Das Wirtshaus in der Davert

Eva Maaser

Das Wirtshaus
in der Davert

Eine Geschichte in sieben Gängen
abgeschmeckt mit Rezepten von
Björn Freitag

Waxmann

INHALT

DAS WIRTSHAUS IN DER DAVERT

I
VOGELGRIPPE

II
KÜCHENGESCHICHTE

III
LIEBER KEINEN FISCH MEHR

IV
RAUCH

V
DELIKATESSEN

VI
DER PALLASIANER

VII
POFFERTJES

DAS WIRTSHAUS IN DER DAVERT

Eine wild wuchernde Eibenhecke bedrängte das alte Gasthaus von zwei Seiten, und auf der Schlaglochpiste, die hundert Meter weiter mitten im Wald endete, wuchs schütteres Gras, das an die nachwachsenden Haare von Toten gemahnte. Es hatte ganz den Anschein, als führe der Weg hierhin, aber keinesfalls wieder zurück. Hier und da ragten Steine mit saftigen Moospelzen aus dem Gras und das eine oder andere, von Liebhabern schwüler Träume geschätzte Hexenei, aus dem sich in wenigen Stunden ein Prachtexemplar von Stinkmorchel erheben würde.

Rechts und links am Wegesrand umarmten sich Erlen, Pfaffenhütchen und Tollkirschen, dahinter kündeten ein paar schief stehende Schwarzpappeln verhalten fröhlich von einer wasser- und sumpfreichen Gegend, die Fledermäusen und Eulen idealen Unterschlupf bot und zudem eine Heimstatt für Nachtschattengewächse und alle Wesen war, die es feucht, kalt und schleimig mochten.

Nahe beim Haus lag ein korrekt aufgeschichteter, aber vor Jahren schon vergessener Holzstapel aus kurzgesägten Stämmen und moderte vor sich hin. Aus seinem Innern brachen leuchtende Schwefelporlinge hervor, und im Fäulnisgeruch dieser einsamen Idylle schwangen Aromen mit, an denen jeder ökologisch orientierte Giftmischer seine Freude gehabt hätte.

Aus der Ferne klang das Hämmern eines Waldarbeiters herüber, der mit spitzem Schnabel entweder eine geräumige Spechtwohnung in einem halbwegs morschen Baum einrichtete oder ein paar Maden für sein Abendmahl herausklopfte. Zwei grämliche alte Eichen bewachten den Eingang des Wirtshauses und unternahmen mit ein paar letzten bunt verfärbten Blättern den rührenden Versuch, Herbstgoldstimmung zu verbreiten.

Das Haus war eines dieser kaninchenbauartigen Gemäuer, an die Generationen von Besitzern mit keineswegs übereinstimmendem Geschmack Türmchen, Seitenflügel, Erker und jede Menge rustikale Kamine angeflickt hatten, so dass sich die Front weder einheitlich noch geschlossen darbot. Immerhin hatte sich der Eingang über viele Jahrzehnte hinweg an der gleichen Stelle behaupten können.

Obwohl auf den Buchstaben über der breiten Eichentür eine schillernde, glitschige Schicht aus Moos und Flechten klebte, ließ sich mit genügend Ausdauer im tröpfelnden Nieselregen die ein wenig lückenhafte Inschrift „ZU… SPÖK…NKIE…“ entziffern. Wer den Blick dann senkte, entdeckte in der Tür ein kleines ovales Fensterloch mit Butzenscheibchen, das im Dämmerlicht wie ein gefleckter Krötenbauch schimmerte, und noch weiter unten eine nicht sehr fachkundig angebrachte Katzenklappe.

Auf der modrigen Fußmatte lagen fünf angelaufene, verschnörkelte Messingbuchstaben: ein M, zwei Es, ein K und ein R.

Schon von draußen hörte man ein hohl klingendes Ticken, und war man eingetreten, fiel der Blick sofort auf die behäbige Standuhr, die sich mit breit auseinanderstehenden Klauenfüßen wie ein Betrunkener mühsam in der Senkrechten zu halten suchte. Zunächst einmal überraschte die Weitläufigkeit dieser Diele, in der es nach Staub und Mäusekötteln roch.

