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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
Pont Royal, 1943
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Nachbemerkung
Copyright

Autor

Michael Wallner wurde 1958 in Graz geboren. Er hat als Schauspieler und Regisseur gearbeitet und lebt heute in Berlin. Von ihm sind u. a. die Romane Manhattan fliegt (2000), Cliehms Begabung (2000) und Finale (2003) erschienen. Im Luchterhand Literaturverlag veröffentlichte er 2006 seinen Bestseller April in Paris, der auch international ein großer Erfolg wurde: Die Übersetzungsrechte an dem Roman wurden in 22 Länder verkauft.

Nachbemerkung

Von Lesern werde ich oft nach der Entstehungsgeschichte von »April in Paris« gefragt und danach, wie ich die historischen Hintergründe der Zeit recherchiert habe.

Die Entstehungsgeschichte ist schnell erzählt. Vor ein paar Jahren, auf einer Klippe der Normandie, hatte ich meine Kräfte überschätzt und war zu weit hinausgeklettert. Ich konnte weder vor noch zurück. Es begann zu regnen. Mitten im Unwetter entdeckte ich auf einer gegenüberliegenden Landzunge einen verfallenen Verteidigungsbunker der deutschen Wehrmacht. Dort hatte ich die Idee zu »April in Paris«. Die Geschichte eines jungen deutschen Soldaten, der, auf sich allein gestellt in einer fremden Umgebung, versucht sich aus den Konflikten der Zeit herauszuhalten und sich der Unmenschlichkeit des Besatzungsregimes doch nicht entziehen kann. Und – sich daraus entwickelnd – die Konstellation einer unmöglichen Liebesgeschichte.

Für die Schilderung des historischen Hintergrundes und des »Alltagslebens« im besetzten Paris habe ich zahlreiche Quellen – historische Stadtpläne ebenso wie Fachbücher und literarische Zeugnisse der Zeit – herangezogen. Zwei Autoren und Büchern fühle ich mich in diesem Zusammenhang besonders verpflichtet. Da ist zum einen Arthur Koestler, dessen Werk ich sehr verehre und dessen 1940 erstmals erschienener Roman »Sonnenfinsternis« mir tiefe Einblicke in das Wesen totalitärer Haftbedingungen und Vernehmungsmethoden gegeben hat; bei ihm habe ich erstmals auch von dem »quadratischen Klopfalphabet« gehört, das Roth gleichfalls in seiner Zelle anwendet. Zum anderen sei Felix Hartlaub erwähnt, der im Zweiten Weltkrieg u. a. nach Paris abkommandiert war. Er starb unter ungeklärten Umständen wohl in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945, und in seinem 1955 postum herausgegebenen Buch »Im Sperrgebiet. Aufzeichnungen aus dem zweiten Weltkrieg« habe ich viel über den Soldatenjargon der Zeit gelernt. Hartlaub war ein unbestechlicher und hellsichtiger Zeitzeuge, wie es sie nur selten gibt. In einem Brief aus Paris schreibt er über die Atmosphäre in der besetzten Stadt: »Das charakteristische Klima hier ist arktisch. Ich sehe so viele Beispiele von fortschreitender Verunmenschlichung, haarsträubendem Egoismus, kaltschnäuziger Blasiertheit, muß mich selber dauernd gegen Einbrüche aus diesen Regionen wehren.« Der Gefreite Roth hätte das vielleicht nicht viel anders gesehen.

1

Ich erfuhr von der Versetzung vor Mittag. Der schmale Streifen aus Licht erreichte das Fensterbrett. Mein Major behielt beim Eintreten die Klinke in der Hand, winkte mit der anderen, ich solle sitzen bleiben. Ob die Schweinerei aus Marseille fertig sei? Ich zeigte auf das Papier in der Maschine, halb beschrieben. Wenn das getan sei, könne ich gehen.

»Und die Depeche aus Lagny-sur-Marne?« fragte ich überrascht.

»Muß ein anderer machen. Sie werden gebraucht.«

Ich preßte unterm Tisch die Knie aneinander. Viele gingen zur Zeit an die Front.

»Abkommandiert?«

»Der Rue des Saussaies ist ein Übersetzer ausgefallen.« Der Major strich an der linken Brustseite hinunter, Reiterabzeichen, Kriegsverdienstkreuz. Er werde den Deibel tun, denen was abzuschlagen. Nur vorübergehend, ich solle mir keine Sorgen machen.

