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Antje Herden

Julia
und die Stadtteilritter

Mit Bildern von
Eva-Schöffmann-Davidov

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Widmung

Meinen beiden liebsten Menschen – Shawna und Aaron

Ein vergammeltes Buch

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Manchmal läuft einfach alles schief. Als ich die Spielfiguren in den bunten Dosen entdecke, ist meine Mutter wie vom Erdboden verschluckt. Gerade eben sind wir noch zusammen über den großen Flohmarkt gelaufen. Dann bin ich nur ganz kurz bei dem Mädchen mit den kleinen Plastikwelten stehen geblieben. Die grüne Dose mit dem Blumengarten und dem winzigen Gärtnermädchen habe ich mir immer gewünscht, als ich noch klein war.

Na ja, eigentlich bin ich dafür ein bisschen zu alt. Welche Elfjährige spielt schon noch mit so was!? Ich kann mir richtig vorstellen, wie sich Klassenkönigin Verena und ihr Fanklub über mich lustig machen würden. Wenn sie mich jetzt sehen könnten. Darum hoffe ich, dass keine von ihnen hier auftaucht.

Ich will Mama unbedingt die bunten Dosen zeigen. Sie hat nämlich mein Portemonnaie in ihrer Tasche. Aber ich kann sie nirgendwo entdecken. Das Mädchen hinter dem Stand beobachtet mich mit großen Augen.

»Die würde bestimmt meiner kleinen Schwester gefallen«, sage ich und deute auf die grüne Dose. Dabei habe ich gar keine kleine Schwester. Ich habe auch keine große Schwester und keinen Bruder. Noch nicht einmal einen Vater. Aber das Mädchen hinter dem Verkaufstisch ist jünger als ich und das ist mir irgendwie peinlich.

Ich schaue mich um. Die Menschen drücken und schubsen sich an mir vorbei. Als ich einen Schritt vortrete, schieben sie mich einfach mit. Die meisten machen ein grimmiges Gesicht. Dabei regnet es gar nicht. Die Sonne scheint und es ist Wochenende. Wahrscheinlich stoßen sich die Leute blaue Flecken an den Tischen und treten sich gegenseitig die Füße platt. Vor mir schaue ich auf den Rücken eines dicken Mannes. Er trägt ein Hemd mit bunten Blumen darauf. Darum kann ich auch nicht viel anderes sehen – nur die Blumen und einen großen, braunen Kaffeefleck. Der ist seltsamerweise hinten auf dem Hemd. Wie ist der denn da hingekommen?

Neben mir schnauft eine Frau, die mit hundert Taschen behängt ist. Die Sachen, die aus den Taschen heraushängen, sehen eigentlich nicht so aus, als ob die noch zu irgendetwas zu gebrauchen sind. Aber wer weiß? Unser ganzer Keller ist mit Dingen vollgestellt, die eigentlich zu nichts mehr zu gebrauchen sind. »Daraus könnte ich mal was basteln«, sagt Mama immer, wenn sie noch etwas dazustellt. Dabei bastelt sie gar nicht so oft.

Plötzlich bekomme ich keine Luft mehr. Obwohl wir draußen sind und ein leichter Wind weht, habe ich das Gefühl, dass keine Luft mehr für mich übrig ist. Einfach weggeatmet von den unheimlich vielen Leute hier! Ich stolpere an den voll beladenen Tapeziertischen vorbei und versuche, schneller zu laufen. Ich will hier weg. Oder Mama finden. Eine Frau, die am Boden vor einer Kiste hockt, fängt mich auf. Erst schaut sie ein bisschen erschrocken, dann lächelt sie. Es ist meine Mutter. In der Kiste vor ihr liegt ein Haufen gammliger Bücher. Wahrscheinlich ist sie die Einzige, die sich für diese alten Schinken interessiert. Aber nun hocken wir beide davor.

»Mensch, Mama, wo warst du denn plötzlich?«, raunze ich sie an und befreie mich aus ihren Armen. Aber Mama will sich die Laune nicht verderben lassen.

»Schau mal, mein Schatz«, sagt sie. Sie hält mir ein kleines fleckiges und zerknicktes Buch vor die Nase, in dem sie gerade geblättert hat. Das gemalte Bild auf dem Umschlag sieht langweilig aus. Sechs Jungen und ein Mädchen sitzen in einem Baumhaus.

