Ondragon: Nullpunkt

Anette Strohmeyer

Originalausgabe

»Band 3«

I. Auflage © 2014

ISBN 978-3-942261-67-8

Lektorat: Hendrik Buchna

Cover-Gestaltung: bürosüd, München

© 2014 Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

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Ein Buch zu schreiben, dauert Monate. Es zu kopieren, nur Sekunden. Bleiben Sie deshalb fair und verteilen Sie Ihre persönliche Ausgabe bitte nicht im Internet. Vielen Dank und natürlich viel Spaß beim Lesen! Ivar Leon Menger

Prolog

18. Juli 1899
Colorado Springs
kurz nach 11 Uhr morgens

Philemon Ailey stieg aus dem Zug, streckte seinen gepeinigten Rücken und wandte das Gesicht dem klaren Sommerhimmel entgegen. Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Was für eine Reise! Fünf Tage und Nächte auf einer holperigen Bahnstrecke in einem Waggon zweiter Klasse. Zweitausend Kilometer, harter Sitz, harte Sitznachbarn! Irgendwelche religiösen Fanatiker auf dem Weg nach Westen, Salt Lake City. Ihm tat nicht nur sein Gesäß weh, sondern auch sein Nacken vom ewigen Wackeln und Ruckeln des Zuges. Philemon holte sein Taschentuch hervor und schnaubte leise hinein. Seine Nase war gereizt vom rußigen Qualm der Lokomotive, denn kurz vor Colorado Springs waren sie durch mehrere Tunnel gefahren.

Er steckte das Taschentuch wieder weg und hob den Koffer auf. Zuerst einmal wollte er ins Hotel. Dort würde er in aller Ruhe auspacken und sich irgendwo in einer Kneipe ein kühles Bier gönnen, falls es so etwas hier in diesem Nest überhaupt gab. Philemon ließ seinen Blick über den verlassenen Bahnsteig gleiten. Im Westen war eine Ansammlung von Holzhäusern zu sehen, dahinter erhob sich ein majestätischer Gipfel aus den Rocky Mountains. Der berühmte Pikes Peak. Und im Osten öffnete sich der Blick auf den vornehmen Teil von Colorado Springs mit seinen viktorianischen Steinhäusern.

Philemon nahm seinen Koffer, ließ das Bahnhofsgebäude hinter sich und ging durch einen kleinen Park auf eine Baustelle zu, auf der es geschäftig zuging. Er sprach einen der Arbeiter an und fragte nach dem Weg.

„Das Alta Vista Hotel?“, rief der Bauarbeiter und wischte sich über die Stirn. „Biegen Sie da vorne an der Cascade nach links ab, es liegt nur einen Häuserblock entfernt.“

„Was bauen Sie hier?“, wollte Philemon wissen.

„Das neue Antlers Hotel. Das alte ist letztes Jahr abgebrannt.“

„Aha, vielen Dank.“ Philemon tippte sich an den Hut und ging in die ihm beschriebene Richtung. Die breite Cascade Avenue war wie alle anderen Straßen eine staubige Piste, gesäumt von Eichen und Wohnhäusern. Es sah aus, als hätte man einen Straßenzug aus Queens mitten in die Prärie gestellt und den Rest vergessen. Neugierig beobachtete er die Passanten. Ein Einspänner rumpelte an ihm vorbei.

„Kutsche, Sir?“, rief der Chauffeur ihm zu.

Philemon winkte dankend ab. Er wollte das Geld sparen und den kurzen Weg zu Fuß laufen.

Wenige Minuten später stand er vor dem dreigeschossigen Backsteingebäude des Alta Vista Hotels. In der kleinen und gemütlich eingerichteten Eingangshalle nahm er seinen Hut ab und trat an die Rezeption.

„Guten Tag, ich bin Philemon Ailey aus New York City.“

Der Herr hinter dem Empfangstresen trug eine schwarze Livree. Unter seinem sorgfältig gezwirbelten Schnurrbart erschien ein unverbindliches Lächeln.

„Ah, Sie werden bereits erwartet, Sir. Wenn Sie bitte hier unterschreiben möchten.“ Der Concierge reichte Philemon ein Formular und er signierte es.

„Aufrichtigen Dank, Mr. Ailey. Gestatten Sie, dass ich frage, wie viel Gepäck Sie dabeihaben?“

„Nur diesen Koffer hier.“

Der Concierge hob die Brauen „Ah, jaja soso. Nun denn, der Page wird das Gepäck auf Ihr Zimmer bringen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Colorado Springs!“ Er verneigte sich und grinste dabei leicht spöttisch.

Irritiert ließ Philemon sich auf sein Zimmer geleiten. Es lag im ersten Stock mit Blick auf die Straße. Das war nicht gerade „Alta Vista“, dachte er, zur anderen Seite hin hätte er eine prima Aussicht auf den Pikes Peak gehabt. Es erwies sich wohl als richtig, was er in New York über den Mann gehört hatte, der in Kürze sein neuer Arbeitgeber sein sollte. Die billigen Zimmer für das Personal, während der feine Herr persönlich in den besten Gemächern residierte. Aber er wollte sich nicht schon jetzt darüber beschweren. Schließlich hatte sein neuer Dienstherr einen vorauseilenden Ruf von Weltrang, und es war eine Ehre, für ihn arbeiten zu dürfen.

