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Meine Expeditionen zu
Menschen und Orten, die
bereits in der Zukunft
angekommen sind

 

EINGANG

DIE NEUE WELT …

FOLGT IHRER LEIDENSCHAFT

SUCHT NACH SINN

IST UNABHÄNGIG

ARBEITET VERNETZT

LERNT WEITER

ÜBERWINDET ANGST

ÜBERWINDET ANGST

ÄNDERT DIE RICHTUNG

SPIELT

HAT EINEN BEGINNER’S MINDSET

ZELEBRIERT KOMPLEXITÄT

LEBT HOFFNUNG

FINDET ZU SICH SELBST

VERSUCHT SICH IN KONSISTENZ

ÄNDERT GEWOHNHEITEN

IST NICHT DAS PRODUKT

ORGANISIERT SICH NEU

VERTEILT GELD BESSER

ÜBT SICH IM SCHULTERSCHLUSS

BAUT WIRTSCHAFT UM

LEBT LOKAL

HAT EINE ANDERE LOGISTIK

LEBT GEMEINSCHAFT NEU

VERLÄSST DIE BLASE

IST KÜHN

ERMÖGLICHT TEILHABE

VERSUCHT SICH IN HOFFNUNGSVOLLEN GESCHICHTEN

Ausblick

Dank

Über den Autor

Für Lola – und ein Leben voller Hoffnung im Herzen
und mutiger Ideen.

In unserer Welt, die stark von Unsicherheit und Sorge geprägt ist, scheint es ein Geheimnis zu geben. Wir kennen es im Grunde alle – und doch entschwindet es immer wieder aus unserem Blickfeld. Dieses Buch möchte dazu beitragen, es zu lüften. Denn es ist eine Voraussetzung dafür, wie wir in die Zukunft blicken und wie wir sie gestalten.

Das Geheimnis lautet: Wir sind in Wirklichkeit gar nicht so ohnmächtig, wie wir oft denken. Nicht gefangen in einer Zivilisation, die sich nicht weiterentwickelt, nicht zu retten ist, und wenn überhaupt, dann nur durch ein paar wenige Auserwählte mit viel wirtschaftlicher oder politischer Macht. Tatsächlich erschaffen mehr und mehr Menschen rund um den Globus schon heute auf die unterschiedlichste Art und Weise die Neue Welt. Und du und ich können das auch.

Es stimmt. Unsere Welt verändert sich in vielerlei Hinsicht radikal, schreitet mit Siebenmeilenstiefeln voran. Das Schlechte daran: Die Welt wartet nicht auf uns. Das Gute: Die Welt wartet nicht auf uns – und bittet uns alle zum Tanz. Jede:r Einzelne darf sich aufgefordert fühlen, ebenfalls aufzubrechen, sich mitzubewegen. Um die Neue Welt möglichste selbstbestimmt mitzugestalten und gemeinsam die Herausforderungen unserer Zeit zu lösen: Pandemie. Klimakrise. Arbeit. Soziale Ungleichheit. Technologie, die langsam, aber sicher, jeden einzelnen Bereich unseres Lebens durchdringt.

Und so steht jede:r vor der Herausforderung, für sich eine Grundsatzfrage zu klären: Wann gehe ich jetzt wie weit?

Eine Antwort darauf zu geben ist nicht einfach. Ganz besonders nicht für die Millionen Menschen, die in vielen Teilen unserer Erde schon lange oder erst aufgrund der Pandemie um ihre tägliche Existenz kämpfen und nicht die Freiheit haben, sich mit etwas anderem als dem nächsten Tag oder der nächsten Woche zu beschäftigen. Aber auch nicht für alle anderen. Zu sehr richtet sich unser Blick auf die Sachzwänge und Korsetts der Alten Welt, die uns weiterhin einengen. Uns das Gefühl geben, dass uns die Hände gebunden sind und wir nicht die Macht haben, unserer Zukunft eine neue Wendung zu geben – schon gar nicht allein. Mit der Konsequenz, dass wir zwischen schillernden Fortschrittsvisionen – »Die Technologie wird es schon richten« – und tiefschwarzen Prognosen einer brennenden Welt – »Niemand wird es schnell genug richten« – hin und her schwanken, während wir zugleich versuchen, uns und unsere Kinder mit neuen Fähigkeiten auf die wie auch immer geartete Zukunft vorzubereiten. Auch das wiederum: keine leichte Aufgabe.

