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Widmung

Für Sibylle und Finn
& mit besonderem Dank an Sascha Simon

I

Nah und fremd

Vor der Schule

Nick erkannte das unförmige Schulgebäude mit den fleckig grauen Wänden sofort wieder. In der Wirklichkeit sah es noch misslungener aus als im Internet. Die Fensterreihen in fahlem Grün wirkten darin wie seekranke Gesichter. Aus den bräunlichen Dachziegeln ragte ein kleiner Turm mit einer unförmigen Kuppel. Es sah aus, als trüge er einen zu großen Helm. Ganz oben befand sich eine hölzerne Plattform ohne Geländer. Sie erinnerte an den Ausguck eines Piratenschiffs.

Darüber flatterte eine Fahne im kräftigen Wind. Sie war fleckig grau-seekrankgrün quer gestreift und in der Mitte befand sich ein großes braunes Gebilde. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Kaffeefleck – oder wie etwas, von dem man besser nicht wissen will, was es ist. Die Fahne war Nick nicht aufgefallen, als er ein paar Wochen vorher die Homepage seiner künftigen Schule angeschaut hatte. Nicks Mutter folgte seinem Blick.

»Das ist die Nationalflagge Medusiens«, sagte sie. »Interessant, oder?«

Seltsame Gestalten bewegten sich einzeln oder in kleinen Gruppen im diesigen Licht des frühen Morgens auf den Bau zu. Sie schlichen, trippelten und trotteten, hüpften, scharrten und staksten. Einige Gangarten erinnerten Nick auch an Stampfen, Traben und Galoppieren.

Niemand war besonders schnell unterwegs, und auch die wenigen, die es etwas eiliger als die anderen zu haben schienen, kamen nicht besonders zügig voran.

Zahlreiche Schüler erschienen nicht zu Fuß, sondern auf Einrädern. Sie radelten gemächlich auf den Hof und unterhielten sich dabei. Einige von ihnen stoppten und verharrten in selbstverständlicher Balance auf ihrem Fahrzeug. Nick sah keinen einzigen, der die Füße von den Pedalen nehmen musste. Alle hielten perfekt das Gleichgewicht, offenbar ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.

Der Anblick der Einradfahrer gehörte zu den wenigen Eindrücken, die Nick nicht verwirrten. In seiner neuen Heimat waren Einräder so normal wie anderswo Fahrräder und an dieser Schule waren sie mehr als nur normal.

Auch Nick hatte sein eigenes Einrad dabei. In den Schulunterlagen war extra darauf hingewiesen worden, dass es vom ersten Tag an mitzubringen sei. Allerdings fuhr Nick nicht, sondern trug es über der Schulter.

Die Einradfahrer steuerten nach und nach einen Parkplatz an. Sie sprangen, kletterten, glitten und purzelten von ihren Fahrzeugen, schoben sie in metallene Ständer und bewegten sich zum Haupteingang. Dort lagerten, hockten, kauerten, standen, thronten, plusterten, lagen, saßen oder duckten sie sich am Boden und warteten auf den Schulbeginn. Die meisten trugen labbrige Taschen auf dem Rücken oder hatten sie am Boden abgestellt. Sie waren von undefinierbarer Farbe und erinnerten an Jutesäcke.

Mitten auf dem Schulhof lag ein gewaltiger Felsbrocken. Nick schaute noch einmal zum Dach hoch und erkannte, dass die Abbildung auf der medusischen Flagge keinen Kaffeefleck, sondern einen solchen Stein darstellte. Er zögerte.

»Auf geht᾽s«, sagte seine Mutter und gab ihm einen aufmunternden Klaps.

Die beiden reihten sich in den Strom der Schüler ein und überquerten den Hof in Richtung der Einradständer.

Neugierige Blicke begleiteten sie. Manche waren verstohlen, andere offen und ein paar so aufdringlich, dass Nick zurückstarrte. Ein Augenpaar irritierte ihn besonders. Es war groß und dunkel und gehörte zu einer Gazellengestalt. Nick riss die Augen weit auf, glotzte möglichst übertrieben zurück und die Gazelle zuckte zusammen.

Nick und seine Mutter steuerten ebenfalls zuerst den Einradparkplatz an. Sattel reihte sich an Sattel. Nick schaute ein wenig ratlos herum und sah, dass viele Einräder besondere Verzierungen hatten. Sie befanden sich direkt auf dem Lack oder auf kleinen Schildern, die am Rahmen befestigt waren. Nick sah Abbildungen der Sonne, von stacheligen Pflanzen, von Wellen, von Wolken und vor allem von Tieren. Manchmal waren sie in ihrer ganzen vierbeinigen Gestalt zu sehen, aber häufiger noch handelte es sich um das Porträt eines Tierkopfes.