»Was ist mit dem Übersetzer aus der Rue des Saussaies passiert?«

»Vergangene Nacht zu Tode gefahren.«

»Partisanen?«

»Ach wo. Der Kerl ist besoffen über die Brücke getorkelt. Wegen der Verdunkelung hat ihn der Streifenwagen zu spät gesehen. Leider nicht sofort tot, scheußlich. So oder so, die Anforderung für den Dolmetscher liegt auf meinem Schreibtisch. Sie scheinen dort einen besonderen Ruf zu haben«, sagte der Major mit seltenem Lächeln. »Die Rue des Saussaies wollte ausgerechnet Sie

Mein Kreuz wurde hart. Ich warf einen Blick auf die Karte gegenüber, eins zu fünfhunderttausend. Pfeile, Schraffierungen, die Gipsrosette über der Tür, Reste von Stofftapete aus der Zeit, als hier noch gewohnt wurde. Mein Schreibtisch, das französische Wörterbuch, abgekaute Bleistifte. Den schönen Ausblick auf die Dächerkette im Westen würde ich vermissen.

Der Major sah mich trübe an. »Machen Sie die Marseille-Sache fertig. Dann nehmen Sie frei. Morgen Dienstantritt drüben. In ein paar Tagen sind Sie wieder zurück. Die mögen fremde Gesichter dort nicht besonders.«

Ich stand auf, grüßte, da der Major selbstvergessen den Arm hob. Blieb noch stehen, als er schon draußen war. An der Wand wurde das Fensterkreuz vom Licht nachgezeichnet. Mir war plötzlich kalt, ich schloß den obersten Knopf, nahm die Kappe, als würde ich gehen. Legte sie wieder hin, sank auf den Stuhl, las den französischen Text und begann, mit zwei Fingern die Übersetzung zu tippen.

Du hättest einen anderen Weg nehmen können, dachte ich. Unvorsichtig, ausgerechnet durch die Rue des Saussaies zu gehen. Vor dem Hauptquartier war die schwarzsilberne Uniform aufgetaucht, kurzer Wortwechsel. Hatte der andere Feuer verlangt? Du wirst vorsichtig sein. Nur Ausdrücke aus dem Wörterbuch übersetzen. Wirst auf den Tisch schauen, keinem in die Augen. Wirst vergessen, was man dich sehen läßt. Abends wirst du in dein Hotel gehen, morgens pünktlich zum Dienst erscheinen. Bis sie dich nicht mehr brauchen. Dann kehrst du zu deinem Major zurück, der nichts will, als die Stadt genießen und das Gefühl, ein Sieger zu sein. Der es dir überläßt, auf der Wandkarte Pfeile und Ziffern umherzuschieben und deine Berichte mit seinem Namen versieht. Solange du ihm unentbehrlich bist, verhindert er, daß sie dich in den wirklichen Krieg schicken.

 

Der Pont Royal stand bis zu den Schultern im Wasser, nur noch ein halber Meter bis zur Hochwassermarke von siebzehnhundertsoundso. Angler beugten sich über die Mauerbrüstung. Die Steine waren heute schon warm, die Menschen saßen mit halb geschlossenen Lidern der Sonne zugewandt. Als sie die genagelten Absätze hörten, drehte mancher sich weg. Ich drängte ins Gewirr um Saint-Germain. Je mehr Menschen, desto weniger fiel meine Fremdheit auf. Beim Pont Solférino toste das Wasser in der Eisenkonstruktion. Eine dicke Orientalin vor dem Stand eines Gemüsehändlers; nacheinander befühlte sie drei armselige Äpfel. Nicht weit davon glotzten ein Oberschütze und sein Kamerad die Frau an, auf deren Stirn ein silberner Halbmond glänzte.

»Dolle Weiber gibt es hier«, sagte der Oberschütze.

Der andere nickte. »Für so ’ne kleine Rassenschande wär ich zu haben.«

Sie war trotz ihrer Fülle elegant und benahm sich, als habe sie kein Recht, auf der Straße zu sein. Da der Ladenbesitzer heraustrat und die Frau argwöhnisch musterte, legte sie die Äpfel zurück. Tat ein paar unsichere Schritte, bemerkte die Landser, die ihr mit unverwandtem Grinsen im Weg standen.

Ich trat hinter die Feldgrauen zurück, nahm den Weg in eine Seitengasse. Ich ging schneller, als mir zumute war. Fraß die Straßen unter den Sohlen, obwohl ich eigentlich schlendern wollte. Zählte Hotelschilder, die über mir vorbeiglitten. In eins hineingehen, dachte ich, ein Zimmer im obersten Stock verlangen. Die Stiefel ausziehen, nur leise, die raumhohen Fenster geöffnet, und die Zeit verstreicht ohne Bewegung.

