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Inhaltsverzeichnis

ZUM BUCH
ZUM AUTOR
Prolog - Das Vermächtnis
1 - Kinder
2 - Teenager
3 - Wegkreuzungen
4 - Getrennte Wege
5 - Im Duett
6 - Fernbeziehung
7 - Coming-out
8 - Die Familie von Arthur Danse
9 - Robert
10 - Partygespräche
11 - Duggan
12 - Unversöhnlich
13 - Besuchsrecht
14 - Erste Maßnahmen
15 - Im Wald
16 - Erste Ermittlungen
17 - Kapitalverbrechen
18 - Besuchsrecht, zweiter Teil
19 - Das Wichtigste überhaupt
20 - Besuchsrecht, dritter Teil
21 - Die Verhandlung: erster Tag
22 - Die Verhandlung: zweiter Tag
23 - Die Verhandlung: dritter Tag
24 - Verhinderte und echte Kriminelle
25 - Vierter Tag: Gerechtigkeit
26 - Sinneswandel
27 - Das Protokoll
28 - Gute und schlechte Nachrichten
29 - Nachts im Wald
30 - Besuchsrecht, vierter Teil
31 - Beweislast
32 - Das Urteil
33 - Entronnen
34 - Besuchsrecht, fünfter Teil
35 - Einzelkind
36 - Besuchsrecht, sechster Teil
Epilog, Teil eins - Identifikation
Epilog, Teil zwei - In Sicherheit
Copyright

ZUM AUTOR

Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Seine Horrorromane zählen in den USA unter Kennern neben den Werken von Stephen King oder Clive Barker zu den absoluten Meisterwerken des Genres, wofür Jack Ketchum mehrere namhafte Auszeichnungen verliehen wurden.

Epilog, Teil eins

Identifikation

Dem menschlichen Tod haftete ein unterschwelliger Geruch an, den weder Kälte noch Desinfektionsmittel zu bezwingen vermochten – wie der dunkle, feuchte Moder einer verwelkenden Blume oder der Geruch von verfaulendem Fleisch. Sie sahen auf den Leichnam von Arthur Danse hinab und Duggan konnte spüren, wie die junge Frau neben ihm zitterte. Verdammt, Arthur, dachte er, selbst jetzt machst du den Leuten noch Angst. Ich schätze, in der Hinsicht hast du einfach den Bogen raus.

Er hatte inzwischen den Bericht des Gerichtsmediziners gelesen und die saubere schwarze Wunde begutachtet, die seinem Leben ein Ende bereitet hatte. Lydias erster Schuss war ein klassischer Herztreffer gewesen. Er dachte daran, wie viel Glück sie gehabt hatte, dachte an das zerfetzte Organ in dem wieder zusammengenähten Körper vor ihm. Die beiden anderen Schüsse, die sie abgefeuert hatte, waren nicht so wirkungsvoll gewesen. Eine Kugel hatte die linke Seite seines Beckens gestreift, bevor sie abgeprallt und ungefähr einen Fuß über seinem Kopf in die Wand eingedrungen war. Die andere hatte einen Hautlappen aus seiner Wange gerissen und ihm den Unterkiefer zerschmettert. So, wie er Arthur kannte, hätte ihn das kaum aufgehalten.

Nein, nicht das Glück hatte hier die Hand im Spiel gehabt, sondern Vorsehung. Am Ende hatte die Hand des Schicksals ihre Finger im Spiel gehabt.

Trotzdem bereitete ihm der zerschmetterte Unterkiefer Kopfzerbrechen. Denn Marge Bernhardt hatte Danse aus diesem Grund auf den Fotos aus der Gerichtsmedizin nicht eindeutig identifizieren können. Was keine Überraschung war, denn die Toten, dachte er, sehen nun mal anders aus als die Lebenden. Und die lächelnden, liebenswürdigen Schnappschüsse, die sie bei ihm zu Hause gefunden hatten, schienen nicht ihrer Erinnerung an die finstere Gestalt zu entsprechen, die sie in einem eiskalten Wald an einen Baum zu nageln versucht hatte. Seine einzige Hoffnung bestand nun darin, dass der Mann, ungeachtet der Gesichtswunde und seiner bleichen, erschlafften Gesichtszüge, noch irgendwas an sich hatte, das eine Erinnerung in ihr wachrief.

Aber dazu kam es leider nicht.

»Nein«, sagte Marge Bernhardt. »Vielleicht. Oh, Gott, ich weiß es nicht.«

Sie kannte Duggan kaum. Trotzdem fiel sie ihm jetzt in die Arme, als würde ein plötzlicher Windstoß sie gegen ihn drücken.

Er hielt sie behutsam fest, bis das Zittern nachließ, obwohl ihr Körper und ihre Hände sich kalt anfühlten. Dann bat er sie, noch einmal hinzusehen.

Sie schüttelte den Kopf.

»Die ganze Zeit muss ich daran denken«, sagte sie, »was wäre, wenn er es doch nicht war? Was, wenn der Täter noch frei herumläuft? Mir ist klar, dass Sie – wie sagen Sie dazu? – den Fall abschließen wollen. Aber was ist, wenn er es gar nicht war? Und ich sage, dass er es war?«

Er konnte sie gut verstehen. Er hatte es hier mit einer mutigen, intelligenten Frau zu tun, die sich ihrer Sache hundertprozentig sicher sein wollte. Ihm ging es ja genauso. Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass Arthur Danse sein Doppelleben so erfolgreich und geschickt verborgen hatte, dass seine Frau und selbst seine Eltern nicht geahnt hatten, wozu er fähig war – hundertprozentige Gewissheit hatte er nicht. Vielleicht entwischte ihm Arthur selbst noch im Tod. Damit würde Duggan leben müssen.