»Da hinten«, sagte seine Mutter und wies auf eine Lücke in der Fahrzeugmenge.

Nick trat näher und stellte fest, dass es auch hier keinen freien Platz gab, denn ein Einrad, das schon auf den ersten Blick besonders aussah, belegte drei Parkmöglichkeiten. Sein Besitzer hatte es nicht aufrecht zurückgelassen, sondern quer über mehrere Halterungen gelegt. Es sah zugleich kostbar und stark ramponiert aus.

Der Sattel war giftgrün gepolstert und an der Seite blitzten täuschend echt aufgebracht messerscharfe Zahnreihen. Auf dem goldlackierten Rahmen glänzten schwarze Sterne rund um die Buchstaben K. und G. Sie waren seltsam verschnörkelt, und als Nick genau hinsah, erkannte er, dass die beiden Lettern aus kleinen aneinandergereihten Totenköpfen bestanden.

Nick schaute sich wieder um, doch die anderen Einräder standen überall dicht an dicht.

»Deins passt schon noch daneben.«

Nicks Mutter zeigte auf das goldene Einrad und nickte auffordernd. Nick schuf eine kleine Lücke, indem er das raumgreifende Hindernis behutsam zur Seite ruckelte. Er schob sein Rad hinein und machte sich zusammen mit seiner Mutter auf den Weg zum Haupteingang. Eine massige Gestalt überholte ihn. Im ersten Moment hielt Nick sie für einen Bären.

»Hey, Kante«, brummte der bärenartige Junge. »Schau mal.« Er zeigte auf Nicks Schulrucksack. »Hast du schon mal so was Bescheuertes gesehen?!«

Hinter dem Ungetüm tauchte ein stämmiger Junge mit breitem Kopf und noch breiterer Nase auf und schüttelte seinen großen Kopf. »Nee, Pranke! Tierisch albern!«

›Das gibt’s nicht‹, dachte Nick. ›Der sieht aus wie ein Büffel.‹

»Ein Rucksack vom Wanderverein als Schultasche!«, feixte der Büffel. »Ich fasse es nicht!«

Kichernd zogen die beiden ab. Nick sah ihnen missmutig nach und blieb stehen. Er hatte mit seiner Mutter verabredet, dass sie ihn bis zum Sekretariat begleitete.

»Dort wird dich Herr Ponymann abholen. Ich bin froh, dass er dein Klassenlehrer wird.«

›Seltsamer Name‹, dachte Nick.

»Ich kenn ihn mittlerweile schon ganz gut«, sagte Nicks Mutter. »Und du auch.«

Nick schaute sie irritiert an und sie lächelte: »Na, von meinen Erzählungen am Telefon! Du erinnerst dich bestimmt daran: Herr Ponymann trainiert die Welpenbrut von Finsterode.«

»Was?«, fragte Nick. »Ich dachte, er trainiert die Jugendmannschaften.«

»Ach, Entschuldigung.« Seine Mutter lachte. »Da siehst du mal, wie medusisch ich schon denke. Du hast natürlich völlig recht: Er trainiert den Nachwuchs. Der wird hier Welpenbrut genannt.«

»Welpenbrut?« Nick zog die Augenbrauen zusammen.

»Das ist nett gemeint«, erklärte seine Mutter. »Ganz und gar anerkennend. Positiv, voller Respekt, verstehst du? Und auf bestimmte Art ist das Wort auch ziemlich passend.«

Sie wollte Nicks Hand ergreifen, aber er zog sie weg. Er war der Meinung, dass ein elfjähriger Junge eine neue Schule nicht an der Hand seiner Mutter betreten sollte. Nicht mal, wenn das Schulgebäude aussieht wie das Tor zur Unterwelt und außergewöhnlich hässliche Fassaden hat. Er sollte nicht mal Mamas Hand ergreifen, wenn die Einrichtung obendrein den Namen Oktopus-von-Krake-Schule trägt.