Ich wurde langsamer. Der Laden auf der anderen Seite war mehrere Zimmer tief, weit hinten brannte eine Glühbirne. Vor dem Eingang gestapelte Stühle mit rosa Bespannung. Ich bückte mich und berührte die brüchige Seide. Ganz hinten hob ein Mann den Kopf, das Licht schnitt sein Gesicht hart aus dem Hintergrund. Als er mich ansah, fuhr ich hoch, als sei ich bei etwas Verbotenem ertappt worden.

Ich suchte breitere Gassen, Menschen, Gedränge. Die meisten Läden waren schon abgeräumt, zeigten dem Vorbeieilenden nur ihre leeren, braunen Gestänge. Eine Bäckerei hielt noch offen, die Schlange war lang. Ich stellte mich an, vermied Blicke, man hielt Lücke zur Uniform. Ich kaufte ein mehlbestäubtes Brot. Als ich heraustrat, fegte ein Garçon Sägespäne aufs Trottoir. Die Lokale öffneten früh.

Nie war mir aufgefallen, daß jenes schwarze Tor nicht in ein Haus, sondern in eine Gasse führte. Ich reckte das Kreuz, um das verblaßte Schild zu entziffern – Rue de Gaspard? Das Tor war geschlossen. Trotz meiner Neugier zögerte ich, lehnte mich gegen das Türblatt. Vorübergehende musterten mich, wie ich so zwischen Straße und Eingang stand. Ich warf einen Blick hinter die eiserne Schwelle. Die Gasse verschwand im Schatten einer Mauer, graues Licht lag auf dem Pflaster. Ich schlüpfte durch dieses Tor und ging los. Überall zugezogene Läden; wo die Häuser niedriger waren, drang Abendsonne herein.

Als ich um die Ecke bog, stieß ich auf einen Trödler, der seine Waren ins Comptoir brachte. Eine Bronzebüste auf dem Arm, verstellte er mir den Weg. Keine Befangenheit vor dem Feldgrau. Ich betrachtete eine Pendeluhr, die an der Mauer lehnte. Nußholzgehäuse, das Pendel aus poliertem Messing.

»Il me semble que j’ai vu exactement la même à Munich«, sagte ich.

Die akzentfreie Aussprache überraschte ihn. »C’est possible, Monsieur. Je l’ai achetée d’une famille ayant vécu en Allemagne pendant longtemps.«

»Quel est votre prix?«

Der Trödler nannte die Summe. Kein Franzose würde sich die Uhr zu diesem Preis kaufen. Ich bot die Hälfte. Er gab keinen Centime nach, behauptete, er habe versprochen, das Stück nicht zu verschleudern.

»Alors, je regrette.«

Ich ging tiefer in die Rue de Gaspard.

Die junge Frau saß regungslos auf einem Stein, der vor dem Buchladen lag wie ein vom Himmel gefallener Fels. Ich bemerkte schlanke Beine unter dem Mantel, sie las. Als ich fast vorbei war, sah sie hoch. Ich ging nicht weiter, sondern trat ins Geschäft. Am Tresen ein Mann mit grauem gescheiteltem Haar. Ein erloschener Stumpen in seinem Mund. Er bestrich Papierschilder mit Leim; der Pinsel zog Fäden. Ein kurzer Blick auf die Uniform.

»Vous cherchez quelque chose de spécial?« brummte er ohne Interesse. Wartete meine Antwort nicht ab, pappte das Schildchen auf den Innendeckel eines Rückens. Ich bedeutete, daß ich mich umsehen wolle. Seine Geste war mehr abtuend als einladend. Ich trat vor das Regal neben dem Fenster, meine Finger glitten über die Buchrücken. Durch das matte Glas sah ich hinaus.

Sie saß immer noch auf dem Stein. Ein Gesicht von eigenartiger Schönheit. Übergroße Augen, eine verführerisch runde Stirn, darüber rotbraune Locken. Sie hatte einen listigen Katzenkopf, die Lippen sanft und geschwungen; ihr Kinn war zu kurz und verlief jäh zum Hals.

Ein Schmetterling landete auf dem Fensterbrett. Als habe jemand sie angestoßen, fuhr ihr Kopf hoch. Langsam legte sie das Buch beiseite und stand auf. Kam auf das Fenster zu, wo der Falter mit zitternden Flügeln verharrte. Indem sie näher trat, zog ich mich Schritt für Schritt zwischen die Regale zurück. Auf Zehenspitzen erreichte sie das niedrige Fenster, die Augen auf den Falter geheftet. Nur wenige Meter entfernt starrte sie in meine Richtung – und bemerkte mich nicht.

