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Über dieses Buch

Drei Jugendliche werden ermordet: arme, schwarze Jugendliche aus der Favela – wer weiß, ob sie mit Drogen zu tun hatten? Der Verdacht fällt schon bald auf die Polizei, an einer genaueren Untersuchung hat niemand Interesse. Damit wäre der Fall abgeschlossen, wenn nicht Fred, selbst schwarz, Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist, sich auf die Spur des an sich alltäglichen Verbrechens setzen würde. Mit Unterstützung einer weißen Polizeibeamtin, seiner Geliebten, gelangt er an Informationen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Und für einen Moment sieht es so aus, als könnte es diesmal gelingen, die Mauer aus Korpsgeist, Rassismus und Korruption innerhalb der brasilianischen Polizei zu durchbrechen.

»Schwarz, meine Liebe« ist der zweite Roman von Fernando Molica, der als Journalist täglich mit den Abgründen und Widersprüchen der Stadt Rio de Janeiro befasst ist.

»›Schwarz, meine Liebe‹ ist nicht nur ein guter Krimi, sondern eine Art Geografie der Stadt Rio de Janeiro, die angespannt, bebend, kurz vor der Explosion steht. Es ist das zugleich kritische wie zärtliche Porträt einer ausufernden Stadt mit ihren Schreien, Träumen und der Enttäuschung von Millionen Marginalisierter.« (O Globo)

»Nur selten ist der Rassismus in Brasilien so genau analysiert worden.« (Correio Braziliense)

Der Autor

Fernando Molica, geboren 1961 in Rio de Janeiro, war von 1996 bis 2008 Reporter des Fernsehsenders TV Globo. Er arbeitete als Rio-Korrespondent der Tageszeitung »O Estado de São Paulo«, war Reportagechef der Zeitung »O Globo« sowie zehn Jahre lang Reportagechef und Reporter für das Rio-Büro der Tageszeitung »Folha de São Paulo«. Seit 2008 arbeitet er als Kolumnist für »O DIA«. Neben drei Romanen veröffentlichte er die Anthologie »10 Reportagen, die die Diktatur erschütterten« und die aufsehenerregende Biografie eines brasilianischen Terroristen. Sein erster Roman »Krieg in Mirandão« erschien in deutscher Übersetzung 2006 bei Edition Nautilus.

Der Übersetzer

Michael Kegler, Jahrgang 1967, übersetzt seit Ende der 1990er Jahre aus dem Portugiesischen, unter anderem Werke von Paulina Chiziane (Mosambik), José Eduardo Agualusa (Angola) und zahlreicher brasilianischer Schriftsteller. 2014 erhielt er – zusammen mit Marianne Gareis – den Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW.

Fernando Molica
Schwarz, meine Liebe

Kriminalroman

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler

Edition diá

Für Bárbara

Inhalt

Die Jungs
Das Tuch
Göttliche Rache
Die Hautfarbe nicht verleugnen
Drei Leichen
Damenstrumpfhaube
Sicherheit
Das glatte Leben
Ernte
Zum Wohl
Protest
Erklärung
Roseta
Duelle
Invasion
Aufbaustudium
Geräusche
Dialoge mit dem Nichts
Steine
Schüsse
Freitagabend
Mitteilungen
Kopfzerbrechen
Zurechtweisung
Ordnung und Effizienz
Kurz berichtet
Dossier
Rhythmus
Ergebnisse
Tunnel
Schlusspfiff
Verlängerung