Schräg gegenüber dem unbesetzten Empfangstresen befand sich ein wackliger Garderobenständer aus ineinandergesteckten Hirschgeweihen, die aus einem bestimmten Blickwinkel wie ein menschliches Gerippe aussahen, das sich selbstherrlich in die Brust warf. Ansonsten war die Halle so gut wie unmöbliert, wirkte aber dadurch umso gediegener. Nur drei angestaubte Sessel mit stark verblichenem Bezug duckten sich in der Nähe der in den oberen Stock führenden Treppe um ein Tischchen mit gedrechselten Beinen. Und natürlich fiel jedem die schneeweiße Gans auf, die den Geländerpfosten bekrönte.

Eine der vielen Türen führte direkt in die Küche. Selbst für ein Landlokal mit übersichtlicher Speisekarte war sie nicht sonderlich geräumig, und die ganze Ausstattung machte einen recht zusammengeschusterten Eindruck.

An einer Anschlagleiste über dem Herd klebten Zettel, die vor Feuchtigkeit Wellen schlugen. Auf den ersten hatte jemand „Kanin. in Rotw.sauce“ gekrakelt. Und dieser Zettel bewegte sich unverhofft in einem scharfen Luftzug, als hätte jemand die Haustür geöffnet.

Aus der Diele waren jetzt dumpfe Schritte auf den abgetretenen blassroten Bentheimer Sandsteinplatten zu hören, in der Küche dagegen herrschte Stille, obwohl sich zwei Männer darin aufhielten. Der eine reckte nun sein von Sorgen zerfurchtes Gesicht einen Moment in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, zuckte die Achseln und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Küchentisch.

Lang ausgestreckt auf der schönen, sauber geschrubbten Buchenholzplatte lag der zweite Mann, gekleidet in das typische weiße Kochgewand mit schwarzen Knöpfen, die Hände untätig über der Leibesmitte gefaltet. Das musste jedem seltsam erscheinen, der den Blick über die Prunkgefäße der Kochkunst schweifen ließ – die Wurstkessel, Henkeltöpfe und wannengroßen Bratreinen, – die zu dieser Uhrzeit mit Grünkohleintopf, Leberbrot oder zumindest einer schönen, in Schmalz schmurgelnden Portion Panhas gefüllt sein sollten.

Der Mann, dem das Haus gehörte, stützte müßig die Hände auf das Stück Tischkante, das der stattliche Körper des Kochs freiließ, seufzte bekümmert auf und schauderte ein wenig, als würde ihm immerhin bewusst, dass die Kühle im Raum sich bedenklich der Gefriergrenze näherte – was in einer Küche immer ein bisschen unnatürlich wirkt. Als dann mit einem energischen Ruck die Tür aufschwang, schaute er fast erleichtert auf.

Der Besucher, der unruhig hereinspähte, wartete, bis er dem Blick des Wirts begegnete, und trat dann mit raschen Schritten ein. Wuscheliges lohbraunes Haar fiel ihm in die Stirn, was ihn jungenhaft, unkompliziert und fröhlich erscheinen ließ, aber seine Bewegungen hatten etwas an sich, das an herumhuschende Ratten erinnerte.

Leider hörten die Geräusche von draußen mit seinem Eintreten nicht auf, jetzt klang es sogar, als hätte sich eine ganze Gruppe von späten Gästen ins Haus gedrängt – möglicherweise eine Jagdgesellschaft, denn irgendwer trampelte in der Diele richtiggehend herum. Kehliges Gemurmel drang von dort herüber, Husten und Räuspern.

Als die Küchentür erneut aufschwang, traten gleich fünf von herbstlicher Feuchte umwehte Leute herein, was der Theorie des Wirts von der Jagdgesellschaft erst einmal neue Nahrung verlieh. Allerdings hatte sich keine angemeldet, was Jagdgesellschaften sonst immer taten, wussten sie doch, dass schon ein einziger Abschuss von Reh-, Rot- oder Schwarzwild den Appetit anheizte – und die Fehlschüsse noch mehr.

