Cover

Felix Scheinberger (Hg.)

Schaurigschöne Spukgeschichten
für schwarze Nächte

Illustriert von Studenten
der Fachhochschule Münster

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Felix Scheinberger (Hg.)

Felix Scheinberger ist Professor für Illustration an der Fachhochschule Münster. Außerdem zählt er zu den namhaftesten Illustratoren Deutschlands.

Über dieses Buch

Wunderbare Autoren klassischer Gespenstergeschichten vereinen sich hier in einem Taschenbuch, darunter E.T.A. Hoffmanns «Eine Spukgeschichte», F. Marion Crawfords «Die obere Koje», H.R. Wakefields «Das Gespensterschloss», Graham Greenes «Das Hinterhaus unweit der Edgware Road», Goethes «Der Erlkönig» und viele andere. Mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Illustrationen junger Künstler der Fachhochschule für Illustration in Münster.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Lektorat Melanie Becker

Quellennachweis im Anhang

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlagillustration Felix Scheinberger

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-21482-0 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-51381-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51381-5

Vorwort

Glaubt ihr an Gespenster?

Im Ernst? Glaubt ihr an düstere Phantome in halb verfallenen Gemäuern, an Schatten der Vergangenheit, die sich körperlos in unsere Nächte schleichen? An flüsternde Stimmen in Aufzugsschächten oder an Bilder mit tückischen Augen, die uns folgen, wenn wir an ihnen vorüberhuschen?

Glaubt ihr an Warnungen und Botschaften aus dem Jenseits, an böse Vorahnungen und Zeichen aus einer anderen Welt?

Glaube ich an Gespenster?

Nun ja. Vielleicht. Aber bitte zitiert mich nicht! Denn in einen Topf mit Spökenkiekern möchte ich nun doch nicht geworfen werden. Immerhin lege ich Wert darauf, auch weiterhin als ernsthafter Gesprächspartner und nicht als esoterisch verhuschter Geisterseher wahrgenommen zu werden.

In der Tat gehören Gespenster schon sehr lange nicht mehr in unsere Welt. Generationen haben all dem die Tür gewiesen, was man nicht wiegen, messen und zählen kann. In unserer sehr berechenbaren Normalität bleibt für Gespenster kaum mehr Platz, weshalb wir sie wahlweise in frühere Zeiten oder schlicht ins Reich der Phantasie verbannen. Gespenster, so würden es vermutlich die meisten von uns formulieren, gibt es, wenn überhaupt, nur in Osteuropa und dann garantiert nicht solche aus Leintüchern.

Selbstverständlich erwarten wir, dass wir, wenn wir schon an etwas glauben sollen, zumindest ein Anrecht darauf haben, dass man es uns zunächst einmal beweist. Doch gerade da machen es uns die Botschafter aus der Zwischenwelt ja gern schwer: Beweisen lassen sie sich in der Regel nicht. Und das mit gutem Grund – denn ein Beweis wäre gegen den Glauben. Schon die Ektoplasma-Fotos des 19. Jahrhunderts, wie auch moderne Internetfunde, erweisen sich bei genauerem Hinsehen als gefakt.

Vielleicht zäumen wir das Pferd deshalb einmal von hinten auf: Viel interessanter als die Frage, wie man die Existenz von Gespenstern beweisen könnte, ist die Überlegung, was die Existenz von Gespenstern denn beweisen würde.

Sind Gespenster ein Seelenbeweis? Bringen sie ein wenig Licht in die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt? Haben sie eine Antwort, oder liegt schon ihrem Erscheinen eine inne?

Sir Nicholas, das Gespenst aus Harry Potter, konnte darauf keine Antwort geben.

Dabei ist es doch gerade das, was wir wirklich gerne von ihnen wissen möchten: Was kommt nach dem Tod? Gibt es ein ewiges Leben? Existieren Himmel und Hölle?

Doch da zucken die nebelgleichen Schultern.

Die Geister unseres Buches sind noch weniger redselig. Sie kriechen aus Meerestiefen, lauern in alten Kinosälen oder lassen sich durch mittelalterliche Pfeifen herbeirufen. Nur Rede und Antwort stehen sie nicht. Tatsächlich wirft ihr Erscheinen meist nur noch mehr Fragen auf.