Danksagung
Impressum

Die Jungs

Lelé weinte leise. Er bemühte sich, nicht zu schreien, nicht zuzulassen, dass dieses Fast-Winseln, das irgendwo aus seinem Bauch bis zum Hals hinaufstieg, bis ganz oben in die Kehle, zu einem offenen Weinen wurde. Es wollte aus ihm herausbrechen, brüllen, sagen, das tut weh scheiße, das tut verdammt weh es ist genug ihr habt uns gequält jetzt lasst uns laufen lasst uns einfach gehen wir sagen nix hey wir ham nix gesehn machen nix mehr das tut verdammt weh das tut weh. Lelé wusste, dass es nichts bringen würde. Weinen, brüllen, all das würde nur dazu führen, dass es nur noch länger dauerte. Besser, sie würden gleich Schluss machen. Dass der Schmerz schnell vorbeigeht, dass all das schnell vorbei ist. Und das Schlimmste war, er hatte außerdem Angst vor der Dunkelheit, vor diesem dunklen Gestrüpp, vor den Geräuschen der Tiere, hier gibt’s ganz bestimmt Schlangen, ich habe Angst vorm Dunkeln, verdammt noch mal. Schon früher war mir nicht wohl, als meine Mutter mich immer alleine ließ in der Dunkelheit, mich und meine Brüder, als wir klein waren, wir alleine im Dunkeln, ich müsste es doch gewohnt sein, ich bin achtzehn, verdammt, ich dürfte keine Angst mehr haben, aber ich habe Angst, was soll ich denn machen? Dieser harte Boden tut mir weh, die Schweine haben mir die Turnschuhe geklaut, meine Klamotten, meine Hose, ausgerechnet die Hose, die schwarze Hose, die ist doch noch nicht einmal abbezahlt, na, jetzt können sie sehen, wo sie bleiben, von mir kriegen sie kein Geld mehr, geschieht ihnen recht, sie haben mich reingelegt, haben gedacht, ich hätte sowieso kein Geld zum Bezahlen, jetzt sollen sie sehen, wo sie den Rest herbekommen. Es ist heiß, aber ich friere, die Schweine haben mir sogar das Hemd abgenommen, verdammt, Mann, ein ganz altes Hemd, das ist doch total am Ende, lass es mir, das ist von meiner Tante. Wahrscheinlich ist mir deswegen kalt. Es ist nicht kalt, ich hab einfach Angst. Das tut weh, ich glaube, mein Bein ist gebrochen, ich will nicht mehr laufen, wo ist Serrote, wo ist Bronha, wer ist das da vorne, und wer läuft hinter mir? Der da so laut heult, das ist wahrscheinlich Serrote, der Arme, er brüllt wie am Spieß, sagt, er wechselt die Seiten, sagt, er will singen, er sagt alles, macht alles, was sie wollen. Aber das ist denen doch scheißegal, sie hören nicht auf, uns zu schlagen, machen alles kaputt. Hör auf zu brüllen, Serrote, für dich ist doch sowieso alles zu spät, sie wissen schon alles, was du gemacht hast, was du angestellt hast und mit wem du herumgelungert bist. Hör auf zu brüllen, verdammt. Scheiße, ich darf nicht brüllen, nur dran denken, wenn ich brülle, machen sie mich noch mehr fertig, und ich will nicht noch mehr geschlagen werden, ich will nur noch, dass das hier aufhört, dass Schluss ist. Ich hab Angst vorm Dunkeln, verdammt, ich bin achtzehn, aber ich hab Angst im Dunkeln, hab Angst vor dem dunklen Wald, hab Angst vor Tieren, hab Angst vor Schlangen. Ich will zu meiner Tante, ich will was rauchen, ich will schwarze Bohnen mit Dörrfleisch, ich will die kleinen Titten von Thayssa, will Thayssa lecken, ich will, ich will wissen, was mit Bronha ist, wo ist Bronha, der arme Bronha, was ist mit Bronha? Gerade jetzt, wo es anfing, ihm gut zu gehen, wo er Geld verdient hat, einen Weg aus der Scheiße gefunden hat. Das ist er wahrscheinlich, der da vorne brüllt, dass er ihnen Geld gibt, dass er noch was auf der hohen Kante hat, dass er weiß, wo er welches herbekommt. Du hast verloren, armer Bronha, das Schwein hat dein Knie kaputt gemacht, du hast verloren, verloren. Sie haben dein Knie zertrümmert, brother. Selbst wenn du davonkommst, bist du verarscht, du kannst nicht mehr rennen, keinen Fußball mehr spielen. Na klar ist das kaputt, es hat so geknackt, das kann nur kaputt sein. Ein Kolben von ’ner AR 15 macht alles kaputt, zertrümmert alles, hat mir wehgetan, warum soll es dir nicht auch wehtun, Mann? Es ist aus, mein Freund, wir haben verloren. Die machen uns fertig. Es dauert nicht mehr lang, mein Freund. Das tut weh wie Sau, aua! Es geht zu Ende. Hier wahrscheinlich, hier sind nicht so viele Büsche, ich glaube, hier war ich schon mal. War hier schon mal, wir haben Fußball gespielt, hier, erinnerst du dich, Serrote, kannst du dich erinnern, Bronha? Deine Oma hat uns was zu essen gebracht, Bronha. Nur damals war es nicht dunkel, hell war es, es war schön, es gab was zu essen, und Bier, sogar was zu rauchen, das hatten wir da unten gekauft, wir sind total ausgeflippt, haben jede Menge Scheiße geredet, dass wir es tun würden, dass wir es richtig krachen lassen würden, das war geil. Dann hab ich Thayssa in die Büsche gezerrt, hab sie gefickt von oben bis unten, Love, brother, die ganz große Nummer. Erinnerst du dich? Heul nicht, Serrote, brüll nicht rum, Bronha. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder, wer weiß? Vielleicht gibt es dort, wo wir hingehen, jede Menge zu rauchen, Weiber ohne Ende, Fickificki, Titten, einen Rasenplatz, Fußball. In den Himmel jedenfalls kommen wir nicht, das ist klar, wir haben schon zu viel Mist gebaut, um in den Himmel zu kommen. Egal, die Hölle ist sowieso lustiger, schön wird es dort sein, besser als hier, mein Freund. Die Hölle, brother, damit kennen wir uns doch schon aus.

Das Tuch

Der Montag kam wie ein böses Erwachen. Ein Schreck, der ihn aus dem Bett springen ließ. Schweißgebadet stand er auf. Vor Schreck und von der Hitze. So früh schon so heiß. Januar und Februar sollte man verbieten in Rio. Was hatte er noch einmal geträumt, um Himmels willen? Von einer Rasenfläche, einem Fußballfeld. Er hatte, das war sicher, von einer grünen Fläche geträumt. Vielleicht deshalb der Gedanke an das Tuch, der ihn so abrupt hatte aufwachen lassen? Ein Stück grünes Tuch. Alt, verschlissen, fleckig, abgegriffen, an einer Ecke angebrannt. Etwas kleiner als diese Taschentücher, die die Leute früher benutzten. Ein Stück fadenscheiniger Baumwollstoff, ein Flicken.