»Das habe ich in der Schule gelesen, als ich etwa so alt war wie du«, erzählt meine Mutter. »Es handelt von einer Kinderbande, die Kriegswitwen und alten Frauen hilft. Spannend, oder?«

»Na ja«, sage ich.

»Mach doch nicht so ein mürrisches Gesicht.« Meine Mutter lacht und stupst mich mit dem Buch auf die Nase. Es riecht nach modrigem Keller. Trotzdem bezahlt sie drei Euro dafür, ohne auch nur zu versuchen, mit dem Verkäufer zu handeln.

»Drei Euro für so ein vergammeltes Buch. Das ist ja nicht gerade ein Schnäppchen«, wundere ich mich.

Mama lächelt vor sich hin. »Drei Euro für ein Stück meiner Kindheit. Das ist überhaupt nicht teuer«, sagt sie.

Da fallen mir die kleinen bunten Dosen wieder ein. »Komm mal mit!«

Ich ziehe Mama durch die Menschenmasse hindurch zurück zu dem Mädchen.

»Bist du dir sicher?«, fragt sie mit einer hochgezogenen Augenbraue, als ich ihr die Spielzeugdosen zeige. Meine Mutter zieht immer die linke Augenbraue hoch, wenn sie Zweifel hat. Ich nicke extra heftig mit dem Kopf. Dann hole ich tief Luft und halte ein Plädoyer, damit die Augenbraue wieder an die richtige Stelle rutscht.

»Ja, bin ich. Und ja, davon habe ich schon eine ganze Menge. Und ja, die liegen seit einiger Zeit auf dem obersten Regal in der verstaubten Kiste. Und immer noch ja, ich werde damit spielen. Und nein, ich bin noch nicht zu alt dafür. Höchstens ein ganz kleines bisschen. Außerdem ist das mein Taschengeld, mit dem ich kaufen kann, was ich will. Und alleraußerdem sind die Dosen ein Stück meiner Kindheit. Es soll Leute geben, die für so etwas richtig viel Geld ausgeben, ohne mit der Wimper zu zucken.«

Mama lacht und gibt dem Mädchen Geld aus meinem Portemonnaie.

Beinahe hätte ich es geschafft, die grüne Plastikdose heimlich in meiner Tasche verschwinden zu lassen, doch da höre ich eine wohlbekannte Stimme. »Du spielst noch mit diesen peinlichen Minipüppchen?«

Oh nein, so etwas Blödes! Am liebsten hätte ich mich schnell unter dem Tisch versteckt, aber dazu ist es zu spät. Neben mir steht Verena. Mama schlendert langsam weiter.

Verena ist klein und blond. Wie immer hat sie ihr Gesicht stark geschminkt. Außerdem trägt sie einen BH, der aus ihrem Ausschnitt hervorblitzt. Wahrscheinlich zieht Verena ihr T-Shirt extra etwas herunter, damit der BH aus dem Ausschnitt blitzen kann. Im Sportunterricht habe ich mal gesehen, dass sie ihn mit Taschentüchern ausstopft. Denn eigentlich braucht sie den noch gar nicht. Verena ist genauso alt wie ich. Aber ich bin einen Kopf größer. Ich glaube, sie ärgert sich darüber, dass sie zu mir aufschauen muss, wenn sie mit mir spricht.

»Ja, ich spiele noch mit diesen peinlichen Minipüppchen«, sage ich und lasse Verena einfach stehen.

Normalerweise tut Verena so, als würde sie mich nicht sehen. Sie findet mich uncool. Und vielleicht befürchtet sie, dass sie auch uncool wird, wenn sie mit mir spricht. Könnte ja sein, dass Uncoolness durch einen hüpfenden Virus übertragen wird – wie ein Schnupfen.

Verena wäre gerne ein Superstar. Ich habe sie mal gefragt, was sie machen möchte, um ein Superstar zu werden. Sie hat mich angeschaut, als wäre ich ein bisschen dumm. »Wieso machen?«, hat sie geantwortet. »Als Superstar muss man nichts machen. Dann ist man doch ein Star.« Ich denke ja, dass man irgendetwas können muss, um ein Star zu sein. Singen oder tanzen oder schauspielern zum Beispiel. Aber Mädchen wie Verena können wohl auch einfach nur so ein Superstar sein, ohne irgendwas zu machen oder zu können.