„Was ist das für ein Koffer?“, fragte Philemon den Pagen und zeigte auf ein riesiges Ungetüm von einem Kasten, der mitten in seinem Zimmer stand.

„Oh, verzeihen Sie, Sir. Der gehört dem Gast, der vor Ihnen hier gewohnt hat. Wir haben den Auftrag, ihm das Gepäck hinterherzuschicken. Es ist wohl vergessen worden, den Koffer abzuholen. Ich werde unverzüglich veranlassen, dass man ihn aus dem Zimmer schafft.“

„Gut.“ Philemon drückte dem Pagen ein paar Cent in die Hand und schloss die Tür. Nachdem er seine nicht besonders umfangreiche Garderobe in den Schrank gehängt und seine Schreib- und Studienutensilien in eine kleine Ledertasche verfrachtet hatte, machte er Probeliegen auf dem Bett. Die Matratze war etwas durchgelegen, aber er würde hier ruhig schlafen können. Philemon sah auf die silberne Taschenuhr seines Vaters und sprang federnd aus dem Bett. Es war Mittag, höchste Zeit, etwas zu essen. Am Waschtisch machte er sich ein wenig frisch und kämmte sein Haar ordentlich. Dann setzte er den Hut auf und begab sich nach unten in die Lobby, wo er den Concierge nach einem guten, aber günstigen Restaurant fragte.

„Nun, da empfehle ich Ihnen das Benson‘s neben dem Elk Hotel. Es befindet sich auf der Pikes Peak Avenue. Gehen Sie einfach zu der großen Baustelle und dann nach links. Die Pike Peaks Avenue ist unsere schönste Straße hier im Ort.“

Na, das will ja was heißen, dachte Philemon, der im fabelhaften New York aufgewachsen war, dessen stählerner Herzschlag in einem unermüdlichen Rhythmus schlug, Tag und Nacht. Das beschauliche Colorado Springs war für ihn gleichbedeutend mit tiefster Provinz … auch wenn der Kurort sich überraschend zivilisiert präsentierte.

Mit einem Liedchen auf den Lippen schlenderte er los. Die Sonne wärmte seine Glieder und die frische Bergluft war eine Wohltat für seine Lungen. Langsam vergaß er die Strapazen der Zugfahrt und ein Lächeln huschte über sein Gesicht – immerhin das hatte Colorado Springs schon geschafft: Er fühlte sich besser. Das Klima in dem Kurort am Fuße der Rockies schien wirklich außergewöhnlich förderlich für das körperliche Wohlbefinden zu sein.

Auf der Pikes Peak Avenue hatte Philemon keine Mühe, das Benson‘s zu finden, und kehrte ein. Der Speiseraum, in dem etwa ein Dutzend Tische standen, wurde vom hereinflutenden Sonnenlicht erhellt. Das Restaurant war gut gefüllt, aber Philemon entdeckte noch einen Platz am hinteren Ende des Tresens. Er studierte die Karte, die mit fettigen Fingerabdrücken übersät war, und bestellte beim Wirt ein Lammstew und dazu ein Bier.

„Hier gibt’s keinen Alkohol, Sir! Ist verboten, Mr. Palmer will eine saubere und sichere Stadt!“, sagte der Wirt. Mit seinem dichten, schwarzen Vollbart und dem weißen Hemd mit hohem Kragen sah er aus, als käme er direkt von der Kanzel.

„Wer ist Mr. Palmer?“, fragte Philemon.

„Der Gründer dieser Stadt und Präsident der Denver and Rio Grande Railroad Company.“

„Aha“, entgegnete Philemon einsilbig. Die Aussicht, mehrere Monate oder noch länger hier an diesem freudlosen Ort ohne Alkohol ausharren zu müssen, war nicht sonderlich erheiternd. Nicht, dass er in den New Yorker Tavernen viel trank, aber was war das Leben ohne ein erfrischendes Bier? „Und was können Sie mir stattdessen empfehlen?“

„Rootbeer, Soda, Coca-Cola, Kaffee oder Tee?“

„Ich nehme Coca-Cola, danke.“ Wenn es schon kein Bier gab, dann wollte er sich wenigstens auf andere Weise erfrischen. Coca-Cola war ihm zwar zu süß, aber dieses neumodische Getränk löschte wenigstens den Durst. Während er auf sein Essen wartete, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Das Etablissement war schmuddelig, hatte eine vergilbte Holztäfelung und Stockflecken an der Decke. Die ausnahmslos männlichen Mittagsgäste aßen hastig oder unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Bläuliche Rauchschwaden stiegen von den Tischen empor, an denen man sich eine Zigarre zur Verdauung angezündet hatte. Wenigstens Rauchen war hier erlaubt.

Sein Lammeintopf wurde gebracht, und Philemon begann zu essen. Schmeckte nicht schlecht. Auch die Coca-Cola war einigermaßen kühl und prickelte angenehm auf der Zunge. Er stieß einen zufriedenen Seufzer aus, was den blonden Kerl, der neben ihm am Tresen saß, dazu veranlasste, sich zu ihm umzudrehen.

„Ich habe vorhin mitbekommen, dass Sie nicht von hier sind, Sir“, sagte er.

„Ich bin aus New York City“, erwiderte Philemon.