Frederico bewahrte das Tuch in einem DIN-A4-großen braunen Briefumschlag auf. Noch schlaftrunken und ein bisschen verloren tastete er auf dem Boden herum auf der Suche nach seiner Brille – ohne sie würde er überhaupt nichts finden – und begann Tüten, Schubladen und Kartons zu durchwühlen. Mitten in dem Durcheinander, dem Einpacken und Auspacken der Umzugskartons – je mehr er Umzüge hasste, desto häufiger zog er um –, ärgerte er sich, dass er nicht schon längst eine Schatulle gekauft hatte, in der er das Tuch aufbewahren konnte. Immer kam etwas dazwischen, irgendetwas passte immer nicht, mit dem Tuch oder mit der Schatulle. Entweder sie war zu gewöhnlich oder zu extravagant. Entweder sie war des Tuchs nicht würdig, oder sie stellte das Tuch in den Schatten, wie ein Rahmen, der üppiger ausfällt als das Bild selbst. Im Endeffekt hatte er irgendwann aufgehört, nach einer besseren Aufbewahrung für seine Reliquie zu suchen. Und so blieb das Tuch in der kleinen, durchsichtigen Plastiktüte in dem braunen A4-Umschlag. Provisorisch, seit mehr als dreißig Jahren.

Von Plastik und Umschlag geschützt, hatte das Tuch seine Kindheit und Jugend und sechs verschiedene Wohnungen überlebt. Es würde doch nicht ausgerechnet jetzt verschwinden, in diesem für seine Verhältnisse gigantischen Apartment? Eine Zweizimmerwohnung in Botafogo, Extra-Toilette für die Hausangestellte, Playground, Tiefgaragenplatz, Metro in der Nähe und Blick auf die Christusstatue auf dem Corcovado (zumindest teilweise; er musste schon den Hals recken und dann scharf nach rechts schauen, das hatte nicht in der Anzeige gestanden). Eine Wohnung, in der er endlich ein Arbeitszimmer einrichten konnte, Platz für Bücher, einen Tisch nur für den Computer. Und das Beste: Es war seine eigene Wohnung. Zum ersten Mal, seit er von zu Hause ausgezogen war – und das war gut zwanzig Jahre her –, musste Fred keine Miete zahlen. Früher hatte er das Tuch immer zwischen zwei Glasscheiben pressen und es dann irgendwo an die Wand seines Büros hängen wollen. Zumindest dann, wenn er ein eigenes Büro hätte und Gewissheit über die Herkunft dieses Stofffetzens. So wäre das Tuch wie ein heiliges Schweißtuch dem Staunen aller ausgesetzt und neugierigen Fragen: Ist das wirklich echt? Bist du sicher? Hat er selbst es dir gegeben? Doch bis es so weit war, blieb das Tuch besser in seinem Umschlag.

An jenem Morgen im Juni – oder Juli?, sicher bin ich mir nicht, ich weiß nur, dass es kalt war in São Paulo, es kam Dampf aus dem Mund, jedes Mal, wenn ich etwas sagte – hatte der Mann, ein alter Mann, er muss über achtzig gewesen sein, ihm über die Herkunft des Geschenks nichts verraten. Hatte nur zitternd die rechte Hand in die Tasche seiner grauen Flanellhose gesteckt und den Lappen herausgezogen. Mit geschlossenen Augen hatte er ihn dann ans Gesicht gedrückt, als wollte er ein letztes Mal seinen Duft einatmen, einen letzten verzweifelten Schluck davon nehmen. Dann hatte er seine Hand nach ihm, dem achtjährigen Jungen, ausgestreckt. Eine einfache Geste, als wollte er ihm ein Bonbon anbieten.

»Für dich, mein Junge. Bewahre es gut auf. Das Tuch ist sehr wertvoll. Es wurde auf dem Schlachtfeld errungen.«

Überrascht hatte Fred noch gefragt, in welcher Schlacht das war und ob der Mann im Krieg gewesen sei. Es war eine Schlacht, hatte der Alte nur geantwortet, gegerbte Haut, schwarze Kappe auf dem Kopf. Es war eine Schlacht. Waren Sie Soldat? Auch das, aber auch Fußballspieler. Tatsächlich? Waren Sie berühmt?, hatte Bento gefragt, José Bento, Sohn portugiesischer Einwanderer, ein Kleiner, dem immer die Nase lief. Sehr, sehr berühmt. Doch der Mann, der dem Feind dieses Stück Stoff entrissen hatte, konnte seinen Namen nicht mehr nennen und hatte nur noch mit einem Winken seiner gekrümmten Hand, von unten nach oben in Richtung Unendlichkeit, angezeigt, dass er sich an die Schlacht nicht mehr erinnerte. Nur wertvoll, sehr wertvoll, hatte er immer wieder gesagt.

Frederico leerte Tüten, Kartons, Kisten, Schubladen, die nur teilweise aufgeräumt worden waren. Er tastete sich durch den Raum, es war erst das zweite Mal, dass er hier übernachtet hatte, alles lag durcheinander, ob ich hier je Ordnung hineinbekomme? Der Entwurf der Petition, die neue CD von Chico Buarque … diese afrikanische Hitze, die Hölle.

Ich habe es! Natürlich, wo sonst hätte es sein können? Frederico holte den Umschlag aus dem Koffer hervor, zog die Plastikhülle ans Licht und begutachtete ihren Inhalt. Das Tuch war noch da.