Aber in den letzten Stunden hatte es im Wald weder geknallt, noch war das wilde Getöse einer Treibjagd bis zum Gasthaus gedrungen. Die neuen Gäste sahen sich erst einmal verwundert, fast scheu in der Küche um und näherten sich schließlich zögerlich dem Tisch in der Mitte. Eine hübsche junge Frau in einem knapp sitzenden burgunderroten Wollkostüm und Sneakers aus Reptilienleder, rieb sich fröstelnd die Oberarme.

Auf einmal verschwammen die Konturen der Leute vor den Augen des Gastwirts, während er mit einem unerklärlichen Schwächeanfall rang. „Es tut mir wirklich sehr leid“, sagte er mit heiser krächzender Stimme, „und ich schäme mich, es zu sagen, aber da ist wirklich nichts zu machen: Heute bleibt die Küche kalt“, fuhr er geradezu gedemütigt fort, so dass er den Gästen leidtun musste.

„Na so was!“, rief einer von ihnen überrascht.

„Wegen des Kochs? Was ist mit ihm passiert?“ Eine solide gekleidete alte Dame trat an den Tisch, betrachtete die lang ausgestreckte Gestalt und tätschelte ihr mit einer sanften, mitfühlenden Geste die Hand. „Er sieht sehr gut aus, nicht wahr? Ich mag große, stattliche Männer“, setzte sie leise hinzu und errötete leicht.

„Ich habe heute nicht mit Gästen gerechnet“, erklärte der Wirt, er wollte noch etwas hinzufügen, stockte jedoch, weil die Uhr in der Diele zu rasseln und zu rattern begann. Stöhnend schlug sie fünf Mal. „Die Uhr“, murmelte er verstört, „hätte auch längst geölt werden müssen.“

Die beiden Damen konnte er sich nicht mit einer abgeknickten Schrotflinte über dem Arm vorstellen, sie wirkten zu städtisch. Auch die Herren schätzte er – bis auf einen – als gediegene Anzugträger ein, die wahrscheinlich einen Dachs nicht von einem Waschbären unterscheiden konnten.

„Was?“, fragte der zuerst eingetretene Gast nach.

„Die Uhr …“

„Hören Sie bloß mit der Uhr auf!“, wandte der Mann ein und musterte ihn stirnrunzelnd. „Ist das nun ein Gasthaus oder nicht? Also, wie steht’s mit ein paar leckeren Happen?“

„Haben Sie keine Augen im Kopf?“, mischte sich die zauberhafte junge Frau in den Sneakers mit kaschmirweicher Stimme ein. Es war eine dieser Sirenenstimmen, die überraschend leicht erotische Fantasien hervorrufen. „Sehen Sie nicht, dass der Koch tot ist? Jedenfalls hält er hier auf dem Tisch bestimmt kein Nickerchen.“

Einer der Herren betrachtete sie so versonnen lächelnd, als habe er überhaupt nicht mitbekommen, was sie gesagt hatte.

„Aber warum denn nicht?“, meldete sich die alte Dame zu Wort. „Vielleicht war er müde“, setzte sie hinzu und streichelte wieder hingebungsvoll die Hand des Kochs. „So eine Tischplatte ist gut fürs Rückgrat, wussten Sie das?“

„Er sieht aus wie Schlachtvieh“, warf der zuerst Eingetretene ironisch ein. „Aber mal ehrlich: Ich sehe hier nichts Essbares – oder?“

Verstohlen musterten einige den Koch. Er war butterblond, glatthäutig und schien unter seiner netten Speckschicht kräftige Muskeln zu haben.

Während die Gäste in den Anblick des Kochs vertieft waren, steckte der Gastwirt Kerzen auf zwei makellos weiße Porzellanleuchter, stellte sie langsam und feierlich rechts und links neben den Kopf des Kochs, entzündete sie bedächtig und löschte das elektrische Licht. Lediglich die Neonröhre hinter der Leiste über dem Herd brannte jetzt noch und beleuchtete die Zettel, die erstaunlich große, düstere Schatten auf die Versammlung warfen. Nun konnte niemand mehr leugnen, Zeuge einer Aufbahrung zu sein. Im Kerzengeflacker wirkte das Gesicht des Toten aber recht lebendig.