Am liebsten wäre Verena ein Fotomodell. Darum verfolgt sie eifrig eine Show im Fernsehen, die ganz normale Mädchen dazu bringt, Frauen zu spielen und sexy zu sein. In den Schulpausen besprechen Verena und ihr Fanklub jede einzelne Sendung in allen Details. Sexy zu sein finden sie super. Sie selbst wollen auch sexy sein. Darum tragen sie ausgestopfte BHs.

Ich will mir so eine Sendung nicht anschauen. Außerdem erlaubt meine Mutter mir das sowieso nicht. Ich habe kein i- und auch kein anderes Phone. Ich will kein Star oder Fotomodell werden und möchte auch nicht dabei zuschauen, wie andere versuchen, es zu werden. Ich stehe nicht mit Verena und dem Fanklub zusammen und rede über die Jungs aus der Siebten. Ich kenne gar keinen von den Jungs aus der Siebten. Ich schreibe im Internet keine lustigen Kommentare zu Verenas hochgeladenen Handyfotos. Und ich bin auch kein Mitglied von Gruppen mit so komischen Namen wie »Er guckt, ich nicht – er lacht, ich nicht – er fällt, ich lache, er nicht«. Ich habe ja nicht einmal ein Facebook-Account. Darum gehöre ich nicht dazu. Ich bin ein Outsider. Morgen wird Verena allen in der Klasse erzählen, dass ich mit Puppen spiele. Na, toll!

Irgendjemand sucht die kleine Nina. Sicher ihr Bruder oder Vater. Er ruft ihren Namen immer wieder durch ein Megafon. Die Stimme klingt richtig verzweifelt. Ich schaue mich um, kann aber niemanden mit einem Megafon entdecken. Kein Wunder, dass man sich hier verliert. Ich bin ja vorhin auch verloren gegangen. Oder Mama. Je nachdem, wie herum man es sieht. Nur dass meine Mutter es gar nicht gemerkt hat. Ich hoffe, dass die kleine Nina schnell wieder auftaucht.

Das Megafon

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»Pauuuuuul!!!«

Irgendetwas habe ich wohl wieder falsch gemacht. Die Cornflakes habe ich jedenfalls weggeräumt. Wäre schön, wenn wir am Wochenende mal zusammen frühstücken würden – so mit gedecktem Tisch und allem Pipapo. Aber bei uns macht morgens jeder sein eigenes Ding. Ich stehe auf und schließe meine Tür ab. Dann gehe ich zu meinem Schreibtisch zurück und drehe die Musik lauter. Ich mag es nicht, wenn Hilde so herumschreit.

Hilde ist meine Mutter. Warum ich sie Hilde nenne, weiß ich nicht mehr. Das hat mit irgendeiner lustigen Geschichte von früher zu tun. Hilde heißt eigentlich Katharina. Wie eine Zarentochter. Und vielleicht ist sie das ja auch. Jedenfalls benimmt sie sich oft so. Dabei sind wir gar kein russisches Adelsgeschlecht, sondern Familie Lindemann. Seit Neuestem aus dem Gartenweg in dieser kleinen Stadt. Gärten gibt es in unserer Straße allerdings nicht.

Es klopft an die Tür.

»Paul, bitte«, mahnt Vaters müde Stimme. »Keinen Ärger. Nicht schon am frühen Morgen.«

Ich unterdrücke ein Stöhnen, fahre den Rechner herunter und gehe in die Küche.

»Ach, da bist du ja, Murkel«, sagt Hilde.

Sie ist gar nicht sauer. Im Gegenteil. Sie flötet, statt zu sprechen. Dann will sie irgendetwas von mir. Das kenne ich schon. Ich mag es überhaupt nicht, wenn sie mich Murkel nennt. Nach zwölf Jahren könnte sie wirklich mal anfangen, meinen richtigen Namen zu benutzen. Immerhin hatte der ihr ja mal gut gefallen.

»Murkel, hör mal, ich muss in die Stadt. Sei doch so lieb und geh mit Nina ein bisschen raus.«

»Au ja!«, ruft Nina und strahlt mich mit ihrem Nutella-verschmierten Mündchen an.