Göttliche Rache

»Sou-tri-co-lor-do-co-ra-ção …« Metallisch, stotternd ertönten die ersten Akkorde der Vereinshymne von Fluminense, und das Stück Stoff sank auf den Koffer zurück, irgendwann finde ich einen geeigneten Platz hierfür. Irgendwann ändere ich den Klingelton meines Handys, sobald ich weiß, wie man das macht bei diesem Mistding. Warum musste ich auch der Verkäuferin sagen, dass ich ein Fan von Fluminense bin? Überraschung, sagte sie, und die Überraschung war, das hatte er später bemerkt, dieser Klingelton, die Fluminense-Hymne, die jedes Mal ertönte, wenn jemand anrief. »Sou-do-clu-be-tan-tas-ve-zes-cam-pe-ão …« Vladimir rief an, sagte das Display, der Vorsitzende des Zentrums, seiner Problemplantage, wie er es irgendwann in der Kneipe einmal fast zärtlich genannt hatte. Die Uhrzeit, ein paar Minuten nach acht in der Frühe, klang nach Vorladung. Ein Notruf, wie immer. Probleme, nichts als Probleme, so weit das Auge reichte. Eine willkürliche Festnahme, ein Polizeiübergriff oder womöglich Schlimmeres: Die Fähigkeit der Bullen zu jeder Art von Sauerei sollte man niemals unterschätzen.

Es war schlimmer. Viel schlimmer. Drei Jugendliche waren verschwunden. Ein Polizeiauto hatte sie mitgenommen. Wann? Heute Nacht, nach dem Baile Funk [1] in Borel. Sie waren über die Rua São Miguel gegangen, an einer Kneipe vorbei, direkt neben dem Fußballfeld, fast direkt vorm CIEP [2] waren die Kerle aufgetaucht, hatten die Jungs zusammengeschlagen, sie in ihr Auto gezerrt und waren weitergefahren, zum Alto da Boa Vista. Ja, das war sicher. Sie hatten schon im 19. Polizeirevier angerufen. Da war nichts bekannt, die Jungs waren nie auf der Wache angekommen, die Typen mit ihnen verschwunden. Die Mutter von dem einen hat uns angerufen und geheult wie ein Schlosshund, die Arme. Sie wollte direkt zur Polizeikaserne in der Barão de Mesquita gehen. Sie, die Tante des anderen Jungen und die Oma. Wahrscheinlich waren sie bereits da. Jetzt – konnte Frederico sich lebhaft vorstellen – war wahrscheinlich schon die ganze Straße abgesperrt. Versuch sie zurückzuhalten, Vlado. Wie denn zurückhalten? Die Jungen waren nicht einmal kriminell. Der eine sollte übermorgen nach England fliegen, ein Talentsucher hatte ihm einen Vertrag bei einem Fußballverein dort besorgt. Sechzehn Jahre alt war er, oder fünfzehn oder so, was weiß ich. Ein anständiger Junge, und ein guter Fußballspieler. Beeil dich, ich ruf dann noch den Minister an und den Polizeikommandeur. Eigentlich wollte ich mich auf einen Prozess vorbereiten, die Verteidigung ausarbeiten, aber lass mal, ich komm klar. Lass mich mal machen. Habt ihr schon die Zeitungen angerufen, das Fernsehen?

»Ich weiß, Sie möchten etwas über die Sache in Borel wissen, stimmt’s, Clara? Sie heißen doch Clara, oder? Bestimmt rufen Sie deswegen an. Sie würden niemals anrufen, um die Geschichte des dreiundzwanzig Jahre alten Beamten zu recherchieren, der vorgestern in Acari getötet worden ist. Dreiundzwanzig Jahre alt, verheiratet, ein kleines Kind, makelloser Lebenslauf. Hat regelmäßig das Johannisfest [3] in seiner Straße organisiert und das Volleyballturnier für die Kinder. Hat von seinem eigenen Geld den Pokal und Medaillen gekauft. Zu Weihnachten hat er sich immer als Weihnachtsmann verkleidet. Na ja, und nun ist er in seinem Dienstfahrzeug umgekommen, hat es nicht einmal mehr bis ins Krankenhaus geschafft. Der Kollege, der dabei war, liegt noch dort. Im Koma. Wissen Sie, wie viele Journalisten heute schon angerufen haben, um sich nach ihm zu erkundigen? Oder einen Artikel darüber zu schreiben, nachzuhaken, wie ihr so schön sagt? Einer, ein einziger Reporter. Von einem Radiosender, und er hat, als die Geschichte gesendet wurde, auch noch den Namen des Beamten verwechselt. Für euch ist die Geschichte doch durch, nicht wahr? Samstagnacht, da war schon Redaktionsschluss, vielleicht hat es gerade noch gereicht für eine kleine Meldung in der heutigen Ausgabe. Auch Ihre Zeitung hat es ganz unten, ganz klein gebracht, auf der Seite mit den Todes- und den Familienanzeigen. Aber wissen Sie, wie viele Reporter mich heute angerufen haben wegen der angeblichen Entführung dieser Jugendlichen? Sie sind heute die Fünfte, Clara. Die Fünfte. Ja, ist ja gut. Ich weiß, auch Sie haben nur Ihre Vorschriften, Sie haben Vorgesetzte, und Sie haben sich das Thema nicht ausgesucht. Okay, okay. Sie rufen an, um etwas über die Sache in Borel zu erfahren, und Sie bekommen von mir eine Auskunft. Also: Der zuständige Kommandant hat eine umfassende Untersuchung des Falls angeordnet, die Beamten, die zur fraglichen Zeit in dem betreffenden Abschnitt eingesetzt waren, werden befragt, wir stehen in ständigem Kontakt mit dem diensthabenden Beamten der 19. Polizeistation. Derzeit wird in alle Richtungen ermittelt, und die Polizei hat jedes Interesse daran, den genauen Sachverhalt aufzuklären, falls sich herausstellen sollte, dass Beamte der Schutzpolizei in den Fall involviert sind. Bislang gehen wir allerdings von einem Verschwinden dreier Jugendlicher aus, das ein noch nicht identifizierter Zeuge mit Beamten der Schutzpolizei in Verbindung bringt. Ich weiß, Clara, es ist nicht auszuschließen, dass ein Verbrechen vorliegt, in das Polizisten verwickelt sein könnten. Doch bitte verstehen Sie: Die Jungs könnten auch aus anderen Gründen verschwunden sein. Vielleicht sind sie abgehauen mit ihren Freundinnen. Wer weiß. Ja, vielleicht sind sie auch tot. Oder entführt. Oder Mördern zum Opfer gefallen, Dealern. Oder auch von Polizisten entführt. Es ist alles möglich, meine Liebe … Okay, ich nehme das ›meine Liebe‹ zurück, bitte entschuldigen Sie. Was ich sagen will, ist, dass wir derzeit keine hinreichenden Anhaltspunkte haben. Wir müssen abwarten und schauen, was bei den Ermittlungen herauskommt. Einen Moment bitte, Clara. Bitte entschuldigen Sie, ich muss auflegen, ein englischer Journalist ist in der anderen Leitung, anscheinend hatte einer der Jugendlichen einen Vertrag mit einem Fußballverein dort … Rufen Sie doch bitte am Nachmittag noch einmal an, ja?«