Für einen Augenblick hatte der Wirt sogar die Leute vergessen. Aber nun holten ihn seine Gedanken wieder ein.

Also keine Jagdgesellschaft … Gehörten sie zu einem Club, der aus unerfindlichen Gründen hier sein Jahrestreffen abhalten wollte? Warum nur hatten sie sich nicht angemeldet? Diese Frage stellte er sich immer wieder. Hätten sie sich bloß angemeldet! Sie wären hochwillkommen gewesen, ganz egal, ob sie Teufelsanbeter waren oder ein Naturforscherverein, der sich vorgenommen hatte, das Vorkommen von Kammmolchen in dieser Gegend zu kartieren.

Jetzt aber sollten sie aus seiner Küche verschwinden. Gerade wollte er mit klarer harter Stimme eine eindeutige Aufforderung an sie richten, da bewegte sich noch einmal die Tür zur Diele.

Eine pummelige, nachtschwarze Samtpfote von Kater schnürte herein und schritt mit bewundernswerter Unabhängigkeit im Blick der gelben Augen durch die Versammlung. Den Schwanz wie eine Flaschenbürste aufgestellt, strich der kleine Eindringling um den Wirt herum, rieb sich an seinem Bein und erstarrte jäh. Seine Barthaare zitterten, sein Fell sträubte sich. Und mit einem durchdringenden Schrei schoss er wieder zur Tür hinaus.

Derweil hatten alle den Atem angehalten.

„Dummes Vieh“, sagte endlich einer der Gäste, ein hochgewachsener Mann, dessen Gesichtszüge ein bisschen wie von Dr. Frankenstein zurechtgebastelt wirkten. Seine kleinen Augen verrieten wenig menschliches Gefühl. Die anderen Gäste hatten sich unmerklich von ihm ferngehalten, nun rückten sie noch etwas mehr ab. Spätestens in diesem Moment wurde dem Gastwirt klar, dass die Leute gar nicht zusammengehörten, da war er einem Irrtum erlegen, und außerdem waren es auf einmal sieben. Irgendwann in den letzten Minuten hatte sich noch ein untersetzter, dicklicher Herr dazugesellt, der den Katzenverächter milde anlächelte.

„Das würde ich nicht sagen. Ich würde sagen: kluges Tier, es riecht den Tod.“ Der Mann zog seine knollige Nase kraus, als könne er selbst den Tod riechen. In der Küche roch es aber höchstens nach Staub und ganz schwach nach Vanille, ein Hauch wie eine sehr ferne, glückliche Erinnerung.

Plötzlich lachte die junge Frau nervös auf, erstickte aber sofort ihren Heiterkeitsausbruch mit der Hand vor dem Mund. „Ich hätte nicht lachen dürfen. Tut mir leid, das war jetzt nicht gerade passend. Tut mir auch leid, dass wir so einfach hier hereingeplatzt sind. Aber wir haben draußen in der Diele mehrfach gerufen, und keiner hat uns gehört.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Andererseits: Was für eine seltsame Situation! Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich machen soll oder was wir machen sollen …“ Sie hatte immer leiser und langsamer gesprochen und von einem zum anderen geschielt, als erhoffte sie sich Beistand. Niemand sagte etwas, stattdessen drehten sich nun alle dem Wirt zu, starrten ihn an, die Köpfe leicht schräg geneigt, eindeutig erwarteten sie etwas, und es war diese geschlossene, ein bisschen unheimliche Front, die ihn klein beigeben ließ.

„Etwas“, meldete er sich mit pelziger Zunge, „könnte ich Ihnen immerhin als Trost für das entgangene Abendessen anbieten: Ich habe ein paar gute Flaschen Wein im Keller, die ich Ihnen selbstverständlich auf Kosten des Hauses servieren würde.“ Einige der Gäste sahen sich unschlüssig an, als müssten sie über das mehr als großzügige Angebot erst einmal gründlich nachdenken. Es war einfach nicht schlau aus ihnen zu werden, aber die Reue, die ihn gerade übermannte, kam zu spät. Warum eigentlich sollte er diesen Leuten seine Kellerschätze opfern? Da waren Weine dabei, wie sie niemand in diesem Haus erwarten würde: flüssiges Gold, verstöpselte Glückseligkeit, tintiges Traubenherzblut von außerordentlicher Dichte und feurige Drachenspucke.