„Sind Sie ein Kurgast?“

„Nein, ich werde hier arbeiten.“

„Ah. Ein neuer und rechtschaffender Bürger dieser aufstrebenden Stadt!“ Der Kerl beugte sich vor, so dass Philemon seinen muffigen Körpergeruch wahrnehmen konnte, und flüsterte verschwörerisch: „Wenn Sie mal ordentlich einen wegzischen wollen, dann müssen Sie nach Colorado City oder Manitou Springs fahren, dort gibt es alles, was das Männerherz begehrt.“ „He, Joe!“, polterte der Wirt dazwischen. „Mach mir meine Kunden nicht abspenstig!“

„Wenn es hier doch aber so furztrocken zugeht wie zwischen den Beinen einer Nonne, dann muss man den armen Leuten doch sagen, wo sie ein wenig Spaß finden können!“ Der Blonde lachte lauthals und seine Tresennachbarn stimmten mit ein. Säuerlich verzog der Wirt den Mund.

„Vielen Dank für die Information“, entgegnete Philemon leicht pikiert und zog seine Geldbörse hervor.

„Nichts für ungut, Kumpel.“ Die Hand des Blonden krachte auf seine Schulter. „Aber so ist das hier eben. Nur so nebenbei, wie werden Sie Ihr Einkommen hier in Colorado Springs bestreiten, wenn man fragen darf?“

Philemon hatte wenig Lust zu antworten, der Kerl ging ihm auf die Nerven, aber alle, die das Gespräch mitgehört hatten, sahen ihn erwartungsvoll an.

„Nun, ich bin Elektroingenieur und werde für einen gewissen Dr. T–“

Ein entferntes Donnergrollen wischte den Männern das Grinsen aus den Gesichtern. Die Gespräche verstummten jäh und düsteres Schweigen sank auf die Tische nieder. Jemand fluchte verhalten, ein anderer bekreuzigte sich.

„Was war das? Ein Gewitter?“, fragte Philemon in die Stille hinein. Er wunderte sich, denn draußen schien die Sonne noch durch die schmierigen Fensterscheiben hinein.

Der Wirt schüttelte langsam den Kopf. „Kein Gewitter“, sagte er mit finsterer Miene. „Sehen Sie.“ Er öffnete den Wasserhahn an der Rückwand hinter der Theke und braunes Wasser kam herausgesprudelt. Philemon wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, und beobachtete, wie der Wirt einen Löffel in die Nähe des Wasserstrahls hielt. Ein bläulicher Blitz sprang auf das Metall über und ein leises Knistern ertönte.

Erschrocken riss Philemon die Augen auf. „Beim Heiligen Joseph … Was war das?“

Es donnerte erneut und auf dem Regal an der Rückseite der Bar klapperten die Gläser.

„Das kommt von diesen unseligen Versuchen, die dieser Geisteskranke draußen in der Prärie durchführt!“, wetterte der Wirt und ballte eine Hand zur Faust. „Dieser Blitzemacher, der von sich glaubt, er könne Gott spielen! Seit er hier ist, spielt die Welt verrückt!“

„Stimmt“, bestätigte der Blonde. „Alles begann mit diesem ominösen Laboratorium!“

Philemon schwante nichts Gutes, aber er ließ die Männer weiterreden.

„Seit dieser verrückte Professor seine gefährlichen Experimente macht, ist man hier seines Lebens nicht mehr sicher. Manchmal bekommen die Pferde durch die Erde einen Stromschlag und gehen mit ihren Kutschen durch, oder man selbst sprüht unter den Sohlen Funken, wenn man die Straße überquert. Kinder bekommen einen Schlag, wenn sie an den Hydranten mit dem Wasser spielen, was ihnen buchstäblich die Haare zu Berge stehen lässt! Genau so, wie Sie es eben mit dem Wasserhahn erlebt haben. Und mein Schwager sagt, dass bei ihm die ganze Nacht die Lampe brennt, obwohl er sie ausgeschaltet hat. Er bekommt kein Auge zu! Von dem Gedonner und Gezische ganz zu schweigen, das der verrückte Doktor verursacht!“

„Ja, und der alte Benjamin Foley sagt, er habe in der Nähe des Laboratoriums seltsame Lichter beobachtet“, warf ein anderer Mann neben dem Blonden ein. „Elmsfeuer. Das Gras hätte in einem unheimlichen Blau geleuchtet und glühende Bälle seien daraus aufgestiegen. Jetzt traut er sich nicht mehr, seine Ziegen dort auf die Weide zu bringen, aus Angst, dass der Spuk auf sie übergeht!“

„Das ist noch gar nichts!“, ereiferte sich der Wirt erneut. „Ich habe gehört, dass vor zwei Wochen einer der Assistenten im Labor von einem Blitz getroffen wurde und auf der Stelle seinen Verstand verloren hat.“

„Quatsch, er wurde gegrillt wie eine Forelle überm Feuer. Pulverisiert wurde er. Zu Staub ist er zerfallen!“

„Wo hast du das denn her, Joe?“, fragte der Wirt ungläubig.