Mehrere Bücher in den Händen, spürte ich plötzlich den prüfenden Blick des Patrons. Er schloß den Leimtopf und kam nach vorne. »Vous avez trouvé quelque chose?«

Ich drehte mich um; so entging mir, ob der Schmetterling wegflog. Der Mann war einen Kopf kleiner; die Glatze leuchtete durch das gescheitelte Haar.

Ich machte einen Schritt zum Ausgang. »Il y en a trop. Je ne sais pas choisir.«

Damit legte ich die Bücher hin, erreichte die offene Tür und nahm Schwelle und Stufe zugleich. Mein Stiefel trat hart aufs Pflaster.

Sie war nicht mehr da. Meine Augen forschten hinter dem Gebüsch, glitten zum Ausgang der Gasse. Auf dem Stein lag ihr Buch. Ohne es in die Hand zu nehmen, betrachtete ich den nüchternen Einband. Le Zéro, der Titel sagte mir nichts. Im Hochschauen hatte ich plötzlich den Eindruck, als ob ich hinter all diesen Fensterläden beobachtet würde. Langsam, mit großen Schritten, strebte ich der schwarzen Pforte zu und trat auf die Straße. Wich zwei mißmutig patrouillierenden Flics aus und bog in die Platanenallee.

2

»Wo haben Sie gesteckt?« fuhr der Rottenführer mich an. Ich war unausgeschlafen, nervös, wartete seit zwei Stunden. Auf der Bank im Korridor hatte ich versucht, eine bequeme Stellung zu finden. Unaufhörlich kamen und gingen höhere Dienstgrade, vor denen ich Haltung annehmen mußte. Im Parterre waren Soldbuch und Stellungsbefehl geprüft worden. Erst nach einem Telefonat hatte der Wachposten mich durchgelassen. Auf dem Weg nach oben hatte ich die Marmorstufen mit den grünen Einsprengungen bewundert. Hier waren früher Diplomaten mit ihren Damen über die Treppe flaniert. Beinahe vergaß man, wo man sich befand.

»Wo waren Sie?« wiederholte der Rottenführer.

»Hier draußen, wo sonst«, gab ich zurück, ohne aufzustehen. Der Kerl war mir im Rang gleichgestellt. Der erste Tag entschied, wie man bei einer Dienststelle behandelt wurde.

»Den Ton können Sie gleich vergessen.« Er wies mich an, ihm zu folgen. »Beherrschen Sie Kurzschrift?« fragte er über die Schulter.

Ein einfaches Ja hätte genügt. »Sonst wäre ich wohl nicht hier.«

»Ach?« Mit unangenehmem Grinsen drehte der Rottenführer sich um. »Wir haben eine Menge Leute hier einsitzen; bloß keinen, weil er Steno kann.«

Ich biß die Kiefer aufeinander und ging schweigend weiter. Ich war zweiundzwanzig, hatte die Front noch nicht kennengelernt. Soldat war ich in einem Alter geworden, in dem es mir ohnehin nicht erspart geblieben wäre. Wir waren zwei Brüder. Mein Vater hatte nicht die Mittel, uns beide studieren zu lassen. Otto durfte Mediziner werden. Ich hatte Jura begonnen, um zu beweisen, daß ich es auch ohne die Familie schaffte. Der Krieg nahm mir die weitere Entscheidung ab.

Wir betraten die Abteilung. Hohe Eichentüren, eine kräftige Frau in Zivil, zwei Sturmmänner an Schreibmaschinen. Abermals mußte ich warten. Schließlich klopfte der Rottenführer ans nächste Büro, ich ging weiter und stand dem schmalen Mann gegenüber, dem ich vor drei Tagen auf der Rue des Saussaies begegnet war.

»Ah. Sie.« Er blickte von Papieren auf. »Was zu tun ist, hat man Ihnen gesagt?«

»Nicht im Detail.« Ich stand stramm, obwohl es nicht Vorschrift war.

»Details sind wichtig.« Er nahm die grüngraue Akte und stand auf. War mittelgroß und trotz der knapp sitzenden Uniform schmächtiger, als ich ihn in Erinnerung hatte. Sein Kopf war fast kahl, der Mund von auffallender Traurigkeit.