Eigentlich habe ich mir den Tag anders vorgestellt. Am Schloss ist der große Flohmarkt, und ich wollte schauen, ob ich was für meine Comicsammlung oder ein paar neue Computerspiele finde. Aber ich gebe mich lieber gleich geschlagen, denn am Ende muss ich sowieso auf meine kleine Schwester aufpassen. Hilde und Nina haben in dieser Familie das letzte Wort. Da kann ich mir eine Meuterei auch gleich sparen. Ich werde Nina einfach zum Flohmarkt mitnehmen.

Natürlich dauert es eine Ewigkeit, bis wir loskommen. Hilde ist längst in die Stadt abgedüst. Vater hat sich in sein Arbeitszimmer verkrümelt. Plötzlich gefällt sich Nina nicht mehr. Also helfe ich ihr, das eine rosa Kleidchen auszuziehen und das andere rosa Kleidchen anzuziehen. Danach sieht sie eigentlich genauso aus wie vorher. Dann gibt es noch ein paar Tränen, weil ich ihre Zöpfe nicht genau so hinkriege, wie Hilde das macht. Ich kämpfe mit den rosa Haargummis und versuche, nicht sauer zu werden. Sonst weint meine kleine Schwester richtig und dann kommen wir noch später weg. Zum Schluss schnappe ich eine Flasche mit Apfelschorle und ein paar Butterkekse. Dann ziehen wir endlich los.

Ich setze Nina vorne auf den Lenker meines Bikes. Sie klammert sich fest und juchzt froh, als ich in die Pedale steige und ihr der Fahrtwind ins Gesicht bläst. Wenn Hilde das sehen würde, bekäme sie garantiert einen Schreianfall. Aber Nina und ich haben eine Abmachung. Obwohl sie erst vier Jahre alt ist, gibt es ein paar Geheimnisse zwischen uns, die sie unserer Mutter niemals erzählen würde.

Der Flohmarkt ist total überfüllt. Wir laufen zwischen den Ständen herum. Für Nina kaufe ich bei einem kleinen Mädchen eine Puppe mit total verfilzten Haaren. Obwohl meine Schwester bestimmt schon zehn von diesen Puppen hat. »Aber noch nicht so eine mit so einer Frisur«, erklärt sie mir. Die Puppe kostet nur 50 Cent und Nina ist glücklich.

Ich entdecke Verena und Julia aus meiner Klasse. Verena plappert und Julia schaut unwillig in die Runde. Irgendwie scheint sie immer wegen irgendetwas wütend zu sein. Sie blickt mit gerunzelter Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen unter ihren zerzausten Locken hervor. Eigentlich hat sie genau so eine Frisur wie die Puppe, die ich Nina gerade gekauft habe. Ich muss grinsen.

Plötzlich ist Nina nicht mehr da. Verdammt. Ich habe ihr gesagt, dass sie immer bei mir bleiben muss. Ich kämpfe mich durch die Menschenmenge. Warum stehen die Tische hier so eng? Nina ist nirgendwo zu entdecken. Vielleicht ist sie noch einmal zu dem Mädchen mit den Puppen zurückgegangen? Ich drehe um und laufe so schnell wie möglich zurück. Aber dort ist Nina auch nicht. Verflixt.

»Nina!«, rufe ich laut in alle Richtungen. »Nina!«

Aber sie antwortet nicht. Sie wird den Schlossplatz bestimmt nicht verlassen und einfach weglaufen. Dafür gibt es hier zu viel zu sehen. Ich muss nur langsam alle Reihen ablaufen. Bloß keine Panik. Aber so richtig klappt das nicht. Ich kriege doch welche.

»Nina! Nina!«, rufe ich, so laut ich kann. »Nina!«

So etwas Blödes, wie konnte mir das nur passieren?

»Nina!«

»Na, junger Mann, wie wäre es denn hiermit?«, fragt ein Verkäufer. Wie kann der denn denken, ich hätte gerade Zeit, irgendeinen Plunder zu kaufen? Aber dann sehe ich, dass er ein Megafon hochhält.

»Funktioniert das noch?«, frage ich.

»Aber freilich«, antwortet er.

»Darf ich mir das kurz ausleihen? Meine kleine Schwester ist verschwunden.«

»Nee, junger Mann, ausleihen gibt es nicht. Aber für 15 Euro ist es deins.«

Oh Mann, wie ich solche Typen hasse. Aber ich habe keine Zeit, lange zu überlegen. Ich lege das Geld auf den Tisch und greife mir das Megafon.