„Na, vom alten Ben. Der hat’s selbst miterlebt!“

Philemon spürte Unbehagen in seinem Bauch rumoren. Die Stimmung der Männer war gereizt und feindselig. Er würde es also besser für sich behalten, für wen er ab morgen arbeitete. Schließlich wusste er, dass das, was hier nach einem Ammenmärchen klang, die verhängnisvolle Wahrheit sein konnte, zumindest das mit den Blitzen und dem Elmsfeuer. Das mit dem gegrillten Mann war ihm allerdings neu. Eine dunkle Ahnung manifestierte sich in seinem Hinterkopf. Er war hierhergeschickt worden, um einen Assistenten zu ersetzen, der angeblich wegen einer dringenden Angelegenheit hatte abreisen müssen. Er schluckte. War mit dem Kerl womöglich etwas ganz anderes passiert?

Während die Männer hitzig über die seltsamen Vorfälle in der Stadt diskutierten, schob Philemon einen Dollarschein über den Tresen. Der Wirt gab ihm das Wechselgeld raus und nickte zum Abschied. Mit weichen Knien verließ Philemon das Restaurant und winkte sich ein Pferdetaxi herbei. Er musste sich zusammenreißen, nicht zu stottern, als er dem Chauffeur sagte, wo er hinwollte.

„Was? Nein, da fahr‘ ich nicht hin! Da geht mir mein Gaul durch. Ich will mir nicht den Hals brechen. Ich kann Sie bis zum Stadtrand bringen, aber nicht weiter!“

Philemon nickte und stieg in die Kabine. Aus einem unerfindlichen Grund verspürte er plötzlich erdrückende Furcht und er fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, hierherzukommen.

Am Stadtrand ließ der Chauffeur ihn aussteigen und suchte, nachdem er bezahlt worden war, samt Kutsche schnell das Weite. Philemon sah lange der Staubwolke hinterher, ganz so, als wage er nicht, sich dem Unausweichlichen zu stellen. Aber schließlich überwand er seine Unsicherheit und blickte hinaus in die Prärie. Dort sah er einen gedrungenen, scheunenartigen Bau. Eine Reihe Telegraphenmasten führte darauf zu und auf dem Dach ragte ein merkwürdiges Holzgerüst mit einer Art Antenne in den Himmel. Sie trug eine Kugel an der Spitze.

Philemon fiel auf, dass es nicht mehr gedonnert hatte, seit er am Stadtrand abgesetzt worden war. Er nahm all seinen Mut zusammen und marschierte an den Masten entlang auf das Holzgebäude zu. Wenig später stand er vor dem gespannten Stacheldraht, der das Grundstück des Laboratoriums von der Prärie abgrenzte, und hörte nun doch etwas aus dem Gebäude dringen. Ein statisches Knistern und Zischen. Unwillkürlich stellten sich die Haare auf seinen Unterarmen auf, und nachdem er das Schild am Stacheldrahtzaun gelesen hatte, war er kurz davor umzukehren, in den Zug zu steigen und nach Hause zu fahren.

„KEEP OUT – GREAT DANGER!“, stand dort in roten Lettern geschrieben und darunter: „Abandon hope all ye who enter here! Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ Das war doch aus Dantes Göttlicher Komödie. Ein Teil der Inschrift auf dem Höllentor!

Ein Kribbeln wie von tausend Termiten erfasste Philemons Körper und er erschauerte. Es war, als ginge eine unsichtbare Kraft von dem Holzgebäude aus, die ihn mit Gewalt in ihren Bann zog. Wie ein gigantischer Magnet, der alles Eisen ansaugte, um es auf ewig in seinem pulsierenden Griff zu halten. Philemon war viel über den sonderbaren Mann zu Ohren gekommen, dem dieses Haus gehörte. Er hatte alle seine Artikel und Publikationen gelesen, doch jetzt, da er hier stand, besaßen die Gerüchte mit einem Mal eine viel eindringlichere Intensität als vorher. Es hieß, dass hinter dieser Tür ein Besessener arbeitete, ein Mann, der niemals schlief. Er sei ein Genie, eine übersinnliche Menschenmaschine mit einem Gehirn von kosmischer Größe, ein Magier der Blitze, ein selbstvergessener Eigenbrötler mit einzigartigen, übermenschlichen Fähigkeiten.

Ein Mann, der nicht von dieser Welt war.

All diese Dinge gingen Philemon durch den Kopf, während er ein Tor im Stacheldrahtzaun suchte, aber keines fand. Offensichtlich waren Besucher hier nicht vorgesehen. Kurzerhand stieg er über den Draht, ging bis zu der massiven Holztür und hob seinen Arm. Nach einem kurzen Zögern klopfte er an. Erst zaghaft, dann immer heftiger, um das unheimliche Getöse im Innern zu übertönen.

Unvermittelt verstummten die Geräusche und kurz darauf wurde die Tür aufgerissen. Schwärze gähnte ihm entgegen. Dann erschien wie ein Mond am Nachthimmel das blasse Gesicht eines Mannes im Türrahmen.

„Wer stört?“, fragte er unwirsch. Sein dunkler Scheitel berührte beinahe den Türsturz, so groß war er, und Philemon musste den Kopf in den Nacken legen, um in die tiefliegenden, metallisch glänzenden Augen zu blicken. Er riss sich seinen Hut vom Kopf und verneigte sich hastig.

„Gestatten, Philemon Ailey aus New York City, Sir!“ Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und nervös bearbeiteten seine Hände die Krempe seines Hutes. „Sind Sie Dr. Tesla?“

Die bleichen Züge seines Gegenübers erhellten sich. Erfreut flogen die schwarzen Brauen in die Höhe und ein sanftes Lächeln erschien unter dem Schnurrbart.

