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  Damaris Kofmehl– Die Mörderin | Die Geschichte der Naomi Harvey– SCM Hänssler

Dieses Buch basiert auf einer wahren Geschichte. Sie wird aus Naomis Perspektive weitergegeben und muss nicht unbedingt die Ansichten der Autorin oder die Empfindungen von Dritten widerspiegeln. Einige Namen und Details wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und anderen Gründen geändert.

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ISBN 978-3-7751-7193-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5533-5 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© der deutschen Ausgabe 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG • 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: gestalterstube, Arne Claußen

Ich widme dieses Buch all denjenigen,

die sich von Gott und Menschen verlassen fühlen,

und hoffe, dass Naomis Geschichte

ihnen neuen Mut geben wird.

Inhalt

Prolog

1  Ein ungewöhnliches Mädchen

2  Als Wanderpredigerin unterwegs

3  Familienzuwachs

4  Drogenprobleme in Grays Harbor

5  Stich ins Wespennest

6  Zufälle, Überraschungen und neue Kinder

7  Eine Familie in Not

8  Der Unfall

9  Das Wolfskind

10  Das Feuer

11  Beängstigende Vorfälle

12  Mexikanische Gefängnisse

13  Wann ist es endlich vorbei?

14  Es reicht!

15  Überraschende Neuigkeiten

16  Zum Schweigen gebracht

17  Auszeit

18  Der verhängnisvolle Tag

19  Verurteilt

20  Gefangene W 15060 (A-187)

21  Neue Hoffnung

22  Die Geächtete

23  Wer bin ich?

24  Verlegung nach Salem

25  Endlich frei?

26  Ein ungewöhnlicher Pflichtverteidiger

27  Vor Gericht

28  Im Zeugenstand

29  Das Urteil

Nachwort der Autorin

Personen- und Ortsregister

Übersichtskarte

Prolog

9. Januar 1980

Naomi wirbelte herum und zog die 5,5-Millimeter-Pistole aus ihrem Schulterhalfter. Ohne lange nachzudenken, zielte sie auf die Pastorin, die keine zwei Meter von ihr entfernt am Steuer ihres Wagens saß. Dann drückte sie ab.

Der erste Schuss riss ein zehn Zentimeter großes Loch in die seitliche Fensterscheibe und zersplitterte die Halskette der Pastorin, bevor die Kugel in ihre Brust eindrang. Die Frau sackte auf dem Fahrersitz zusammen, während Naomi nochmals zwei Kugeln auf ihre Brust abfeuerte. Dann senkte sie die Waffe und schoss ihr dreimal in den Bauch. Schließlich ließ sie die Waffe sinken und ging einfach weg, als wäre nichts geschehen.

Einige Tage später

Ich schlug die Augen auf. Alles um mich herum war pechschwarz. Ich fühlte den Boden unter meinem nackten Körper. Es war totenstill.

Wo bin ich?, dachte ich verwirrt. Warum trage ich keine Kleider? Bin ich tot?

Ich setzte mich auf und spürte einen merkwürdigen Untergrund unter meinen Händen. Es war kein Teppich, kein Holz und auch kein Steinboden, er schien eher aus Leder oder Kunststoff zu sein. Ich hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Wie lange war ich schon hier? Einen Tag? Eine Woche? Und weswegen? Ich versuchte, mich an irgendetwas zu erinnern. Doch in meinem Kopf war alles leer, nur ein paar verschwommene, zusammenhangslose Gedankenfetzen sausten darin herum: heulende Sirenen, Feuer, Schreie, ein metallenes Klirren und das beklemmende Gefühl, dass etwas mächtig schiefgelaufen war.

Ich tastete mich vorsichtig auf dem Boden entlang, bis ich auf ein senkrechtes Hindernis stieß. Eine Wand? Ich erkundete die Fläche mit den Fingern. Sie fühlte sich genauso an wie der Boden, hart und gleichzeitig gepolstert.

Eine Gummizelle?, überlegte ich. Bin ich etwa im Irrenhaus gelandet?

»Du bist besessen!«, kreischte eine weibliche Stimme in meinem Kopf und ein Gesicht blitzte in der Dunkelheit vor mir auf, das Gesicht einer Frau, an die ich mich nicht erinnern konnte.

»Geh weg! Hinweg mit dir, du Dämon!« Die Stimme war unerträglich laut. Ich hielt mir die Ohren zu und schloss die Augen, obwohl es mit geschlossenen Augen genauso dunkel war wie mit offenen. Ich hoffte, dadurch das fremde Gesicht loszuwerden. Doch es ließ sich ebenso wenig abschütteln wie die Stimme und die Gedanken, die chaotisch in mir durcheinanderwirbelten und meine Schläfen zum Pochen brachten.

Ich verliere den Verstand!, durchfuhr es mich. O Gott, hilf mir! Tanja, ich versteh das nicht! Du wolltest doch mit uns kommen. Wieso auf einmal nicht mehr? Wir brauchen dich! Dad! Bist du das? Kannst du mich hören, Tom? Was ist passiert, Eveline? David! Roberto! Das Feuer!

»Neeeeiiin!«, schrie ich. »Neeeein! Kommt zurück!«

Ich ballte meine Fäuste und schlug sie gegen die Kunststoffwand. Tränen rollten mir über die Wangen. Ich hatte meine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle. Ohne zu verstehen, weshalb, weinte und schrie ich. Namen, Gesichter und Orte tauchten in wilder Reihenfolge vor mir auf. Ich sah unsere Kirche in dem verschlafenen Küstenstädtchen Montesano vor mir. Die Gemeinde hatte ich zusammen mit Eveline gegründet und war dort nunmehr seit 18 Jahren Pastorin. Ich erinnerte mich an unser Wohnmobil mit Tom am Steuer, während meine Kinder, Eveline und ich mit der Gitarre im hinteren Teil des Busses saßen und wir fröhlich singend quer durch Kalifornien fuhren, um in irgendeiner Kirche zu predigen. Das Bild meines Vaters tauchte auf, wie er mich in einem Rollstuhl aus dem Krankenhaus brachte, um mein Leben zu retten. Ich hörte Stimmen, die mir zuflüsterten, es sei noch nicht vorbei, bedrohliche Stimmen, die ich nicht kannte und die mir Angst machten. Ich sah hohe Flammen und Fratzen, die höhnisch auf mich herabgrinsten. Dann Blut, jede Menge Blut. Es war überall, es klebte an meinem Körper, an meinen Händen, es tropfte von meinem Gesicht.

»Hilfe!«, raunte ich. »Bitte hilf mir, Jesus!«

Ich konnte nicht mehr zwischen Einbildung und Realität unterscheiden. Schließlich drängte ich mich an die Wand, nackt und hilflos, und schabte so lange mit den Fingernägeln an der Verkleidung, bis sie sich von der Wand löste. Ich kratzte und scharrte wie ein wildes Tier, völlig orientierungslos und verzweifelt. Kleine Stücke aus der Wand riss ich heraus und türmte sie auf dem Boden zu einem Berg auf. Ich wollte wieder Ordnung in das Chaos bringen. Ich musste irgendwie meine Welt wieder ins Gleichgewicht bringen.