»Kommen Sie.« Er sperrte den Durchgang neben dem Schreibtisch auf, dahinter eine Zwischentür.

»Roth, nicht wahr?« fragte er, bevor er eintrat.

»Obergefreiter Roth, jawohl«, antwortete ich.

»Seit wann dabei?«

»März 1940, Hauptsturmführer.«

»Sie haben sich die beste Zeit ausgesucht.«

Ich war nicht sicher, ob es sich auf den Siegeszug oder meinen heutigen Dienstantritt bezog. Wir kamen in einen hell ausgeleuchteten Raum. Als erstes sah ich das Gesicht des Jungen, sein nasses Haar hing in die Stirn. In der Ecke stand ein Bottich, das Wasser bewegte sich noch. Ein Bursche von höchstens fünfzehn Jahren; seine Hände waren auf den Rücken gebunden. Ich roch die Angst. Bemerkte zwei Uniformen, beides Rottenführer. Ich zog meinen Block hervor. Der Hauptsturmführer nahm Platz und zeigte mit rascher Geste auf einen kleineren Tisch. Der Bleistift fiel zu Boden. Ich hob ihn auf, so leise ich konnte, machte die paar Schritte zum Tisch und senkte die Augen. Alles begann sofort und ohne Übergang.

3

Ich lief ins Hotel und ließ mich im winzigen Zimmer auf das alles beherrschende Bett fallen. Über mir begann Wasser zu rauschen, Stiefel flogen in die Ecke, der badende Hirschbiegel war heimgekommen. Stundenlang ging das jetzt. Ich legte Brot auf den Tisch, essen konnte ich nicht. Starrte die verblichenen Bergèren an, versuchte nicht auf die Geräusche zu achten. Die Wände waren dünn wie Karton, die Kopfenden der Betten standen Wand an Wand. Einer am Telefon. Na, was ist los? Keine Ahnung. Am besten, wo wir vorgestern waren. Im Jardin soundso. Übrigens bring ich jemanden mit, Sie wissen schon.

Lärm vom Fahrstuhl her; der Gefreite im Flur fuhr Fliegeroffiziere auf und ab, Luftwaffentreffen im vierten Stock. Unschlüssig stand ich zwischen Bett und Tisch. In letzter Zeit fiel mir häufig mein Herzschlag auf. Ich wandte mich zum Spiegel. Die schmale Nase, die dunklen Brauen, ich mußte an Fotografien von früher denken. Nicht mein Mund war härter geworden, die Augen. Du solltest auf deinen Haarschnitt achten, dachte ich und strich das Seitenhaar mit Wasser glatt. Langsam sank ich aufs Bett. Bekam Durst, aber ich hatte nichts mehr im Zimmer. Mein Blick fiel auf die Stiefel – so wollte ich nicht wieder hinaus, nicht heute abend.

Minutenlang saß ich da, mit gesenktem Kopf und eingesunkenen Schultern. Die Menschen auf dem Pont Royal waren auf den sonnengewärmten Steinen gesessen, die geschlossenen Lider dem Licht zugewandt. Kam einer in Stiefeln daher, hatten sich die Augen geöffnet. Ich fürchtete diesen Moment. Wenn sie sich abwandten, zurücktraten in ihre Häuser, wenn sie Flüche murmelten, die ich hörte und verstand. Ich war einer, der überall aufging, in jeder Stadt, wenn ich sein durfte wie sie. Untertauchen wollte ich, Teil sein; niemand hatte ein Recht, in mir einen anderen zu sehen. Seit den glorreichen Tagen des Einmarschs hatte ich nichts als Beklemmung gefühlt.

Langsam, als sei eine schwere Entscheidung zu treffen, stand ich auf und öffnete die Schranktür. Wie lange hatte ich den kleingemusterten Anzug nicht getragen? Ich entdeckte ein Mottenloch, an einer Stelle gottlob, wo es nicht auffiel. Ich nahm den Anzug vom Haken und hielt ihn vor die Brust.

»Du könntest ein Angestellter sein«, sagte ich zum Spiegel. »Oder ein Kellner nach Feierabend. Vielleicht arbeitest du bei einem Buchhändler, klebst Schildchen auf Deckel, machst Botengänge.« Ein Blick zum Regal, die Hälfte der Bücher war französisch. Eines davon würde ich unterm Arm tragen, dorthin gehen, wo viele flanierten. Dann war die Gefahr geringer.