›In so eine Schule geht man, wenn man schon unbedingt hinmuss, allein‹, dachte Nick. ›Tapfer und auf alles gefasst. Aber wieso muss man eigentlich?‹

Im nächsten Moment sagte Nick: »Da gehe ich nicht rein.«

Seine Mutter nickte, als habe sie diesen Satz erwartet, und machte eine Bewegung, als wollte sie ihren Sohn an sich drücken. Nick wich einen Schritt zurück und trat auf etwas.

»Aua!! Kannst du nicht aufpassen?!«

»Entschuldigung«, murmelte Nick automatisch. Er drehte sich um und zuckte zurück.

Die kräftige Jungengestalt, die ihm gedrungen gegenüberstand, sah wie ein Alligator aus. Der Mund am echsenartigen Schädel schien im ersten Moment die Form eines langen Mauls zu haben, auf dem die Nasenlöcher wie zwei Höcker saßen.

Nick sah ihn zum ersten Mal, aber der unfreundliche Typ kam ihm bekannt vor. Er war sicher, dass der Grund dafür nicht die Ähnlichkeit des Jungen mit einem Reptil war. Nick starrte sein Gegenüber an. Es erinnerte ihn weiterhin an jemanden, auf den er nicht kam, und es sah weiterhin einem Alligator ähnlich. Aber es war eindeutig ein Mensch.

Kaiman

»Glotz nicht so doof! Super, du hast voll meinen Fuß erwischt!« Der Alligatorenjunge winkelte ein Bein an und hielt mit dem anderen das Gleichgewicht. Er streifte Schuh und Strumpf ab. Seltsamerweise oder vielmehr natürlich sah der Fuß ganz normal aus. Nick hatte unwillkürlich gepanzerte Krokodilkrallen erwartet.

Sorgfältig untersuchte der Junge seine Zehen. Es war keinerlei Verletzung zu entdecken. Er grunzte unwillig, schlüpfte zurück in den Schuh und richtete sich auf, bis sein langer Mund Nicks Nase fast berührte. Im nächsten Moment bekam Nick einen heftigen Stoß gegen die Schulter.

»Entschuldigung, Entschuldigung! So leicht wollen Kontis sich bestimmt immer rausreden! Du bist ein Konti, oder etwa nicht?«

Nick schaute den Krokodiljungen verständnislos an.

»Na, einer vom Kontinent! Oder hast du etwa nicht bemerkt, dass du ein Meer überquert hast, um hierherzukommen?!«

Nick wusste immer noch nicht, was er sagen sollte.

»Pass ab jetzt auf, wo du hintrittst, Konti-Rüpel! Du bist in Medusien. Da ist es nicht üblich, anderen Leuten auf den Füßen herumzutrampeln! Und schon gar nicht auf Kaimans Füße, kapiert?!«

Nick dachte mehrere Sachen gleichzeitig: ›Wieso regte dieser Krokodiltyp sich auf? Es war doch klar, dass er nicht absichtlich auf dessen Fuß getreten war. Entschuldigt hatte er sich auch schon. Und was sollte das Ganze damit zu tun haben, dass er aus einem anderen Land kam? Oder wie der Krokodiljunge es ausdrückte: vom Kontinent?‹

Nick fühlte, wie in seinem Inneren Ärger wuchs, aber noch bevor er zu einer Erwiderung bereit war, kam seine Mutter ihm zuvor. Sie war meistens schneller als er.

»Was bildest du dir ein, Bengel!« Wütend starrte sie den Jungen an. »Warum schubst du so unverschämt und rücksichtslos herum?! Nick hat dich nicht absichtlich berührt!«

»Das war keine Berührung, das war ein Angriff«, knurrte der Alligator. »Und der Angriff war Absicht. Tierische Absicht!«

»Es war keine Absicht!«, sagte Nick empört.

»Absicht«, zischte der Alligator.

»Jetzt reicht᾽s! Verschwinde, und zwar sofort!«

Nicks Mutter machte zwei schnelle Schritte auf den Jungen zu. Der hob abwehrend die Arme.

»Sie sind auch nicht von hier, das seh ich in einer Zehntelsekunde! Kontis haben hier gar nichts zu sagen! Das hier ist nicht irgendeine Schule und ich bin nicht irgendwer! Ich bin Kaiman! Sobald Sie mich berühren, geh ich zum Direktor und sag ihm, dass Sie mich tierisch geschlagen haben. Dann kriegen Sie ᾽ne Anzeige und werden sofort wieder aus Medusien rausgeworfen!«

»Das ist ja wohl die Höhe!« Die Augen von Nicks Mutter blitzten gefährlich auf und der Alligatorenjunge wich ihrem Blick aus.