„Ah, fabelhaft! Da ist er ja, unser neuer Assistent!“, rief der berühmte Wissenschaftler aus, doch ganz zu Philemons Verwunderung behielt er seine behandschuhte Hand bei sich, anstatt sie ihm zur Begrüßung entgegenzustrecken, wie es die Höflichkeit geboten hätte. Dafür nickte er ihm knapp zu und sagte: „Willkommen, mein Junge. So treten Sie doch ein in mein bescheidenes Reich.“

Philemon versuchte ein Lächeln, aber es missglückte, als er sah, wie es im Innern des Laboratoriums bläulich aufflackerte. Ein lauter Knall folgte.

Der Heilige Joseph steh mir bei, dachte er ängstlich und folgte Dr. Tesla in das düstere Gebäude.

1. Kapitel

16. Mai 2011
New York City
12.35 Uhr

„Das hat deine Schwester prima gemacht!“, sagte Ondragon und drückte dem jungen Mann in Pagenuniform ein Bündel Scheine in die Hand. „Richte ihr aus, dass ich gerne mit ihr zusammengearbeitet habe.“

„Mache ich, Mr. O.“ Der junge Mann lächelte mokant. „Wir stehen jederzeit wieder für Sie zur Verfügung.“

Ondragon nickte, doch für ihn war klar, dass er dem Typen und seiner Schwester niemals wieder begegnen würde. Sie hatten ihren Job erledigt und waren somit „verbraucht“. Er arbeitete nie zweimal mit Externen zusammen. Reine Vorsichtsmaßnahme.

Der junge Mann steckte das Geld in die Innentasche seiner Uniform, verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und verließ das Zimmer.

Als die Tür ins Schloss fiel, breitete sich ein Lächeln auf Ondragons Gesicht aus. Wie wunderbar reibungslos dieser Auftrag doch verlaufen war. Seine Klienten würden zufrieden sein und das Opfer ruiniert.

Ach, wie er seinen Job liebte!

Er wandte sich um und blickte in das Hotelzimmer. Ein Queensize-Bett, eine Minibar, ein Tisch, ein Stuhl und ein laufender Fernseher, der auf stumm geschaltet war. News-Channel. Man musste schließlich immer informiert sein. Auf dem Bildschirm moderierte eine dunkelhäutige Sprecherin in einem auberginefarbenen Kostüm gerade die neuesten Nachrichten der Stunde. Noch während Ondragon die exzellente Kleiderauswahl bewunderte, wurde das Bild eines älteren Herrn über ihrer rechten Schulter eingeblendet. Darunter der Name.

Es war sein Opfer, das gerade in Handschellen abgeführt wurde.

Das Grinsen auf Ondragons Gesicht wurde breiter. Das Schöne an diesem Auftrag war, dass er live verfolgen konnte, wie erfolgreich er war. Die Affäre war eingeschlagen wie eine Bombe! „Europäischer Spitzenpolitiker versucht, Zimmermädchen in New Yorker Hotel zu vergewaltigen!“ Traumhafte Schlagzeilen und ein traumhaftes Ergebnis seiner Arbeit. Er hatte den Kerl nach allen Regeln der Kunst diskreditiert, und das kurz vor den Wahlen in dessen Land. Zack, und weg war er von der politischen Bühne! Hätte der Typ seine Freunde und Feinde besser im Blick gehabt, wäre ihm das nicht passiert. Aber diese Art von Hybris hatte erfolgreiche Menschen schon immer in den Abgrund gerissen. Es war einigermaßen seltsam, dass jene, die sich in den obersten Wasserschichten des Haifischbeckens tummelten, irgendwann vergaßen, dass dort auch noch andere Raubtiere schwammen. Und wenn man es darauf anlegte, fand man immer etwas, das die anderen Haie dazu brachte, Witterung aufzunehmen. Eine winzig kleine Wunde genügte, und man wurde von ihnen zerfleischt! Zu dumm, dass unser grauhaariger Anwärter auf den Berlusconi-Award einen Hang zu ausschweifenden Sexparties gehabt hatte – nicht gerade ein Vorzeige-Hobby. Seine Partei dürfte mächtig sauer auf ihn sein. Aber wenn Ondragon ehrlich war, so war dieser Job auch nur zweitklassig gewesen. Eher ein Standard-Problem als die Magnum-Kategorie. Aber egal, seine wenigen Mitarbeiter waren momentan in andere Projekte eingebunden, so dass er den Fall hatte übernehmen müssen, als kleine Fingerübung sozusagen.

Auf dem Fernsehbildschirm wurde die Nachrichtensprecherin ausgeblendet und ein Beitrag über Fukushima folgte. Ondragon sah die Aufnahmen des havarierten Atommeilers und sein Lächeln verschwand. Der Text unter dem Bild lautete „melt-down“. Verdammte Sauerei, dachte er und ein Funken Sorge loderte in ihm auf. Er hatte Bekannte in Tokio. Was würde aus ihnen werden? Was würde aus der verseuchten Zone werden? Das wusste niemand so genau, auch jetzt, zwei Monate nach der Atom-Katastrophe nicht.

