3
Um Viertel vor sieben war die High Street rappelvoll. Belsize Park gab sich gern kontinentaleuropäisch, musste diese Marotte jedoch durchschnittlich in drei Sonnenwochen im Jahr ausleben. Die Restaurants möblierten die Bürgersteige. Die Leute verdarben das Gesamtbild, indem sie sich mit verbeulten Getränkedosen auf die Bordsteine setzten. Büroarbeiter, die die Arbeit geschwänzt hatten, waren jetzt sicher und gingen fast in den Massen unter, die vor den zahlreichen Pubs saßen. Alle waren betrunken. Auf unsicheren Beinen schwankte die Stadt dem Abend entgegen.
Belsey parkte vor dem Costa Coffee, nahm sein Werkzeug und ging die Gasse hinunter. Er starrte den Lüftungs- und Eingangsturm an und hatte das Gefühl, dass der seinen Blick erwiderte. Belsey drehte sich um. Von der Hauptstraße konnte man ihn nicht sehen. Er klopfte an die Metallplatte und fragte sich, was für eine Reaktion er jetzt erwartete. Er überlegte kurz, ob er die Kamera außer Gefecht setzen sollte, aber falls dieser Ort überwacht wurde, kannte man ihn inzwischen. Ein letztes Mal versuchte er, die PSA anzurufen, eine kleine Geste, um sein Gewissen zu beruhigen. Wieder meldete sich niemand. Na ja, sie könnten ja versuchen, sich bei ihm zu melden, falls sie irgendwelche Probleme hatten.
Er durchtrennte den Maschendraht. Bald war die Lücke groß genug, um sich hindurchzuquetschen. Er entdeckte einen zerbrochenen Stuhl zwischen dem Abfall im hohen Unkraut, kippte ihn auf die Seite und erreichte so das mit Brettern vernagelte Fenster. Das verrottete Holz um die Nägel ließ sich mit dem Beil leicht weghebeln, worauf sich eine große, schwarze Öffnung auftat.
Belsey warf die verrotteten Bretter ins Unkraut und starrte in etwas, das einmal ein kleines Fenster gewesen war, ohne Glas, auf ein dünnes, rostiges Drahtgeflecht, das heruntergedrückt war. Er leuchtete mit der Taschenlampe in die Öffnung. Er sah ein paar vertrocknete Blätter, gewölbte Backsteinwände und ein altes Fahrstuhlgitter. Rechts und links davon befand sich je ein schmaler Gang. Er versteckte das Beil und den Bolzenschneider zwischen den Brombeeren, dann zog er sich zum Sims hoch und sprang durchs Fenster. Er landete hart auf nacktem Beton. Sein ganzer Körper kribbelte, als er sich aufrichtete. Es war dunkel. Viel kühler als draußen. Durch Lüftungsschlitze fielen milchige Lichtstreifen herein. Der Boden war bedeckt mit Ziegelstaub und Federn.
Durch das Fahrstuhlgitter spähte er in einen endlosen, schwarzen Schacht. Als er die Tür öffnen wollte sah er, dass sie mit einem Messingvorhängeschloss versperrt war. Es war billig, aber neu. Er suchte die Umgebung des Schlosses nach Kratzern ab – kaum etwas zu sehen. Er betastete das kalte Metall. Dann ging er um den Fahrstuhl herum zur Rückseite des Turms. Der Taschenlampenstrahl erfasste eine große weiße Ecke, die wie Watte aussah. Spinnweben waren es nicht. Er strich mit dem Finger drüber. Es war eine Art Schimmel. Er klebte an seinen Händen. Nachdem er den Schimmel entfernt hatte, entdeckte Belsey eine Holztür. Als er den Knauf drehte, ließ sie sich aufziehen. Dahinter führte zwischen den geschwärzten Backsteinen eine Wendeltreppe nach unten.
»Hallo?«, rief er.