»Halt, Mama!«, rief Nick. »Nicht, dass du …«

Weiter kam er nicht. Wenn seine Mutter einmal in Wut geraten war, konnte sie so schnell niemand mehr stoppen.

»Ein Besuch beim Direktor ist eine gute Idee!«, schnaubte sie. »Weißt du was, Kaiman? Wir gehen sogar zusammen hin! Und zuvor besprechen wir die Sache schon mal mit Herrn Ponymann. Mal sehen, wem von uns das besser bekommt: einer ganz normalen Konti-Frau oder einem unverschämten Medusien-Bengel!«

Sie sprang auf den Alligatorenjungen los wie eine Raubkatze und packte einen seiner kurzen Arme.

Der Junge kreischte auf und zappelte in ihren kräftigen Mechanikerhänden. Dann entwand er sich geschickt und rannte mit kurzen ruckartigen Schritten davon.

»Haut ab, Kontis! Wir wollen euch hier nicht!« Er wandte sich um und warf Nick einen wütenden Blick zu: »Wir sprechen uns noch!«

»Na, warte!« Nicks Mutter fauchte gefährlich und nahm die Verfolgung auf.

»Stopp, Mama! Stopp!« Nick klammerte sich an ihren Arm.

»Lass mich los! Dem werde ich …!«

»Bleib jetzt hier!«, keuchte Nick. »Was soll das bringen?! Das ist Quatsch! Außerdem kann ich mich selber wehren!«

Seine Mutter beruhigte sich ein wenig.

Irgendwo hinter ihnen ertönte ein Ruf: »Kannibalen raus!« Es war nicht mit Sicherheit festzustellen, ob er vom Krokodiljungen oder von jemand anderem kam.

Zwei weitere Rufe folgten: »Genau!«, und: »Kontis, haut ab!«

Nicks Mutter hielt inne. Schließlich nickte sie, erst zögernd, dann energisch. Sie kehrte der Schule den Rücken zu.

»Komm, wir gehen.«

»Gehen? Wohin?«

»Weg von hier.«

Nick schaute seine Mutter verblüfft an. Nie und nimmer hatte er damit gerechnet, dass sie seinen Wunsch akzeptieren oder gar teilen würde. Und doch war der Rückweg nun plötzlich frei und er brauchte nicht in der dunklen Tiefe der Oktopus-von-Krake-Schule zu verschwinden.

Post aus Medusien

Einige Wochen vorher bekam Nick den Brief, auf den seine Mama so sehr gewartet hatte, als Erstes in die Hände. Normalerweise schaute sie vormittags nach der Post, sobald sie das Klappern des Kastens hörte. Wie unzählige andere Leute im Land war sie schon lange auf Arbeitssuche. Sie hatte eine Menge Absagen hinter sich, freundliche und nichtssagende. Manchmal verlor sie darüber den Mut, dann tröstete Nick sie.

Er fand es unglaublich, dass es für seine Mutter keine Arbeitsstelle geben sollte. Sie hatte nämlich einen tollen Beruf: Nicks Mutter Johanna war Fahrradmechanikerin. Sie flickte nicht nur ruck, zuck jeden platten Reifen, sie konnte auch Bremsen und Gangschaltungen einstellen, Tretlager wechseln und überhaupt alles wunderbar reparieren, was bei einem Fahrrad kaputtgehen kann. Nicks Mutter hatte obendrein ein Spezialgebiet: Einräder. Vermutlich kannte sich kein Mensch auf der Welt besser mit Einrädern aus als Johanna Wunderlich. In Einradfahrerkreisen hatte sich das auch bald herumgesprochen. Allerdings waren die nicht gerade groß. Außerdem gingen Einräder fast nie kaputt, deshalb brachten die Spezialkenntnisse nicht viel ein.

Aber wer hatte schon eine Mutter, die perfekt Räder reparieren konnte und sogar selbst welche bauen? Nick war stolz auf seine Mutter, und wenn er ihr das in einem mutlosen Moment sagte, ging es ihr gleich wieder besser.

An diesem Tag kam die Post spät. Normalerweise war sie schon da, wenn Nick von der Schule kam, aber diesmal tauchte der Briefträger zur selben Zeit wie Nick auf.

»Hallo, du gehörst zur Familie Wunderlich, stimmt᾽s?«

Der Junge nickte, und der Postbote drückte ihm einen größeren Umschlag in die Hand, der in einer stabil verschweißten Plastikfolie steckte.