Die Frau hatte Recht. Was, wenn der Täter noch frei herumlief, wenn er weiter mit seinem dunklen Auto die Straßen unsicher machte, ein Seelenverwandter von Arthur Danse, der sozusagen derselben Gattung angehörte und unter dem Wintermond nach neuen Opfern suchte?

Er zog das Tuch über die Leiche.

Ja, sie hatte Recht. Auf lange Sicht kam es gar nicht auf Arthur Danse an. Seine Zahl war Legion, selbst in dieser friedlichen, kleinen Stadt, und es würde sich daher niemals auszahlen, Fälle wie diesen abzuschließen – nicht einen einzigen Augenblick lang.

Er führte sie schweigend hinaus, schloss die Tür hinter sich und lauschte dem trägen Gewicht ihrer Schritte auf dem Betonboden. Er dachte an die zu eisiger Ruhe gebetteten Leichen hinter ihm und fragte sich, wie viele ihnen wohl noch folgen würden.

Epilog, Teil zwei

In Sicherheit

Die Reporterin studierte das Gesicht, das sie jetzt vor sich sah, und verglich es mit den Fotos, die sie im Zusammenhang mit den Nachrichten über die Verhaftung und den Prozess dieser Frau gesehen hatte. Lydia Danse war nur zwei Jahre älter als sie, sah jedoch zehn Jahre älter aus. Sie hatte zugenommen. Die Reporterin hielt sie immer noch für eine ziemlich attraktive Frau, obwohl ihre Augen mangels Schlaf geschwollen waren und ihr Mund verkniffener als auf den Fotos wirkte.

Die Reporterin, die selbst keine Kinder hatte, aber mit Andrea Stone von der Kinderschutzbehörde und mit dem Rechtsanwalt der Frau telefoniert hatte und sich ihre Geschichte nun schon seit fast einer Stunde aus erster Hand anhörte, konnte diese Veränderungen sehr gut nachvollziehen.

Auch nach mehr als einem Jahr fiel es ihr offensichtlich noch schwer, über die Toten und über das, was mit ihrem Sohn passiert war, zu sprechen. Da ihr die Einzelheiten des Falls größtenteils im Vorfeld bekannt gewesen waren, fand die Reporterin, dass sie schon durch ihre Einwilligung zu einem Interview eine Menge Mumm bewiesen hatte. Aber als sie hörte, was Lydia zu sagen hatte, ersetzte sie das Wort Mumm durch Tapferkeit.

Ihr Artikel würde sich mit der Frage befassen, weshalb Frauen töten. Sie recherchierte jetzt schon seit drei Monaten und hatte in dieser Zeit eine Menge Tapferkeit gesehen. Aber auch Wahnsinn.

Und sehr viel Verzweiflung.

»Seine Kugel hat also Ihre Lunge gestreift«, sagte sie jetzt. »Und ist dann am Rücken wieder ausgetreten.«

»Richtig. Man fand sie später in der Tür hinter mir. Ich hatte Glück, weil die Kugel einen Metallmantel hatte. Daher gab es eine saubere Austrittswunde – es hätte viel schlimmer sein können. Ich war ein paar Wochen im Krankenhaus. Dann wurde ich hierher verlegt.«

»Ihr Anwalt meinte, die Kaution hätte zweihunderttausend Dollar betragen?«

Sie nickte.

»Die Sie aber nicht bezahlt haben.«

»Da stand ich schon bis über beide Ohren mit den Gerichtskosten in der Kreide.«

»Vor Gericht haben Sie als Grund, dass Sie zu diesem Haus gefahren sind, Roberts Aussage auf Video genannt. Diese ließ Sie befürchten, dass er in Gefahr war, und Sie hatten Angst, er könnte womöglich erneut missbraucht werden. Sie fuhren da hin, um Ihren Sohn zu beschützen.«

»Ja.«

»Der Staatsanwalt dagegen hat auf Mord in einem besonders schweren Fall plädiert und die Todesstrafe gefordert. Ich finde das … einfach unglaublich.«

Glauben Sie mir, Sie kennen nicht mal die halbe Wahrheit, schien ihr Lächeln zu sagen. Die Reporterin hatte bisher nicht das geringste Anzeichen dafür entdeckt, dass Lydia Danse so etwas wie Selbstmitleid empfand. Obwohl Todesstrafe in diesem Staat den Tod durch den Strang bedeutete. Selbst ihre gelegentlichen Tränen hatten nur ihrer Trauer, ihrem Verlust und dem Gefühlschaos ihres Sohnes gegolten.

Auch das fand sie unglaublich.

»Aber dazu ist es nicht gekommen«, sagte sie.

»Nein, Gott sei Dank. Ich bin stattdessen mit lebenslänglich davongekommen.«

Die Reporterin holte tief Luft. Es fiel ihr schwer, nicht angesichts dieses verfluchten Rechtssystems wütend zu werden – in Wahrheit war sie wütend und ihr fiel schwer, ihre Wut nicht zu zeigen.