Dabei könnten echte Gespenster doch recht gut beweisen, dass wir einmalig und unsterblich sind und dass unser Leben nicht mit dem Tod endet, sondern dass etwas von uns auch über den Tod hinaus Bestand hat. Darin liegt vielleicht die eigentliche Faszination des Übersinnlichen: Denn wenn unsere Seele Bestand genug hat, uns einen gehörigen Schrecken einzujagen, dann sollte sie auch beweisen können, dass es etwas gibt, was sie fernab ihres wahrscheinlich längst verfallenen Körpers als Persönlichkeit auf dem Weg nach Drüben zusammenhält. Und dass der Weg und das Drüben überhaupt existieren.

Doch bedauerlicherweise beweisen Gespenstergeschichten vor allem, dass uns dieser Gedanke gefällt und dass wir uns ein Leben nach dem Tod wünschen. Sie beweisen, dass wir uns wünschen, wichtig und bedeutend genug zu sein, um nach unserem Tod zumindest ein Phantom zu stellen, denn andernfalls würden wir diese Geschichten wohl nicht weitererzählen.

Der vorliegende Band vereint zehn der schönsten und, wie ich finde, gruseligsten Gespenstergeschichten unter anderem von Goethe, Graham Greene, E.T.A. Hoffmann und Jean Ray. Außerdem vereint er – und das scheint mir fast ebenso wichtig – knapp vierzig Bilder von jungen Künstlern, die sich im Rahmen ihres Studiums am Fachbereich Design der Fachhochschule Münster mit dem Thema «Gespenster» auseinandergesetzt haben. Im Wintersemester 2012 haben wir uns gemeinsam gegruselt, und die Studierenden haben an ihren Zeichentischen und Computern mit Gänsehaut und Herzblut die eigentlich nicht greifbaren Phantome erschaffen, die jetzt den vorliegenden Band füllen.

Illustration hat im Gegensatz zur Fotografie die Eigenschaft, dass wir mit ihr nicht nur das abbilden können, was wir sehen – wir können mit ihr ebenfalls das abbilden, was wir uns bloß vorstellen. Durch Illustrationen wird all das sichtbar, was nur in unseren Köpfen existiert. Illustration lebt demnach durch Phantasie – sie ist Bild gewordene Phantasie –, und genau darin liegt ihre Stärke.

In dem vorliegenden Band können junge Gestalter zeigen, was in ihnen steckt. Der Rowohlt Verlag, insbesondere die Programmleiterin Christiane Steen, verdienen hier Respekt, denn sie beweisen damit ebenfalls Glauben – den Glauben in eine Gestalter-Generation, die jenseits von der oft beschworenen «Generation Internet» ihre eigenen Bilder und Vorstellungen formuliert.

Denn in der Tat ist es der Glaube, der Gespenster leben lässt. «Wir sind aus solchem Stoff, aus dem unsere Träume sind» lässt Shakespeare seinen Prospero in Der Sturm sagen. Tatsächlich vermute ich, dass es unsere Ideen sind – das, was wir in die Welt bringen und wodurch wir anderen in Erinnerung bleiben –, die uns wirklich unsterblich machen. Kunst hat diese Eigenschaft, und wahrscheinlich ist sie deshalb ein guter Gefährte für die schwer fassbaren Phantome aus der Zwischenwelt.

Der Begriff Illustration kommt aus dem Lateinischen und bedeutet «Erleuchten». Lasst euch also den Weg durch die vorliegenden Geschichten, durch die Bilder der Studierenden beleuchten.

Und kommt nicht vom Wege ab, denn rechts und links des Lichtkegels lauern die Schatten – und wer weiß, was noch alles!

Ich wünsche euch eine angenehme Lektüre und eine geruhsame, störungsfreie Nacht.

 

Euer

Felix Scheinberger

Januar 2014

Johann Wolfgang von Goethe Erlkönig

Illustriert von Sabrina Naundorf

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

Es ist der Vater mit seinem Kind;

Er hat den Knaben wohl in dem Arm,

Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

 

«Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?»

«Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?

Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?»

«Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.»

 

«Du liebes Kind, komm, geh mit mir!

Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;

Manch bunte Blumen sind an dem Strand,

Meine Mutter hat manch gülden Gewand.»

 

«Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,

Was Erlenkönig mir leise verspricht?»

«Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;

In dürren Blättern säuselt der Wind.»

 

«Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?»

Meine Töchter sollen dich warten schön;

Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn

Und wiegen und tanzen und singen dich ein.»

 

«Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort

Erlkönigs Töchter am düstern Ort?»

«Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:

Es scheinen die alten Weiden so grau.»

 

«Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;

Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.»

«Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!

Erlkönig hat mir ein Leids getan!»

 

Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,

Er hält in Armen das ächzende Kind,

Erreicht den Hof mit Mühe und Not;

In seinen Armen das Kind war tot.

Mary E. Wilkins-Freeman Kleines, suchendes Gespenst

Illustriert von Maren Kelch, Boris Bromberg,
Lara Paulussen und Simone Seidel

Mrs. John Emerson, die mit ihrer Stickerei am Fenster saß, blickte auf, sah Mrs. Rhoda Meserve die Straße herunterkommen und erkannte an der Richtung ihrer Schritte und der Neigung ihres Kopfes sofort, dass sie vorhatte, bei ihrer Eingangstür hereinzukommen. An einem gewissen Etwas ihrer allgemeinen Haltung – dem Vorwärtsrecken des Halses, dem unruhigen Zucken der Schulter – erkannte sie, dass sie wichtige Neuigkeiten brachte. Rhoda Meserve wusste es immer, wenn es etwas Neues gab, und im Allgemeinen war Mrs. John Emerson die Erste, mit der sie die Neuigkeit teilte. Die zwei Frauen waren Freundinnen, seit Mrs. Meserve Simon Meserve geheiratet hatte und ins Dorf gezogen war.

Mrs. Meserve war eine hübsche Frau, sie bewegte sich mit einem anmutigen Hüpfen ihrer gekräuselten Bluse; ihr klargeschnittenes, nervöses Gesicht, so zart getönt wie eine Muschel, schaute unter der gefiederten Krempe eines schwarzen Hutes strahlend hervor auf Mrs. Emerson im Fenster. Mrs. Emerson war froh, dass sie zu Besuch kam. Sie erwiderte den Gruß begeistert, lief in den kalten Salon und holte von dort einen der besten Schaukelstühle. Nachdem sie ihn neben dem gegenüberliegenden Fenster aufgestellt hatte, kam sie gerade zurecht, um ihre Freundin an der Tür zu begrüßen.

«Guten Tag», sagte sie. «Ich muss sagen, ich bin wirklich froh, dich zu sehen. Ich war den ganzen Tag allein. John ist am Morgen in die Stadt gefahren, und ich dachte daran, am Nachmittag zu eurem Haus hinüberzukommen, aber ich konnte nicht gut meine Näherei mitbringen. Ich nähe gerade an mein neues schwarzes Kleid Spitzen an.»

«Ach, außer meiner Häkelarbeit hatte ich nichts zu tun», erwiderte Mrs. Meserve, «und deshalb hielt ich es für besser, auf ein paar Minuten herüberzukommen.»

«Ich bin froh darüber», wiederholte Mrs. Emerson. «Leg ab. Da, ich lege alles ins Schlafzimmer auf mein Bett. Nimm dir den Schaukelstuhl.»

Mrs. Meserve ließ sich in dem Schaukelstuhl aus dem Salon nieder, während Mrs. Emerson Schal und Hut in das kleine angrenzende Schlafzimmer brachte. Bei ihrer Rückkehr schaukelte sich Mrs. Meserve bereits friedlich und war damit beschäftigt, blaue Wollfäden ein- und auszuziehen.

«Das ist wirklich hübsch», meinte Mrs. Emerson.

«Ja, finde ich auch», erwiderte Mrs. Meserve.

«Ich nehme an, es ist für den Wohltätigkeitsbasar in der Kirche bestimmt?»

«Jawohl. Ich glaube zwar nicht, dass es so viel einbringen wird, dass auch nur die Materialkosten gedeckt sind, von der Mühe ganz zu schweigen, doch bin ich der Meinung, dass ich etwas beisteuern muss.»

«Wie viel hat das, was du für die letzte Veranstaltung gemacht hast, eingebracht?»

«Fünfundzwanzig Cents.»

«Das ist erbärmlich, meinst du nicht auch?»