»Den haben wir noch mal extra verpackt. Der riecht nämlich, als käme er, na ja, direkt vom stillen Örtchen, verstehst du?«

Nick schaute die Sendung erschrocken an und der Briefträger lachte. »Vielleicht mag jemand deine Mama nicht und hat euch eine Stinkbombe geschickt. Das passiert öfter, als man denkt, glaub᾽s mir. Wenn ich so etwas nicht wüsste, wer sonst?«

»Das ist logisch«, murmelte Nick.

Der Briefträger schmunzelte. »Vielleicht ist auch ein alter Fisch drin. Bestellt ihr manchmal Fisch?«

»Per Post? Niemals!« Nick schüttelte entsetzt den Kopf. Er mochte keinen Fisch, schon gar nicht in Briefumschlägen.

Jetzt grinste der Briefträger vielsagend.

»Fischpost, das klingt merkwürdig, ich weiß. Aber es ist wirklich unglaublich, was sich manche Leute mit der Post schicken lassen.«

Er schnüffelte prüfend.

»Vielleicht ist es auch der Briefumschlag selbst. Das wär kein Wunder, denn da, wo die Post herkommt, soll alles mehr als streng riechen.«

»Ach so?«, sagte Nick.

»Deshalb halten wir unsere Nasen auch von dort fern. Das war schon immer so. Aus gutem Grund.«

Nick verstand gar nichts. Der Briefträger klapste ihm auf die Schulter. »Ich will dich nicht verwirren, Junge. Ich wollte euch nur über die Extraverpackung informieren. Ein kostenloser Service der Post.«

»Danke«, sagte Nick artig und betrachtete den seltsamen Umschlag neugierig. Die Briefmarke zeigte einen Mann mit strengem Blick, der Ähnlichkeit mit einem Tintenfisch hatte. Oder handelte es sich um einen Tintenfisch, der einem Menschen ähnlich war? Nick schaute genauer hin: Das Erste traf zu.

Oktopus von Krake stand neben dem Porträt. Nationaldichter Medusiens. Daneben befand sich ein Stempel, der die Umrisse eines unförmigen Gebäudes zeigte, gerahmt von einem etwas geisterhaft verschnörkelten Schriftzug:

 

Besuchen Sie Finsterode und seine Sehenswürdigkeiten! Wir freuen uns ungeheuerlich auf Sie!

 

›Was für ein Brief‹, dachte Nick und trug ihn mit spitzen Fingern zur Wohnung.

»Post für mich aus Medusien?!« Johanna Wunderlich riss Nick den Umschlag fast aus den Händen. Sie öffnete ihn hastig und zog einen unverschlossenen Brief und eine flache Schachtel hervor, von der ein strenger Geruch ausging. »Puh!«

Nicks Mutter legte die Schachtel beiseite und widmete sich dem Brief. Auf dem Umschlag stand:

 

Ungeheuren Glückwunsch, liebe Frau Wunderlich!

 

Johanna begann zu strahlen. Sie holte ein Blatt Papier heraus und faltete es auseinander. »Ja!«

Nick zuckte zusammen.

»Ich habe den Job!«

Seine Mutter fasste Nick mit beiden Händen und schmatzte ihm links und rechts je einen dicken Kuss auf die Wange. Sie schwenkte das Schreiben mit einer Hand hin und her und zog Nick an der anderen mit sich. Sie tanzten durch die Küche und Johanna stieß Jubelrufe aus. Nick machte sich los und schaute ihr zu. Er fühlte die Verpflichtung, sich mitzufreuen, aber es klappte nicht richtig.

»Medusien hat mich genommen! Die Medusier wollen mich unbedingt haben! Sogar ohne Bewerbungsgespräch! Sie brauchen unbedingt eine Zweiradmechanikerin mit Spezialgebiet Einräder! Hey, erinnerst du dich noch?! Als ich die Bewerbung losgeschickt habe, habe ich euch davon erzählt. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass diesmal alles zusammenpasst.« Seine Mutter drückte ihm noch einen dicken Kuss auf. »Ich hatte recht, Nick!«

›Medusien‹, dachte Nick.

Irgendwo auf der anderen Seite des Meeres gab es dieses Inselland mit dem seltsamen Namen. Niemand wusste viel darüber. Es gab nur eine Sache, von der fast jeder schon einmal gehört hatte: Medusien war das Land, wo es so viele menschliche Ungeheuer gab wie sonst nirgendwo auf der Welt.