Was ist nur geschehen? Ist mir alles über den Kopf gewachsen? Hatte ich einen Nervenzusammenbruch? Bin ich deswegen hier? Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie ich überhaupt hierhergekommen war oder wann. Der letzte Ort in meinem Gedächtnis war der Rastplatz in Oakdale, Kalifornien. Wir hatten dort mit dem Wohnmobil einen Zwischenstopp eingelegt, bevor wir nach Montesano in Washington zurückfahren wollten. Waren wir überhaupt losgefahren? Tanja hatte sich mit mir gestritten. Daran erinnerte ich mich vage. Es ging darum, dass sie bei einer Pastorin in Kalifornien bleiben wollte, obwohl sie zu unserer Gesangsgruppe gehörte und bereits Auftritte geplant waren. Und danach? Nichts als verzerrte Bilder. Ein Auto … ein metallisches Klacken … und dann … Filmriss. Da war einfach nichts mehr, als hätte jemand den Stecker aus meinem Gedächtnis rausgezogen. Irgendetwas musste passiert sein.

Ich hörte Schritte und gedämpfte Stimmen. »Hallo?!«, rief ich. Meine Stimme klang seltsam hohl. »Hallo?!«, rief ich erneut, diesmal lauter. »Wo bin ich?!«

»Im Bezirksgefängnis von Modesto!«, kam die Antwort aus der Dunkelheit.

»Im Gefängnis?!« Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. »Weswegen?!«

»Wegen Mordes!«

1  Ein ungewöhnliches Mädchen

Kein Mensch plant, eines Tages einen Mord zu begehen, um dann den Rest seines Lebens hinter Gittern zu verbringen. Nie im Leben hätte ich mir so etwas zugetraut. Ich war eine Frau Gottes und seit 18 Jahren Pastorin. Ich predigte, betete, lebte in Ehrfurcht vor Gott und vermittelte den Menschen seine unendliche Liebe. Seit ich denken kann, glaubte ich an Gott. Meine Eltern waren tiefgläubig. Mein Vater arbeitete als Holzfäller und transportierte mit einem Traktor gigantische, zwei bis vier Meter dicke Baumstämme aus dem Wald heraus. Nachdem er verschwitzt und müde von der Arbeit nach Hause gekommen war, las er uns jeden Abend aus der Bibel vor. Es war keine steife Religion, die er mich und meine Geschwister lehrte, es war etwas ganz Natürliches, eine persönliche Beziehung zu Gott, die er und auch meine Mutter uns vorlebten.

Wir wohnten in Montesano, einem verschlafenen, von Wäldern und Seen umgebenen Nest, 250 Kilometer südlich der kanadischen Grenze und nur ein paar Kilometer vom Pazifischen Ozean entfernt. Die nächste größere Stadt in der Umgebung war Olympia, Hauptstadt des Bundesstaates Washington und 60 Kilometer östlich von Montesano gelegen. Dann gab es noch Aberdeen, ein kleines Küstenstädtchen 17 Kilometer westlich von uns (bekannt geworden durch den Musiker Kurt Cobain, der hier aufwuchs). Ansonsten waren wir ziemlich abgeschieden von der übrigen Welt. Montesano war einer jener Orte, wo die Leute sich auf der Straße grüßten und praktisch jeder jeden kannte, vom Bäcker an der Straßenecke über den Sheriff bis hin zum Bürgermeister. Es war der perfekte Ort, um als Kind aufzuwachsen. Im Wald konnten wir schwimmen gehen, fischen oder campen. Und am Seeufer gab es Biber und den berühmten Weißkopfseeadler, der auch auf dem Siegel der USA abgebildet ist. Natürlich war nicht alles in Montesano so friedlich und nett, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte, doch damit wurde ich erst später konfrontiert.

Ich hatte nie Zweifel, dass es Gott gibt. Schon als kleines Mädchen hörte ich seine Stimme, zwar nicht akustisch, aber dennoch so klar und deutlich in meinem Herzen, dass ich ganz genau wusste, wenn es Gott war, der mit mir redete. Im Jahr 1948 war ich mit neun Jahren in einem Feriencamp und Gott sagte mir, dass er mich dazu berufen habe, ihm vollzeitlich als Predigerin zu dienen. Ich erzählte niemandem etwas davon.

Erst drei Jahre später vertraute ich es meiner Mutter an, und sie meinte: »Wenn das so ist, Naomi, dann rede mit unserem Pastor. Er wird wissen, was zu tun ist.«

Also ging ich zu unserem Pastor und sagte ihm, dass ich mich Gott ganz zur Verfügung stellen wolle.

Seine Antwort gefiel mir überhaupt nicht. »Wenn du Vollzeitpredigerin werden willst, dann musst du als Erstes die Highschool abschließen und danach vier Jahre eine Bibelschule besuchen.«

Schule? Bibelschule? Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen. Ich hasste die Schule und jeden einzelnen Schultag. Viel lieber war ich mit meinem Vater zusammen im Wald und half ihm beim Bäumefällen und Stämmeverladen. Später eröffnete mein Vater eine Autowerkstatt, und ich verbrachte jede freie Minute dort. Meine Mutter wollte zwar, dass ich ihr in der Küche zur Hand ging. Aber ich schlich mich immer wieder heimlich davon, um meinem Vater in der Werkstatt zu helfen. Ich war zwar erst zwölf, aber für mein Alter sehr groß und kräftig gebaut, sodass einige sogar meinten, ich sei bereits achtzehn. Ich schraubte an allem herum, was zwei oder mehr Räder hatte, reparierte sämtliche Fahrräder in der Nachbarschaft und baute jedes Autoteil auseinander, das mir in die Finger kam.

Mein Vater wusste anfänglich nicht so recht, wie er mit meiner Leidenschaft umgehen sollte. Er war der Ansicht, ich sollte kochen lernen, wie es sich für ein Mädchen gehört, und nicht mit Schraubenschlüsseln und Bohrmaschinen herumhantieren. Ich war fest entschlossen, mich ihm gegenüber zu beweisen.

Eines Tages brachte er ein Unfallauto in die Werkstatt, dessen Motor und Getriebe beschädigt waren. Ich sah meine Chance gekommen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion baute ich aus einem alten Auto den Motor und das Getriebe aus, setzte die Teile in das kaputte Auto ein und überreichte meinem Vater am nächsten Tag feierlich die Autoschlüssel.

»Hier«, sagte ich. »Der Wagen ist repariert. Ich hab den Motor und das Getriebe ausgewechselt.«

»Du hast was?!«, rief mein Vater entsetzt.

»Der Wagen läuft wieder wie geschmiert«, antwortete ich ihm mit einem breiten Grinsen. »Willst du eine Testfahrt machen?«

Mein Vater glaubte mir kein Wort. Skeptisch öffnete er die Motorhaube und nahm meine Arbeit unter die Lupe. »Hm«, meinte er und kratzte sich am Kinn. »Scheint so weit alles richtig zu sein.«

»Sag ich doch!«

Mein Vater setzte sich ans Steuer, und mit einer Miene, als fürchtete er, das Auto flöge gleich in die Luft, drehte er den Zündschlüssel um. Der Motor startete völlig problemlos. Mein Vater war sprachlos. »Donnerwetter! Naomi, du hast ja tatsächlich was im Kopf. Hut ab, junges Fräulein!«

Die Verblüffung und Anerkennung in seiner Stimme ließen mich noch größer werden. Ich stand da, die Hände in den blauen Overallhosentaschen vergraben, und strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Von da an sah mich mein Vater mit anderen Augen. Nicht, dass er mich vorher nicht geliebt hätte, aber von diesem Tag an war unsere Beziehung etwas ganz Besonderes. Er schickte mich nicht mehr in die Küche zu Mom und brachte mir stattdessen alles bei, was er wusste. Bald konnte ich Autos fast genauso schnell auseinanderbauen und wieder zusammensetzen wie er. Er war furchtbar stolz auf mich, und ich fand, dass ich den besten Vater auf der ganzen Welt hatte.