Als Unternehmer und Vater bin ich seit zehn Jahren weltweit aktiv auf der Suche nach neuen Ideen, die zur Lösung der großen Herausforderungen unserer Zeit beitragen können. Und der Antwort auf die Frage, was wir selbst eigentlich brauchen, um unseren Beitrag zu leisten? Gibt es Menschen und Orte, die konkret vorleben, wie wir uns selbst und die Welt verändern können, endlich vom Fleck kommen, beherzt alte Probleme anerkennen und mutig das Neue beginnen?

Auf meinen Reisen und durch meine Arbeit habe ich von Buenos Aires bis Dalian, von Oulu bis New York unzählige Menschen kennengelernt, die längst losgelaufen, bereits in der Zukunft angekommen sind. Und diese in all ihren Facetten leben. Sie haben die Schwelle der persönlichen und gesellschaftlichen Veränderung überschritten. Den Hebel umgelegt. Eine Entscheidung getroffen. Weil Warten keinen Sinn ergibt. Worauf auch?

Mit jedem neuen Kontakt ist vor meinen Augen ein Bild herangereift, das sich gravierend unterscheidet von dem, was uns die überwältigende Informationsflut jeden Tag auf unsere Smartphones und Computer spült. Es ist das Bild einer Neuen Welt, in der Menschen die Hauptrolle spielen, denen – bei aller Unterschiedlichkeit – eines gemein ist: Sie haben in ihrem Leben einen Punkt gesetzt, sind den ersten ungewöhnlichen Schritt gegangen und gestalten heute die Neue Welt. Mutig, kreativ.

Um alle Vertreter:innen der Neuen Welt zu Wort kommen zu lassen, die ich in den vergangenen Jahren treffen durfte, und all die Themen zu adressieren, die bereits angegangen werden, müsste dieses Buch um ein Vielfaches dicker sein. Deshalb habe ich mich für eine bunte Mischung aus Themen und Menschen entschieden – wohl wissend, dass ihre Geschichten für so viele mehr stehen.

Für Menschen, die auf ihr Herz und ihre Leidenschaft hören.

Sich mit anderen zusammentun, um ihre gemeinsamen Visionen von einer Neuen Welt über den gesamten Globus hinweg zu realisieren.

Komplexe Probleme angehen und dennoch möglichst schnell ins Tun kommen, ganz pragmatisch, Schritt für Schritt, innerhalb ihres eigenen Wirkungskreises.

Sich nicht scheuen, alles auf den Prüfstand zu stellen, welche Strukturen, welche Institutionen ergeben heute und in der Zukunft noch Sinn?

Nicht mehr in alten Kategorien von »reicher Westen, armer Süden« denken, sondern selbstbewusst mitgestalten, was Globalisierung in Zukunft heißen wird.

Als Führungskräfte keine Truppe anführen, sondern Mitarbeitenden individuelle Entfaltungsräume eröffnen.

Ihr Business ganz und gar nach den Bedürfnissen ihrer Kund:innen ausrichten, was brauchen sie wirklich, was ergibt Sinn?

Versuchen, mit Freude und Leichtigkeit ein konsistentes Leben zu leben.

Sich dafür einsetzen, dass Geld und Vermögen gleichmäßiger verteilt werden und endlich auch die Ränder unserer Gesellschaften erreichen.

Wertschöpfungsketten als Ketten verstehen, deren Glieder gleichermaßen wertschaffend und wertvoll sind.

Mithelfen, eine Dateninfrastruktur und -wirtschaft aufzubauen, die transparent, fair und zeitgemäß ist.

Heraustreten aus ihren Blasen, indem sie sich mit Menschen verbinden, die so ganz anders denken als sie selbst.