«Mag sein. Eine ganze Woche lang brauche ich jede freie Minute, um einen zu machen. Ich wünschte mir, dass diejenigen, die solche Sachen für fünfundzwanzig Cents kaufen, sie anzufertigen hätten. Dann würden sie ein anderes Lied singen. Aber ich glaube, ich darf mich nicht beklagen, solange es dem Herrn dient, aber manchmal kommt es mir vor, als hätte der liebe Gott nicht viel davon.»

«Es ist jedenfalls eine sehr hübsche Arbeit», sagte Mrs. Emerson und ließ sich mit ihrer Bluse am gegenüberliegenden Fenster nieder.

«Ja, es ist wirklich eine hübsche Arbeit. Ich liebe das Häkeln.»

Die zwei Frauen schaukelten und nähten und häkelten mehrere Minuten lang schweigend. Sie warteten beide. Mrs. Meserve wartete darauf, dass die Neugierde der anderen erwachen würde, damit sie, sozusagen, den gebührenden Bühnenauftritt habe. Mrs. Emerson wartete auf die Neuigkeit. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.

«Nun, was gibt es Neues?», fragte sie.

«Ach, ich weiß nicht, ob es etwas Besonderes gibt», zierte sich die andere und zog die Situation hinaus.

«Doch, es gibt etwas; mich täuschst du nicht», erwiderte Mrs. Emerson.

«Woher willst du das wissen?»

«Von deinem Aussehen.»

Mrs. Meserve lachte selbstbewusst und ziemlich selbstgefällig.

«Nun ja, Simon behauptet, mein Gesicht sei so ausdrucksstark, dass ich nichts länger als fünf Minuten verbergen kann, sosehr ich mich auch bemühe», sagte sie. «Es gibt etwas Neues. Simon kam zu Mittag damit nach Hause. Er hat es in South Dayton gehört. Er hatte am Morgen dort zu tun. Der alte Sargent-Besitz wurde vermietet.»

Mrs. Emerson ließ ihre Näherei fallen und starrte.

«Was du nicht sagst!»

«Ja, genauso ist es.»

«Wem?»

«Einigen Leuten aus Boston, die letztes Jahr nach South Dayton gezogen sind. Sie waren mit dem Haus, das sie dort hatten, nicht zufrieden. Der Mann ist ziemlich wohlhabend und kann es sich leisten, anständig zu leben. Die Familie besteht aus seiner Frau und seiner unverheirateten Schwester. Die Schwester hat ebenfalls Geld. Er geht seinen Geschäften in Boston nach, und es ist ebenso leicht, Boston von hier aus zu erreichen wie von South Dayton aus, daher ziehen sie her. Du weißt doch, das alte Sargent-Haus ist ein Prachtbesitz.»

«Ja, es ist das hübscheste Haus in der Stadt, aber –»

«Ach, Simon erzählte mir, sie hätten es ihm mitgeteilt, und er hätte bloß gelacht. Er erklärte, er fürchte sich nicht, und seine Frau und seine Schwester auch nicht. Sagte, er würde sich eher Gespenstern aussetzen, als in winzigen Schlafzimmern ohne Sonne zusammengedrängt zu sein, wie denen, die sie in dem Haus in Dayton hatten. Sagte, er würde eher riskieren, Gespenster zu sehen, als selbst zum Gespenst zu werden. Simon sagte von ihm, dass er immer zu Späßen aufgelegt sei.»

«Na gut», meinte Mrs. Emerson, «es ist ein schönes Haus, und vielleicht ist an diesen Geschichten nichts dran. Es ist mir nie eingefallen, ihnen völlig zu trauen. Ich habe nie viel von ihnen gehalten. Ich dachte nur – falls seine Frau nervös ist.»

«Nichts in der Welt könnte mich dazu bewegen, ein Haus zu betreten, von dem ich je auch nur ein Wort dieser Art gehört hätte», erklärte Mrs. Meserve mit Nachdruck. «Ich ginge nicht in dieses Haus, und wenn sie mir die Miete zahlten. Ich habe genug Spukhäuser gesehen, dass mein Bedarf auf Lebenszeit gedeckt ist.»

Mrs. Emersons Gesicht nahm den Ausdruck eines Jagdhundes an, der eine Witterung aufgenommen hat.

«Hast du?», fragte sie mit eindringlichem Flüstern.