Er wollte den Fernseher abschalten, doch der nächste Beitrag erregte seine Aufmerksamkeit. Schnell stellte er die Lautstärke an.

„… wurde der Flugschreiber geborgen, der zweifelsfrei zu der vor zwei Jahren abgestürzten Air-France-Maschine gehört. Die BEA teilte heute mit, dass die Daten der Black Box erfolgreich ausgelesen werden konnten und sich Experten der Untersuchungsbehörde für Flugunfälle mit der Auswertung befassen. Noch immer ist die Ursache des Absturzes vom Airbus 330 vor der brasilianischen Küste unklar, bei dem 228 Passagiere ums Leben kamen …“

Ondragon starrte auf das Bild im Fernseher. Etwas daran passte nicht zum Gesamteindruck, das sagte ihm sein unfehlbares Gespür für solche Dinge. Es war einer seiner Ticks, ständig nach Fehlern im Muster zu suchen.

Er setzte sich auf das Bett und fixierte den Bildschirm. Darauf wurde das geborstene Rumpfteil eines Flugzeuges mit den Buchstaben ANCE gezeigt, es hing an einem Schiffskran. Dahinter ragten einige verrostete olivgrüne Trümmerteile auf, die sich ebenfalls auf dem Deck des Bergungsschiffes befanden. Aber war da nicht ein Kleckser Schwarz auf der olivgrünen Fläche? Ondragon runzelte die Stirn. Und warum rostiges Olivgrün, wenn die Wrackteile der Air-France-Maschine weiß lackiert waren?

Da hatte er den Fehler im Muster! Die olivgrünen Teile passten nicht zu den Airbus-Trümmern. Aber was hatten sie auf dem Schiff verloren?

Als Ondragon sich näher zum Fernseher beugte, verschwand das Bild und die hübsche Nachrichtensprecherin erschien wieder.

„Und nun zum Wetter“, sagte sie mit einem professionellen Lächeln.

„So ein Mist.“ Ondragon schaltete das Gerät ab. Er holte sein iPhone aus der Hosentasche und wollte die Nummer seiner Assistentin wählen, doch das Telefon kam ihm zuvor und begann zu klingeln. Es war eine unterdrückte Nummer, was ihn nicht sonderlich wunderte, denn er hatte oft mit Leuten zu tun, die ihren Kontakt geheimhielten. Er selbst tat das schließlich auch.

Mit einem forschen „Ja?“ nahm er den Anruf entgegen.

„Guten Tag, spreche ich mit Mr. Ondragon?“ Die Stimme am anderen Ende klang dünn und irgendwie weit entfernt. Und sie sprach Deutsch mit einem schwachen süddeutschen Akzent. Ondragon presste das Telefon fester ans Ohr. „Ja, und wer sind Sie?“, fragte er auf Deutsch zurück.

„Oh, Verzeihung. Ich heiße Alexander Kubicki und ich arbeite für den Bundesnachrichtendienst. Ich rufe Sie an, weil es in gewissen Kreisen heißt, dass Sie ganz spezielle Aufträge entgegennehmen.“

„Das stimmt, aber woher haben Sie meine Nummer?“

„Nun, es ist so, dass wir eine Akte über Sie führen, und darin stehen Ihre Kontaktdaten.“

„Eine Akte? Über mich?“, fragte Ondragon verstimmt. Hektisch sprang seine Zentrifuge an. Warum hatte der BND eine verdammte Akte über ihn?!

„Genau, über Sie! Sie sind doch Paul Eckbert Ondragon, oder nicht? Sohn von Siegfried Ondragon, Botschafter a. D.?“

„Was wollen Sie?“

Schweigen folgte, und Ondragon hätte beinahe aufgelegt, da sprach der Mann weiter.

„Wir wollen Sie engagieren.“

„Der deutsche Geheimdienst?“ Ondragon stieß ein belustigtes Lachen aus. „Um was geht es denn?“

„Das können wir Ihnen nur verraten, wenn Sie sich zur absoluten Verschwiegenheit verpflichten.“

„Verschwiegenheit gehört zu meinem Berufsethos, das müsste eigentlich auch in Ihrer Akte stehen!“

Der Mann am anderen Ende schien unbeeindruckt von seinem Sarkasmus‘. „Ich schicke Ihnen gleich eine Internetadresse zu“, sagte er im sachlichen Tonfall. „Dort registrieren Sie sich mit dem Decknamen ‚Schäferhund17‘ und loggen sich unter einem selbstgewählten Passwort ein. Sie werden umgehend freigeschaltet. Sie können unbesorgt sein, die Seite ist absolut sicher.“

Nicht vor Rudee, dachte Ondragon spöttisch und lauschte weiter den Anweisungen des BND-Mannes.

„Auf der Seite finden Sie ein Bulletin Board mit der Beschreibung Ihres Auftrages. Lesen Sie es sich gut durch und schicken Sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden eine SMS mit J oder N an die Nummer, die auf der Seite unter dem Menüpunkt ‚Kontakt‘ zu finden ist. Haben Sie das so weit verstanden?“

„Aber selbstverständlich!“, antwortete Ondragon in gespreiztem Hochdeutsch. „Und was passiert, wenn ich mit N antworte?“ Er wusste schon jetzt, dass er das vermutlich nicht tun würde. Allein schon wegen der verdammten Akte!