Lokal leben, weil ein lokales Leben nicht Verzicht bedeutet, sondern ganz im Gegenteil: Genuss, Gemeinschaft, Wohlergehen.

Mein Fazit nach allen Gesprächen und Begegnungen lässt mich mit Zuversicht in die Zukunft blicken: Wir können aufhören, die eine Lösung zu suchen. Wir können aufhören, uns gegenseitig Angst zu machen oder so zu tun, als ob wir als Menschheit unverwundbar wären. Wir können sogar aufhören, Geld auszugeben. Kein Studienprogramm, Coaching oder Retreat allein wird uns befähigen, den Übergang von der Alten in die Neue Welt zu meistern. Denn das, was wir brauchen, ist etwas, das wir aus uns selbst heraus entwickeln müssen. Und auch können. Eine klare Haltung. Inklusive der Offenheit, Dinge einmal anders zu versuchen, und des Mutes, dies auch tatsächlich zu tun.

Es gibt also Grund zur Hoffnung. Aber es liegt an uns allen, die Neue Welt auf unsere ganz eigene, ganz andere Art und Weise zu gestalten. Deshalb hoffe ich, dass dich mein Buch inspirieren wird. Du dich der Neuen Welt mit deinen Ideen und Taten anschließen und sie bereichern wirst. Und meine Erzählung mit einem eigenen Kapitel fortschreibst. Bist du bereit? Gehen wir los!

EIN WINTERMORGEN IN DER SCHWEIZ. Ich stapfe mit Niall Dunne durch den Schnee. Eiskristalle auf den Autofenstern. Klarheit in der Luft. Niall ist ein smarter Typ. Lange, schwarze Haare. Fast schon ein Hollywoodlächeln, dabei lebt und arbeitet er in London. Ich kenne Niall bereits eine Weile, und gemeinsam mit Freunden teilen wir uns diese Woche eine winzige Wohnung in Davos. In dem kleinen Schweizer Skiort kommt jedes Jahr die globale Prominenz aus Politik und Wirtschaft zum Weltwirtschaftsforum zusammen, um im erlauchten Kreis große Fragen zu diskutieren. Davos funktioniert wie eine Zwiebel. Macht, Geld und Berühmtheit bestimmen, zu welchen Straßen, Hotels und Meeting-Räumen man Zugang erhält.

Niall und ich sind ziemlich weit weg vom Zentrum der Zwiebel, als wir uns den Weg von unserem winzigen, völlig überteuerten Apartment zu unseren ersten Verabredungen bahnen. Neben uns schieben sich schwarze Limousinen und Polizeiautos in Richtung Hauptstraße, die sich für die paar Tage wie jedes Jahr in eine Promenade mit Showrooms und Pavillons verandelt hat.

Ich bin das Unternehmerleben gewohnt und habe Spaß daran. Niall hingegen müsste nicht hier sein, um sich in Cafés mit Manager:innen auf ein irgendwie unverbindliches Gespräch zu treffen. Vor ein paar Jahren saß Niall noch selbst in einer dieser schwarzen Limousinen und gab abends Champagnerempfänge. Er war da Anfang 40 und Vorstand einer der größten Telekommunikationsfirmen der Welt. Am Zenit angekommen, wie man so schön sagt. Mit Geld, Einfluss, Macht. Alle Türen offen. Doch eines Tages stand er auf und drückte die Stopptaste. Niall reichte seine Kündigung ein und ging. Einfach so.