Nach dem Gespräch mit dem Journalisten von der britischen Presseagentur zündete Major Ferreira, Pressesprecherin der Schutzpolizei, sich erst einmal eine Zigarette an und ließ ausrichten, sie könne in zwei Stunden wieder mit der Presse reden. Es sei denn, wegen der Sache mit dem ermordeten Kollegen in Acari, aber das wolle ja sowieso niemand wissen. Dass ein Polizist ermordet worden war, interessierte keinen Menschen, zumindest würde es nicht eine Woche lang in den Schlagzeilen bleiben. Also, außer für diesen unwahrscheinlichen Fall war sie jetzt erst einmal in einer Besprechung, oder außer Haus, oder gerade vor die Tür, sich kurz umbringen oder so, und käme sofort zurück. Drei Jugendliche aus der Favela waren verschwunden, wahrscheinlich entführt. Von Polizisten. Die Woche fing ja gut an. Noch so eine stressige Woche. Über Mangel an Arbeit konnte sie sich nicht beklagen.

Tiradentes [4], Tiradentes. Warum hat die Polizei ausgerechnet dich zu ihrem Schutzpatron erkoren? Einen, den man aufgehängt und gevierteilt hat. Warum nicht einen, der im Kampf gefallen ist, auf der Straße. Oder irgendjemanden, der sich nach einem erfüllten Leben im Dienste des sozialen Friedens im Ruhestand noch um arme Kinder gekümmert hat? Die Fantasie der Offizierin war beherrscht von der Büste des Tiradentes, dort unten im Eingangsbereich des Hauptquartiers ihrer Einheit, rechts vom Eingang, neben der Treppe: der Held der Verschwörung von Minas Gerais, Patron der Schutzpolizei, Fähnrich Joaquim José da Silva Xavier, genannt Tiradentes. Wenigstens eine Statue hätten sie für ihn aufstellen können, in Uniform und rasiert, die Zukunft Brasiliens im entschlossenen Blick, so wie man ihn von dem Gemälde von José Washt Rodrigues kennt: das Käppi in der Hand, den Säbel am Gürtel, elegant in seiner blau-rot-gelben Uniform. Das Bild des Helden, bevor er gefangen wurde, vor seinem Märtyrertod, irgendwie passender für den Namenspatron einer Polizeieinheit, die sich für den Schutz der Bürger einsetzt. Aber nein, sie haben hier lieber die Büste eines Typen aufgestellt, der bereits ein Seil um den Hals hat und Sekunden später vom Hocker gestoßen wird. Das Seil um den Hals, den unmittelbaren Tod vor Augen. Kaum etwas könnte symbolischer sein für den Zustand der Polizei. Doch wer auch immer diese Büste ausgesucht hat, er hatte vollkommen recht, fand Ferreira. Der Typ wusste, dass es nicht gut gehen konnte. In Momenten wie diesem, in denen die Krise mit Händen zu greifen war, konnte auch Ferreira förmlich spüren, wie sich das Seil um ihren Hals zuzog.