»Das verstehe ich nicht. Es war doch Notwehr, oder nicht? Er hat doch zuerst auf Sie geschossen. Das hat die Gerichtsmedizin eindeutig festgestellt. Er hätte unmöglich nicht nach Ihnen schießen können, weil er in dem Moment, als Ihre Kugel ihn traf, bereits tot war.«

»Notwehr kam nicht in Frage, weil ich mit dem Revolver in der Tasche zum Haus gefahren bin. Weil ich genug Zeit hatte, die Waffe aus meinem Schlafzimmerschrank zu holen, ins Auto zu legen und mit dorthin zu nehmen. Das macht mich zum Aggressor. So hat das Gericht jedenfalls die Sache ausgelegt. Es war sogar von großer Bedeutung für den Richter, dass ich gar keinen Waffenschein habe.«

»Und das Videoband?«

Sie zuckte die Achseln. »Entweder fanden sie das Videoband nicht überzeugend oder haben es gar nicht berücksichtigt. Ich meine die Geschworenen, nicht den Richter. Der Richter hat das Band in sein Urteil miteinbezogen, und deshalb bin ich mit dem Leben davongekommen. Meine Anwälte und ich haben das, um die Wahrheit zu sagen, nie ganz verstanden. Einer der Geschworenen hat sich nachher dazu geäußert und gesagt, er hätte dem Band von Anfang an geglaubt, ein anderer meinte hingegen, es hätte ihn nicht im Geringsten überzeugt. Ich habe keine Ahnung, warum die Geschworenen, die Robert geglaubt haben, sich so entschieden haben. Streng nach Recht und Gesetz, nehme ich an. Ich vermute, es lag an dem Revolver.«

»Wissen Sie, dass Ralph Duggan und die Staatspolizei zu der Zeit in einer Mordserie ermittelt haben? Und dass diese Morde seitdem offenbar aufgehört haben?«

Sie nickte abermals.

»Ich bin froh, dass das vorbei ist. Aber für meinen Fall hat das eigentlich keine Bedeutung, nicht wahr? Man konnte Arthur die Morde nicht nachweisen. Vielleicht war er es, vielleicht auch nicht. Aber ich habe keine Ahnung, ob das vor Gericht eine Rolle gespielt hätte oder überhaupt zugelassen worden wäre.«

Die Reporterin warf einen Blick auf die uniformierte Beamtin in der Ecke des Sprechzimmers. Die Frau gab sich alle Mühe, ihnen nicht zuzuhören, starrte ausdruckslos ins Leere und hielt die Hände im Schoß gefaltet. Genau wie in jedem anderen Gefängnis, in dem sie bisher gewesen war. Jedes Geräusch hallte nach. Und wenn nur ein Stuhl knarrte, die Beamtin bekam es mit.

Die Reporterin fühlte sich angesichts dieser Tatsache seltsam verwundbar.

»Und Sie sind seitdem im Gefängnis, oder?«, fragte sie.

»Ja.«

»Robert haben Sie auch nicht gesehen?«

»Er darf mich nicht besuchen. Das Gericht erlaubt es nicht. Erst wenn er vierzehn ist. Wenn Ihr Artikel irgendwas für mich ausrichten kann, dann würde ich mir wenigstens das wünschen: Ich bitte Sie, bewirken Sie, dass wir uns wenigstens hin und wieder sehen können.«

Die Reporterin bezweifelte, dass ihr Artikel dabei helfen konnte. Sie hatte den Eindruck, dass Lydia Danse nach wie vor auf verlorenem Posten dem System gegenüber stand. Aber das würde sie ihr nicht ins Gesicht sagen. Diese Frau war bereits mit einem Gnadengesuch gescheitert. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie sie sich fühlte und wollte die Sache nicht noch schlimmer machen.

»Nach wie vielen Jahren können Sie mit Bewährung rechnen, Lydia?«

Zum ersten Mal während des Interviews funkelten ihre Augen vor Wut.

»Nach fünfzehn Jahren«, antwortete sie.

»Bevor eine Bewährung überhaupt möglich ist?«

»Ja. Robert ist dann vierundzwanzig. Ein erwachsener Mann. Bis dahin habe ich den Rest seiner Kindheit verpasst. Alles.«

Ihr Blick sagte, dass ihr völlig klar war, wie sehr sie in einem gemeinen Spiel ohne eine Mitschuld betrogen worden war. Was Lydia Danse durchgemacht hatte und immer noch durchmachte, schien auf der Reporterin zu lasten wie ein unsichtbares, tonnenschweres Gewicht. Es bedrückte sie, als wäre es ihre persönliche Angelegenheit.

Was hätte ich an ihrer Stelle getan?, dachte sie. Was hätte irgendeine andere Frau in ihrer Lage getan?

Die Reporterin hatte Roberts Videoband gesehen und wusste, dass er über seinen Vater die Wahrheit sagte. Das Band hatte sie vollkommen überzeugt.

Lydia Danse war durchs Feuer gegangen – und dieses Feuer brannte immer noch.

Plötzlich schämte sie sich dafür, diesen Ort einfach so verlassen zu können. Dafür, in Freiheit leben zu dürfen, während diese Frau, die sie für viel stärker und mutiger hielt als sich selbst, ihrer Freiheit beraubt war – und das wahrscheinlich noch für eine sehr lange Zeit. Und dafür, dass sie in einer Welt lebte, die sie hierhergebracht hatte.

Fünfzehn Jahre. Ihr fehlten die Worte.

 

Wenn bis dahin nicht etwas Entscheidendes geschah, würde Lydia Danse eine alte Frau sein.

Mein Gott.

»Wie … ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll … Herrgott! Wie können Sie damit nur leben? Wie können Sie das nur ertragen

Sie sah, wie Lydia sich auf dem harten Metallstuhl aufrichtete.

»Robert ist jetzt bei Ruth«, sagte sie. »Er ist bei seiner Großmutter. Bei derselben Frau, die seinen Vater großgezogen hat. Die gegen das Gesetz verstoßen hat, als sie Arthur bei sich wohnen ließ. Aus irgendeinem wahnsinnigen Grund kam das Gericht zu dem Schluss, Arthur hätte sie dazu gezwungen. Deshalb hat es das Sorgerecht lieber ihr zugesprochen als meiner Schwester Barbara. Vor allem weil Barbara Single ist. Wir haben dagegen Widerspruch eingelegt. Mir gefällt das natürlich überhaupt nicht, aber darauf kommt es nicht an. Es kommt vor allem darauf an, dass sämtliche Männer in dieser Familie tot sind. Dass keiner mehr mit Schusswaffen hantiert oder andere damit bedroht. Es kommt darauf an, dass Robert nicht mehr von seinem Vater missbraucht wird, dass er jetzt in Sicherheit ist. Das ist das einzig Gute, was … bei alldem herausgekommen ist. Sonst würde ich hier wahrscheinlich durchdrehen. Wenigstens das ist mir geblieben: Die Gewissheit, dass er in Sicherheit ist.«

Selbst die Wachbeamtin sah sie jetzt ganz offen und mit stoischer Anteilnahme an.