»Nina!«, rufe ich hinein und falle fast um vor Schreck, weil das Ding so laut ist.

»Hey, was soll das!«, motzt mich ein dicker Mann im Hawaiihemd an.

»Der Junge sucht seine kleine Schwester. Suchen Sie lieber mit, anstatt zu meckern«, schimpft eine voll beladene Frau.

Die beiden fangen an zu streiten. Aber das kriege ich kaum noch mit. Denn ich bin schon zwischen den Tischen unterwegs und rufe Ninas Namen durch das Megafon.

»Sieht irgendjemand ein kleines blondes Mädchen mit Zöpfen und einem rosa Kleid? Sie trägt eine Puppe in der Hand!«, schallt meine verstärkte Stimme über den Flohmarkt. Doch das ist vielleicht keine gute Idee. Nicht, dass noch irgendjemand auf dumme Gedanken kommt und meine kleine Schwester klaut. Also rufe ich nur ihren Namen. Das Megafon ist echt superlaut. Wenn ich nicht solche Angst um Nina hätte, würde ich mir mit dem Ding furchtbar blöd vorkommen.

Dann sehe ich sie endlich. Nina hockt auf dem Boden und hört ein paar Jungs zu, die auf Bongos und Trommeln spielen. Ich renne zu ihr und reiße sie in meine Arme.

»Nina, Kleine, Süße, da bist du ja!«, stammle ich und bin so erleichtert, dass meine Beine ein bisschen schlappmachen.

»Paul, Kleiner, Süßer, da bist du ja«, sagt meine kleine Schwester.

»Hast du mich denn gar nicht gehört?«, frage ich.

»Doch, ich habe dich gehört. Ganz laut. Aber ich habe gar nichts gesagt und auch nicht geweint«, flüstert sie mit weit aufgerissenen Augen. »Ich wollte doch nicht, dass jemand denkt, ich bin ganz alleine und habe keine Mama, und dann komme ich ins Kinderheim. Ich habe so getan, als ob alles in Ordnung ist.«

Ich drücke die Kleine noch einmal fest an mich. »Du bist so tapfer«, flüstere ich in ihr Ohr.

»Das sagen wir aber nicht der Mama, stimmt’s?«, fragt sie.

»Nein, das erzählen wir Hilde lieber nicht.«

Und dann nehme ich ihre kleine Hand und lasse sie nicht mehr los, bis wir bei meinem Rad sind. Unterwegs werfe ich das Megafon in einen Mülleimer. Das würde nur zu unbequemen Fragen führen.

Hilde ist schon wieder zu Hause, als wir zurückkommen. Nina zeigt ihr die neue Puppe. Ich nehme mir drei Wiener Würstchen aus dem Kühlschrank und schlinge sie hinunter. Dann stecke ich mir meine Kopfhörer in die Ohren, schalte den iPod an, setze meinen Helm auf und renne die Treppen runter. Die Haustür kracht ins Schloss. Dabei will ich das gar nicht. Ich schnappe mein Rad und düse los. An der neuen Betontreppe vor dem Kongresszentrum fahre ich ein paar Tricks und Grinds. Einige andere BMX-Fahrer und Skater sind ebenfalls unterwegs. Wir nicken uns kurz zu. Aber dann fahre ich meine eigene Line ab.

Auf dem Heimweg sehe ich Julia und ihre Mutter. Sie radeln auf der anderen Straßenseite und scheinen eine Menge Spaß zu haben. Julia sieht mich nicht, und ich ärgere mich etwas, dass ich meine Hand zum Winken gehoben habe.

Später sitze ich noch ein bisschen am Rechner und skype mit meinen alten Freunden. Aber irgendwie fühlt sich das extrem seltsam an. Skypen ist cool, wenn man sich danach verabredet. Aber so? Meine Freunde werden sich nachher an der Rampe treffen, während ich hier in dieser kleinen Stadt festhänge. Ich vermisse die Jungs.

Rudis Kiosk

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Als wir vom Flohmarkt nach Hause kommen, schubst Mama die Schuhe von den Füßen und macht es sich mit dem kleinen muffigen Buch auf dem Sofa gemütlich.