Wie sagte doch Corceiro, der Freund, Oberst der Reserve, Pastor einer evangelikalen Gemeinde und ihr Ausbilder, damals im Offizierslehrgang immer: »Wir stehen unter einem ewigen Fluch. Wer war es, der Jesus festgenommen hat? Die Prätorianergarde, die damalige Polizei. Seit dieser Zeit werden wir für solcherlei Arbeit benutzt. Für Festnahmen oder wenn es ums Zuschlagen geht, schicken sie die Schutzpolizei. Uns bleibt immer die Drecksarbeit. Überleg dir was anderes, meine Liebe. Du bist jung, du siehst gut aus. Mach eine Ausbildung, studiere. Dann heirate und bekomme Kinder. Lass dir von einem alten Kauz einen Rat geben: Es wird schwer sein, jemanden zu finden, der eine Polizistin heiratet. Ich jedenfalls würde das nie tun. Das kann nicht gut gehen. Dem Teufel, Gott steh mir bei, scheint es Freude zu machen, sich hier herumzutreiben, seine Zeit mit uns zu verbringen. Wahrscheinlich gefällt ihm das Blau der Uniformen, ich weiß es nicht. Und ich werde wirklich nicht müde, für die Jungs, für euch alle zu beten. Und ich bete viel, meine liebe Majorin. Dass euch nichts passiert, dass ihr nicht ums Leben kommt, dass ihr nicht in Versuchung geratet und kriminell werdet … Es gibt eine mächtige Kraft, die euch auf die andere Seite ziehen will, auf die Seite des Bösen, die dunkle … Das wird die Strafe sein. Denk immer daran: Wir haben Jesus festgenommen, gefoltert und ans Kreuz genagelt. So steht es in der Bibel, Matthäus 27, Vers 27. Die Soldaten des Statthalters haben auf Jesus gespuckt, ihm die Dornenkrone aufgesetzt, ihn geschlagen. Glaubst du, das bleibt ungesühnt? Wir haben Gottes Sohn ausgepeitscht, ihn ans Kreuz genagelt, und du denkst, das würde einfach so stehen gelassen, einfach so? Denkste!«


[1] Baile Funk: Eine in den neunziger Jahren in Brasilien populär gewordene Variante des Hip-Hop. In den Anfangsjahren arteten die Tanzveranstaltungen (Bailes) in den Favelas oft in Massenschlägereien aus.

[2] CIEP – Centros Integrados de Educação Pública (Integrierte Zentren für Volkserziehung): Sozialzentrum mit Ganztagsschule in sozial benachteiligten Stadtvierteln

[3] Johannisfest – Festa de São João: Traditionell Ende Juni in ganz Brasilien gefeiertes Volksfest mit rustikalem Charakter: Dazu gehören Glühwein, Quadrilha und Johannisfeuer.

[4] Tiradentes: Verschwörer gegen die portugiesische Kolonialmacht; 1792 in Rio de Janeiro gehenkt und gevierteilt

Die Hautfarbe nicht verleugnen

Vieles war einfacher geworden, glaubte er. Es tat weniger weh, er hatte sich ein dickes Fell zugelegt und war in der Lage, sich manchmal sogar über die Verlegenheit dieser Schwachköpfe lustig zu machen. Er war ja nicht verpflichtet, immer alles zu erklären. »Was? Sie sind nicht der Bote von der Wäscherei?« »Wie, sind Sie nicht der Fahrer von Apartment 402?« »Doktor Frederico … Sie sind Doktor Frederico?« Natürlich störte ihn das. Immer noch. Und es machte ihn wütend, er ärgerte sich, wollte heulen, schimpfen, fluchen. Aber er musste ja ruhig und stets souverän bleiben. Alles kann gegen mich verwendet werden. Schon als Kind habe ich gelernt, vorsichtiger zu sein als die anderen. Jedes Lob – ja wie fleißig, wie nett, wie verantwortungsbewusst, wie freundlich – konnte sofort wieder zurückgezogen werden, sich zu einer Schnute verziehen, einem Stirnrunzeln, einem Kopfschütteln. Ein winziger Fehltritt konnte alles ins Wanken bringen, und schon hieß es wieder »Neger bleibt Neger« oder »Das liegt denen im Blut« oder gar »Na, das kennt man ja: Wenn er nicht gleich beim Reinkommen klaut, dann spätestens, wenn er hinausgeht«.

Oder noch miesere Sprüche. Ewig dieselbe ausgelutschte, offensichtliche, aber darum nicht weniger verletzende Demütigung. Beschimpfungen von der Stange, sozusagen zum Mitnehmen, demokratisch, für jedermann verfügbar, sogar für Menschen, die noch schwärzer waren als er – die tatsächliche Hautfarbe war letztlich egal. Es ging vielmehr um Unterwerfung, darum, jemandem seinen Platz zuzuweisen. »Uh, uh, uh, Affe!«, wie oft habe ich mir das schon anhören müssen, »Uh, uh, uh«, dieser Singsang, immer und immer wieder; eine verletzende Melodie, die jedes Mal neue Wunden aufreißt. Jede Silbe, nur eine Note, ständig wiederholte Beleidigung, die ihr Ziel nie verfehlt, ein jeder Argumentation widerstehendes Mantra. Meine Antwort, mein eigenes Schimpfen wird nicht einmal zur Kenntnis genommen. Nur der eine einzige Chor, uh, uh, uh, Affe, Affe, Affe. Ich brüllte zurück, hielt mir die Ohren zu, flüchtete. Die Worte aber blieben, bohrten sich in mein Gehör, ließen mich nachts manchmal nicht schlafen. Affe, Affe, Affe. Oft brauchte ich es nicht einmal zu hören, es reichte schon, es zu erahnen. Es war ja gut an den Lippen ablesbar, vorhersehbar, ich wusste doch, was er vorhatte, das Arschloch. Musste dem Typen doch nur ins Gesicht sehen, und schon war klar: die Lippen, die sich in meine Richtung öffneten, ihre Bewegung, nach oben und gleichzeitig seitwärts, das Loch, das sich in der Wand öffnete und einen übel riechenden Wind durchließ, schwer wie ein Schlag, Schlagwind. Und dann war sie wieder da, diese verdammte Silbe, »Uh!«, der Affenlaut.