»Das kann mir keiner nehmen«, sagte sie.

Die Reporterin ertappte sich dabei, dass es ihr erneut die Sprache verschlug.

Irgendwie ist sie durchs Raster gefallen, dachte sie. Noch jemand, den das System nicht schützen konnte. Doch diese Frau war tiefer und härter gefallen, als alle anderen, denen sie begegnet war … Aber sieh sie dir an, dachte sie. Sie lässt sich von alledem nicht unterkriegen. Klar will sie hier raus. Um jeden Preis. Trotzdem hatte der Stumpfsinn der grauen Mauern, Gitterstäbe und leerer Blicke sie ebenso wenig lebendig begraben wie die Monotonie des Gefängnisalltags. Etwas, das außerhalb dieser Mauern weiter bestand, im Leib und Leben ihres Sohnes, und das dort – mit oder ohne ihr Zutun – weiter heranwuchs, hielt sie am Leben.

Was für eine Verschwendung. Was für ein Scheißverbrechen.

Die Reporterin konnte an dieser Frau verzweifeln und zugleich mit ihr fühlen. Sie wusste, dass sich ihre Gefühle in wenigen Wochen in einen ebenso zornigen wie kaltblütigen Artikel für die Leser eines großen nationalen Magazins niederschlagen würden. Aber Lydia Danse selbst verzweifelte nicht.

Sie hat richtig gehandelt, dachte die Reporterin. Und das weiß sie auch. Was auch immer irgendwer sonst denken mag.

Darin lag Größe.

Und Anstand.

Der Reporterin wurde klar, dass Lydia Danse ihr tief in die fassungslosen Augen blickte. Im selben Moment wusste sie, dass das Interview nun vorbei war.

 

Ruth beobachtete ihn von ihrem Sessel vor dem Fernseher aus. Er saß am Esszimmertisch und machte seine Hausaufgaben. Radierte irgendwas mit seinem Bleistiftende.

Nicht aufgeben, dachte sie. So ist’s richtig. Nur nicht aufgeben.

In dem Jahr, das vergangen war, seit all das geschah, war er größer geworden – größer und magerer. Sie fand, die Magerkeit stand ihm genauso gut zu Gesicht wie sie Arthur in diesem Alter gestanden hatte. Deshalb schimpfte sie auch nicht mit ihm, wenn er beim Essen seinen Teller nicht ganz leerte. Solange er überhaupt etwas aß, war sie zufrieden.

Eigentlich machte er ihr in letzter Zeit überhaupt keinen Ärger mehr. Gut, er war immer noch zu still, stieß manchmal, wenn er nicht aufpasste, wo er hinlief, auch gegen die Möbel, aber er stotterte nicht mehr, wofür sie dankbar war, weil ihr das Stottern, ehrlich gesagt, immer schon peinlich gewesen war. Er war gut in der Schule. Fleißig und folgsam.

Er war ein guter Junge.

Genauso wie Arthur.

Jedenfalls die meiste Zeit.

Das einzige Problem, das sie mit Robert hatte – das aber nicht mehr so oft vorkam, auch wenn einmal im Monat in ihrem Alter weiß Gott reichte, um ihr den letzten Nerv zu rauben –, das einzige Problem war, dass er nachts ins Bett machte. Sie wachte dann morgens oder manchmal auch mitten in der Nacht von einem grässlichen Gestank auf. Und entdeckte dann, wie der Junge in seiner eigenen Kacke schlief oder die Bettwäsche abzog oder einfach mit traurigem, schuldbewusstem Gesicht dasaß.

Wenn es passierte, musste er seine Bettwäsche selbst waschen. Sie legte deshalb immer eine Plastikmatte zum Schutz der Matratze in sein Bett. Aber sie kaufte ihm nie Windeln. Sie würde doch für einen Neunjährigen kein Geld für Windeln ausgeben.

Irgendwie musste sie ihm das abgewöhnen.

Und zwar bald.

Sie konnte diesen gottverdammten Gestank nicht länger ertragen.

Es war nicht richtig.

Es war nicht hygienisch.

Und es war völlig unnötig.

Er war viel zu alt, um ihn noch auf die althergebrachte Weise zu erziehen.

Sie musste sich etwas anderes ausdenken.

Natürlich gab es da noch die Methode, die bei Arthur immer funktioniert hatte, die geholfen hatte, ihn wieder zur Vernunft zu bringen, wenn er mal nicht spuren wollte – was selten genug vorgekommen war. Aber die Zeiten hatten sich geändert, seit Arthur ein Junge gewesen war, und die Leute waren heutzutage viel neugieriger. Seine Lehrer beispielsweise. Dann gab es noch die Schulpsychologen, die ihre Nase in alles steckten, und selbst die Eltern anderer Kinder konnten sich ihre Neugier meistens nicht verkneifen. Sie hatte diese Geschichten gehört. Von Leuten, denen das verdammte Jugendamt die Kinder weggenommen hatte. Sie musste also vorsichtig sein.

Sie musste ihn dort benutzen, wo man nichts sehen konnte.

Es war ein dünner, abgeschälter Stock aus Birkenholz.