Als ich neben ihm durch Davos laufe, erinnere ich mich an unzählige Gespräche, die ich seit Jahren mit Manager:innen führe. Egal ob in New York, Hamburg oder Singapur – sie verlaufen ziemlich gleich. Trotz anstrengender Reise und mitunter Jetlag in den Knochen bin ich neugierig. Ich will diese Menschen näher kennenlernen und ihnen meine Ideen für ein gemeinsames Projekt vorstellen. Doch dann sitze ich auf einem schicken Stuhl und höre mir an, wie enttäuscht mein Gegenüber über seine Vorgesetzten, die Shareholder oder die Firmenstrategie ist. Und warum sie/er jetzt– desillusioniert und frustriert – nur noch das Nötigste zu tun gedenkt. Im Gegensatz zu Niall bleiben die Manager:innen auf ihren Posten sitzen. Weil sie noch ihr Ferienhaus abzahlen wollen. Weil nirgendwo sonst ein so gutes Package auf sie wartet. Weil das Geld, der Titel, die Firmenautos immer wieder über den Frust hinwegtrösten. Weil sie wie in einem goldenen Käfig sitzen – eingesperrt zwar, aber sehr bequem. Wenn eine:r den Absprung schafft, dann oft, um bei der Konkurrenz einen ähnlichen Job zu übernehmen. Mit manchen Menschen führe ich diese Gespräche jahrelang. Wirtschaftlicher Erfolg und Einfluss, so schien lange Zeit die Rechnung zu gehen, gehen Hand in Hand mit vielen persönlichen und beruflichen Kompromissen.

Überall auf der Welt sind Menschen jetzt mehr denn je auf der Suche nach Sinn. Es beginnt das globale Rennen um neue Innovationen und die Gestaltung unserer Arbeitswelt.
Niall Dunne

Niall indes hat sich für einen anderen Weg entschieden. Er will mehr vom Leben haben. Deshalb hat er seinen Vorstandsposten aufgegeben, um sich dem Start-up Polymateria anzuschließen, gegründet von einer Gruppe von Wissenschaftler:innen, alle mit dem Traum, endlich eine Lösung für die Umweltverschmutzung durch Plastik und Mikroplastik zu finden. Eine turbulente Idee, mit Folgen. Als Niall einstieg, war die Erfindung noch in der Testphase, und es war komplett offen, ob sich daraus jemals ein Business entwickeln würde. Aber Niall war überzeugt von der Idee und bereit, dafür noch einmal von vorne anzufangen. Sein Know-how und sein Netzwerk für etwas Sinnvolles einzubringen, erschien ihm wichtiger als (angebliche) Sicherheit und (angeblicher) Komfort.

Wenn ich ihn so von der Seite betrachte, sieht man ihm die Anstrengung an, die Sorgen eines freien Unternehmers: Wie Investor:innen finden, die an einen glauben? Wie Mitarbeitende motivieren, nicht vorzeitig aufzugeben? Wie den Lebensunterhalt für sich und seine Familie sichern? Auf den ersten Blick wirkt er müde und gestresst, auf den zweiten Blick sieht man seine Begeisterung und Leidenschaft.

Aber warum hat Niall im Gegensatz zu vielen anderen Manager:innen den Absprung geschafft? Ist Niall verrückt? Ein Held? Einer unter Tausenden? Perfekt für ein Buchkapitel? Inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Nialls Entscheidung weder besonders wagemutig noch irre ist. Niall ist wie Millionen andere auch in der Arbeitswelt der Zukunft angekommen. In einer Zukunft, in der Menschen sich in Eigenregie immer neue Herausforderungen suchen, die ihren Vorstellungen und Neigungen entsprechen. Sie wollen die Welt um sich herum verändern. Ihrer Begeisterung folgen. Weil sicher längst nicht mehr sicher bedeutet. Auch nicht auf den obersten Rängen. Und genau das schafft Freiheit.

Von Produktion bis Strategie – über alle Level hinweg lösen sich Arbeitsstrukturen schneller auf, als wir das Wort »Jobsicherheit« buchstabieren können. Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit einem Personalchef vor ein paar Jahren, in dem er mir erzählte, dass er mit den frisch eingestellten High Potentials bereits an Tag eins eine zehnjährige Laufbahnentwicklung festlege. Heute kann er darüber nur noch seufzend mit den Achseln zucken. Aus und vorbei. Getrieben durch Digitalisierung, Klimawandel und neue Geschäftsmodelle sind Unternehmen gezwungen, ihre Strukturen, Teams und Positionen immer wieder neu auf-, um- und abzubauen. Und laut Sven Seidel, einem CEO, mit dem ich mich seit Jahren immer wieder austausche, »hat der Wandel im Unternehmenskontext heute nicht mehr einen Anfang und ein Ende, sondern ist konstant«.