›Stopp‹, dachte Nick. ›Denk positiv.‹

Das war ein Ratschlag seines Vaters.

Er half oft.

Also dachte Nick positiv.

Ein Mannschaftsspiel namens Einradball war Medusiens beliebteste Sportart. Angeblich konnte jeder Einwohner Einrad fahren, sogar die alten Ungeh… Stopp! Sogar die alten Leute. Nick fand das sympathisch, denn auch er fuhr sehr gern Einrad, genau wie seine Eltern und Mia, seine kleine Schwester.

Familie Wunderlich war eine Radfahrerfamilie, Spezialgebiet: Einradfahren. Nicks Eltern hatten ihre Kinder diese Fähigkeit gelehrt, kaum dass sie laufen konnten, und so flitzten Nick und Mia bereits mit Einrädern herum, als sämtliche Gleichaltrigen noch auf Bobbycars saßen.

Nicks Papa Oskar war obendrein für Jonglerie und Seiltanz und manche andere Akrobatik zuständig. Er konnte mit Bällen und Keulen jonglieren, Teller mit einem Stab auf der Nase balancieren und auf dem Einrad Handstand machen. Das war sehenswert, aber es hatte noch nie viel Geld eingebracht. Oskar fand das nicht toll. Er hätte gern mehr verdient. Richtig schlimm fand er es aber auch nicht. Er liebte das Jongleur- und das Vaterleben und wollte beides auf keinen Fall gegen etwas anderes tauschen.

Um noch vielseitiger zu werden, begann Oskar Ukulele zu spielen. Das ist eine Art kleine Gitarre. Nicks Vater fand das praktisch, weil er für das Mini-Instrument keine Extratasche brauchte. Er packte das niedliche Ding einfach zu den Bällen und Keulen in seinen Jonglierkoffer. Die Ukulele diente sogar als Jongliergerät, und wenn sie nicht durch die Luft wirbelte, schrammelte Oskar darauf herum und schmetterte selbst geschriebene Lieder, aktuelle Hits und Songs aus seiner wilden Jugendzeit. Das machte großen Spaß, aber viel Geld brachte es auch nicht ein.

Um den Hauptverdienst der Familie Wunderlich kümmerte sich traditionell Nicks Mama und sie hatte nichts dagegen. Lange Zeit ließ sich auch eher etwas damit verdienen, einen losen Bremszug, eine abgebrochene Klingel oder eine kaputte Lampe zu reparieren, als mit Bällen, Keulen oder Ukulelen zu jonglieren. Doch dann kam die Krise und selbst so eine nützliche und notwendige Tätigkeit wie Fahrräder zu reparieren brachte nichts mehr ein.

Deshalb war es gut, dass es Medusien gab.

Nick sah das ein.

Na klar, das passte.

Medusiens Nationalsport Einradball war auf der ganzen Welt einzigartig.

Diese Sportart war sicher eine schöne Sache – was sie auch immer für Regeln haben mochte.

Sie war sogar eine sehr, sehr schöne Sache. Wirklich toll. Man sollte so etwas wie Einradball total positiv betrachten.

Nick strengte sich mächtig an, aber seine positiven Einfälle zum Land der ungeheuerlichen Menschen waren damit bereits am Ende angelangt.

»Ich werde den 1. KK Finsterode betreuen!« Johanna Wunderlichs Augen leuchteten. »Das ist der medusische Einrad-Mannschaftsmeister! Medusiens beste Mannschaft! Nein, sogar die beste der Welt! Das Team hat jede Menge Nationalspieler! Sie spielt in der Monstrumliga. Das ist die höchste Klasse, die es gibt, wie bei uns die Bundesliga! Und du kriegst von den Stars bestimmt Autogramme!«

»Das bedeutet, wir ziehen um, oder?«, fragte Nick nüchtern.