„Überlegen Sie es sich gut. Denn das Honorar könnte äußerst interessant für Sie sein.“

„Ach, ja?“

„Ja, in der Tat“, wiederholte der Agent hochnäsig. „Noch Fragen?“

„Warum wollen Sie ausgerechnet mich für diesen Auftrag? Haben Sie keine eigenen Leute dafür?“

Wieder Schweigen am anderen Ende – oder war es ein Zögern?

„Nun, Herr Ondragon, Sie haben die Kontakte, für die wir Wochen, wenn nicht gar Monate brauchen würden, um sie aufzubauen. Diese Zeit haben wir aber nicht. Wir sind gezwungen, unverzüglich zu handeln!“

„Und das können Sie alles in meiner Akte lesen?“

„So ist es.“

Ondragon überlegte. Was die Deutschen wohl noch so alles über ihn und seine Kontakte wussten? Ihm war alles andere als wohl bei diesem Gedanken.

„Ich erwarte Ihre Antwort in vierundzwanzig Stunden, Mr. O!“

Ondragon wollte noch etwas erwidern, denn der Typ gebärdete sich reichlich arrogant, doch Kubicki hatte schon aufgelegt. Im selben Moment piepte das Handy. Es war die SMS mit der Internetadresse. Ondragon gab „www.deutsche-hunderassen.de“ in den Browser ein und eine unverfänglich aussehende Seite mit Hundebildern baute sich auf. Gegen seinen Willen musste Ondragon grinsen. Typisch deutsch! Aber wie er aus eigener Erfahrung wusste, war die beste Tarnung immer noch das Klischee.

Wie vorgeschrieben registrierte er sich für das Login im Forum. Immerhin hatten sie ihm den Namen Schäferhund zugeteilt und nicht Rauhaardackel oder Zwergpudel, dachte er und klickte auf den Anmelde-Button. Es dauerte einen Augenblick, dann erschien die inoffizielle Seite und anstelle netter Hundeschnauzen zeigte sie ein nüchtern gestaltetes Menü. Ondragon öffnete den Punkt „Bulletin Board“ und fand schnell den ihm zugeteilten Auftrag. Er überflog ihn, dachte nach und las ihn erneut. Diesmal gründlicher.

Dann sah er auf.

„Wollen die mich verarschen?“, stieß er laut aus. „Was für ein Auftrag ist das denn?“

Kopfschüttelnd starrte er auf das Handydisplay. Das war doch ein schlechter Scherz. Der BND wollte ihn damit beauftragen, ein Buch zu beschaffen? Ein gottverdammtes BUCH? Gereizt stieß Ondragon Luft aus. Ausgerechnet er! Stand denn nichts über seine Phobie in dieser beschissenen Akte? Irgendwie mutete das sonderbar an. Auch wenn Ondragon seine Phobie mit allen Mitteln vor der Welt zu verbergen versuchte, konnte er sich nicht vorstellen, dass der BND seine Dokumente derart unsauber führte. Das wäre wie die NSA ohne Internetanschluss. Eine andere Idee kam ihm. Vielleicht war das mit der Akte auch nur ein Bluff, um ihn zu ködern.

Nun gut, dachte er, gehen wir mal vom schlimmsten Fall aus, nämlich, dass es diese Akte gibt! Was könnten die mir bieten, damit ich tatsächlich anbeiße? Er klickte den Button an, auf dem „Zahlungsart“ stand. Eine Ziffer angegeben in US-Dollar erschien. Ondragon pfiff leise durch die Zähne. Das war in der Tat ein hübsches Sümmchen. Aber das Geld war es nicht, was ihn in den Bann zog. Auch nicht die voraussichtliche Anzahlung, die gewiss ihren Reiz besaß. Nein, es war der Satz, der darunter stand.

„Bei erfolgreicher und termingerechter Abwicklung der Operation wird dem Beauftragten Einblick in die Akte ‚Ondragon/Gemini‘ gewährt!“

„Die Akte ‚Ondragon/Gemini‘?“, wiederholte er nachdenklich. Gemini war Lateinisch und bedeutete Zwilling. Spielte das etwa auf seinen Zwillingsbruder Per Gustav an? Hatte der BND Informationen über ihn und seinen Tod, die er nicht besaß? Denkbar war es. Ondragons Neugier war geweckt, er spürte, wie die Zentrifuge in seinem Kopf schneller lief. Er könnte Rudee darauf ansetzen. Vielleicht fand sein thailändischer Cyber-Pirat eine Datei mit diesem Aktenzeichen im BND-Archiv. Oder er könnte den Auftrag einfach annehmen. Das mit dem Buch würde er schon hinbekommen. Schließlich hatte er vor zwei Jahren eine im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Therapie gegen seine Phobie hinter sich gebracht.

Er schloss die Internetseite und ging in sein Telefonverzeichnis. Er würde die Sache überprüfen … und in vierundzwanzig Stunden eine Entscheidung treffen. Aber vorher musste er seinen Flug nach L.A. buchen.

2. Kapitel

16. Mai 2011
Fortaleza, Brasilien
13.59 Uhr

„Ich erwarte Ihre Antwort in vierundzwanzig Stunden, Mr. O!“

Aufmerksam belauschte Clandestin von seinem Versteck aus das Telefongespräch des deutschen Geheimdienstmannes. Zum Glück beherrschte er Deutsch und konnte den Kerl gut verstehen. Er sah, wie der Agent das Gespräch beendete und erneut wählte.

