Lass den goldenen Buddha in dir strahlen

Tara Brach

Lass den goldenen Buddha
in dir strahlen

Weisheitsgeschichten für mehr
Vertrauen und Selbstakzeptanz

Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Kleinschmidt
Mit Illustrationen von Vicky Alvarez 

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Tara Brach

Tara Brach ist eine der führenden westlichen Lehrerinnen in buddhistischer Meditation. Die klinische Psychologin und erfolgreiche Autorin verbindet seit vielen Jahren westliche Therapie mit östlicher Achtsamkeitspraxis. Tara Brach leitet weltweit Retreats und ist Gründerin der Insight Meditation Community of Washington. Ihr Podcast zum Thema „emotionale Heilung“ bekommt über eine Million Downloads pro Monat.

Eine Einladung

Seit Jahrzehnten kreist ein Gebet im Hintergrund meines Lebens: Möge ich meiner Herzensgüte vertrauen. Möge ich die Herzensgüte in anderen sehen. Diese Sehnsucht rührt von einem tiefen Leiden her, das ich als junge Erwachsene durchgemacht habe. In jener dunklen Zeit war ich voll Angst, deprimiert und von der Welt um mich herum abgeschottet. Ich warf mir ständig vor, ich würde versagen und sei nicht gut genug; ich zweifelte daran, überhaupt etwas wert zu sein. Das hinderte mich natürlich daran, Nähe und Verbindung zu anderen und der Welt zu empfinden. Es hemmte jede Kreativität und hielt mich davon ab, mich richtig lebendig zu fühlen.

Es kommt mir wie Gnade vor, dass diese »Trance der Wertlosigkeit« mich auf einen spirituellen Weg führte, der mir gezeigt hat, wie ich mich selbst mit Mitgefühl behandeln kann. Das hat es mir möglich gemacht, die Schichten aus Selbstkritik und Zweifel zu durchschauen und darunter Klarheit, Offenheit, Präsenz und Liebe zu entdecken. Im Lauf der Jahre ist mein Vertrauen in dieses liebevolle Gewahrsein als Kern dessen, was wir alle sind, immer mehr zu einem Leitbild für mich geworden. Egal, wie verkehrt oder unzulänglich wir uns vorkommen, wie abgeschnitten wir uns fühlen oder wie stark wir in den Botschaften, Übergriffen und Ungerechtigkeiten der Gesellschaft verfangen sind, die grundlegende Herzensgüte bleibt der Kern unseres Wesens.

Diese Wahrheit drückt sich in einer wunderschönen Geschichte aus Thailand aus. Mitte der 1950er-Jahre bekam eine riesige Tonstatue Buddhas in Bangkok wegen der Hitze und Trockenheit Risse. Um den Schaden zu untersuchen, leuchteten Mönche mit einer Taschenlampe in den größten Riss, wo sie etwas Erstaunliches entdeckten. Tief unter der grauen Masse schimmerte es golden.

Niemand hatte gewusst, dass sich in der bekannten, aber nicht weiter bemerkenswerten Statue ein Buddha aus purem Gold befand. Wie sich herausstellte, war dieser sechshundert Jahre zuvor mit Ton und Gips umhüllt worden, um ihn vor einer ins Land eingefallenen Armee zu schützen. Die Mönche, die damals im Kloster lebten, waren bei dem folgenden Angriff umgebracht worden, doch da die Schönheit und der Wert des goldenen Buddhas verborgen waren, hatte er unversehrt überlebt.

So wie die Mönche damals die Schönheit des goldenen Buddhas verhüllt haben, um ihn in gefährlichen Zeiten zu schützen, so verdecken auch wir unsere angeborene Reinheit und Güte, wenn wir auf die Herausforderungen der Welt treffen. In der Kindheit wurden viele von uns kritisiert, ignoriert, missverstanden oder missbraucht, was uns dazu gebracht hat, das Gold in unserem Inneren in Zweifel zu ziehen. In der Jugend verinnerlichen wir dann zunehmend die Urteile und Werte unserer Gesellschaft, wodurch wir noch mehr den Kontakt zu unserer Unschuld, unserer Kreativität und unserem liebevollen Herzen verlieren. Wir verhüllen das Gold, während wir nach Bestätigung durch andere streben und es ihnen überlassen, unseren Wert zu bestimmen, also zu entscheiden, ob wir gut genug, klug genug, erfolgreich genug sind. Und wenn wir zu einer nicht dominanten Gruppe in unserer Kultur gehören, umhüllen wir uns mit zusätzlichen Schutzschichten gegen die Gewalt sozialer Ungerechtigkeit und Unterdrückung.