»Ja. Es sieht plötzlich alles danach aus, mein Junge. Medusien ist bestimmt schön und in Finsterode gibt es sogar eine Schule mit dem Schwerpunkt Sport. Sie heißt Ottokar-von-Kreide-Schule oder so ähnlich. Die talentiertesten Nachwuchs-Einradballer besuchen sie. Ich könnte mir vorstellen, dass du dort genau richtig bist, und ich denke, durch meinen neuen Arbeitgeber haben wir gute Chancen, dass du dort aufgenommen wirst. Der beste Jugendtrainer von ganz Medusien ist Lehrer an dieser Schule. Ich glaube, er unterrichtet sogar deinen Jahrgang. Wie würdest du es finden, wenn du in seine Klasse kämst?«

»Weiß nicht«, sagte Nick. »Wenn᾽s eine nette Klasse ist …«

»Bestimmt!« Nicks Mutter hatte keinen Zweifel daran. »An einer Schule für besonders gute Einradfahrer können doch alle nur nett sein!«

»Ich fahre nicht besonders gut.«

»Doch, tust du.«

Nick schüttelte den Kopf. »Papa und du, ihr fahrt viel besser.«

»Nick, du bist elf! Und du fährst jetzt schon besser als Papa und ich mit zwanzig. Obendrein bist du ein richtig guter Handballer. Das ist die Kombination!«

»In Medusien soll᾽s Ungeheuer geben«, sagte Nick.

»Kompletter Unsinn.« Seine Mutter nahm einen Stuhl und setzte sich neben ihn. »Solche Gerüchte gibt es immer, wenn irgendwelchen Leuten irgendwelche anderen Leute fremd sind. Und Medusien ist für die meisten Europäer ein sehr fremdes Land, obwohl dort unsere Sprache gesprochen wird. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Medusier etwas anders aussehen als wir. Sie haben bestimmt auch ein paar andere Gewohnheiten. Das ist bei verschiedenen Nationen immer so. Eins ist jedenfalls von vornherein klar, mein Schatz: Ein Land, in dem so viele Leute Einrad fahren und in dem Einradball Nationalsport ist, kann nicht von Grund auf schlecht sein. Habe ich recht?«

»Weiß nicht«, sagte Nick wieder und seine Mutter legte ihm einen Arm um die Schultern.

»Ich arbeite gern, Nick. Mir fehlt etwas, wenn ich das nicht machen kann. Ich will nicht nur zu Hause sein. Mia ist jetzt auch schon so groß, dass sie mich nicht mehr dauernd braucht. Und du sowieso.« Die Mutter nahm nun auch noch Nicks Hand. »Aber der wichtigste Grund für uns, nach Medusien zu ziehen, ist noch ein anderer.«

»Ich weiß«, sagte Nick. »Geld.«

»Genau. Wir haben einfach zu wenig Kohle, wenn ich nicht arbeite. Was Papa verdient, ist nicht genug für uns alle.«

»Also schön«, sagte Nick und gab sich Mühe, möglichst erfreut zu klingen. »Es ist bestimmt sehr schön in Medusien.« Ein strenger Geruch streifte die Nasen der beiden Wunderlichs und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die müffelnde Schachtel. »Der Postbote meinte, in Medusien riecht᾽s nicht gut«, sagte Nick.

»Gerüchte gehören zu jedem Land«, erwiderte seine Mama munter. »Die Deutschen sind angeblich fleißig, die Schotten geizig, und die Chinesen essen Vogelnester. Manchmal haben solche Gerüchte einen realen Kern und aus dem wird im Lauf der Jahre dann nach und nach allgemeiner Unsinn.«

Nick betrachtete die Geruchsquelle mit gerunzelter Stirn. »Ich möchte bloß mal wissen, was da drin ist.«

Die Schachtel war länglich, etwa so groß wie ein Tuschekasten und in seltsames Schmuckpapier eingewickelt. Der Aufdruck zeigte verschiedene unregelmäßig geformte Gegenstände auf dunkelgrauem Grund.

»Sollen das Steine sein?« Nick dachte laut nach. »Ist das vielleicht eine Stinkbombe in Steinwüsten-Geschenkpapier?«

»Steine ja, Stinkbombe nein«, sagte seine Mutter. »Ich habe gehört, dass die Medusier viel Wert auf ihre Steine legen. Die ganze Insel besteht aus Vulkangestein. Da liegt es doch nahe, Steine auch als Motiv für Geschenkpapier zu nutzen. Mir gefällt᾽s. Mal was anderes als all die Blümchen und Wölkchen und Smileys.«

Die Mutter stand auf, ergriff die stinkende Schachtel und bugsierte sie auf den Balkon.

»So. Zur Feier des Tages holen wir Pizza.«

Aroma-Blau

Als die Familie versammelt war, riss Frau Wunderlich das steingraue Schmuckpapier auf. Eine Pappschachtel und ein Brief kamen zum Vorschein. Die Mutter legte ihn beiseite und widmete sich dem Karton. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Aufschrift und Abbildungen und öffnete ihn behutsam.