Wie ein Spiel, das man mich zu spielen zwang, ein Spiel voller Schikanen und Stolpersteine – und Regeln, die nur der Gegner aufgestellt hatte und mitten im Spiel jederzeit ändern konnte. Heute weiß ich: Sprüche, Beschimpfungen, Vorurteile, ja, sogar Lob funktionieren wie Barrieren, Verkehrsschilder: Hier nur geradeaus! Nicht am Straßenrand parken! Nicht überholen! Achtung! Und die zulässige Höchstgeschwindigkeit immer im Auge behalten. Bis wohin kann ich gehen? Wie weit vom vorgezeichneten Weg abweichen? Immer schön innerhalb der engen Grenzen der Toleranz bleiben! Fehler werden nicht toleriert. Wenn der Neger nicht gut spielt, ist er selbstverständlich bestochen. Ein Schwarzer darf nie schlecht gelaunt aufwachen, niemals danebentreten, keinesfalls ausgetrickst werden. Weil er schwarz ist. Barbosa hätte das Tor von Ghiggia nicht durchlassen dürfen. Und natürlich nicht gleich am Anfang, sondern am Ende des Spiels hat er den Ball durchgelassen, im letzten, entscheidenden Spiel der Meisterschaft. Der blöde Neger, Scheiß-Neger, Stück Scheiße, Verbrecher!

Ich glaubte, ich müsse gelassen bleiben. Ja, auch wenn man mir die Parkkarte reicht, direkt vor die Augen hält, vor dem Restaurant. Da hinten der rote Golf bitte, sagt der Besitzer des Autos, die Frau untergehakt. Bitte. Leck mich am Arsch bitte!, hätte ich gerne gerufen, habe es aber dann doch nicht. Am besten nicht reagieren, noch besser: fast nicht, und dem dumm glotzenden Typen direkt ins Gesicht sehen, erstaunt tun, ironisch, dass ihm diese kleine Parkkarte schön schwer wird in seiner Hand, weil er mich für den Parkplatzwächter gehalten hat. Ein Blick, der ihm klarmacht, dass auch Schwarze dieses Restaurant frequentieren, in dem er zu speisen pflegt, dass auch ich das Recht habe, dort zu sein. Ihm direkt in die Augen sehen, dass er sich schuldig fühlt, dass es ihm peinlich ist vor seiner hübschen Frau; wenn sie erkennt, in welchen Fettnapf er da hineingetappt ist, wird sie zu Boden sehen, den Schal enger um den Hals ziehen, ihren Lippenstift nachziehen, ihre Finger in der Manteltasche versenken. Das alles ganz schnell, krumme, schmierige Gesten, klebrig, wie eine falsche Tonspur voller Rauschen. Der Besitzer des Golf würde irgendeine Entschuldigung murmeln: War nicht so gemeint, ich hab ein wenig zu viel getrunken, es war ein Irrtum; und sich dabei fragen, in welchem Verein dieser Neger da eigentlich spielt. Oder in welcher Band? Der Parkplatzwächter, ein Schwarzer natürlich, oder einer aus dem Nordosten, oder gar schwarz und aus dem Nordosten, würde herbeieilen: Bitte schön, Herr Doktor, sich die Parkkarte schnappen und hastig in Richtung des roten Golf verschwinden. Natürlich diesen zuerst holen, bevor er sich um mein Auto kümmert. Ich glaubte, ich käme ganz gut zurecht damit, den Aggressor verlegen zu machen und so meine eigene Haut zu retten.

Frederico hatte gelernt, wortlos zu reagieren oder zumindest mit so wenigen Worten wie möglich. Und das auch nur im Notfall, wenn es zu aggressiv wurde – verbal oder physisch. Die Kraft des Angreifers nutzen, um ihn zu schlagen. Das hatte er im Jiu-Jitsu gelernt, in den paar Stunden, die er einmal belegt hatte. Das funktionierte, doch es tat auch sehr weh. Es brauchte viel Training und Resignation. Aber es ging ja nicht anders, fand er. Sich damit abfinden und manchmal auf kleine Freuden und manche Vergnügen verzichten. Als Student etwa hatte er niemals am sogenannten Zechpreller-Tag mitgemacht, einem spießigen akademischen Ritual, jedes Jahr am 11. August, an dem die späteren Hüter von Recht und Gesetz sich bemüßigt fühlten, in gute Restaurants einzufallen, zu essen und zu saufen und nicht zu bezahlen. Angeblich, um damit den Gründungstag der ersten juristischen Fakultät auf brasilianischem Boden zu feiern.

Ein Späßchen der Weißen, die ja ruhig einmal eine Rechnung offen lassen, die Zeche prellen und sich am Ende sogar darüber lustig machen konnten, dass man sie auf die Polizeiwache schleppte. Denn für sie war klar: Spätestens dort würden sie auf einen Beamten treffen, der ebenfalls einmal Jura studiert hatte, also auch mal jung und Student gewesen war, also auch mal die Zeche geprellt hatte. »So sind sie, die jungen Leute«, würde der Polizist zu dem Wirt oder Inhaber sagen. »Betrachten Sie es als Investition. In ein paar Jahren werden diese jungen Männer hier Anwälte, Staatsanwälte, Polizisten oder Richter sein, und dann kommen sie wieder, als zahlende Gäste, in Ihr Lokal. So groß war der Schaden nun auch wieder nicht, es waren doch nur zehn Studenten.« Zehn weiße Studenten aus der Zona Sul [1], gut aussehende Jungs und Mädchen, gut gelaunt, gut gekleidet. Sahen die aus wie Verbrecher? Sie benahmen sich nicht so und hatten auch eine ganz andere Hautfarbe. Nicht wie ich; nicht meine Hautfarbe. Das waren keine Verbrecher, sondern die gehörten zu den Leuten, die meistens am lautesten schreien und sich beschweren – um des lieben Friedens willen. Und vom Balkon herunter »Ruhe!« brüllen. Stell dir vor, es wären zehn Schwarze, oder auch nur ein Schwarzer darunter. Das würde ich gern einmal sehen: ich mitten unter ihnen, gut gekleidet und in bester Gesellschaft. Irgendwer, und sei es der maître, der Kellner, die Küchenhilfe; oder auch nur ein Polizist oder ein anderer Gefangener, den sie in dem Moment auf die Wache brachten -– irgendwer würde ganz bestimmt sagen: Student oder nicht, ist egal, Universität oder nicht: Schwarz bleibt schwarz. So einer lässt doch keine Gelegenheit aus, etwas mitgehen zu lassen. Wenn nicht gleich an der Tür, dann doch spätestens kurz vorm Hinausgehen.