Während wir eine Schicht nach der anderen hinzufügen, um uns zu schützen, identifizieren wir uns immer mehr mit unseren Hüllen, bis wir uns für abgetrennt, bedroht und mangelhaft halten. Doch selbst wenn wir das Gold nicht sehen, können Licht und Liebe unserer wahren Natur nicht verdunkelt, getrübt oder gar ausgelöscht werden. Diese Natur ruft uns täglich durch unsere Sehnsucht nach Verbundenheit, durch unser Bedürfnis, die Realität zu begreifen, durch unsere Freude an der Schönheit und unseren angeborenen Wunsch, anderen zu helfen. In der Tiefe ahnen wir, dass es etwas jenseits unserer gewohnten Vorstellung eines abgetrennten, isolierten Selbst gibt – etwas Großes, Geheimnisvolles und Heiliges.

Was unterstützt uns dabei, dieses Gold zu enthüllen? Wie können wir lernen, dem reinen Gewahrsein und der Liebe zu vertrauen, der elementaren Herzensgüte, die unser eigentliches Wesen darstellt? Wie kann unser Leben zu einem aktiven Ausdruck unserer angeborenen Weisheit und Freundlichkeit werden? Und wie können wir mit weisem Herzen auf Unwissenheit, Gier und Hass unter den Menschen reagieren und damit auf das, was die Gewalt untereinander, Rassismus und Kastensysteme, Grausamkeit gegenüber nicht menschlichen Lebewesen und die Zerstörung unserer lebenden Erde aufrechterhält? Solche Fragen haben meinen spirituellen Weg bestimmt, und in diesem Buch schildere ich meine Herausforderungen und Entdeckungen in Geschichten, die hoffentlich auch Ihnen auf Ihrem Weg etwas bedeuten können.

In den drei Teilen des Buchs – Wahrheit, Liebe und Freiheit – werden die zentralen Lehren Buddhas erkundet, die uns zu dem erwachen lassen, wer wir sind. Zuerst lernen wir, die Wahrheit unserer eigenen Erfahrung zu erkennen, indem wir uns dem Leben öffnen, so wie es eben ist. Dann geht es darum, die uns eigene Fähigkeit zu wecken, auf das sich ständig verändernde Leben mit Liebe zu reagieren. Indem wir unsere Präsenz und Liebe entfalten, enthüllt sich schließlich die Freiheit unserer wahren Natur. Vielleicht finden Sie es sinnvoll, diesen Lehren zu folgen, indem Sie das Buch von Anfang bis Ende lesen. Aber weil die Lehren so ineinander verwoben sind, können Sie auch einfach irgendeine Seite aufschlagen, um zu entdecken, was in jedem beliebigen Augenblick womöglich etwas Erkenntnis in Ihr Leben bringen kann.

Manche der Geschichten werden von der Einladung begleitet, ein wenig innezuhalten, nachzudenken und zuzulassen, dass Ihre eigene Weisheit und Ihr Verstehen geweckt werden. Diese Momente, in denen Sie über die Worte hinausgehen und zur Präsenz heimkehren, sind das Tor zu jeder wahren Heilung und Freiheit.

Auch wenn das Gold Ihrer wahren Natur unter Furcht, Ungewissheit und Verwirrung begraben werden kann – je mehr Sie dieser liebevollen Präsenz als Wahrheit dessen vertrauen, wer Sie sind, desto vollständiger werden Sie sie in sich selbst und in allen, denen Sie begegnen, zum Ausdruck bringen. Wenn wir Menschen uns aber immer besser an jenes Gold erinnern, werden wir einander und alle Wesen mit wachsender Ehrfurcht und Liebe behandeln.

Mögen wir Vertrauen haben und aus der Reinheit unseres grenzenlosen, strahlenden Herzens heraus leben.

Mögen wir uns an den Händen halten, während wir gemeinsam erwachen

und dieser kostbaren, leidenden, geheimnisvollen und wunderschönen Welt gemeinsam unsere Fürsorge schenken.