„Ich denke, er hat angebissen!“, sagte er leise und nickte. „Ja. Warten wir es ab. Servus.“ Der Agent legte auf, steckte das Handy weg und ließ seinen Blick durch die Halle schweifen.

Schnell schob sich Clandestin tiefer in den Schutz der Wrackteile, die hier im bewachten Teil des Hafengeländes lagerten.

Der Agent stand eine Weile mit den Händen in den Hosentaschen da. Dann hörte Clandestin, wie er ein zufriedenes Grunzen von sich gab und in Richtung Ausgang ging. Wenig später fiel die schwere Metalltür ins Schloss. Erleichtert stieß Clandestin Luft aus. Er war allein und hatte die Information, die er brauchte. Der deutsche Geheimdienst jagte demselben Schatz hinterher wie er. Und wenn dieser Mr. O der war, für den Clandestin ihn hielt, dann konnte er sich von jetzt an bequem zurücklehnen und ihn die Drecksarbeit für sich erledigen lassen. Mr. O würde den Schatz besorgen und ihm direkt vor die Nase stellen. Und dann würde er zugreifen!

Mit diebischer Vorfreude rieb Clandestin sich die Hände. Dank dieser neuen Figur auf dem Schachbrett würde es ihm gelingen, seinen Auftrag sauber und vermutlich mit viel weniger Aufwand auszuführen als gedacht. Er sah sich noch einmal prüfend um und lief dann geduckt von einem Wrackteil zum nächsten. Die Flugzeugtrümmer waren fein säuberlich sortiert worden. Links lagen die verbogenen Überreste der Air-France-Maschine und rechts die olivfarbenen Teile des anderen Flugzeuges, die das Bergungsteam an derselben Absturzstelle aus dem Meer gefischt hatten. Es war ebenso sehr ein Zufall, dass dieses Flugzeug wieder aufgetaucht war, wie es kein Zufall war, dass es den größten Schatz an Bord gehabt hatte, dessen die Menschheit je habhaft gewesen war.

Clandestin hockte sich hinter ein geborstenes Kabinenteil der Air France und schaute hinüber zu dem mehrere Meter hohen, olivfarbenen Heck. Es schien noch intakt zu sein, abgesehen davon, dass es durch den Aufprall auf das Wasser komplett vom Rumpf der Maschine abgetrennt worden war. Die Kräfte mussten gewaltig gewesen sein, denn das Leichtmetall an der Bruchkante war aufgerissen wie Papier. Clandestins Blick glitt über das zerschrammte Symbol auf der Außenhaut, und ein Schauer bemächtigte sich seines halbnackten Körpers, denn er trug lediglich Badeshorts. Dort auf dem Leitwerk prangte ein verwittertes deutsches Balkenkreuz und gleich dahinter noch ein weiteres, ihm wohlbekanntes Abzeichen. Ein schwarzes Hakenkreuz. Clandestin fühlte Bedauern für einen der Männer, die damals mit an Bord der Maschine gewesen waren. Er war mit den anderen in den Tod gestürzt. Ein schreckliches Schicksal, das er nicht verdient hatte.

Clandestin riss sich von dem Anblick los und kroch bäuchlings unter das Kabinenteil der Air France. Hier war eine unauffällige Luke im rauen Betonboden eingelassen – sein geheimer Ein- und Ausgang zu dieser Halle. Er öffnete die Luke, deren Scharniere er zuvor geölt hatte, schlüpfte durch den schmalen Spalt, durch den nur Kinder und sehr dünne Menschen passten, und ließ sich in den Schacht hinab. Danach schloss er die Luke, schaltete seine kleine wasserdichte Taschenlampe ein und tappte durch den niedrigen Kanal, in dem es nach Fisch und Seetang stank. Doch das störte Clandestin wenig, für ihn war das der Geruch der großen weiten Welt. Dort, wo er herkam, gab es nämlich kaum Gerüche.

Nach einigen hundert Metern erreichte er das kreisrunde, hell erleuchtete Ende der Röhre. Vorsichtig steckte er seinen Kopf ins Freie und blinzelte ins Sonnenlicht. Der Kanal endete außerhalb des großen Hafenbeckens, über dem kreischend die Möwen kreisten. Man musste nur in das ölige Wasser steigen und konnte wenige Meter weiter an einer rostigen Sprossenleiter hinauf auf die Mole klettern.

Kurz darauf suchte Clandestin zwischen alten Netzen und Ölfässern nach seiner Kleidung, die er vorher dort abgelegt hatte, und zog sie an. Im Geiste machte er sich schon Notizen für sein weiteres Vorgehen. Doch bevor das Spektakel stattfinden würde, wollte er sich erst einmal einen erfrischenden Caipirinha in einer Boteco an der Strandpromenade gönnen. Anschließend würde er Nachforschungen über diesen Mr. O anstellen. Wäre doch gelacht, wenn er nichts über ihn in Erfahrung bringen könnte.

Im Schutze der windschiefen Wellblechhütten verließ Clandestin das Hafengelände, auf dem sich die Halle mit den Trümmerteilen der Air-France-Maschine befand, und tauchte wenig später ganz entspannt in den belebten Straßen der brasilianischen Touristenmetropole unter.