Bei Arthur hatte er immer sehr gut funktioniert.

In der Dunkelheit seines Kinderzimmers war sie später immer zu ihm gegangen, hatte ihn an ihren Busen gedrückt und gespürt, wie seine süßen, heißen Tränen ihr Hauskleid durchnässten, dann hatte sie ihn in ihren Armen gewiegt und ihm gesagt, dass jetzt alles wieder gut sei, dass es nun vorbei sei, dass er ihr Junge sei, ihr braver Junge, ihr einziges Kind und die Liebe ihres Lebens, bis in alle Ewigkeit, ganz gleich, was der gute, alte Harry davon halten mochte, ganz gleich, was sonstwer davon halten mochte, weil keiner auf der ganzen Welt ihr so viel bedeutete wie er – sie gehörten auf ewig zusammen, im Angesicht Gottes, und dann streichelte, streichelte, streichelte sie ihn ohne Unterlass.

1

Kinder

Wolfeboro, New Hampshire · Juni 1962

 

Das kleine Mädchen hatte aufgehört gegen die Tür zu hämmern. Das brachte sowieso nichts.

Sie konnte die da draußen nicht mal mehr hören.

Die feuchte, stickige Luft in der Hütte roch schwer nach Erde und altem, fauligem Holz. Es wurde allmählich dunkel. Das Licht durch die Spalten in den fensterlosen Wänden wurde schwächer und schwächer.

Sie hatten irgendwas in den Türrahmen geklemmt, ein Stück Holz oder so. Sie konnte die Tür keinen Zentimeter von der Stelle bewegen. Zusammengekauert saß sie gegen die schwitzende, glitschige Wand gelehnt, roch den feuchten Lehmboden und den vollen Moschusgeruch ihrer Tränen und dachte: Keiner wird mich finden.

Sie stellte sich vor, wie sie irgendwo da draußen im Sumpf – gut möglich, dass sie inzwischen schon eine halbe Meile entfernt waren – durch flaches, schwarzes Wasser und Morast stapften, der einem die Gummistiefel von den Füßen ziehen konnte, und mit ihren zweizackigen Metallspießen nach Fröschen stachen. Jimmy hatte bestimmt schon ein paar beisammen, die jetzt tot oder sterbend in seinem Eimer lagen. Billy war nicht so schnell wie Jimmy und deshalb womöglich leer ausgegangen.

Das musst du dir ansehen, hatten sie gesagt. Das ist cool.

Die alte Blockhütte lag irgendwo am Ende der Welt. Ihr Daddy nannte so etwas ein scheußliches Bauwerk. Seit Jahren schon versank die Hütte langsam im Sumpf, und für Jagdausflüge wurde sie schon lange nicht mehr benutzt.

Liddy war erst sieben.

Sie hatte nicht reingehen wollen.

Die Jungen, Jimmy und Billy, waren neun und zehn. Warum hatte sie also als Erste reingehen sollen?

Warum immer sie?

Das hatte sie sich insgeheim gedacht, war dann aber doch durch die offen stehende Tür gegangen. Schließlich durfte sie die Jungs nicht merken lassen, dass sie Angst hatte. Auch nicht, als Jimmy sie reinschubste und lauthals zu lachen anfing und einer von beiden die Tür zuhielt und der andere irgendwas zwischen Tür und Rahmen stopfte. Sie saß in der Falle.

Sie hämmerte gegen die Tür. Schrie. Weinte.

Sie hörte die beiden draußen lachen, dann wie sie durchs Wasser stapften.

Dann hörte sie lange nichts mehr.

Sie kauerte neben der Tür, starrte auf den Erdboden und fragte sich, ob es hier Schlangen gab und wenn ja, ob sie wohl nachts in die Hütte kriechen würden.

Es musste inzwischen Zeit zum Abendessen sein.

Daddy würde wieder wütend sein.

Mom würde sich Sorgen machen.

»Na los. Bitte«, sagte sie zu niemand Bestimmtem. »Lasst mich raus. Bittebittebitte!«

Was nur zur Folge hatte, dass sie wieder zu weinen anfing.

Die Jungs redeten ständig über das, was hier passiert ist. Sie redeten über nichts anderes. Jeder wusste es.

Mörder waren hier gewesen. Ausgebrochene Irre, die Sachen mit Kindern gemacht hatten.

Vor allem mit kleinen Kindern.

Liddy hasste Billy und Jimmy.

Sie wünschte, sie wären tot. Dann wünschte sie sich, sie wäre tot.

Weil sie wieder nicht gehorcht hatte.

Sie hätte niemals mitgehen dürfen.

Mom und Daddy hatten sie vor diesem Ort gewarnt. Du wirst mir unter gar keinen Umständen dorthin gehen, hatte ihre Mom gesagt.

Aber es gab nicht viele Kinder in der Gegend und überhaupt keine Mädchen zum Spielen und irgendjemanden musste man doch haben. Und manchmal waren Billy und Jimmy ja auch nett zu ihr. Manchmal überstand sie einen ganzen Tag, ohne herumgeschubst, gekniffen oder geschlagen zu werden.

Als wäre sie wirklich die Schwester von irgendjemandem.

Also war sie mitgekommen. Obwohl sie gewusst hatte, dass wahrscheinlich irgendetwas schieflaufen würde. Obwohl sie den Jungs vollkommen vertrauen musste, auch was den Weg hier herauf anging, weil der Pfad weitab vom Schuss lag und sie diesen Abschnitt des Waldes noch nie zuvor gesehen hatte.

Es war, als hätte sie sich … verirrt.

Selbst wenn sie aus dieser Hütte rauskam, wusste sie nicht genau, wie sie wieder nach Hause zurückfand.