„Guter Wein? Hier am Arsch der Welt? Ist ein zwanzig Jahre alter Bordeaux dabei?“, rief plötzlich einer der Männer, der sich bisher noch nicht geäußert hatte. Der Kerl trug Stiefel, ausgelatschte, grobe Lederstiefel mit geflickten Schnürsenkeln, und sie hatten eine breite Dreckspur auf den Fliesen hinterlassen. Die anderen mussten sich die Schuhe sorgfältig abgeputzt haben. Bloß wo? Auf dem morschen Abtreter draußen?

Den Blick fasziniert auf diese eine einzige Spur gerichtet, die so merkwürdig alltäglich wirkte, antwortete der Wirt, ohne zu überlegen. „Kann schon sein.“

„Das überrascht mich aber!“ Der Mann in den Stiefeln schnippte freudig mit den Fingern. „Na dann her damit.“

Jetzt war es für Reue wirklich zu spät, war sich der Wirt im Klaren. Dafür sammelte sich in den schmutzigen Ecken seiner Seele ein bisschen Hass auf diese Leute, und er verfluchte sich innerlich, weil er es nicht fertig brachte, aus der völlig sinnlos gewordenen Rolle als Gastwirt herauszufallen.

„Bitte, gehen Sie ins Jagdzimmer voraus“, bat er mit einer Stimme, in der sein inneres Widerstreben deutlich mitschwang. „Sie finden es auf der anderen Seite der Halle. Es ist ganz gemütlich, jedenfalls brennt schon ein Feuer im Kamin. Ich komme gleich mit den Flaschen und den Gläsern nach.“

„Na ja“, sagte die junge Frau mit einem letzten Blick auf den Koch, „hier können wir ja sowieso nichts machen. Nicht wahr?“

Nacheinander verließen die Gäste in der Reihenfolge, in der sie eingetreten waren, die Küche. Einer tippte an den Zettel mit der Aufschrift „Kanin. in Rotw.sauce“ und murmelte: „Wäre auch zu schön gewesen.“

In der Diele lagen auf dem Tischchen einige Speisekarten, an deren oberster sich die bräunlichen Ränder aufbogen, doch niemand achtete darauf. Die Besucher schoben sich auf die Holztreppe zu. Auf einmal stockte der Erste, er fuhr regelrecht zusammen und starrte wie hypnotisiert die Gans auf dem Pfosten an. Alle blieben stehen.

„Was ist?“, fragte die junge Frau. „Was ist jetzt schon wieder?“

„Die … die Gans!“ Ein Finger deutete auf den Pfosten.

Die Gans hielt den Kopf unter dem Flügel versteckt.

„Ist nicht echt, ist eine Holzgans, du Hornochse“, sagte der Mann in den Stiefeln.

Schweigend warteten die anderen.

Die Gans war weiß und groß und rührte sich natürlich nicht, dennoch näherte derjenige, der sich erschreckt hatte, ihr so zitternd den Finger, als würde sie ihm gleich mit dem Schnabel ins Gesicht hacken, während seine Miene nackte Angst widerspiegelte.

„Da, da ist Staub drauf“, flüsterte er.

„Klar ist Staub drauf, geh weiter, Kumpel.“ Der Mann in den Stiefeln stupste den anderen an und löste damit die plötzlich aufgekommene ungute Spannung.

„Na klar. Sie ist nicht echt.“ Sichtlich verwirrt taumelte der andere weiter.

Jetzt schrie die alte Dame auf.

Wieder stockte die Gruppe.

„Und was …?“ Der Wirt erschien in der Küchentür.