Ich holte die Hartwurst aus der Schublade und einen Apfel. Das Brot stäubte beim Brechen, mit dem Klappmesser schnitt ich die Wurst und aß langsam. Ob der verhörte Junge die Vergaser wirklich gestohlen hatte? Er war bloß in der Gegend gesehen worden. Fünf Busse für den Gefangenentransport – keiner sprang an; die Vergaser fehlten. Ich betrachtete meine Hände beim Wurstschneiden. Das Blut des Jungen war getrocknet gewesen. Ich hörte zu kauen auf. In Zivil kommst du nicht aus dem Hotel, fiel mir ein. Ich lauschte dem Herzschlag. Wenn die Rue des Saussaies davon erfährt, bricht es dir das Genick.

Ich wischte den Mund am Handtuch ab, stand auf und nahm die Stofftasche aus dem Schrank, in der ich sonst meine Wäsche wegbrachte. Im Zimmer darüber begann Hirschbiegel Musik zu machen. Ma pomme. Ich knöpfte die Uniform zu und schlüpfte in die Stiefel.

Auf der Treppe kam mir ein Fliegerleutnant in Damenbegleitung entgegen. Ich nahm Haltung an, der andere sah vorbei.

»Dans quelques minutes j’ai temps pour toi.« Der Leutnant reihte die Worte unbeholfen aneinander.

»Pour quoi faire?« lachte die Frau.

Neben der Réception unterhielt sich die Wache mit dem Klofräulein, das ein paar Worte Deutsch sprach. Der Feldgraue bot ihr Konfekt an. Die Pralinen pappten zusammen, er grinste; ihre Augen blieben ernst. Ich ging mit der Tasche den Flur entlang. Die Wände waren dunkelbraun gestrichen, Schürfungen, wo Koffer dagegengeschrammt waren. Jeden Tag ging ich durch diesen Korridor, diesmal kam es mir vor, als ob der Ausgang sich mit jedem Schritt weiter entfernte.

»He, Kamerad!«

Ich blieb nicht stehen.

»Sekunde, du!«

Als ob es mich gar nicht betreffen könne, wandte ich den Kopf.

»Hirschbiegel hat nach dir gefragt!« rief der Soldat.

»Wann?«

»Er hat geklopft, du warst nicht oben.«

Durch das Glas sah ich einen Fliegermajor von draußen auf das Hotel zukommen.

»Danke«, rief ich über die Schulter, war mit drei Schritten beim Ausgang und hielt dem Major die Tür auf. Stand stramm, bis er die Réception erreichte. Das Klofräulein verschwand in der Nische.

Ich durcheilte die Straßen, als hätte ich ein bestimmtes Ziel. Trotz Sonne wehte ein kalter Ostwind und blies Staub vor sich her. Goldene Samen blieben am Pferdemist hängen. Papierschnipsel kreisten in der Luft. Um meiner Aufregung Herr zu werden, murmelte ich die Straßennamen. Vor einem Abbruchhaus verlangsamte ich, sah mich um. Auf den ersten Blick meinte man, das Haus habe einen Treffer abbekommen. Ein Teil der Fassade hing über das Trottoir, die Stützbalken konnten jeden Moment brechen. Ich betrat die Einfahrt. Die geplatzte Wasserleitung klaffte im Mauerrest. Ich lauschte, wischte Staub von einem Gesimse und legte den Anzug bereit. Es war umständlich, stehend aus den Stiefeln zu kommen; ich hopste und machte mehr Lärm, als mir lieb war. Verstaute Uniformjacke und Hose in der Tasche. Für Sekunden stand ich in Unterhosen im leeren Flur. Schritte von draußen, ängstlich wollte ich ins eingesunkene Treppenhaus flüchten. Doch man ging vorbei. Ich wagte nicht, die Dienstmarke abzunehmen, schob sie bloß über die Schulter, daß sie am Rücken herabhing. Rasch schlüpfte ich in Hemd und Hose und schnürte die Schuhe. Die Stiefelschäfte sperrten sich in der Tasche, mit solchem Gepäck würde ich auffallen. Ich erforschte den Hausflur; die Treppenrundung mündete in einen toten Winkel, kein Licht fiel dorthin. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel und schob die Tasche in die Dunkelheit. Wollte den weichen Filzhut aufsetzen und entdeckte im letzten Moment das Etikett Klawischnigg & Söhne, München. Ich biß den Zwirn auf, riß den Streifen heraus und warf ihn fort. Ich zog den Hut tief in die Stirn.