Wenn Sie die ganze Nacht hierbleiben musste, würde sie bestimmt verrückt werden.

Es gab da diese Geschichte, die Jimmy immer über den Sumpf erzählte.

Er sagte, dass sein älterer Bruder Mike vor langer Zeit mal allein hier oben gewesen war und dass er etwas im Wasser gesehen hatte. Dass es zuerst wie ein Stück Holz ausgesehen hatte, aber als Mike näher rankam, hatte er bemerkt, dass es ein Mann war, ein Toter, dessen halbes Gesicht weggehackt war – es war vollständig und vollkommen sauber vom Scheitel bis zum Kinn abgetrennt, so dass ein geöffnetes Auge ihn anstarrte und das andere einfach nicht mehr da war. Die Nase war genau in der Mitte gespalten und der halbe Mund stand zu einem riesengroßen O geformt offen, so dass der Mann, wie Mike erzählte, in erster Linie überrascht aussah. In seinem Hinterkopf konnte er ein Durcheinander von Gehirn, Blut und Knochen erkennen. Er rannte sofort zur Polizei und kehrte mit den Beamten eine Stunde später zu der Stelle zurück, aber der Mann war nicht mehr da. Der Mann war verschwunden. Sie hatten überall nach ihm gesucht.

Jimmy war ein Lügner, genau wie sein großer Bruder Mike, aber Jimmy erzählte ständig, dass der Mann jetzt hier herumspukte. Dass man ihn nachts durch seinen halben Mund stöhnen und durch seine halbe Nase schwer atmen hören konnte, während er sich durch das schmutzige, mit Schlangen, Fröschen und Blutegeln verseuchte Wasser schleppte.

Aber das war bloß eine Geschichte.

Trotzdem – wenn sie die ganze Nacht hierbleiben musste, würde sie verrückt werden. Sie zitterte am ganzen Leib.

Es wurde dunkel.

»Mommy«, flüsterte sie.

Sie hörte Schritte. Jemand watete durch den Morast. Kam auf sie zu.

»Mommy«, sagte sie,

Sie dachte an den toten Mann.

Sie rief nicht Hilfe, sondern Mommy.

Ihr langer, brauner Pferdeschwanz blieb am rauen, verwitterten Holz hängen, als sie von der Tür wegrutschte. Ihre Kopfhaut brannte, als sich ein Haarbüschel löste. Sie sprang auf und rannte zu der am weitesten entfernten Wand. Sie spürte, wie winzige Splitter des alten, verfaulten Holzes in ihre Handflächen stachen. Trotzdem presste sie ihren Rücken dagegen und beobachtete die Tür.

»Nur zu«, sagte Jimmy. »Ruf nach deiner Mommy

Dann stieß er die Tür auf. Die Scharniere kreischten.

»Du Mädchen!«

Er rannte los. Billy folgte ihm auf dem Fuß.

»Wartet!«, rief sie. Sie lief hinter ihnen her.

Ihre Gummistiefel sanken in den Morast, Schlamm bespritzte ihre nackten Beine und ihre Shorts. Tapfer kämpfte sie sich voran. Aber sie war nicht so schnell wie die beiden. Nicht mal annähernd.

Als sie den Sumpf hinter sich gelassen hatte, waren sie schon den Hügel hinauf und zwischen den Bäumen verschwunden.

Als sie auf dem Hügel angekommen war, konnte sie die Jungs nirgendwo mehr sehen.

Sie war wieder allein.

Der Abend war angebrochen. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis es dunkel wurde. Durch die dichten Bäume und Sträucher schien schon jetzt kaum noch Licht.

Welche Richtung?

Sie dachte, dass sie vielleicht …

Sie lief von einer Hügelkuppe zur nächsten. Und wieder zur nächsten. Sie hatte Angst und weinte. Jeder Hügel sah aus wie der vorherige und keiner kam ihr bekannt vor. Nur Gebüsch, Grünzeug, fahlweiße Birken und dichtes, gemeines Dornengestrüpp. Sie lief, so schnell sie konnte. Lief gegen die Zeit und die Dunkelheit an.

Sie stolperte, fiel, schrammte sich an einem Felsen die Knie auf und spürte, wie ihr Musikantenknochen kribbelte und taub wurde, nur um anschließend wieder furchtbar wehzutun und zu pulsieren. Sie spürte die Holzsplitter tiefer in ihre Handfläche eindringen. Sekunden später stolperte sie wieder, diesmal über einen halb unter Laub verborgenen Ast, und fiel auf die Seite.

Auf den Pfad.

Auf gut ausgetretene, festgestampfte Erde.

Und jetzt erkannte sie auch den großen Felsen, den mit Katzengold drin. Er lag genau vor ihr und war mit Katzengold gesprenkelt. Jimmy hatte auf dem Hinweg obendrauf gestanden.

Ja!

Jetzt musste sie doch nicht hier draußen sterben, würde nicht verhungern oder von Verrückten umgebracht oder von Schlangen gebissen werden. Sie würde auch nicht den rasselnden Geisteratem des Mannes mit dem gespaltenen Schädel hören. Sie würde es nach Hause schaffen.

Tränen strömten über ihre schlammbedeckten Wangen. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sich ein Mensch gleichzeitig so gut und so schlecht fühlen konnte. Ihr Herz hämmerte vor Erleichterung.

Sie hatte es nach Hause geschafft.

 

Ihr Vater erwartete sie auf der Veranda. Er trank ein Bier, trug noch das Hemd, das er in der Bank angehabt hatte, saß in seinem Schaukelstuhl und hörte zu, wie sie ihm alles zu erklären versuchte.

Ihre Mutter stand in der Tür hinter dem Fliegengitter. Sie beobachtete sie, während sie die Hände ruhig über ihren aufgetriebenen Bauch gelegt hatte. Ihre Mutter war im achten Monat schwanger.