„Dieser Dreck“, tadelte die Dame den Mann in den Stiefeln. „Wieso schleppen Sie den ganzen Dreck herein? Haben Sie denn gar keine Manieren?“

 

Kaninchenmaultäschchen mit geschmorten Rotwein-San-Marzano-Tomaten

375 g Mehl

100 g Kaninchenrücken für die Farce

375 g Hartweizengrieß

50 ml Sahne

3 Eigelb

100 g Kaninchenrücken in feinen

2 Vollei

Würfeln

Salz

50 g Parmesan gerieben

50 ml Wasser

1 Bd. Estragon gehackt

1 EL Olivenöl

1 Eigelb

Salz, Pfeffer

Für die Kaninchenfarce den Rücken in kleine Stücke schneiden und im Froster leicht anfrieren lassen (ca. 10 min) dann in einer Moulinette mit Salz und der Sahne kurz pürieren (ca. 10 sec).

Alle Zutaten für den Nudelteig verrühren und im Kühlschrank (1 Stunde) ruhen lassen.

Mit Kaninchenfarce, Kaninchenfleischwürfeln und Parmesan eine Füllung anrühren und mit Salz, Pfeffer und Estragon abschmecken.

Den Nudelteig ausrollen und mit Eigelb bestreichen.

Die Füllung in kleinen Kügelchen aufsetzen und mit einer weiteren Schicht Nudelteig verschließen. Dann die Ravioli auf einem Raviolibrett ausstechen und in kochendem Wasser ca. 2 min ziehen lassen.

Rotwein-San-Marzano-Tomaten

10 kleine Marzano-Tomaten

2 EL Butter

1 Bd. Zwiebellauch

Salz, Pfeffer

1 EL Tomatenmark

 

Die Tomaten im Ganzen mit dem geschnittenen Zwiebellauch in Olivenöl scharf anbraten und mit ein wenig Nudelwasser und Rotwein ablöschen. Dann mit dem Tomatenmark ca. 10 min schmoren lassen.

Alle musterten die Spur, die von der Eingangstür zur Küche und von dort zu dem Mann mit den Stiefeln führte.

„Das Schlammloch da draußen, das …“

„… ist die Davert“, fiel ihm der Wirt streng ins Wort. „Das Gebiet hier ringsum heißt die Davert, falls Sie das nicht wissen sollten.“ Warum erklärte er das überhaupt? Er wäre jetzt gern richtig garstig geworden. Aber noch verlor er nicht die Fassung, noch sah er sich regelrecht dabei zu, wie er sich zusammenriss und einigermaßen höflich blieb. „Woher kommen Sie denn? Die Davert ist bekannt für ihre vielen Sümpfe. Früher waren es sogar noch mehr.“

„Ist mir ehrlich schnurz. War ja kein Durchkommen da draußen“, sagte der Mistkerl mit den Stiefeln.

Die junge Frau lachte weich und wohltönend, und die ganze Aufregung legte sich. Einigermaßen beruhigt, huschten die Gäste ins Kaminzimmer, wo im Feuerloch bläuliche Flammteufelchen gegen die klamme Düsternis ankämpften.

„Ich heiße übrigens Wöller“, stellte sich der Mann vor, der als Erster in die Küche eingedrungen war, und beugte sich zum Kamin hinunter.

Der pummelige Herr, der als Letzter angekommen war, flüsterte: „Franz Parkow“, und reichte Wöller ein Schüreisen, mit dem dieser im Feuer zu stochern begann.

„Nasses Holz“, sagte einer der jüngeren Männer – er stellte sich beiläufig als Meyer vor –, „warten Sie, ich helfe Ihnen.“

Gemeinsam machten sich Wöller und Meyer am Feuer zu schaffen, ohne dabei viel zu erreichen. Die Scheite wollten nicht recht brennen.

„Von Feuer habt ihr echt keine Ahnung, lasst mich mal.“ Der Mann in den Stiefeln wollte um den Kamin herum in die Ecke langen, wo an der Wand ein paar auf Holzbrettchen montierte Rehbocksgehörne wie prähistorische Opfergaben an den Jagdgott übereinanderhingen. Ein lautes Fauchen ließ ihn jedoch zurückfahren. Mit einem Satz sprang der Kater auf den geschwärzten Eichenbalken, der als Kaminsims diente, und machte einen gewaltigen Buckel.