Wenn du Sicherheit möchtest, mache etwas Verrücktes.

Und greife nach deinen Stärken.

Konstanter Wandel reduziert gelernte Sicherheiten. Stromlinienförmige Karrieren versanden. Zudem lassen Digitalisierung, agiles sowie zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten etliche Insignien der Macht verpuffen. Statt Vorstandsbüro, Sekretär:in, Firmenparkplatz und Managementkantine begegnen wir uns in Videokonferenzen in gleich großen Kästchen. Wir Unternehmer:innen oder Manager:innen stehen vielleicht noch nicht wie der Kaiser nackt vor unseren Teams, haben aber schon etliche Kleider verloren. Doch wenn wir wie Niall unseren Kompass neu kalibrieren und die Nadel in Richtung »Werte und Sinn« zeigen lassen, gewinnen wir Freiheit und jede Menge Freude.

Niall hätte auch auf altbewährtem Kurs bleiben können – und wenn sich sein Unternehmen, warum auch immer, von ihm hätte trennen wollen, wäre er sicherlich weich gefallen. Doch er hat die Chancen in der Veränderung beim Schopf gepackt. Und sich wie viele andere Menschen die Frage gestellt, was ihn begeistert, wohin er sich weiterentwickeln will, was ihn antreibt. Niall hat realisiert, dass er trotz Geld, Einfluss und Status nicht mehr zufrieden ist, und suchte sich passend zu seinen Stärken den nächsten Wirkungskreis. Nach dem Motto: Ich gewähre mir einen breiten Spielraum des Ermessens, um meiner Selbstentfaltung auf die Spur zu kommen.

In der Neuen Welt können wir alle diesen Schritt gehen, wenn wir möchten. Auszusteigen und ein Start-up zu gründen, ist genauso realistisch, wie weiterhin als Manager:in die Geschicke eines Unternehmens zu leiten. Es kommt einzig und allein auf die Leidenschaft an. Die Frage: Für was schlägt mein Herz?

Vielleicht denkst du jetzt: Nialls Geschichte klingt ja ganz nett – aber schon auch nach den Möglichkeiten eines weißen Mannes mit finanziellen Rücklagen. Teil der Elite. Dazu fällt mir eine Frau ein. Nicht Alte Welt und auch voller Leidenschaft.

ES IST HEISS HEUTE IN BERLIN. Saba und ich laufen gemeinsam über das Gelände der Union-Film am Rande der Hauptstadt. Ich bin froh, dass sie hier sein kann. Saba kommt aus Karatschi. Und Corona hat das Reisen enorm erschwert, besonders, wenn man aus Ländern wie Pakistan einreisen möchte. Vorbei an Film- und Tonstudios geht es zur Halle 10, in der sich heute alles um das Thema »Zukunft und soziale Wirkung nach Covid-19« dreht. In dem Glasgebäude steht die Luft. Saba stand schon auf vielen Bühnen dieser Welt, dennoch scheint sie angespannt zu sein. Es geht nicht nur um sie, es geht um ihre Mission.

Saba ist Journalistin, technologieaffin und setzt sich in Pakistan mit ihrem Unternehmen Aurat Raaj für die Rechte von Mädchen und Frauen ein. Ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen in einem Land, in dem Aktivist:innen bedroht werden und Ehrenmorde – auch wenn sie gesetzlich verboten sind – noch immer stattfinden. Weil Menschen sich angeblich falsch kleiden, falsch lieben oder sich für die falschen Belange einsetzen.

Das Thema, das Saba besonders unter den Nägeln brennt: Wie kann ich Mädchen und Frauen, vor allem auf dem Land, mit Informationen versorgen, die ihren Körper betreffen. Gerade die Menstruation ist laut Saba ein Tabu, jedes zweite Mädchen weiß nicht, wie ihr geschieht, wenn sie das erste Mal ihre Tage bekommt. Sie fühlt sich schmutzig, beschämt, versteckt sich zu Hause, geht nicht zur Schule, vielleicht nie wieder. Fast 80 Prozent der Mädchen in Pakistan wissen nur wenig über die Abläufe in ihrem Körper, geschweige denn etwas über Tampons, Binden oder Menstruationstassen.