«Ja. Das reicht mir.»

«Bevor du hierhergezogen bist?»

«Ja, bevor ich geheiratet habe – als Mädchen.»

Mrs. Meserve hatte nicht jung geheiratet. Mrs. Emerson rechnete im Kopfe nach, als sie das hörte.

«Hast du wirklich in einem Haus gewohnt, das –», flüsterte sie furchterfüllt.

Mrs. Meserve nickte ernst.

«Hast du etwas gesehen –»

Mrs. Meserve nickte.

«Du hast doch nicht etwas gesehen, was dir etwas antat?»

«Nein, in gewissem Sinne habe ich nichts gesehen, was mir Böses zugefügt hätte, aber es tut niemandem gut, in dieser Welt Sachen zu sehen, die man in dieser Welt nicht sehen soll. Man kommt darüber nie hinweg.»

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Mrs. Emersons Züge schienen sich zu verhärten.

«Ich möchte dich natürlich keinesfalls bedrängen», sagte sie, «wenn du nicht darüber sprechen willst; aber vielleicht tut es dir gut, es dir von der Seele zu reden, wenn es dein Gemüt belastet und dich bedrückt.»

«Ich versuche, es aus meinen Gedanken zu verdrängen», sagte Mrs. Meserve.

«Du hast völlig recht.»

«Außer Simon habe ich es nie jemandem erzählt», meinte Mrs. Meserve. «Ich hielt es wahrscheinlich nie für klug. Ich wusste nie, was die Leute davon halten würden. Viele glauben nicht an das, was sie nicht verstehen können, daher hätten sie auf den Gedanken kommen können, ich wäre nicht ganz bei Trost. Simon riet mir, nicht davon zu sprechen. Er meinte, seiner Meinung nach handele es sich um nichts Übernatürliches, aber er musste zugeben, dass er keine Erklärung finden konnte, und wäre es ihm ans Leben gegangen. Er musste eingestehen, dass nach seinem Dafürhalten niemand eine Erklärung liefern könne. Dann versprach er mir, nie darüber zu reden. Er meinte, viele Leute würden eher untereinander tuscheln, ich sei nicht ganz normal, als zuzugeben, dass sie es nicht verstünden.»

«Ich bin überzeugt, dass ich nicht so reden würde», erwiderte Mrs. Emerson vorwurfsvoll. «Du kennst mich besser, hoffe ich.»

«Gewiss», erwiderte Mrs. Meserve. «Ich weiß, du bist nicht so.»

«Und ich werde es keiner Seele erzählen, wenn du es nicht willst.»

«Nun ja, das wäre mir tatsächlich lieber.»

«Ich werde nicht einmal zu Mr. Emerson ein Wort sagen.»

«Es wäre mir wirklich lieber, du sagtest es nicht einmal ihm.»

«Tue ich nicht.»

Mrs. Emerson griff wieder zur Bluse; Mrs. Meserve fädelte eine weitere Schlaufe aus blauer Wolle ein. Dann hub sie an:

«Natürlich», sagte sie, «werde ich nicht mit Bestimmtheit behaupten, dass ich entweder an Gespenster glaube oder nicht glaube, ich will dir nur berichten, was ich erlebt habe. Ich kann es nicht erklären. Ich gebe nicht vor, es zu können, denn ich kann es nicht. Falls du es kannst, gut und schön; ich wäre froh, denn dann hört es auf, mich weiterhin wie bisher zu quälen. Seit diesen Ereignissen ist kein Tag und keine Nacht vergangen, in denen ich nicht daran gedacht hätte, und jedes Mal ist mir dabei eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen.»

«Das ist ein furchtbares Gefühl», entgegnete Mrs. Emerson.

«Nicht wahr? Nun, es geschah vor meiner Verheiratung, ich war damals noch ein junges Ding und wohnte in East Wilmington. Es war im ersten Jahr meines dortigen Aufenthaltes. Du weißt, dass meine ganze Familie fünf Jahre früher gestorben war. Ich habe es dir erzählt.»

Mrs. Emerson nickte.