Als ein anderer betrat ich die Straße. Jedes Privileg hatte ich abgetan, war schutzlos gegen Besatzer und Besetzte. Ich durfte meine Papiere nicht zeigen, meine Sprache nicht sprechen, eine falsche Vokabel verriet mich. Spätestens um halb acht mußte ich die Rückverwandlung vollziehen, doch die Uhr, Erbstück mit deutscher Gravur, nahm ich nicht mit.

Als erstes wünschte ich mir einen anderen Namen, und bevor ich wußte, warum und weswegen, entschied ich mich für Antoine. Monsieur Antoine, Buchhändlergehilfe. Ich nahm den schmalen Band aus der Tasche, die Fabeln von La Fontaine. Das Buch gab mir Sicherheit, es bekräftigte meine Biografie. Monsieur Antoine machte einen Spaziergang. Er war nur ein unbeachtet Dahinschlendernder, ein junger Mann im Kleinkarierten. Seine Schritte klangen nicht anders als die der Menschen rundum. Kein scharfer Tritt, kein Grund für jemanden, auszuweichen. Allmählich atmete ich ruhiger, die Finger umklammerten das Buch nicht mehr so ängstlich. Ich schob den Hut in den Nacken. Ohne rechten Grund lächelte ich in den Spätnachmittag.

Monsieur Antoine überquerte den Pont Royal und kam in die geschäftigen Straßen unweit des Quais. Gemüsestände tauchten auf, daneben tranken sie Rotwein aus kleinen Gläsern. Ich bog um die Ecke, das Stimmengewirr umfing mich sofort. Alles sprach! Ich hörte alte Männer, die hinter einem Mädchen mit Blumenhut herlachten. Der Ruf einer Dicken über die Gasse, drei Frauen antworteten. Ein Abbé, die Schultern von bronzefarbenem Licht übergossen, zwinkerte einer Matrone zu und orakelte übers Wetter. Die lärmende, plappernde Welle erfaßte, riß mich fort, hinein in die Stimmen und Laute. Ich legte einer Alten mit Akkordeon eine Münze in die Schale.

Sie nahm die Pfeife aus dem Mund. »Que désirez-vous, mon garçon?«

Ich hatte mir vorgenommen, so wenig wie möglich zu sprechen. Monsieur Antoine aber fand das falsch. An einem Frühlingsabend fiel ein schweigsamer Pariser auf. Ringsum war man geschäftig, prahlend und jäh.

Ich wünschte mir einen Schlager, von dem ich nur den Refrain kannte: Je te veux. Die Alte nickte genießerisch, schob die Pfeife in den Mundwinkel und begann. Nachdem ich eine Weile zugehört hatte, ging ich weiter. Bemerkte eine Madame mit hauchdünnem Schleier, ihr Mund war dunkelrot emailliert. Eine Bande Halbwüchsiger rannte vorbei, der Flic schlenderte in die entgegengesetzte Richtung.

Ich stellte mich in die Schlange vor einer Pâtisserie. Eine kleine Frau rückte mir dicht auf den Leib. Vorne schnürte ein magerer Verkäufer Kekspakete. Ich beobachtete ein Lehrmädchen, das mit gerunzelter Stirn eine Dreigroschenbroschüre las. Zu gerne hätte ich gewußt, was sie, alle Welt vergessend, in den Buchstaben fand. Die letzte Keksration gehörte mir, ich bezahlte; die Frau hinter mir warf mir böse Blicke zu. Ich überlegte, ihr die Kekse zu schenken, doch dann legte ich mein Buch auf das Paket und schob es unter den Arm.

Während ich meine Schritte vor den Auslagen verlangsamte und mir versicherte, mein Anzug könne für ein französisches Modell gehalten werden, begriff ich, daß ich den Weg in die Rue de Gaspard eingeschlagen hatte.

Heute strahlte die Gasse in anderem Licht. Tief blitzte die Sonne zwischen den Firsten und tauchte die Dächer in warmes Rot. Der Fels vor dem Buchgeschäft war leer. Ich begriff, wie sinnlos es war, die Frau mit dem Katzenkopf zu suchen. Wahrscheinlich hatte sie sich neulich nur zufällig hier aufgehalten, ein Buch gekauft, sich auf den Stein gesetzt und gelesen. Danach war sie gegangen und kam möglicherweise nie mehr in die Rue de Gaspard zurück.

Die Buchhandlung hatte geschlossen. Enttäuscht entzifferte ich den Namen über dem Portal – Joffo, Livres. Aus Neugier drückte ich die Klinke, es war offen. Die Klingel ertönte.

»Darf man eintreten?« fragte ich auf französisch.

»Sehen Sie sich um, Monsieur«, antwortete der Patron vom Tresen aus.