Es hat gedauert, bis Saba das richtige Tool gefunden hat, mit dem sie junge Frauen erreichen kann. Kein Blog, wie zuerst angedacht, mit Texten und Fotos zu allen möglichen Themen rund um Frauengesundheit. Auch keine App, für die die Mädchen erst einmal ein eigenes Telefon besitzen müssen – zumal es mit Informationen allein nicht getan ist. Je mehr sich Saba mit dem Thema auseinandersetzte, desto besser verstand sie, wie sehr den Mädchen und Frauen vertrauliche Gespräche fehlen. Die Möglichkeit, auch intime Fragen stellen zu dürfen. Schließlich erfand Saba den Chatbot Raaji mit dem Konterfei eines pakistanischen Mädchens, das sich besonders auf die Topics »Menstruation« und »Hygiene« konzentriert. Einfach zu bedienen, ist die größte Anforderung. Raaji wird mittlerweile im Rahmen von Aufklärungsunterricht in Schulen eingesetzt und steht nach einer Einführung jeder Schülerin für ganz persönliche Fragen zur Verfügung – diskret, anonym, quasi unter vier Augen. Die Mädchen müssen keine persönlichen Daten hinterlegen, Gespräche werden nicht gespeichert, und wenn die KI merkt, dass Gefahr in Verzug ist, schaltet sich eine Gynäkologin ein.

Am Anfang meiner Reise als Sozialunternehmerin stand eine Bestandsaufnahme meines bisherigen Berufslebens: Mache ich die Dinge, die mir wichtig sind? Stupse ich mein Land in eine positive Richtung? Danach war klar, dass ich eine neue Route einschlagen möchte.
Saba Khalid

Trotz vieler Anfeindungen rückt Saba von ihrem Ziel, die Lebenssituation von Mädchen in ihrem Land zu verbessern, nicht ab. Bisher konnte ihr niemand ihren Schneid abkaufen – weder fundamentalistische Fanatiker noch Headhunter. Saba wurde schon mit verschiedenen Preisen und Awards ausgezeichnet und vielfach von den großen (Tech-)Unternehmen als Talent umworben. Doch Saba baut lieber an ihrer eigenen Welt. Entwickelt ihre Ideen in ihrer kleinen Organisation kontinuierlich weiter und reist zwischen dem ländlichen Pakistan und dem Rest der Welt hin und her. Sie hört zu, fragt bei Mädchen und Frauen nach: Wie kann ich euch erreichen, was braucht ihr genau, was würde euch noch helfen? Mal entwickelt sie eine Comicserie, mal schließt sie sich einer Stiftung an oder hilft bei Programmen befreundeter Sozialunternehmer:innen mit.

Über die Jahre habe ich gemerkt, dass es Saba gar nicht so sehr darauf ankommt, mit welchen Produkten oder Dienstleistungen ihr Unternehmen erfolgreich ist. Sie ist sehr flexibel, wenn es darum geht, die Richtung zu ändern, und doch richtet sich ihr Tun immer an zwei zentralen Fragen aus: Der Frage nach dem Sinn – kann ich mit meiner Arbeit die Lebenssituation von jungen Mädchen und Frauen in meinem Land wirklich verbessern, kann ich andere Frauen dafür begeistern, sich ebenfalls zu engagieren und ein eigenes soziales Business aufzubauen? Und der Frage nach der Freude – macht mir meine Arbeit Spaß, gibt sie mir Kraft, weckt sie meine Neugierde? Saba ist technikbegeistert, fühlt sich der globalen FemTech-Community verbunden und macht sich stark dafür, mithilfe von Technologien eine gesündere, gerechtere und gemeinwohlorientierte Welt zu entwickeln.