Eine von Silberfolie umgebene Schachtel tauchte auf. Nicks Mama riss die Folie mit spitzen Fingern auf. Darunter befand sich eine Reihe von kleinen Klumpen. Sie waren rundum von blauem Schimmel überzogen. Der strenge Geruch, den sie verströmten, breitete sich nun ungehindert aus und wurde zu einem unerhörten Gestank.

»Uäh!«

Mia hielt sich die Nase zu, und Oskar verzog das Gesicht, als habe er in eine unreife Stachelbeere gebissen. Er stand auf, nahm seiner Frau die müffelnde Schachtel aus der Hand und verließ die Küche. Kurz darauf rauschte die Klospülung. Oskar kehrte zurück und bugsierte die leere Kunststoffverpackung in den Mülleimer. Dann betrachtete er den Aufdruck auf dem Karton.

»Aroma-Blau«, las er vor. »Der beste aller Blauschimmelcracker. Ein feinwürziger Käsekeks aus Medusien. In der freien Natur viele Jahre bis zur Vollendung gereift. Probieren Sie unbedingt auch die drei anderen Sorten: Aroma-Rot, der schmackhafteste aller Rotfäulecracker, Aroma-Grün, der leckerste aller Grüngärungscracker, und Aroma-Gelb, der delikateste aller Gelbrottencracker! Die feine Geschmacksvielfalt wird Sie begeistern!«

Frau Wunderlich öffnete den Brief, der den Schimmelkeksen beigelegen hatte, entfaltete das Papier und las vor:

 

Liebe Frau Wunderlich,
wir möchten die Vorfreude auf Ihre neue Arbeitsstelle steigern und Ihnen zugleich einen Vorgeschmack auf unser schönes Land geben! Daher erlauben wir uns, Ihnen eine Spezialität aus Finsterode zu überreichen. Guten Appetit!
Mit freundlichen Grüßen
Ranus Kammolch
Präsident der 1. KK Finsterode

 

Johanna ließ das Papier sinken und lächelte schief. »Das ist aber nett von Herrn Kammolch.«

»Sehr nett«, sagte Oskar.

Nick sagte nichts und Mia holte Luft. »Nie!«

Die anderen zuckten zusammen.

»Nie!«, schrie Mia. »Niemals ziehe ich nach Medusien!«

»Ach, Miachen«, sagte Johanna.

»Niemals ziehe ich in ein Land, in dem die Kekse stinkende Schimmelklumpen sind!« Mia sprang auf und verpasste dem Stuhl einen gewaltigen Tritt.

»Jetzt ist aber Schluss«, sagte Johanna.

»Noch lange nicht!«, schrie Mia.

Oskar ergriff seine Tochter und hielt sie mit ausgestreckten Armen so weit von sich, dass ihre strampelnden Beine ihn nicht erwischten. So wartete er, bis ihr die Raserei zu anstrengend wurde.

Das dauerte eine Weile.

Danach saßen alle um den Küchentisch herum. Schließlich sagte Nick, um das Schweigen zu beenden: »Es ist bestimmt ungeheuer schön in Medusien.«

Hartkeks und Ungeheuer

Abends lieh sich Nick Johannas Laptop aus und suchte in seinem Zimmer im Netz nach Beweisen für diese Behauptung. Zum Stichwort Medusien gab es zahllose Einträge. Nick klickte diesen und jenen an. Er stöberte aufs Geratewohl in den Seiten herum und stieß ständig auf Informationen, die ihm völlig unbekannt waren.

Die erste Seite, auf der Nick landete, war ein Sachtext und beschrieb Medusien aus geografischer, geschichtlicher und naturwissenschaftlicher Sicht. Das Land befand sich in einem ganz und gar abgelegenen Abschnitt des Pazifischen Ozeans. Der nächste Nachbar waren die Galapagos-Inseln, aber auch die waren weit entfernt. Medusien war als Vulkaninsel irgendwann aus dem Meer aufgetaucht.

Den weitaus größten Teil seiner Zeit lag es isoliert und für den Rest der Welt unbekannt im Ozean. Die Einzigen, die von seiner Existenz erfuhren, waren diejenigen, die Medusiens Ureinwohner wurden. Die rätselhaften Einwanderer hatten schon damals Gesichter, die sie von allen anderen Menschen unterschieden, und dabei blieb es. Bis in die Gegenwart hatte niemand herausgefunden, woher die ersten Inselbewohner kamen.