Ich ging zu einem Regal und stellte mich so, daß er mein Gesicht gut sehen konnte.

»Haben Sie die neue Übersetzung von Anna Karenina?« fragte ich.

»Es gibt keine neue.« Der beleibte Mann trat kopfschüttelnd näher. »Prospère hat dichtgemacht. Zur Zeit erscheint nichts auf diesem Gebiet.«

Ich ließ mir die alte Ausgabe reichen. Sah dem Buchhändler aufmerksam in die Augen. Würde er in mir den Obergefreiten wiedererkennen, der ihn erst gestern besucht hatte?

»Die ist von vor dem Krieg.« Ich gab ihm das Buch zurück.

»Wie ich sagte.« Er zuckte die Schultern. Entdeckte den schmalen Band unter meinem Arm. »Sie lesen die Fabeln?« Er streckte die Hand aus. »Darf ich?«

Ich gab ihm mein Lieblingsbuch.

»Diese Ausgabe ist selten.« Er lächelte mit geschäftlichem Ausdruck.

Ich erschrak. Vielleicht trug das Buch einen deutschen Stempel.

Joffo schlug das Impressum auf. » Sehen Sie: Die gab es nur bis sechsunddreißig.« Er sah mich an. » Sind Sie vielleicht an Verkauf interessiert?«

»Ein Geschenk, leider«, seufzte ich erleichtert.

»Irgendwo müßte ich noch –« Behende, wie man es dem korpulenten Mann nicht zutraute, lief er zum nächsten Regal und zog eine prächtig illustrierte Ausgabe hervor. Zeigte mir die Geschichte Das Glück und das kleine Kind mit der ganzseitigen Radierung von Doré.

»Daraus habe ich meiner Tochter vorgelesen, als sie noch klein war «, sagte Joffo.

Am Rand des Blattes entdeckte ich gekritzelte Worte in Kinderschrift. Plötzlich sah ich das Mädchen mit dem Schmetterling wieder vor mir, die junge Frau mit dem rotbraunen Haar. Die Idee war verrückt, doch ich wagte einen Versuch.

»Ich habe Ihre Tochter heute noch gar nicht gesehen.«

Sein Kopf fuhr hoch. Die Augen wurden schmal wie die eines Ebers. »Kennen wir uns, Monsieur?«

»Nein«, lächelte ich. »Ich bin nur manchmal in der Gegend.«

»Und Ihr Name?«

»Antoine …« Eilig glitt mein Blick über Buchrücken. Buchstabenketten, Goldprägung, ein geschwungenes Re, dort eine Anthologie mit dem Titel Les Barbares. »Antoine Rebarbes.« Ich holte Luft.

»Sie stammen aus Paris?«

»Ich komme von außerhalb«, antwortete ich so harmlos wie möglich. »Können Sie mir den Tolstoi einpacken?«

Er zögerte, ging hinter den Tresen und wickelte Anna Karenina in braunes Papier. Ich zog einen Geldschein aus der Tasche.

»Ach? Werden die wieder gedruckt?« Joffo hielt die glatte Banknote gegen das Licht. Es war ein Schein aus der Wehrmachtsregistratur.

»Das habe ich mich auch schon gefragt.«

»Endlich.« Er wandte das Papier hin und her. »Die alten zerfallen einem schon zwischen den Fingern.«

Der Schein verschwand in der Kassenlade. Er zählte das Wechselgeld. »Wo haben Sie meine Tochter kennengelernt?« fragte er listig. »Vielleicht im Salon?«

Ich zögerte. In welcher Art Salon mochte sie anzutreffen sein?

»Im Salon, natürlich.« Ich nahm die Münzen entgegen und wandte mich zum Gehen.

Mißtrauisch kam Joffo nach. »Sie sind nur manchmal in der Gegend – und lassen sich ausgerechnet hier die Haare schneiden?«

Ich suchte den Zusammenhang. Öffnete die Tür. »Es ist eben ein guter Friseur.« Lächelnd trat ich hinaus.

Joffo hielt das Türblatt fest, damit die Klingel kein zweites Mal ertönte.

»Guten Abend, Monsieur«, sagte ich über die Schulter. Spürte, daß er mir nachsah. Der Schlüssel wurde herumgedreht. Ich nahm meinen Weg durch die Gasse zurück.

»Was soll die Pendeluhr kosten?« fragte ich den Trödler.

Er nannte die Hälfte des Preises vom letzten Mal.

Ich schlüpfte hinaus auf den Boulevard.