Dann kam er sich albern vor. Er trat auf die Treppe und zog die Tür hinter sich behutsam so weit zu, dass sie angelehnt blieb. Die Treppe wand sich um den vergitterten Fahrstuhlschacht. Vom Staub pelzige Hängeseile verschwanden unten in der Dunkelheit. Belsey ging erst fünf, dann zehn Stufen hinab und beschloss, ganz hinunterzugehen. Er folgte dem Strahl der Taschenlampe und stoppte die Zeit. Der blutähnliche Geruch rostigen Eisens und feuchter Steine nahm zu. Er kam sich vor, als würde er verschluckt werden – als wäre es nicht die Neugier, die ihn immer weiter hinunter trieb, sondern als würde ihn eine aktive Muskelbewegung, wie etwa die der Speiseröhre, unaufhaltsam nach unten befördern. Vielleicht ernährte sich der Bunker von neugierigen Polizisten? Vielleicht lockte der Mann im BMW sie an?
Nach zwei Minuten blieb er auf der Treppe stehen und versuchte zu schätzen, wie tief er war. Über ihm rumpelte die Erde. Er war unter der U-Bahn. Der Tunnel zwischen Hampstead und Belsize Park lag mindestens sechzig Meter unter der Erde. Das war eine Menge Londoner Lehm über seinem Kopf. Er dachte daran, wie wichtig ihm die Möglichkeit war, sich zu bewegen, seinen Aufenthaltsort zu ändern, wenn ihm danach zumute war. Bei den beiden Gelegenheiten, als er in einer Zelle saß, hatte er eine Erkenntnis gewonnen: Er litt nur deshalb nicht unter Platzangst, weil er so selten eingesperrt war. Nachdem er eine weitere Minute weitergegangen war, traf er auf ein Stück Wellblech, das rechts und links an die Wand geschraubt gewesen war, um den Weg nach unten zu blockieren. Vor langer Zeit hatte jemand ein Schild mit der Aufschrift: GEFAHR: BETRETEN VERBOTEN daran geklebt. Doch irgendjemand hatte offenbar beschlossen, die Warnung zu ignorieren und die Zwischenwand aus der Verankerung gerissen. Nach einem kurzen Stoß fiel sie laut scheppernd um.
»Polizei!«, sagte er laut, und lachte gleich darauf forciert, um die Stille erträglicher zu machen. Hier kam ein Gesetzeshüter: Also benimm dich, Finsternis! Er stieg über das Blechstück. Die Treppe war zu Ende. Ein kurzer Gang führte zu einer Backsteinmauer. Links befand sich eine Zelle mit rostigen Geräten und Maschinen, rechts eine schwere, schlachtschiffgrau gestrichene Stahltür mit einem Handrad in der Mitte. Etwas, das man vielleicht im Tresorraum einer Bank erwarten würde. Belsey versuchte, das Rad zu drehen, dann zog er kräftig daran, worauf die Tür auf frisch geölten Angeln auf ihn zu schwang.
Zuerst begriff er nicht, was er vor sich hatte. Metallregale, lange Reihen von Gestellen, bei denen es sich, wie ihm nach einem Moment bewusst wurde, um Betten handelte. Dreistöckige Etagenbetten. Der Schlafsaal war niedrig und hatte eine Decke aus gewölbten Metallplatten. Die Wände glitzerten im Licht der Taschenlampe. Belsey ging hinein. Die Betten erstreckten sich so weit er sehen konnte auf beiden Seiten. Links war eine Tür mit einem Blechschild: Wärter. Der kleine, quadratische Wärterraum bot Platz für einen Holzstuhl und einen Schreibtisch, auf dem eine leere Sektflasche stand. Offenbar hatte der Wärter gefeiert. Belsey nahm die Flasche in die Hand: Neunzehnhundertsiebziger Krug. Champagner. Er roch daran. Der Alkoholgeruch war noch nicht verflogen. Auf der staubigen Flasche befanden sich frische Fingerabdrücke.
In einem Porzellanwaschbecken hinten im Wärterraum lagen ein paar Gipsklumpen. Darüber hing ein Schränkchen. Belsey öffnete die Spiegeltür und fand einen Haufen winziger Knochen und einen Mäuseschädel, was ihm fast wie ein Bausatz vorkam. Im obersten Fach standen zwei dunkelbraune Apothekerflaschen. Auf einer klebte ein Schild mit der Aufschrift Evipan, auf der anderen Dextroamphetamin. Sie waren leer. Kein Datum, kein Patientenname. Es waren keine normalen Medikamentenetiketten.