»Bist du so lieb und kochst mir einen Kaffee, mein Schatz?«, fragt sie noch, bevor sie in die Welt der Baumhauskinder versinkt.

Ich gehe in die Küche und bereite ihr eine Tasse löslichen Kaffee mit Milch.

»Wollen wir nicht erst einmal essen?«, frage ich.

»Nimm dir ruhig etwas«, antwortet Mama. Ihre Stimme klingt wie von sehr weit her.

»Egal was?«, frage ich.

»Mhm«, macht sie.

Ich nehme mir ein Schokobrötchen und dann noch eins. Und schließlich ein drittes. In meinem Zimmer hole ich die verstaubte Kiste vom Regal und baue auf dem Teppich eine quietschbunte Plastikwelt auf. Dabei vergesse ich ein bisschen die Zeit. Das passiert mir eigentlich nicht mehr so oft.

Als die Sonne vor den Fenstern schon orange wird, ich die Plastikdosen wieder weggeräumt und noch einen Vanillepudding gegessen habe, legt Mama lächelnd das Buch beiseite. Dann schaut sie hinaus und wird ganz kribbelig.

»Ach, du liebes Lottchen! Es wird ja schon Abend und wir haben noch gar nichts zu Mittag gegessen.«

»Gefrühstückt haben wir auch nicht, der Kühlschrank ist leer gefuttert und niemand war einkaufen«, sage ich.

Mama macht ein Gesicht, als hätte sie in etwas Saures gebissen. »Stimmt. Das haben wir ganz vergessen.«

»Wieso WIR?«, frage ich.

Mama steht auf und wuschelt mir über den Kopf. Das macht aber sowieso keinen großen Unterschied. Meine Haare sind quasi unkämmbar. Während alle anderen Mädchen in meiner Klasse lange, glatte Spaghettihaare haben, sind meine wilden Locken eher Fusilli. Oder wie diese gedrehten Nudeln heißen. Und wer will so was schon auf dem Kopf haben!

»Tja, dann muss es wohl sein«, seufzt meine Mutter ergeben.

»Bratwurst und Pommes!«, rufen wir im Chor.

Wir radeln zu Rudi. Rudi hat einen Kiosk, der auch Rudi heißt. Rudi, der Kiosk, hat zwei Klappen – eine für Zeitungen und Süßigkeiten und eine für Bratwurst, Pommes und Limo. Man kann auch in den Kiosk hineingehen. Dort gibt es zwei kleine Tische. Aber es ist hunderttausendmal schöner, draußen an den Stehtischen zu essen. Rudi, der Mann, hat eine Glatze und einen Bart. Er ist ziemlich breit, aber nicht, weil er so viele seiner Bratwürste selbst isst, sondern weil er mal Ringer war. »Alles Muskeln, Kleene«, hat er mir mal erklärt. Oder Mama. Oder uns beiden. Dabei hatte eigentlich keine von uns gefragt. Rudi ist supernett, und seine Arme, die unter dem T-Shirt herausschauen, sind von oben bis unten tätowiert. Ob Rudi auch noch woanders tätowiert ist, weiß ich nicht.

Mama und Rudi kommen aus derselben Stadt im Osten Deutschlands. Sie haben sich an ihrem Dialekt erkannt, als wir hier zum ersten Mal Bratwurst aßen. Dass Mama aus dem Osten kommt, hört man nur, wenn sie aufgeregt ist. Oder wenn sie mit Rudi redet. Rudi redet immer so. Er sagt ölf statt elf und och statt auch.

»Na, Mädels«, sagt Rudi. Weil er sonst keine Kundschaft hat, stellt er sich mit einer Bierflasche zu uns.

»Na, Rudi«, sage ich und beiße in die heiße, ketchuptriefende Wurst.

»Schön, dass ihr mal wieder da seid. Was feiert ihr denn?«

»Meine Mutter hat sich auf dem Flohmarkt ein Buch gekauft und den ganzen Nachmittag gelesen. Darum haben wir nichts zum Essen zu Hause.«

»Aha«, sagt Rudi. »Muss ja ein doller Schmöker gewesen sein.«

»Ein richtig doller«, sagt Mama. »Er handelt von einer Kinderbande, die Witwen und alleinstehenden Frauen hilft. So eine Bande wollten wir damals auch sein.« Sie lacht. »Es wollte sich aber niemand von uns helfen lassen.«

»An eine ähnlich tatenwillige Truppe, der meine Kumpels und ich angehörten, kann ich mich auch erinnern«, sagt Rudi und grinst.

