen unverbindlichen, erotisch angehauchten Laut von mir und versuche, mich ins richtige Fahrwasser zu bringen. Was meint er mit »ein bisschen heftig«? Ich hab doch kaum was gesagt. Warum fallen diese zwei Worte immer wieder im Zusammenhang mit mir?

Wir bahnen uns unseren Weg durchs Freitagabendflirren, weichen den Klumpen dürftig gekleideter Schwärmer aus, die angeheitert schwankend ihr Heil in fettigen Gasthaussnacks suchen. Simon küsst mich, während wir auf den Bus warten. Mit jedem Kuss weicht meine Angst, werde ich in die Gegenwart zurückgezogen. Als wir einsteigen, will ich mir einreden, dass ich mich anstelle und wieder alles überbewerte, wie immer. Ich versuche, mich in Sexstimmung zu bringen, hake innerlich ab, ob ich bereit dafür bin. Ich trage ein schönes, passendes Unterwäscheset. Ich habe mich heute früh in der Dusche rasiert. Ich habe Kondome und eine Zahnbürste in der Tasche. Ich hoffe, mir stecken keine Klopapierfetzen zwischen den Schamlippen. Vielleicht kann ich vorher schnell auf die Toilette, nur zur Sicherheit?

Das laute Pling des Halteknopfs. Simon, der aufsteht.

»Da wären wir.«

Ich rapple mich auf, halte mich beim abrupten Bremsen des Busses mühsam senkrecht. Er steigt zuerst aus und streckt den Arm nach mir aus. »Mylady«, sagt er mit Handkuss.

Du schmieriger Schleimbeutel, duFick dich doch, so blöd rumzutun wegen meines Jobs.