Er sah auf die Uhr. Es war fünf nach sieben, doch fühlte er sich hier unten, als befände er sich außerhalb von Raum und Zeit. Belsey ging zurück in den Schlafsaal. Er prüfte ein Etagenbett mit der Hand, dann legte er sich darauf. Als er sich kurz zurechtgelegt hatte, war es halbwegs bequem. Er schaltete die Taschenlampe aus. Die Dunkelheit war so dicht, dass sie fast greifbar erschien. Sie knisterte. Das Gehirn rebellierte und projizierte erst Bilder, dann Muster, bevor es versuchte, sich mit der vollkommenen Abwesenheit von etwas Sichtbarem zu arrangieren. Das ist der Tod, dachte er. Es roch nach alten Decken. Eine von den ursprünglichen Schutzsuchenden hinterlassene Welle abgestandener Angst erfasste ihn, dann folgte Langeweile, bevor beides wieder abflaute. Er verspürte eine erstaunliche Ruhe, als hätte ihm gerade jemand erklärt, dass die Welt über ihm nur ein fein ausgearbeiteter Schwindel sei.
Er setzte sich auf und schaltete die Maglite wieder an. Die Wand hatte wie Walknochen gebogene Streben. Ein ausgebleichtes Schild: Beim Verlassen alle Lichter ausschalten. Dann traf der Strahl seiner Taschenlampe auf Glas. Glänzende Flaschen auf dem Boden zwischen den Etagenbetten. Er trat näher heran. Champagnerflaschen. Jemand hatte sie wie Kegel aufgestellt. Diese waren noch verschlossen. Daneben an die Wand gestapelte Kartons: Neunzehnhundertsiebziger Krug. Sieben Kartons zu je sechs Flaschen. Dahinter standen ein paar kleinere, unbeschriftete Kartons: Belsey riss zwei auf. Taylor Vintage Portwein und Hennessy Cognac. Beide waren alt. Er kannte die Etiketten von alten Postern und Spiegeln in Pubs. Die Kartons hatten einen kleinen Aufkleber: Empfänger – Red Lion. Welchem Red Lion war die Lieferung abhandengekommen? Belsey entdeckte auch noch ein paar Stangen Embassy-Zigaretten und drei mit roten Kreuzen markierte Erste-Hilfe-Sets aus Plastik. Als er eins geöffnet hatte, stieß er einen Pfiff aus: elf Apothekerflaschen. Alle mit den gleichen ordentlichen, schnörkellosen Etiketten wie die Flaschen im Schrank. Diese waren allerdings randvoll: Hexobarbital, Modafinil, Amobarbital, Evipan, Pentothal, Benzylpiperazin. Er war auf eine Schatzkiste gestoßen.
Belsey stopfte ein paar Flaschen in die Jackentasche, dann riss er die Folie von einer Flasche Krug und öffnete sie. Der Champagner rann ihm über die Finger und tropfte zischend auf den staubigen Boden. Er nahm einen Schluck. Guter Champagner. Selbst bei Zimmertemperatur – unterirdischer Höhlentemperatur. Es gab viele Pubs mit dem Namen Red Lion, viele, die er kannte und gerne besuchte, aber nur wenige hätten das auf der Weinkarte gehabt. Die Bläschen platzten knisternd um seine Schuhe herum, dann war alles von verstohlener, stiller Freude erfüllt. Er trank noch einen Schluck. Es war friedlich. Er überlegte, wann er zum letzten Mal außerhalb der Hörweite von Sirenen gewesen war.
*
Um 19 Uhr 20 hievte Belsey sich durchs Fenster nach draußen und blinzelte im Glanz des schönen Tages. Er klopfte sich etwas Luftangriffsstaub von seinem Anzug. Der war aber überraschend sauber, was die Unbekümmertheit und damit die Möglichkeiten, die sich durch diese Entdeckung eröffneten, noch einmal hervorhob.