Mit liebevollen Wünschen

Wahrheit

Unsere grundlegende Herzensgüte

Das Gold unserer wahren Natur kann niemals getrübt werden. Auch wenn unser Gewahrsein noch so sehr durch Gefühle von Zorn, Unzulänglichkeit und Angst überdeckt oder verhüllt ist, bleibt es leuchtend und rein. In den Momenten, in denen wir uns an diese grundlegende Güte unseres Wesens erinnern und ihr vertrauen, löst sich der Klammergriff der Vorstellung, etwas an uns sei verkehrt, und wir öffnen uns dem Glück, dem Frieden und der Freiheit.

Was ist gut genug?

Ich hätte es besser machen können. Ich hätte mehr zustande bringen sollen. Ich wünschte, ich wäre einfühlsamer gewesen. Viele Jahre lang war »nie genug« eine chronische Gewohnheit meines Denkens, die ich in endlosen Variationen beherrschte. Bevor ich eines Abends zu Bett ging, setzte ich mich endlich hin und fragte mich: »Okay, was wäre eigentlich genug? Was muss ich tun, um gut genug zu sein?«

Im Lauf der folgenden Wochen beobachtete ich, was passierte, nachdem ich ein Wochenende lang erfolgreich einen Kurs geleitet hatte, nachdem man mir gesagt hatte, ich würde zum Wohlergehen anderer beitragen, oder nachdem ich zu jemand besonders freundlich oder großzügig gewesen war. Das Gefühl, es sei genug, dauerte etwa drei Minuten lang an, bevor ich mich darauf fixierte, was ich sonst noch tun, wie ich mich für die nächste Veranstaltung vorbereiten und inwiefern ich in Zukunft konsequenter einfühlsam und freundlich sein musste. Selbst die befriedigendsten Leistungen schienen bei näherer Betrachtung durch mein Ego verunreinigt und daher nicht spirituell genug zu sein. Egal, was ich tat, es verschaffte mir kein anhaltendes Gefühl, dass es genug gewesen wäre.

Seit ich mich an diesem lange zurückliegenden Abend mit der nicht enden wollenden Vorstellung konfrontiert habe, hinter meinen Erwartungen zurückzubleiben, habe ich entdeckt, dass Genugsein absolut nichts damit zu tun hat, etwas zu leisten oder zu erreichen. Ebenso wenig geht es darum zu versuchen, gut genug zu sein. Vielmehr verwirklicht sich dieser Zustand in der Fülle der Präsenz, in der Zärtlichkeit eines offenen Herzens und in der Stille, in der wir dem Leben lauschen. Das sind die Momente, in denen das goldene Glänzen hindurchleuchtet.

 BETRACHTUNG Halten Sie inne und lassen Sie sich in den jetzigen Moment sinken, in die Präsenz, in Ihr Herz. Sagen Sie sich sanft: »Es gibt nichts zu tun. Es ist genug … ich bin genug.« Spüren Sie die Fülle und den Frieden des Gefühls heimzukommen.

Danke für alles

Vor mehreren Hundert Jahren lebte in Japan eine Zen-Meisterin namens Sono, die weithin für ihre Weisheit bekannt war. Viele suchten sie auf, um Heilung für Körper, Geist und Herz zu finden. Doch gleichgültig, welchen Schmerz oder welches Leiden die Menschen hatten, bot Sono ihnen ein einfaches Heilmittel an: »Wiederhole täglich dieses Mantra: Danke für alles, ich habe keinerlei Klagen.« Es wird berichtet, dass jene, die sich diesen Rat zu Herzen nahmen, Glück und Heilung fanden.

Als mein Sohn Narayan in seiner Teenagerzeit an allem herumnörgelte und mit dem Leben generell unzufrieden war, erzählte ich ihm eines Tages die Geschichte von Sono, weil ich hoffte, ihm damit eine andere Perspektive zu vermitteln. Das schien keine große Wirkung zu haben. Aber wenig später gerieten wir auf der Fahrt zum Zahnarzt in einen Verkehrsstau. Es ging überhaupt nicht mehr vorwärts, und die Minuten verrannen. Ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass meine Knöchel weiß wurden, und murmelte: »Ach, du Scheiße.« Daraufhin streckte Narayan die Hand aus und stupste mich an. »Mama«, sagte er mit einem überlegenen Lächeln, das ausdrückte, er habe mich erwischt. »Danke für alles, ich habe keinerlei Klagen!« Wenn sich seither meine innere Beschwerdeführerin meldet, höre ich manchmal noch immer die Stimme meines Sohnes, die spielerisch die Weisheit von Sono zum Ausdruck bringt.