Es muss schön sein, sich an seine Schulzeit zu erinnern, wenn man erwachsen ist. Vielleicht grinse ich ja dann auch, wenn ich meinen Kindern erzähle, dass ich ein Outsider war.

»Schien ja damals große Mode gewesen zu sein«, stelle ich mit vollem Mund fest.

Mama schaut mich aufmerksam an. Sie zieht sogar die linke Augenbraue hoch. »Ist Hilfsbereitschaft denn eine Mode?«, fragt sie etwas spitz.

»Die Kleene meint sicher die Banden und Trupps, stimmt’s, Kleene?«, beschwichtigt Rudi.

»Stimmt genau, Rudi«, sage ich.

»Na also, meine Hübsche, musst nicht immer so streng sein«, meint Rudi zu Mama. Er darf so etwas zu ihr sagen. »Gab damals sogar ’n Abzeichen fürs Helfen. Einen roten Plastestern. Der wurde mit großem Tamtam beim Pionierappell vor der ganzen Schule verliehen.«

»Echt?«, frage ich und finde das etwas peinlich.

»Echt«, sagen Mama und Rudi.

Dann muss Rudi zurück in den Kiosk. Mama lächelt hinter seinem Rücken her. Sie schaut ihn eigentlich genauso verzückt an wie das gammlige Buch vom Flohmarkt.

Die beiden wurden in der DDR, der Deutschen Demokratischen Republik geboren. Als sie in die fünfte Klasse gingen, bekamen sie rote Halstücher und weiße Hemden und wurden Thälmann-Pioniere genannt. Mama hat mir Bilder davon gezeigt. Auf einem trägt sie sogar ein kleines Käppi, das wie ein Schiffchen auf ihren blonden Locken sitzt. So eines hätte ich auch gerne. Aber dass die Pioniere strammstehen und Meldungen und Appelle abhalten mussten wie Soldaten, das finde ich einfach blöd. Wenn Mama die Wohnung putzt, dann singt sie oft die alten Pionierlieder. Es gibt auch welche, die sie und ihre Freunde verulkt haben. So eines hat sie mir beigebracht.

 

Wiener Würstchen voran, lasst uns vorwärtsgehn,
Wiener Würstchen, stimmt an, lasst die Fahnen wehn.
Unsre Straße, die führt in den Suppentopf hinein.
Wir sind stolz, Wiener Würstchen zu sein.

 

Natürlich hieß es eigentlich Pioniere und nicht Wiener Würstchen und Morgenlicht statt Suppentopf.

»Hast du dir auch so einen roten Plastestern verdient?«, frage ich Mama.

»Verdient bestimmt, aber nie bekommen«, antwortet sie schmunzelnd.

»Aber ich«, sagt Rudi, der wieder zu uns tritt.

Als wir später die Treppen zu unserer Wohnung hochlaufen, wird im ersten Stock eine Tür aufgerissen. Weil diese Tür eigentlich immer aufgerissen wird, wenn wir vorbeilaufen, erschrecke ich fast gar nicht.

»Meine liebe Frau Reine, ich wollte Sie noch einmal daran erinnern, dass Sie doch bitte Ihre Fahrräder etwas ordentlicher abstellen. Man kommt ja kaum daran vorbei«, meckert Frau Tulpe. Eine Tulpe ist ja eigentlich etwas Liebliches. Das ist Frau Tulpe aber nicht. Ihr Name passt sogar besser zu Rudi als zu ihr. Frau Tulpe hat eine Stimme, die man nicht gerne hört.

»In Ordnung, liebe Frau Nachbarin«, ruft Mama. Dabei verdreht sie die Augen. Das macht sie aber so, dass Frau Tulpe es nicht sehen kann. Ich flitze schnell die Treppe hoch, damit sie mein Lachen nicht hören kann.

Vor dem Zubettgehen schaue ich mir noch einmal das kleine zerknickte Buch an. Eigentlich sieht es gar nicht so gammlig aus. Das blonde Mädchen auf dem Bild hat genauso verstrubbelte Haare wie ich. Es wäre schon klasse, eine Bande und ein Baumhaus zu haben.

Ein Wohnzimmer im Park

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