Saba und ihre Arbeit sind außergewöhnlich, aber sie spiegeln auch die Realität einer ganzen Generation wider. Überall auf der Welt, in reichen und armen Ländern, lassen sich junge Menschen bei der Berufswahl von ihren Überzeugungen leiten. So hat sich allein in Pakistan in den vergangenen Jahren eine rege Sozialunternehmer:innen-Szene entwickelt: Bei der letzten Erhebung über »The best countries to be a social entrepreneur 2019« der Thomson Reuters Foundation ergatterte das Land Platz 14 von 45, und liegt damit sieben Plätze vor Deutschland. Das Land ist jung, zwei Drittel der 210 Millionen Einwohner:innen sind keine 30 Jahre alt – und der Gedanke, das Land voranzubringen und damit gleichzeitig Geld zu verdienen, erscheint vielen jungen Erwachsenen attraktiv. Fast alle Universitäten haben Gründer:innen-Zentren, die entweder mit dem öffentlichen oder privaten Sektor zusammenarbeiten. Vor allem aber hilft die Ausrichtung nach Sinn und Begeisterung, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden und sich einen eigenen Weg zu bahnen.

Als wir in Berlin auf dem Podium diskutieren, vernetzt sie ganz selbstverständlich die persönliche Suche nach Sinn mit gesellschaftlich und wirtschaftlich notwendiger Veränderung. Ein Band zwischen jedem und jeder Einzelnen und der sich neu erschaffenden Welt. Das kommt bei den Zuhörern an. Der lange Applaus macht Saba etwas verlegen.

Jeder spürt längst, dass sich der Wind dreht. In der ganzen Welt suchen Berufsanfänger:innen, die kein eigenes Business aufbauen wollen, ihren Job mehr und mehr danach aus, was ihnen sinnvoll erscheint. Anna Kopp, eine befreundete Führungskraft bei Microsoft, hat mir erzählt, dass es bei allen Einstellungsgesprächen mit jungen Bewerber:innen immer nur um drei Dinge geht. Was verleiht der Firma und der ausgeschriebenen Position Sinn? Wie flexibel bin ich? Und was kann ich Neues lernen? Unternehmen reagieren darauf, indem sie längst nicht mehr nur eine gute Bezahlung nebst Boni und Benefits bieten, sondern versuchen, Strukturen zu schaffen, die es Menschen ermöglichen, mehr in Eigenregie zu arbeiten und selbst wirksamer zu werden.

Raaji

Mach aus deinem inneren Kompass dein Geschäftsmodell.

Sinn und Freude leiten dich.

Sabas Worte lassen mich an meine eigene Sinnfindung denken. Als ich vor einem Jahrzehnt anfing, Unternehmen und sozialunternehmerische Start-ups zusammenzubringen, ging es oft noch um soziale Projekte. Darum, dass Firmen etwas Gutes tun wollten. Mittlerweile ist sinnvolles Wirtschaften im Mainstream angelangt.Kund:innen verlangen es und bringen mit ihren Wünschen die großen Konzerne in Bewegung. Außerdem ist eine ganze neue Generation von kleinen Zebra-Firmen entstanden – Firmen, die Geld verdienen und sinnvolles Tun miteinander verbinden. Das klappt manchmal besser und manchmal schlechter, aber insgesamt hat es im letzten Jahrzehnt einen gewaltigen Schub ausgelöst. Hinzu kamen die brennenden Themen wie Klimawandel und soziale Ungleichheit. Nachhaltige Produkte werden als wirtschaftliche Chance gesehen. Ja, vielleicht sogar als die größte Überlebenschance für Unternehmen in allen Branchen.

Vielleicht denkst du jetzt, dass ich mit Saba thematisch etwas dick aufgetragen habe. Denn noch regieren die großen Konzerne und ihre Shareholder die Welt. Sie entscheiden, welche Produkte und Dienstleistungen angeboten werden. Mit Menschen und Mitarbeitenden, die, wie der alte Marx sagen würde, primär ihre Arbeitskraft verkaufen. Das ist mir durchaus bewusst. Aber die Neue Welt entsteht nicht aus einem Entweder-oder-Denken, sondern im Übergang des Sowohl-als-auch. Viele Köche, viel Brei. Da fällt mir ein Mann ein, der auf besondere Weise für diesen Übergang steht.