Aber noch im selben Jahr nahm meine bis dahin sorgenfreie Kindheit eine dramatische Wende. Wir waren vier Geschwister. Melba und Nina waren bereits verheiratet und lebten nicht mehr zu Hause. Mein Bruder Phil war neunzehn, sieben Jahre älter als ich, und ich vergötterte ihn. Er boxte in seiner Freizeit und ich bat ihn, es mir ebenfalls beizubringen. Stundenlang übte er mit mir die neusten Techniken ein. Manchmal traf er mich so hart, dass ich hinfiel und weinte.

Doch das beeindruckte ihn herzlich wenig. »Sei nicht so zimperlich, Schwesterchen!«, pflegte er zu sagen, wenn ich zusammengekrümmt vor ihm lag. »Du musst lernen, wieder aufzustehen, wenn dein Gegner dich in die Knie zwingt. Also hör auf zu flennen wie ein Baby und kämpfe! Komm schon, Naomi! Na los, Schwesterchen! Steh auf und schlag zu!«

Ich schluckte die Tränen und den Schmerz hinunter, raffte mich auf und hob die Fäuste vors Gesicht. Ich tänzelte, wich einem seitlichen Hieb aus und schlug mit aller Kraft zu.

Phil verlor das Gleichgewicht und schmunzelte zufrieden. »Gutes Mädchen!«, sagte er. »Genau so, Naomi! Weiter!«

Mit der Zeit wurde ich richtig abgehärtet. Ich landete ein paar wirklich gute Treffer, und mein Bruder scherzte, wenn ich so weitertrainierte, würde ich noch Karriere als Boxerin machen. Ich hatte allerdings nicht die Absicht, im Ring zu kämpfen. Ich boxte aus purem Vergnügen. Mein Bruder hingegen war echt gut und gewann sogar die Amateur-Boxmeisterschaften von Oregon.

Doch dann geschah das Unglaubliche: Phil wurde ermordet. Nur weil er beim Billardspielen gegen den Besitzer einer Bar gewonnen hatte, zückte dieser seinen Revolver und streckte Phil mit drei Schüssen nieder. Er war sofort tot.

Unsere Familie war am Boden zerstört. Eine Welt brach für mich zusammen. Phil war mein Held gewesen. Ich hatte ihn so sehr geliebt, und jetzt war er tot, nur weil dieser Typ gegen ihn beim Billardspielen verloren hatte. Es war unfassbar. Die Wut auf den Mörder meines Bruders war unbeschreiblich groß.

Am Tag des Prozessbeginns stand ich vor dem Gerichtssaal im ersten Stock und wartete, bis der Angeklagte in Handschellen von zwei Beamten die Treppe hinaufgeführt wurde. Als er nahe genug war, stürzte ich mich auf ihn und rollte mit ihm die Treppe hinunter.

»Du hast meinen Bruder getötet!«, schrie ich. »Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!« Ich schlug ihm die geballten Fäuste in den Magen und ins Gesicht. Mein Bruder hatte mich gelehrt zu kämpfen, und auch wenn ich erst zwölf war, konnte ich härter zuschlagen als mancher Erwachsene.

Mit vereinten Kräften gelang es den Polizisten, mich von dem Mann wegzuzerren. Blut lief ihm aus der Nase und seine Lippe war aufgeplatzt.

»Das ist für meinen Bruder!«, rief ich zornig, während die Polizisten mich nur mit Mühe daran hindern konnten, mich erneut auf den Barbesitzer zu werfen. Ich hoffte, dass ich ihm wenigstens die Nase gebrochen hatte. »Du Schuft!«, rief ich außer mir vor Wut. »Mörder! Elender Kerl!«

Ich beschimpfte ihn, bis er, eskortiert von zwei anderen Beamten, im Gerichtssaal verschwand. Erst dann ließen mich die Polizisten wieder los und wiesen mich an, mich zu beruhigen und nach Hause zu gehen. Das tat ich auch. Aber der Sturm in mir tobte weiter. Phils Tod hatte eine Lücke in meinem Leben hinterlassen, die mit nichts wieder aufzufüllen war. Ich dachte ernsthaft über Selbstmord nach. Nichts ergab mehr einen Sinn. Wenn Phil tot war, wollte ich auch nicht mehr leben.

Meinen Eltern machte sein Tod ebenfalls schwer zu schaffen. Meine Mutter fiel in tiefe Depressionen. Sie schottete sich ab, redete kaum noch mit mir und versank in einer Welt voller Kummer und Einsamkeit. Mein Vater wurde auch sehr schweigsam und starrte stundenlang Löcher in die Luft. Keiner sprach über das, was passiert war. Keiner wusste, wie er mit der Trauer umgehen sollte. Ich hätte mir gewünscht, meine Eltern würden mich in den Arm nehmen und trösten. Aber dazu waren sie nicht in der Lage. Unsere Familie fiel langsam auseinander. Nicht mal Weihnachten fühlte sich mehr wie Weihnachten an. Meine Mutter wollte keine Familienfeste mehr feiern, mein Vater war abwesend, selbst wenn er anwesend war. Ich war nicht mehr Naomi, sondern nur das Kind, das noch zu Hause wohnte. Ich fühlte mich komplett alleingelassen und musste irgendwie selbst sehen, wie ich mit der Situation klarkam.

Phil hatte mich gelehrt zu kämpfen, und ich verlieh meiner Wut und der Leere in mir Ausdruck, indem ich mich an der Schule mit Mädchen und Jungs prügelte. Ich schloss mich einer Clique mit älteren Jugendlichen aus der benachbarten Küstenstadt Aberdeen an. Meine neuen Freunde spielten zusammen Countrymusik, hingen in Bars und auf der Straße ab, musizierten bis tief in die Nacht hinein und tranken Alkohol. Ich selbst spielte Gitarre und verbrachte von nun an jede freie Minute mit ihnen. Sie konnten Phil nicht ersetzen, aber immerhin halfen sie mir, wieder auf die Füße zu kommen. Und wenn der Schmerz über den Verlust meines Bruders zu groß wurde, ertränkte ich ihn einfach im Alkohol. Es fragte sowieso keiner nach meinem Alter, und so schüttete ich Bier, Wodka und Cocktails in mich hinein bis zum Umkippen.

Oft war ich so betrunken, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Meine Schwester Nina wohnte nicht weit von uns weg, und deshalb schleppte ich mich frühmorgens lieber zu ihr, um meinen Rausch nicht zu Hause ausschlafen zu müssen. Meine Eltern hatten keine Ahnung von meinem übermäßigen Alkoholkonsum, und Nina sagte ihnen nichts davon.