Zu seinem Entschluss, Ärger aus dem Weg zu gehen, hatten sich mit der Zeit aber auch Zweifel gesellt, die immer mehr zur Gewissheit geworden waren. War er vielleicht doch zu nachgiebig? War es nicht besser, wenigstens manchmal auf den Tisch zu hauen, zu brüllen und es einmal darauf ankommen zu lassen? War er vielleicht auch schon infiziert von dieser Logik des – natürlich illusorischen – Konsenses, dem Versuch, alle Konflikte unter den Teppich zu kehren? Hatte er sich womöglich an dieses »Ach lass gut sein« gewöhnt? War er bequem geworden? Gab es nicht auch Auseinandersetzungen, die heilsam waren, denen er schon in seinem Elternhaus aus dem Weg gegangen war? In der Schule, auf der Arbeit, oder bei den Frauen? War ihm so nicht schon der eine oder andere Traum durch die Lappen gegangen? Hatte er nicht zuletzt auch aus Angst Carolina verloren? Was wohl aus ihr geworden war? Wo steckst du? Was wäre aus uns beiden geworden? Das ist schon so lange her, mein Gott. Mehr als zehn Jahre, und noch immer sehe ich sie vor mir, ihre bohrenden Vorwürfe: »Du hast einfach keinen Mut.« So viele Jahre und immer noch diese Worte, hier, genau vor ihm, in ihm, lebendig, stechend, wie immer, als hätte sie sie im Moment erst gesagt. »Nein, Carolina, das ist es nicht, es ist nur noch zu früh, lass uns warten.« Dumme Worte, unterdrückte Worte und so peinlich wie unbewältigt. Ein Hämatom, das bei jeder Berührung schmerzte, bei jeder Berührung durch andere Worte, hart und präzise: »Du hast einfach keinen Mut.« Ich will es dir erklären, Carolina, ich will über meine Angst reden, über meine Feigheit, aber auch von meinen Schwierigkeiten, meinen Grenzen. Eines Tages werde ich dir alles erklären, Carolina, irgendwann sehe ich dich wieder.


[1] Zona Sul: südlicher Teil von Rio de Janeiro, Synonym für die »besseren« Stadtviertel

Drei Leichen

Die Nachricht, dass man drei Leichen gefunden hatte, erreichte Frederico um 10:30 Uhr. Er saß gerade im Auto, auf der Avenida Maracanã, ganz in der Nähe der Polizeikaserne. »Sou-tri-co-lor-de …«, diesmal war er schnell genug, die grüne Taste war noch während der ersten Strophe der Fußballhymne gedrückt. Und anstelle von Details über das Versagen seiner Mannschaft bekam er Einzelheiten vom Tatort: Alto da Boa Vista, in der Nähe des Lago das Fadas. Touristen hatten die Leichen auf einer Jeep-Tour durch den Tijuca-Wald entdeckt. Er wollte gleich hinfahren. Unterwegs Vladimir in der Conde de Bonfim treffen, »fahr nicht über die São Miguel, da staut sich alles, ich warte auf dich vor dem Krankenhaus«. Die Nachricht von den drei Toten hatte sich bereits in Borel verbreitet, die Leute kamen schon den Hügel herunter.

Alarmiert durch die Schreie des Touristen, dessen Name mit John Conard angegeben wird, bog der Zeuge in einen schmalen Waldweg ein. Er gibt an, etwa hundert Meter nach Einmündung in diesen Waldweg rechts von der Schneise die Leichen dreier junger Männer gesehen zu haben, alle schwarzer Hautfarbe, einer etwas heller als die anderen. Alle drei Leichen seien blutverschmiert gewesen. Er habe deutlich erkannt, dass die Getöteten Opfer von Gewalteinwirkung geworden waren. Einer der Toten wies Frakturen in Höhe der Knie auf. Er habe sich die Gesichter nicht angesehen, da er zu schockiert gewesen sei und seine vorrangige Sorge den Touristen gegolten habe, und er habe zu verhindern versucht, dass diese den Schauplatz weiter filmten und fotografierten. Er habe versucht, sie wieder zum Einsteigen in ihre Geländewagen zu bewegen. Obwohl er nicht weiter auf die Leichen geachtet habe, sei ihm aufgefallen, dass die jungen Männer barfuß waren und zumindest einer von ihnen nur mit einer Unterhose bekleidet gewesen sei. Er habe dann sofort den Polizeinotruf gewählt und den Fall zur Anzeige gebracht. Er arbeite seit über zehn Jahren als Fremdenführer und habe noch nie etwas derart Schockierendes gesehen.