«Nun, ich kam dorthin, um zu unterrichten, und wohnte bei einer Mrs. Amelia Dennison und deren Schwester, Mrs. Bird, in Untermiete. Ihr Name war Abby – Abby Bird. Sie war Witwe, sie hatte nie Kinder gehabt. Sie hatte ein bisschen Geld – Mrs. Dennison hatte keines –, und sie war nach East Wilmington gekommen und hatte das Haus gekauft, in dem sie wohnten. Es war ein wirklich schönes Haus, auch wenn es sehr alt und heruntergekommen war. Seine Renovierung hatte Mrs. Bird eine ganze Menge gekostet. Ich nehme an, das war auch der Grund, warum sie mich als Untermieterin aufnahmen. Ich vermute, sie waren der Meinung, das würde ein bisschen helfen. Vermutlich reichte meine Miete gerade aus, das Gemüse für uns alle zu kaufen. Mrs. Bird hatte genug zum Leben, wenn sie sich einschränkte, aber sie hatte für die Renovierung des alten Hauses so viel ausgegeben, dass sie eine Zeitlang ziemlich beengt lebte.

Sie nahmen mich jedenfalls als Untermieterin auf, und ich hielt mich für ein Glückskind, dort untergekommen zu sein. Ich hatte ein nettes Zimmer, groß und sonnig und hübsch möbliert, Tapeten und Anstrich waren recht freundlich, und alles war blitzblank. Mrs. Dennison war eine der besten Köchinnen, die mir je begegnet sind, ich hatte einen kleinen Ofen in meinem Zimmer, und wenn ich von der Schule heimkam, brannte darin immer ein angenehmes Feuer. Bis drei Wochen nach meiner Ankunft glaubte ich, seit dem Verlust meines Elternhauses keinen so netten Wohnort mehr gehabt zu haben.

Ich war ungefähr drei Wochen dort, bevor ich es herausfand, obwohl ich vermute, dass es sich schon immer zugetragen hatte, seit sie in dem Haus waren, und das war immerhin schon seit fast vier Monaten. Sie hatten kein Wort davon gesagt, und das verwunderte mich auch nicht, denn sie hatten das Haus eben erst gekauft und viel Geld und Mühe aufgewandt, um es instand zu setzen.

Nun, ich kam im September dorthin. Am ersten Montag begann der Unterricht. Ich erinnere mich, es war ein wirklich kalter Herbst, es gab Mitte September einen Frost, und ich musste den Wintermantel anziehen. Ich erinnere mich, dass ich, als ich an diesem Abend heimkam (lass mich nachdenken, ich begann am Montag mit der Schule, und das war zwei Wochen vor dem nächsten Donnerstag), unten den Mantel auszog und ihn auf den Tisch beim Vordereingang legte. Es war ein wirklich bequemer Mantel – schwerer schwarzer Stoff mit einem Pelzkragen; ich hatte ihn schon im vorigen Winter gehabt. Mrs. Bird rief mir, als ich nach oben ging, nach, ich solle ihn nicht beim Eingang liegen lassen, aus Furcht, jemand könnte hereinkommen und ihn mitnehmen, aber ich lachte nur und rief zurück, dass ich mich nicht fürchte. Ich habe mich nie vor Einbrechern gefürchtet.

Nun, obwohl es kaum Mitte September war, war es eine wirklich kalte Nacht. Ich erinnere mich, dass mein Zimmer nach Westen gelegen war, dass die Sonne schon niedrig stand und der Himmel von einem bleichen Gelb und Purpurrot war, gerade so, wie man ihn manchmal im Winter bei einem Kälteeinbruch sieht. Ich glaube, es war die erste Frostnacht des Jahres. Ich wusste, dass Mrs. Dennison einige Blumen abdeckte, die sie im Vorgarten hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich hinausblickte und einen alten grünen Winterschal von ihr auf dem Verbenen-Beet sah. In meinem kleinen Holzofen brannte ein Feuer, Mrs. Bird heizte ein, das weiß ich. Sie war ein mütterlicher Frauentyp; sie schien immer dann am glücklichsten zu sein, wenn sie etwas tun konnte, um es anderen Leuten angenehm und sie glücklich zu machen. Mrs. Dennison erzählte mir, dass sie immer so gewesen sei. Sie sagte, sie hätte ihren Mann zu Tode verwöhnt. ‹Es ist ein Glück, dass Abby keine Kinder hatte›, meinte sie, ‹sie hätte sie total verzogen.›