Als sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, stellte ihr Vater sein Bier ab, stand auf, ging zu ihr hinüber und blieb am äußersten Rand der Veranda stehen.

»Was ist los mit dir?«, fragte er. »Du bist doch sonst so schlau. Wo hast du deinen Verstand gelassen, Lydia? Bist du von allen guten Geistern verlassen?«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie zupfte an den Holzsplittern. Die Hand tat ihr weh. Das Knie tat ihr weh. Das Knie blutete sogar. War ihm das etwa egal?

»Ziehe ich etwa ein dummes Kind groß, Lydia? Sieht ganz so aus.«

Ihre Mutter machte das Fliegengitter hinter ihm auf.

»Russell …«

Aber es war, als wäre ihre Mutter gar nicht da.

»Hör mir zu. Du bist kein Junge, Liddy. Jungs machen Sachen, die manchmal gefährlich und manchmal ziemlich dumm sind. Man könnte sagen, das gehört bei Jungs eben dazu. So wachsen sie auf. Aber für dich gehört es sich nicht, die Sachen zu machen, die die Jungs machen. Verstehst du das? Oder ist das zu schwierig für dich?«

»Nein.«

Sie dachte, sie würde wieder zu weinen anfangen. Sie fragte sich, ob das Baby in Mamas Bauch wohl ein Junge werden würde.

»Nein was

»Nein, Sir.«

Seine blassblauen Augen durchbohrten sie.

»Also schön. Ich weiß nicht, weshalb ich dir das überhaupt erklären muss.« Er schüttelte den Kopf. »Ehrlich. Manchmal frage ich mich, wo zur Hölle du eigentlich hergekommen bist.« Er drehte sich um und setzte sich in den Schaukelstuhl.

»Dein Abendessen ist kalt«, sagte er. »Und es wird verdammt nochmal auch kalt bleiben. Jetzt geh nach oben und mach dich sauber, junge Dame. Und deine Klamotten wirst du auch selbst waschen. Hast du mich verstanden?«

»Ja, Sir.«

Sie zog ihre schlammigen Gummistiefel aus und stellte sie neben die Veranda. Daddy nahm einen Schluck von seinem Bier, sagte nichts und sah sie auch nicht an. Wenigstens würde er sie dieses Mal nicht schlagen. Ihre Mutter öffnete ihr die Tür und trat zur Seite, als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg.

Sie setzte sich aufs Bett. Dann fiel ihr ein, dass sie schmutzig und das Bett sauber war. Sie stand auf und wischte den Dreck von der Bettdecke, humpelte den Flur zum Badezimmer hinunter und besah sich im Spiegel.

Das Gesicht, das ihr entgegenblickte, war schmutzig und von Tränenspuren überzogen, die Augen blickten traurig und betrübt. Ihr Pferdeschwanz war total verfilzt, Kletten, Zweige und Laub hingen darin.

Sie fühlte sich genauso einsam wie in der Hütte.

Fast.

Sie hatte nur ein bisschen weniger Angst, das war alles.

 

 

Ellsworth, New Hampshire · August 1962

 

Der Junge lag auf dem dunklen, stickigen Kriechboden unter der Treppe und lauschte. Seine Mutter stand direkt über ihm und sprach mit Officer Duggan.

Er konnte alles genau hören.

»Ich werde keine vierundzwanzig Stunden warten, Ralph Duggan«, sagte seine Mutter gerade. »Das werde ich ganz sicher nicht. Nicht, wenn du wie jetzt direkt vor mir stehst.«

»Ruth …«

»Komm mir nicht mit ›Ruth‹. Ich hab dich schon gekannt, als du so alt warst wie Arthur, oder etwa nicht? Ja, allerdings. Doch, hab ich. Da kannst du Gift drauf nehmen. Und jetzt sag du mir – hätte deine Mama etwa vierundzwanzig Stunden gewartet? Was glaubst du?«

Arthur konnte Officer Duggan seufzen hören. Er wusste, wie es war, wenn man mit seiner Mutter zu reden versuchte. Er lag im Dunkeln und bewegte sich keinen Zentimeter.

Er starrte durch das hölzerne Gitterwerk und dann durch die wuchernden Sträucher und das dürre Gras. Obwohl langsam der Abend dämmerte, konnte er von hier aus fast den ganzen Hügel bis zur Brücke und zum Biberteich überblicken. Er schlich sich manchmal dorthin, wenn alle schliefen.

Der Junge konnte alles beobachten, aber sie konnten ihn nicht sehen. Es war hier unten viel zu dunkel, und bis sich die Augen darauf eingestellt hatten, dauerte es eine Weile. Seine Mutter hatte es schon vergeblich versucht.

»Ruth, das Problem ist, dass wir im Moment keinen einzigen Mann entbehren können. Das verdammte Buschfeuer hält uns alle auf Trab. Die Leute kommen sogar den ganzen Weg von Compton hierher, um uns zu helfen, Polizisten und Freiwillige. Aber bei dem Wind und weil das Land dermaßen trocken ist … ach verflucht, Sie können den Rauch doch von hier aus riechen. Wie’s aussieht, wird uns diese Sache noch die halbe Nacht beschäftigen.«

»Das Buschfeuer ist mir egal. Mein Junge nicht.«

»Wollen Sie, dass Ihr Haus in Flammen aufgeht, Ruth? Könnte passieren, wenn wir dieses verdammte Feuer nicht aufhalten.«

»Das Feuer ist noch eine halbe Meile entfernt.«

»Das stimmt. Und der Wind weht genau in Ihre Richtung. Das heißt, es trifft zuerst die Wingertens und dann Sie. Harry, reden Sie mal mir ihr, ja?«

Dem Jungen ging erst jetzt auf, dass sein Vater auch dabeistand. Sein Vater konnte sich, wenn er es darauf anlegte, so lautlos bewegen wie ein Apache.