Nur einmal ging der Schuss nach hinten los. Ich hatte wieder getrunken, und ein Mädchen fragte mich, ob ich sie nach Hause fahren könne, da sie sich nicht wohlfühle. Ich war zwar erst zwölf, aber von meinem Bruder hatte ich gelernt, wie man einen Wagen mit Automatik fährt, und so willigte ich ein. Dummerweise war das Auto des Mädchens eins mit Schaltgetriebe, und an der ersten Kreuzung konnte ich nicht in den ersten Gang schalten und blockierte minutenlang die Straße. Es endete damit, dass die Polizei auf mich aufmerksam wurde, mich mit aufs Revier nahm und meine Eltern verständigte. Es war ziemlich offensichtlich, dass ich betrunken war, aber meine Eltern dachten, es sei ein einmaliger Ausrutscher gewesen, und ließen es gut sein.

Interessanterweise schien der Vorfall etwas in meiner Mutter auszulösen. Als sie eines Abends das Abendessen kochte, hörte sie plötzlich auf, in dem Eintopf herumzurühren, und sprach mehr zu sich selbst als zu mir: »So viele Mütter haben ihre Söhne im Krieg verloren. Meiner ist mir auch genommen worden, aber ich weiß, dass ich ihn im Himmel wiedersehen werde.« Sie wandte sich mir zu und sah mich entschlossen an. »Wir hätten nach Phils Tod als Familie zusammenhalten müssen. Stattdessen habe ich mich von allen zurückgezogen, auch von dir, Naomi. Ich werde Gottes Hilfe brauchen, um mich in Zukunft so um dich zu kümmern, wie du es verdient hast.«

Von diesem Tag an wurde meine Mutter tatsächlich wieder zugänglicher, und auch mein Vater wachte allmählich aus dem psychischen Tiefschlaf auf, in den er durch den tragischen Tod meines Bruders hineingefallen war. Ich war froh, meine Eltern zurückzuhaben. Doch ich selbst war nicht mehr dieselbe. Ich hatte mich verändert, war hart geworden, auch Gott gegenüber. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Warum sollte ich einem Gott folgen, der zugelassen hatte, dass mein Bruder ermordet wurde? Sollte er sich doch jemand anders für seinen Dienst aussuchen. Mit mir konnte er jedenfalls nicht mehr rechnen, und das hatte er sich ganz allein eingebrockt.

Vier Jahre vergingen. Ich boxte mich – im wahrsten Sinne des Wortes – durch die Schule, bis es mir nach acht qualvollen Schuljahren endlich erlaubt war, dieses lästige Kapitel abzuhaken.1 Nun konzentrierte ich mich voll und ganz auf das, was mir wirklich Spaß machte: Countrymusik und Autos reparieren. Außerdem arbeitete ich in einer Zimmerei, sodass ich auf Dächern herumklettern und Dachbalken fräsen musste, was mir tausendmal besser gefiel, als die Schulbank zu drücken.

Ich war jetzt sechzehn, und es gab immer mal wieder Jungs, die ein Auge auf mich warfen. Aber ich war nicht interessiert an einer Beziehung. Ich beobachtete bei den anderen Mädchen, wie verflixt kompliziert es wurde, sobald ein Junge in ihrem Leben auftauchte. Es gab nichts als Ärger, Spannungen, Eifersuchtsdramen und viele Tränen, wenn die Beziehung nach wenigen Wochen wieder auseinanderging. Nein, darauf konnte ich gut und gerne verzichten. Die Jungs, mit denen ich Musik machte, waren cool. Doch sobald einer versuchte, mit mir zu flirten, sagte ich, meine Eltern würden mir erst erlauben, einen Freund zu haben, wenn ich achtzehn sei. Das war natürlich gelogen, aber es funktionierte.

Einem Typen namens Charlie, der ganz scharf darauf war, mit mir auszugehen, sagte ich: »Okay, wir können uns morgen Nachmittag in der Werkstatt treffen. Du kannst mir helfen, ein paar Reifen zu wechseln.«

Charlie guckte ziemlich dumm aus der Wäsche. »Okay«, sagte er etwas irritiert, auch wenn er sich unter einem Date wohl eher ein romantisches Abendessen bei Kerzenlicht vorgestellt hatte und nicht einen gemeinsamen Autoreifenwechsel.

Nichtsdestotrotz nahm er die Herausforderung an. Es wurde ein Desaster. Er war total ungeschickt und faul. Von Reifenwechseln hatte er keine Ahnung. Hilflos stand er mit dem Schraubenschlüssel da, während ich die ganze Arbeit alleine machen musste. Danach fragte er mich nie mehr, ob ich mit ihm ausgehen wolle. Und das war mir nur allzu recht.

Mein Vater investierte viel Zeit in mich. Handwerklich gab es fast nichts, wovon er keine Ahnung hatte, und so lernte ich nicht nur Autos reparieren, sondern auch, wie man Häuser renoviert, elektrische Kabel verlegt und vieles mehr. Sein größtes Anliegen war es jedoch, dass ich Jesus wieder in mein Leben einbezog.

»Ich kann verstehen, dass du wütend auf ihn bist«, sagte er eines Tages, während wir zusammen das Garagendach reparierten. »Aber Gott vermisst dich, Naomi. Er liebt dich, und er möchte, dass du ihm ganz gehörst.« Er machte mir Mut, meinen Groll Gott abzugeben und ihm mein Herz zu öffnen. Doch ich wollte nicht.

»Er hat seine Chance gehabt. Es ist zu spät, Dad«, antwortete ich zerknirscht. »Ich geh meinen eigenen Weg.«

In der Kirche, die meine Familie jeden Sonntag besuchte, war eine junge Frau namens Carol. Ich mochte sie, weil sie genauso leidenschaftlich gerne sang wie ich. Sie lud mich zu sich nach Hause ein, und zum ersten Mal seit dem Tod meines Bruders fand ich jemanden, dem ich mein Herz ausschütten konnte. Es tat so gut, mir endlich einmal alles von der Seele reden zu können, auch meine Zweifel an Gott und meine Wut auf ihn, weil er mir Phil genommen hatte. Ich besuchte Carol immer öfter, und eines Abends, als wir wieder bis spät in die Nacht hinein über Gott und die Welt diskutierten, spürte ich etwas in mir, das ich seit Jahren nicht mehr gefühlt hatte. Es war, als würde Gott mich anstupsen und mich daran erinnern, was er mir vor sieben Jahren im Feriencamp gesagt hatte.

Es ist Zeit, Frieden zu finden, Naomi, hörte ich seine unverwechselbare Stimme in mir. Hör auf, gegen mich zu kämpfen, und komm zu mir zurück. Ich habe einen Auftrag für dich.

Mit einem Mal stürzte die Mauer, die ich um mein Herz aufgebaut hatte, in sich zusammen. Ich fiel mitten in Carols Wohnzimmer auf meine Knie und musste bitterlich weinen.