„Mauritius“, rief der Wirt, der eben mit einem Korb voll klirrender Flaschen und einem Tablett mit Gläsern hereinkam, „benimm dich! Wir haben Gäste.“

Scheinbar besänftigt, rollte sich Mauritius zusammen, verfolgte aber mit wachsamen Augen, was sich unter ihm tat.

Schließlich saßen alle Gäste in alten, knarzenden Ledersesseln um den rustikalen Kamin, ein Glas in der Hand, das im rötlichen Flammenschein funkelte. Bis auf die alte Dame – Frau Winter – hatten alle Rotwein gewählt.

Die Fensterläden klapperten geräuschvoll, die Fenster selbst sperrten nur mäßig erfolgreich den Wind aus, der draußen durch die triefenden Eiben brauste. An der Wand hing ein Kalender, der den 2. November angab, wobei nicht ersichtlich war, welchen Jahres, der Wochentag jedenfalls stimmte nicht.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Wöller eine Spur zu munter, um echt zu wirken.

Die Frage rief beim Wirt ein deutliches Unbehagen hervor. Nicht einer der Gäste hatte vorgeschlagen, wegen des Kochs einen Arzt zu rufen. Ebenso wenig war von der Polizei die Rede gewesen. Außer ihm saßen zwei Frauen und fünf Männer plaudernd um den Kamin herum, und nicht einer bot sich an, „die Dinge in die Hand zu nehmen“. Dabei musste das doch ein Fressen für diese Leute sein. Obwohl ihm das Verhalten seiner Gäste nicht ganz ungelegen kam, störte es ihn.

„Tja, und was nun?“, wiederholte Wöller und warf ihm einen forschenden Blick zu.

Hatte einer von ihnen heimlich sein Handy gezückt?, grübelte der Wirt. Die hatten doch alle eins, nur bei dem Kerl in den Stiefeln war er sich nicht ganz sicher. Er hatte seine Gäste nicht ständig im Auge behalten können, es war gut möglich, dass die Polizei längst unterwegs war, und falls sie nicht in einem Schlammloch stecken blieb … Diese Leute machten sich lustig über ihn, sie ließen ihn zappeln, und es machte ihn verrückt, dass keiner von ihnen die naheliegendsten Fragen stellte.

„Sie haben keine Idee?“, erkundigte sich der rundliche Franz Parkow.

„Es gibt ja nicht viel, was wir machen können, während wir Wein trinken, uns aufwärmen und versuchen, nicht ans Essen zu denken“, bemerkte die junge Frau mit einem Anflug von Verwirrung.

„Was das Essen betrifft: Verdrängung funktioniert meist nicht“, entgegnete Wöller tiefsinnig. „Wenn man gebeten wird, nicht an einen blauen Elefanten zu denken, denkt man todsicher an nichts anderes.“ Er stockte und blies sich vorsichtig die rehbraunen Zotteln aus der Stirn.

„Ich denke nie an blaue Elefanten“, wandte Frau Winter ein. „Schade“, Sehnsucht schimmerte in ihren Augen auf, „dass wir keine Bratäpfel haben können. Was würde ich jetzt für einen duftenden, mit Rosinen gefüllten Bratapfel mit Vanillesauce geben!“

Missbilligend knirschte Wöller mit den Zähnen. „Bratäpfel! Ich wüsste was anderes.“

„Wenn Sie uns Ihre Idee nicht verraten, können wir uns nicht dazu äußern“, meinte Meyer trocken und schob eine Hand unters Knie, um schwerfällig ein Bein über das andere zu heben.

Im Gegensatz zu Wöller hatte dieser Meyer Klasse, wieso, hätte der Wirt allerdings nicht genau zu sagen gewusst. Es war eine instinktive Einschätzung, wie er sie viele Male zutreffend vorgenommen hatte und wie sie zur Grundausrüstung eines erfolgreichen Gastwirts gehörte. Diesen, seinen Beruf konnte er ja nun an den Nagel hängen, ging ihm auf, und das machte ihn von Herzen unglücklich. Oder gab es noch irgendeine Chance? Ein Wunder? Einen Wundertäter unter diesen Gästen?