Außer wenn er betrunken war.

Eine braune Waldspinne lief über den linken Handrücken des Jungen und krabbelte auf sein Handgelenk zu.

Er wusste, dass die Spinne ziemlich schmerzhaft beißen konnte, aber vor etwas so Winzigem hatte er keine Angst.

Vor manchen Menschen schon, ja.

Aber nicht vor Spinnen.

Obwohl er Spinnen ekelhaft fand.

Aber er konnte nicht riskieren, nach ihr zu schlagen. Sie könnten ihn hören. Stattdessen streckte er langsam die rechte Hand aus und zerquetschte ihren Körper an seinem Handgelenk. Die Spinne wurde feucht und klebrig. Er rieb die Stelle, bis das Feuchte trocken war und nur das klebrige Zeug zurückblieb.

Das war nochmal gutgegangen. Die Spinne hatte ihn nicht gebissen.

»Es spielt keine Rolle, was mein Mann zu dem Thema zu sagen hat«, sagte seine Mutter. »Der Junge hat in seinem ganzen Leben noch kein Sonntagsessen versäumt. Er würde es auch nicht wagen, eins auszulassen. Niemals. Irgendwas stimmt hier nicht. Du und ich, Ralph Duggan, wir werden gemeinsam nach dem Jungen suchen. Jetzt geh rüber zu dem Wagen da und gib eine anständige Vermisstenmeldung raus, oder muss ich erst ins Haus gehen und die Schrotflinte holen. Wie wär’s damit?«

»Ruth, wissen Sie eigentlich, was Sie tun? Sie drohen einem Polizeibeamten.«

»Du willst mich also verhaften. Na schön. Mach nur. Aber erst, nachdem wir Arthur gefunden haben.«

»Jungs lassen sich schnell ablenken.«

Er konnte hören, wie der Polizist sich unbehaglich auf der Treppe hin und her bewegte.

»Und ich muss ein Feuer bekämpfen.«

»Und woher weißt du, dass er nicht mittendrin ist?«

»Was?«

»In deinem verfluchten Feuer, Ralph. Woher weißt du, dass er nicht verletzt inmitten des verdammten Feuers da draußen liegt? Mein Arthur hatte mit drei Jahren Asthma. Ohnmachtsanfälle. Was, wenn er einen Rückfall oder so was hat?«

»Himmel, Ruth.«

Der Junge lächelte. Seine Mutter würde gewinnen.

Seine Mutter gewann immer.

Das Beste war, dass sie dieselbe Erklärung benutzte, die auch er hatte benutzen wollen – die Ohnmachtsanfälle. Jetzt wusste er, dass er damit durchkommen würde. Das würde ihnen Angst einjagen. Er wusste nicht, warum er ihnen Angst einjagen wollte, aber er wollte es einfach. Seine Mutter würde eine echt große Sache daraus machen und er würde morgen nicht zur Schule gehen müssen und übermorgen und den Tag danach vielleicht auch nicht. Vielleicht würden sie sogar einen Doktor holen.

»Also schön, Ruth«, sagte Duggan. »Sie haben gewonnen. Sie und Harry steigen hinten ein. Ich denke, wir fangen so nah wie möglich beim Feuer an und arbeiten uns dann wieder zum Haus vor. Ist allerdings nicht mehr besonders hell.«

»Und du gibst die Suchmeldung durch.«

»Ja, Ruth. Ich geb die Suchmeldung durch.«

Er hörte, wie sie die Treppe hinuntergingen, hörte Autotüren aufgehen und wieder zuschlagen und wie der Motor des Polizeiautos startete und der Wagen davonfuhr. Dann waren da nur noch die vertraute Stille, die Grillen und Frösche am anderen Ende der Straße beim Biberteich jenseits des Hügels.

Er kroch unter der Treppe hervor und setzte sich mit über den Beinen verschränkten Armen ins Gras. Niemand würde ihn hier entdecken. Er fühlte sich unsichtbar, als wäre er nicht in derselben Welt wie alle anderen, als wäre er gar nicht da.

Er schnupperte an seinem Hemd.

Das Hemd roch noch nach Rauch. Genau wie seine Jeans. Nach Rauch und Dreck.

Er fragte sich, ob seine Sachen immer noch nach Rauch riechen würden, wenn sie zurückkamen, und ob seine Mom es bemerken würde.

Es war gut möglich, dass sie ihm auf die Schliche kamen.

Bei dem Gedanken durchfuhr ihn die Furcht wie ein greller Blitz. Die Erkenntnis, dass er in Gefahr schwebte, war fast dasselbe Gefühl, das er gehabt hatte, als er die Streichhölzer an das Gebüsch gehalten, sich hingekauert und zugesehen hatte, wie das Feuer langsam von den Sträuchern auf die Bäume und auf weitere Sträucher übergriff, während er den Rauch gerochen und den Knisterlauten gelauscht hatte.

Schließlich hatte ihn dieses Gefühl überwältigt, so dass er davonrennen und sich verstecken wollte.

Es hatte sich fast wie Freude angefühlt.

Er war ein schlechter Mensch.

Und jetzt war er unsichtbar.

Und niemand würde je irgendetwas davon erfahren. Er würde dasitzen, bis seine Sinne ihm befahlen, sich wieder zu verstecken, dann würde er wieder unter die Veranda robben und den Sorgen seiner Mutter und dem Schweigen seines Vaters im Haus lauschen, bis er wieder ein guter Mensch war und bereit, herauszukommen, und niemand würde jemals etwas erfahren.