»Es tut mir so leid, Jesus!«, sagte ich, während mir die Tränen über die Wangen liefen. »Ich hab’s kapiert. Ich will nicht länger gegen dich rebellieren. Nimm mein Leben, Herr. Nimm es und mach damit, was du willst. Ich werde dir mein Leben lang dienen. Das verspreche ich!«

Carol kniete sich neben mich auf den Boden und legte ihre Arme um mich. Ich schluchzte und betete laut an ihrer Schulter. Und mit jeder Träne und jedem Wort, das über meine Lippen kam, fühlte ich mich leichter. Der ganze Hass, die ganze Bitterkeit, die sich tief in mein Herz hineingefressen hatten, fielen von mir ab wie zentnerschwere Steine. Und die Leere in meinem Innern wurde durchströmt von einer Liebe und einer Wärme, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte. Ich war ein neuer Mensch geworden. Und ich war entschlossen, alles zu tun, was Gott von mir verlangte. Egal was.

Als ich mich wieder vom Boden erhob, war es mir, als würde ich schweben. Ein Feuer brannte plötzlich in mir, und ich hatte das Gefühl, die ganze Welt umarmen zu müssen.

»Ich muss zu meiner Schwester!«, sagte ich völlig aus dem Häuschen. »Ich muss ihr erzählen, was passiert ist!«

»Aber es ist schon ein Uhr nachts!« Carol sah mich erstaunt an.

»Dann hol ich sie eben aus dem Bett. Ich kann nicht bis morgen warten, sonst zerplatze ich!«

Gesagt, getan. Ich verabschiedete mich von Carol und fuhr die paar Kilometer zum Haus meiner Schwester. Ganz aufgeregt holte ich den Schlüssel unter dem Blumentopf hervor, öffnete die Tür, stürmte die Treppe hoch und klopfte an die Schlafzimmertür. »Nina?! Nina, ich bin’s, Naomi! Ich muss ganz dringend mit dir reden! Bist du wach?«

»Jetzt schon«, kam es schlaftrunken aus dem Zimmer.

»Was ist denn los?«, hörte ich nun die Stimme von Ninas Mann Ray.

»Es ist meine Schwester«, murmelte Nina und knipste das Licht an. »Komm rein, Naomi!«

Ich trat ein und verkündete gleich freudestrahlend: »Ich hab mein Leben Gott geweiht!«

»Hätte das nicht bis morgen warten können?«, sagte Ray und rieb sich die Augen.

»Ich weiß, tut mir leid, aber ich bin so aufgeregt! Es ist einfach fantastisch! Ich kann gar nicht beschreiben, wie glücklich ich bin!« Ich blinzelte eine Träne weg und lachte. »Nina, Ray, ihr solltet das auch tun!«

»Was tun?«, fragte Nina und setzte sich im Bett auf.

»Na, Gott einladen, in euer Leben zu kommen!«

»Wieso? Wir gehen doch jeden Sonntag in die Kirche«, antwortete Ray.

»Darum geht’s doch überhaupt nicht!«, rief ich übersprudelnd vor Begeisterung. »Es geht darum, ganz bewusst eine Entscheidung für Jesus zu treffen, in eurem Herzen! Veränderung findet nicht in einem Gebäude statt, sondern hier drin!« Ich legte die Hand auf mein Herz. Meine Euphorie schien sie ein wenig zu überfordern, vor allem mitten in der Nacht. Trotzdem konnte ich nicht anders, als sie zu fragen: »Möchtet ihr das nicht auch erleben? Hier und jetzt?«

Nina und Ray sahen mich für einen Moment an, als käme ich vom Mond.

Dann runzelte meine Schwester die Stirn, und auf einmal nickte sie. »Ja«, sagte sie und stupste ihren Mann an. »Wir sollten das tun, Ray.«

»Du meinst jetzt gleich?«

»Ja, jetzt gleich«, antwortete Nina.

Ich explodierte beinahe vor Freude. »Kommt!«, sagte ich. »Kniet mit mir nieder!«

Sie warfen die Bettdecke zurück und knieten sich in ihren Pyjamas mit mir auf den flauschigen Boden. Wir falteten die Hände, schlossen die Augen und ich sprach ein einfaches Gebet. Tränen der Freude rollten mir übers Gesicht. Keine halbe Stunde war es her, seit ich Gott mein Leben gegeben hatte, und jetzt kniete ich mit meiner Schwester und meinem Schwager im Schlafzimmer und sie taten dasselbe. Es war unglaublich. Ich wusste, ich hatte die beste Entscheidung meines Lebens getroffen, und ich konnte es kaum erwarten, mich für Gott zu engagieren.

2  Als Wanderpredigerin unterwegs

1956

Mein Entschluss stand fest: Ich wollte Jesus dienen. Dadurch veränderte sich mein junges Leben so radikal, dass ich Einladungen von Gemeinden aus dem ganzen Land erhielt, um vor Jugendgruppen und auf -konferenzen zu reden und zu singen. Mein Herz brannte für Gott, und meine Seele dürstete nach seinem Wort. Ich hatte schon früher in der Bibel gelesen, aber jetzt las ich sie nicht nur, ich sog jedes Wort in mich hinein. Die Verse waren auf einmal so lebendig und persönlich, dass mir beim Lesen oft die Tränen kamen. Was da geschrieben stand, waren nicht nur auf Papier gedruckte Worte, es war ein Liebesbrief von meinem himmlischen Papa an mich. Wie damals, als ich noch ein kleines Mädchen war, hörte ich wieder seine Stimme in meinem Herzen, ganz tief in mir drin.

Ich liebe dich, Naomi, sagte er mir. Und ich habe einen Plan für dein Leben. Du sollst mir vollzeitlich dienen.

Ich hatte Gottes Ruf nicht vergessen, den ich mit neun Jahren empfangen hatte. Doch nachdem mir der Pastor mit Highschoolabschluss und vierjähriger Bibelschule gekommen war, hatte ich die Berufsoption »Predigerin« erst mal an den Nagel gehängt. Und immer, wenn Gott mich diesbezüglich anstupste, hatte ich tausend Ausreden. Außerdem hatte ich keinen Highschoolabschluss und war mit sechzehn Jahren eh zu jung für so etwas. Also war ein Vollzeitjob für Gott nicht möglich, jedenfalls nicht im Moment. Damit beruhigte ich mein Gewissen und ließ es gut sein.

Bis zu dem Tag, an dem Gott etwas deutlicher wurde. Sehr viel deutlicher.

Ein bekannter Evangelist war in der Stadt und hatte außerhalb von Montesano ein riesiges Zelt aufgestellt, wo er eine Woche lang Gottesdienste abhielt. Ich ging zu einer dieser Veranstaltungen und hatte mir noch nicht mal einen Platz ausgesucht, als ein alter, weißhaariger Mann auf mich zukam, mit dem Finger auf mich zeigte und mit lauter Stimme verkündete: »Gott hat dich in seinen Dienst berufen!«

Mir wurde ganz heiß. Ich hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen. Woher um alles in der Welt konnte er das wissen?

»Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem«, antwortete ich höflich in der Hoffnung, ihn damit abzuwimmeln.