Wenn sie bloß nicht die Küche betreten hätten!

„Ich glaube, ich weiß, was er im Sinn hat“, ergriff die alte Frau Winter wieder das Wort und äugte eulenhaft zu Wöller. „Dann fangen Sie mal an, es war ja Ihre Idee.“

„Ja, zum Henker, womit denn?“, polterte der Mann mit dem Frankensteingesicht. Er hatte den schlechtesten Platz erwischt, denn er saß isoliert von den anderen in der Ecke, ein zugiges Fenster im Rücken, halb im Dustern.

Meyer lehnte den Kopf an das dicke Rückenpolster. „Eine Geschichte“, sagte er versonnen, „eine Geschichte, die uns träumen oder schaudern lässt und mit einer kalten Küche versöhnt. Ich bin auch dafür, dass Herr Wöller anfängt. Schließlich hat er den Vorschlag gemacht.“

Jetzt schlägt’s dreizehn, dachte der Wirt. Es würde mich nicht wundern, wenn diese Leute zu einer Vereinigung gehören, deren Mitglieder einen Wettbewerb in Verrücktheit austragen, grübelte er weiter und nahm den ersten, tröstlichen Schluck aus dem Rotweinglas.

Wöller schien mit der Aufforderung gerechnet zu haben, denn er grinste vielsagend. „Einverstanden. Mal sehen, wie’s mit dem Appetit steht, wenn ich fertig bin. Übrigens“, wandte er sich freundlich dem Wirt zu, „Ihr Rotwein duftet sehr ansprechend nach frischen Kräutern, exotischen Gewürzen und Brombeeren. Genau die richtige Begleitung zu einem großen Braten …“

„Freut mich zu hören“, entgegnete der Wirt kühl. Dieses Gewäsch über Wein hatte neuerdings ja jeder drauf.

„.… aber nichts für Ihr Kaninchen in Rotweinsauce“, schloss Wöller seine Betrachtung.

„Gänseschmalz. Auf eine dicke Brotscheibe mit hausgemachtem Gänseschmalz hätte ich Appetit“, tönte es von Frau Winter herüber.

Wöller kniff die Augen zusammen. „Gänseschmalz? Wie zum Teufel …“

„Seien Sie so gut und fangen Sie endlich an. Wie sollen wir sonst bis Mitternacht fertig werden?“, unterbrach ihn Meyer. „Erzählen Sie schon Ihre Geschichte.“

Mitternacht? Was redet dieser Herr Meyer von Mitternacht?, dachte der Wirt überrascht und versuchte sich zum letzten Mal an einer Einschätzung seiner Gäste. Waren das am Ende Kriminelle, die sich zu einem konspirativen Treffen versammelt hatten? Vielleicht jagte ihm einer von ihnen gleich eine Spritze in den Arm, und er war hinüber, während bereits ein Lastwagen mit heißer Ware auf dem Weg hierher war. Heutzutage sagte das biedere Äußere von Menschen ja gar nichts mehr. Kleingartenbesitzer brachten sich gegenseitig wegen überhängender Äste um, das war die Wirklichkeit! Und die Davert war schon früher ein Ort für Unholde aller Art gewesen. Genau besehen hatten Mord, Raub und Totschlag das einzige tragfähige Geschäftsmodell für diese benachteiligte Gegend dargestellt. Er nahm einen weiteren Schluck Rotwein und äugte abwartend zu Wöller hinüber.

Unschlüssig knetete dieser die Fäuste und starrte auf einmal trübsinnig vor sich hin. „Ich weiß nicht … Vielleicht muss ich ja doch nicht den Anfang machen.“

„Mut, Kumpel“, raunte der Mann in den Dreckstiefeln. „Gerade wollteste noch und nu …“

Wöller holte tief Luft. „Ja, dann … “ Er schielte zum Wirt. „Auf Ihre Verantwortung.“

Der Wirt glotzte verständnislos zurück. „Auf meine …, nein, nein, so geht das nicht! Oh nein, liebe Leute, ich spiele nicht mehr mit.“

Doch da begann Wöller schon zu erzählen.