Aber der alte Mann kam nur noch dichter an mich heran, wedelte mit seinem langen Finger vor meiner Nase herum und sagte, als hätte Gott höchstpersönlich ihn dazu beauftragt: »Die Gaben, die Gott gibt, und die Berufung, die er ausspricht, bereut er nicht und sie gelten für immer!«

Die Worte gingen wie ein Blitzschlag durch meinen Körper und brachten mich dazu, auf die Knie zu fallen. Ich wusste, ich konnte Gottes Ruf nicht länger ignorieren. Tränen liefen mir über die Wangen, während ich mitten in dem Zelt am Boden kniete, Jesus laut um Vergebung für meine Dickköpfigkeit bat und mich ihm völlig auslieferte. »Herr, ich gehöre dir von Kopf bis Fuß. Ich gehe, wohin auch immer du mich sendest! Ich bin bereit.« Ich spürte, wie sich jemand neben mich kniete und mir den Arm um die Schulter legte.

Es war eine junge Frau. Sie betete für mich, und als wir uns wieder vom Boden erhoben, lächelte sie mich mit dem gütigsten Lächeln an, das ich je gesehen hatte, und stellte sich mir vor: »Ich bin Eveline.«

»Naomi«, sagte ich und wischte mir über die Augen.

»Du hast den Ruf, Gott vollzeitlich zu dienen. Den hab ich auch«, sagte sie zu meiner Verwunderung. »Zurzeit leite ich eine Jugendgruppe in Aberdeen. Aber ich weiß, dass das nur vorübergehend ist. Ich möchte mehr für Gott tun, genau wie du.«

»Entschuldigt bitte«, hörte ich eine männliche Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Ein großer Mann in Anzug und Krawatte stand vor uns. »Das mag jetzt komisch klingen, aber ich hab den Eindruck, ich sollte euch beide in unsere Kirche einladen. Gleich im Anschluss an diese Versammlung findet dort ein Jugendgottesdienst statt. Hättet ihr vielleicht Interesse, ein paar Worte an unsere Jugendlichen zu richten?«

Eveline und ich sahen den Mann verblüfft an, tauschten einen kurzen Blick und meinten wie aus einem Munde: »Klar!«

Du verschwendest aber auch gar keine Zeit, Herr!, dachte ich amüsiert. Und so kam es, dass ich zwei Stunden später zusammen mit Eveline, von der ich gerade mal den Namen kannte, vor einer Schar Teenager stand und ihnen von Gottes Liebe erzählte. Eveline hatte ihre Gitarre dabei und stimmte spontan ein Lied an, während ich die Jugendlichen einlud, nach vorne zu kommen und eine Beziehung zu Gott zu beginnen. Was dann geschah, war unglaublich: Über die Hälfte der Teenager folgte meiner Einladung und kniete sich vor der Bühne nieder. Es gab kein Auge, das trocken blieb. Das hatte ganz gewiss nichts mit meiner Redekunst zu tun. Etwas anderes passierte hier, etwas, das die Grenzen unseres menschlichen Verstands bei Weitem überstieg. Es war, als würde die Luft in dem Saal von Gottes heiliger Gegenwart triefen. Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt. Es war einfach nur wunderschön, und ich wollte, dass es nie endete. Auch Eveline spürte, was ich empfand, und war genauso überwältigt wie ich. Nach dem Gottesdienst erhielten wir bereits zwei weitere Predigtanfragen, und ohne zu zögern, sagten wir zu.

Wir waren beide total verblüfft darüber, wie Gott uns als Team bestätigte. Als auch bei dem nächsten Predigtdienst mehrere Menschen Gott in ihr Leben einluden, stand für uns außer Frage, dass unsere Begegnung in dem Zelt kein Zufall gewesen war. Gott hatte uns zusammengebracht, weil er etwas mit uns vorhatte. Eveline hatte ihr Leben lang nichts anderes getan, als Menschen von Gott zu erzählen, und genau wie ich spielte sie Gitarre und liebte es zu singen. Wir ergänzten uns perfekt, auch wenn – oder vielleicht gerade weil – wir grundverschieden waren. Sie war der wohl sanftmütigste Mensch, den ich je getroffen hatte. Wenn sie lächelte, nahm sie den ganzen Raum für sich ein, und es war, als würde die Sonne aufgehen. Ich war eher burschikos in meinem Aussehen und Verhalten. Sie war zierlich und schlank, ich groß und kräftig. Ich war eher ein Zugpferd und hatte keine Angst, Wege einzuschlagen, vor denen sich andere scheuten, auch unbequeme, wenn es sein musste. Eveline war sehr harmoniebedürftig und stets darauf bedacht, dass sich alle wohlfühlten und niemand auf der Strecke blieb. Sie konnte aber auch sehr bestimmt auftreten, wenn die Situation es verlangte, und ließ sich nicht so schnell unterkriegen, wie ihre zarte Erscheinung es vermuten ließ.

Eveline war 19 und somit zwei Jahre älter als ich. Sie hatte eine sehr schwierige Kindheit hinter sich. Ihr Stiefvater war Alkoholiker und hatte drei Jungs mit in die Ehe gebracht, die wesentlich jünger als Eveline waren und extrem wild. Mit fünfzehn hatte Eveline einen Mann geheiratet, der sie in ihrer Ehe misshandelte. Gemeinsam hatten sie zwei Kinder: Rocky war zwei Jahre alt und Sarah acht Monate. Vor einem Jahr war Evelines Mann wegen eines bewaffneten Raubüberfalls ins Gefängnis gekommen und hatte nichts mehr von ihr und den Kindern wissen wollen. Daraufhin hatte Eveline sich schließlich von ihm scheiden lassen.

Bei einem gemeinsamen Mittagessen in einem Schnellimbissrestaurant quetschte ich sie ein wenig aus und fragte sie, ob sie sich vorstellen könne, eines Tages wieder zu heiraten, was sie vehement verneinte.

»Aber nicht alle Männer sind so gewalttätig wie dein Ex«, meinte ich. »Es gibt bestimmt auch ganz nette.«

»Das hat damit nichts zu tun«, sagte Eveline. »Ich glaube nicht an eine Wiederheirat.«

Ich schaute sie verdutzt an. »Wieso nicht?«

»Die Bibel ist da meiner Meinung nach sehr klar. Eine geschiedene Frau soll nicht mehr heiraten.«

»Echt? Das steht so in der Bibel?«

»Ja«, sagte Eveline. »Und daran halte ich mich.«

»Hm«, meinte ich. Ich hatte das zwar noch nie so gelesen, aber wenn Eveline das behauptete, dann würde das wohl so sein. »Und was ist, wenn du irgendwann mal einen netten Kerl triffst, der dir den Kopf verdreht? Ich meine, könnte doch sein, oder?«

Eveline schüttelte den Kopf. »Ich lebe nach den Maßstäben der Bibel. Ich werde nicht mehr heiraten. Und was ist mit dir?«

»Ich?« Bei dieser Frage musste ich lachen. »Die Jungs, die ich bisher getroffen habe, waren alle Nieten. Können nicht mal einen Schraubenschlüssel halten. Da bleibe ich lieber allein. Überhaupt finde ich, heiraten wird total überbewertet. Hat nicht Paulus irgendwo gesagt, er wünschte sich, alle würden so sein wie er, nämlich Single? Also wozu brauche ich einen Mann? Was die können, kann ich auch.«

Eveline schmunzelte. »Ich liebe es, wenn Frauen wissen, was sie wollen. Selbst ist die Frau!«

»Meine Worte«, meinte ich und grinste. »Ein Hoch auf die Singlefrauen!«

»Auf uns!«, sagte Eveline. Wir hoben unsere Colabecher und prosteten uns zu. Dies war der Beginn einer wundervollen Freundschaft und der Startschuss zu einem gemeinsamen geistlichen Abenteuer, das uns weit über die Grenzen unseres Bundesstaates Washington hinausbringen sollte.

Nach einigen gemeinsam abgehaltenen Gottesdiensten fühlten wir uns darin bestärkt, einen Schritt weiterzugehen und als Wanderpredigerinnen quer durchs Land zu ziehen. Wir wollten die Botschaft Gottes überall dort predigen, wo sich eine Tür dafür öffnete. Eine Pfingstgemeinde war bereit, uns zu unterstützen. Ein Pfarrer schenkte uns sogar ein Auto. Wir hängten einen fünf Meter langen Wohnwagen dran, den ich günstig erworben und etwas aufgepeppt hatte, und so zogen wir los.

Meine Eltern standen trotz meines jugendlichen Alters voll und ganz hinter meiner Entscheidung, auch wenn meine Mutter beim Abschied doch ein paar Tränen vergoss.

»Pass auf dich auf, Naomi«, sagte sie und drückte mich so fest, dass ich beinahe erstickte. »Und vergiss nicht die warmen Unterhemden zu tragen, wenn es kalt wird.«

»Mach dir keine Sorgen, Mom«, antwortete ich und schmunzelte. »Ich bin ein großes Mädchen. Ich pass schon auf mich auf.«

Mein Vater sah mich mit Stolz in den Augen an. »Naomi, wenn du irgendetwas brauchst, ruf mich an, okay? Ich hol dich auch am Ende der Welt ab, wenn du in der Klemme steckst.«

Ich lächelte. Mir war klar, dass er es ernst meinte. »Danke, Dad.«

Wir umarmten uns, dann stieg ich zu Eveline und ihren beiden Kindern ins Auto, und mit lautem Hupen und Winken fuhren wir davon. Das Abenteuer begann.

Unsere Reise führte uns quer durch Amerika. Wo auch immer wir hinkamen und predigten, entschieden sich Menschen für ein Leben mit Gott oder wurden auf unerklärliche Weise von Krankheiten geheilt, wenn wir für sie beteten. Ich kam mir vor wie zur Zeit der Apostelgeschichte, als Gott durch die Apostel große Wunder vollbrachte und Gelähmte und Blinde heilte. Wir durchquerten Kalifornien, Arizona, New Mexico, Texas, Mississippi, Alabama und landeten schließlich im Staat Georgia. Ein Pastor aus Kalifornien hatte uns nach einem Predigtdienst gesagt, er glaube, auf unserer Reise durch Georgia würde Gott uns ein Zelt für unseren Dienst schenken. Ich konnte mir zwar nicht ganz vorstellen, wie das gehen sollte, aber in den vergangenen Monaten hatte ich genug erlebt, um zu wissen, dass für Gott nichts unmöglich war.

Als wir mit unserem Wohnwagen über Land fuhren, entdeckten wir auf einem offenen Gelände neben einer stillgelegten Bahnlinie ein großes weißes Versammlungszelt. Das Emblem einer Taube und eines Kreuzes an der Seite des Zeltes ließ auf etwas Christliches schließen. Weit über hundert Menschen standen um das Zelt herum, als würden sie auf etwas warten. Aber es gab kein Schild, auf dem eine Veranstaltung oder ein Redner angekündigt war.

»Sehen wir uns das mal aus der Nähe an«, meinte ich.

Wir hatten unser Auto mit dem Wohnwagen noch nicht mal richtig geparkt, als wir von einer Menschentraube umringt wurden.

»Woher kommt ihr?«, riefen die Leute uns zu.

»Aus Washington«, antwortete ich ein wenig erstaunt über ihr großes Interesse an uns.

»Das heißt, ihr kommt aus dem Norden?!« Ihre Begeisterung ergab überhaupt keinen Sinn.

»Ja, aus dem Norden«, sagte Eveline. »Wieso?«

»Gestern Abend beteten wir und Gott sagte uns, es würden Boten aus dem Norden kommen, um die Versammlung zu leiten!«

Eveline und ich sahen uns völlig perplex an. Wir überlegten kurz, wandten uns wieder der erwartungsvollen Menge zu und verkündeten einstimmig: »Das wären dann wohl wir!«

Wir holten unsere Gitarren aus dem Wohnwagen und hielten unseren ersten Gottesdienst in Georgia ab, während die Kinder im hinteren Teil des Wohnwagens schliefen.

Der Hauptverantwortliche, ein älterer, freundlicher Herr mit Brille und Ziegenbärtchen, war sehr angetan von unserem Auftritt und bat uns, auch an den nächsten Abenden zu predigen. Wir nahmen die Einladung voller Freude an.

Während der zweiten Abendveranstaltung fielen mir ein Dutzend Schwarze auf, die hinter der Bahnlinie standen und den Anschein erweckten, als würden sie sehr gerne an unseren Gottesdiensten teilnehmen. Doch wie sehr ich ihnen auch zunickte und zuwinkte, sie setzten keinen Fuß über die verrosteten Schienen, beinahe so, als wäre es eine magische Grenze, die zu überschreiten ein tödliches Verbrechen war.

Nun denn, dachte ich. Wenn sie sich nicht zu uns rüber trauen, dann geh ich eben zu ihnen.

Am nächsten Tag lief ich mehrere Stunden die Bahnlinie rauf und runter und sprach über Gottes Wort mit allen Schwarzen, die gerade in der Nähe waren.

Es dauerte keinen Tag, bis ein Weißer auf mich zukam und mich eindringlich warnte. »Junge Lady. Sie können nicht einfach so diese Linie überqueren und mit denen da reden. Wir sind hier in Georgia.«

Ich verstand nicht, was er meinte.

»Wenn der Ku-Klux-Klan davon Wind bekommt, kriegen Sie mächtige Schwierigkeiten.«

Ich runzelte die Stirn. Vom Ku-Klux-Klan hatte ich gehört, wusste aber nicht viel darüber, außer dass sie Schwarze hassten, was ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte.

»Sie müssen damit aufhören«, sagte der Mann mit dringlicher Stimme. »Weiße gehören auf diese Seite der Bahnlinie, Schwarze auf die andere.«

»Aber wieso?«, fragte ich. »Da, wo ich herkomme, wird zwischen Schwarzen und Weißen kein Unterschied gemacht.«

»Nun, hier in Georgia kann diese Einstellung Sie das Leben kosten«, sagte der Mann mit ernster Miene. »Nehmen Sie sich meinen Rat zu Herzen und predigen Sie nicht mehr auf der anderen Seite der Schienen oder ich kann für nichts garantieren.«

Ich hielt mich an seinen Rat und predigte nur noch auf der »weißen Seite« der Bahnlinie, allerdings mit Mikrofon und Verstärkerbox, damit es auch auf der »schwarzen Seite« gut zu hören war. Ich verteilte sogar Stühle, damit sich die Schwarzen jenseits der Schienen hinsetzen und mir zuhören konnten. Der Ku-Klux-Klan ließ mich Gott sei Dank in Ruhe.

Nach über einem Monat mit Zeltgottesdiensten und Versammlungen unter freiem Himmel fanden Eveline und ich es an der Zeit, weiterzuziehen.

Im Anschluss an die letzte Veranstaltung kam der Organisator auf uns zu, bedankte sich für alles und sagte: »Im Gebet ist mir klar geworden, dass ich euch das Zelt für euren Dienst geben soll.«

Wir waren sprachlos. Mit keiner Silbe hatten wir dem Mann gegenüber oder sonst jemandem erwähnt, was der Pastor aus Kalifornien uns prophezeit hatte. Wieder einmal brachte mich Gott zum Staunen. Wir verluden das Zelt in unseren Wohnwagen, winkten unseren neuen Freunden zum Abschied zu – auch denjenigen auf der anderen Seite der Bahnlinie – und brachen auf.

Seitdem wir Washington verlassen hatten, waren über zwei Jahre vergangen. Und ein Ende unserer Wanderpredigerinnen-Tour war nicht in Sicht. So muss es gewesen sein, als Paulus und Petrus ihre Missionsreisen unternahmen, dachte ich oft. Nur dass wir mit dem Wohnwagen etwas bequemer reisen.

Während dieser Zeit hatten Eveline und ich per Fernkurs eine Bibelschule absolviert und wurden nun von der Pfingstgemeinde, die uns unterstützte, offiziell als Pastorinnen ordiniert. Ein besseres Leben konnte ich mir nicht vorstellen. Ich liebte es, von Ort zu Ort zu ziehen, jeden Tag Wunder zu erleben und zu sehen, wie Gott durch unseren Dienst Menschen veränderte. Wo auch immer wir das große Zelt aufstellten, strömten die Leute aus den Dörfern und Städten herbei. Eveline und ich wechselten uns jeweils beim Predigen ab. Wir verstanden uns prima. Die gemeinsamen Abenteuer schweißten uns zusammen. Auch die Kinder kamen nicht zu kurz. Ich liebte Rocky und Sarah von ganzem Herzen und teilte mit Eveline die Verantwortung für die beiden. Wir waren eine richtige Familie, und jeder kümmerte sich um den anderen.

Über fünf Jahre zogen wir durch die Lande, bis wir 1961 mit lauter unglaublichen Geschichten im Gepäck und einem ungebrochenen Eifer für Gott nach Hause zurückkehrten.

Ich war nun 21 Jahre alt, Eveline 23 und ihre Kinder kamen ins schulfähige Alter, was mit ein Grund war, unsere Reise zu beenden. Außerdem hatte die Pfingstgemeinde uns gefragt, ob wir bereit seien, in Montesano eine Kirche zu gründen. Natürlich waren wir Feuer und Flamme. Wir zogen bei meinen Eltern ein und mein Vater half mir, das obere Stockwerk auszubauen, damit wir genug Platz hatten. Es tat gut, nach jahrelangem Leben aus dem Koffer Wurzeln zu schlagen.

Jetzt konnte ich auch endlich wieder eine Seite von mir ausleben, die ich unterwegs ziemlich vernachlässigt hatte: an Autos rumschrauben und mich als Zimmerin betätigen. Ich kaufte mir ein kaputtes Auto, brachte es wieder in Schwung, fuhr es 50 000 Kilometer, verkaufte es gewinnbringend und suchte mir ein neues Unfallauto zum Reparieren. Dasselbe Prinzip wandte ich bei einem heruntergekommenen Haus an, das ich zu einem Spottpreis erwerben konnte. Ich renovierte es komplett, verkaufte es und holte das Dreifache raus, was ich investiert hatte. Das war aber nur eine Art Nebenbeschäftigung für mich.

Mein eigentlicher Fokus lag nach wie vor darauf, mit Eveline zusammen eine Kirche zu gründen. Wir mieteten dafür ein kleines Gebäude und nannten unsere angehende Gemeinde Faith Tabernacle, was so viel bedeutet wie »Glaubenszelt«. Wir hängten ein Schild mit den Gottesdienstzeiten an der Tür auf, strichen die Wände neu, schmückten den Versammlungsraum mit Bildern und einem Kreuz und schafften jede Menge Stühle herein.

Alles war bereit für unseren ersten Gottesdienst. Bloß hatten wir keine Gottesdienstbesucher. Eveline und ich saßen ganz alleine in dem Raum.

»Weißt du was?«, sagte ich. »Gott wird die Leute schon irgendwie herbringen, so wie er die Tiere zur Arche gebracht hat. Selbst wenn wir nur zu zweit sind: Wir feiern jetzt einen Gottesdienst.«

Und genau das taten wir.

Wir sangen ein paar Lieder und ich predigte leidenschaftlich, als wäre der Saal voller Menschen.

Plötzlich ging die Tür auf und ein Mann, eine Frau und zwei Kinder mit indianischen Gesichtszügen betraten den Raum. Sie blieben etwas unsicher beim Eingang stehen.

Ich winkte sie herein. »Kommen Sie! Seien Sie herzlich willkommen!«

»Ist das so was wie eine Kirche?«, fragte der Mann.

»Ja«, antwortete Eveline und lächelte. »Wie haben Sie von uns erfahren?«

»Wir haben draußen auf den Bus gewartet und Ihnen eine Weile zugehört.« Der Mann trat neugierig näher. »Wer ist dieser Jesus, von dem Sie sprechen?«

Ich strahlte. »Das erklär ich Ihnen sehr gerne. Setzen Sie sich doch!«

Die indianische Familie nahm in der vordersten Reihe Platz, und ich erklärte ihnen anhand der Bibel das ganze Evangelium: dass Jesus Gottes Sohn war, dass er am Kreuz für uns gestorben war und dass wir durch seine Auferstehung neues Leben hätten, wenn wir ihm unser Leben anvertrauten.

Die Indianer hörten mir aufmerksam zu, und als ich sie fragte, ob sie Jesus in ihr Leben einladen wollten, nickten sie. Sie knieten sich nieder, Eveline und ich beteten für sie, und die Zahl unserer Gemeindemitglieder war soeben von null auf vier gestiegen.

Am nächsten Sonntag kam die Familie wieder und brachte die halbe Nachbarschaft mit. Es dauerte nicht lange, und unser Versammlungsraum war zum Bersten voll. Faith Tabernacle war eine Gemeinde geworden.

Meine Eltern waren anfänglich etwas skeptisch, ob es richtig war, eine neue Kirche ins Leben zu rufen. Doch dann nahmen sie an einem Gottesdienst teil, und die Atmosphäre war so lebendig und ergreifend, dass ihnen die Tränen kamen. Beim Abendessen eröffneten sie mir dann etwas Unglaubliches.

»Naomi, wir haben lange auf den richtigen Augenblick gewartet«, sagte mein Vater geheimnisvoll. »Wir wollten erst sicher sein, dass deine Entscheidung, in den pastoralen Dienst zu gehen, sich in dir gefestigt hat, und dass es wirklich das ist, was du tun möchtest, aus eigenen Stücken und nicht wegen dem, was wir dir jetzt anvertrauen. Aber wir denken, es ist an der Zeit, dass du erfährst, was damals bei deiner Geburt passiert ist.«