Auf dem Rückweg zum Revier rief er einen Kontaktmann an: Mr. Kostas, Inhaber von Diamante’s an der Seven Sisters Road. Sie kannten sich seit Jahren, und Belsey wusste, dass Kostas ein bisschen Unterstützung brauchen konnte. Er hatte schon laut darüber nachgedacht, seine Bar abzufackeln.
»Mr. K. Ich hätte da ein paar Kisten Schampus günstig abzugeben, falls du Interesse hättest.«
»Wie günstig?«
»Champagner für zwanzig. Echter Krug. Außerdem Cognac für zehn, und damit schneide ich mir ins eigene Fleisch. Ich leg noch fünf Stangen Zigaretten und eventuell die eine oder andere Flasche Portwein drauf.«
»Wie viel hast du?«
»Rund vierzig Flaschen.«
»Am Samstag hab ich hier eine große Mädelsparty, Nick. Wenn du es hinkriegst, dass das für fünfzehn pro Flasche edel aussieht, nehm ich die ganze Ladung.«
»Ich melde mich.«
Belsey überschlug es schnell: Fünfzehn pro Flasche, sechs Flaschen pro Karton, macht zwei oder drei Trips rauf und runter, plus hundert für die Zigaretten, dann die Pillen – Benzylpiperazin war ein Aufputschmittel, Dextroamphetamin auch, Modafinil kannte er nicht, Hexobarbital war vermutlich ein Barbiturat. Fünfhundert für die Drogen war also eine konservative Schätzung, dann konnte er sich auf einen Riesen freuen.
Er fuhr zurück ins Revier und setzte sich an seinen Schreibtisch. Das Büro war leer, und der Ventilator drehte sich immer noch. Nach dem Abenteuer wirkte das wahre Leben etwas enttäuschend. Er griff in die Tasche und zog eine Apothekerflasche heraus. Sie kam ihm vor wie ein Gegenstand aus einem Traum, den er nach dem Aufwachen in der Hand entdeckte. Belsey fragte sich, wann er wieder runtergehen könnte. Seine kleine Luftangriffsfantasie ausleben. Schutz suchen. Was wusste er über London im Zweiten Weltkrieg? Er hatte die Kuppel der St.-Paul’s-Kathedrale vor Augen, die sich unbeugsam der Zerstörung in der Umgebung widersetzt hatte. Er hatte gehört, dass die Schuttschicht der von Bomben zerstörten Häuser in Regents Park zum Teil drei Meter dick war. Im Sommer vertrocknete das Gras darüber schnell, weil Backstein kein Wasser hielt.
Er schaltete seinen Computer an, gab »Luftangriff« ins Suchfeld ein und klickte. Ein Schwarz-Weiß-Foto erschien. Es zeigte eine Menschengruppe neben einem frischen Bombenkrater. »Menschenauflauf an der Walbrook. 2. Mai 1941.« Im kurzen Artikel unter dem Bild wurde erläutert, dass bei den Angriffen der vorherigen Nacht rund tausendfünfhundert Menschen umgekommen waren. Belsey sah in die Gesichter der Menschen auf dem Foto. Er rechnete damit, schockierte Benommenheit zu sehen, doch einige lächelten sogar. Sie hatten eine ordentliche Schlange gebildet und warteten, bis sie an der Reihe waren, ins Loch blicken zu können. Er las den kompletten Artikel unter dem Foto. »Bürger standen Schlange, um den Mithras-Tempel zu sehen, ein Gotteshaus aus der Römerzeit, das unter der City of London in Vergessenheit geraten war und durch die nächtliche Bombardierung freigelegt wurde.« Belsey versuchte im schwarzen Krater den Tempel zu erkennen. Er druckte das Foto aus, faltete es zusammen und steckte es in die Jackentasche.
Vielleicht konnte er morgen wieder runtergehen. Er hätte eine Champagnerflasche für sein Date mitnehmen sollen. Das wäre nett gewesen. Dann kam ihm eine bessere Idee.
Er legte die Apothekerflasche in den Schreibtisch, dann nahm er sie wieder heraus. Er schluckte eine halbe Benzylpiperazin. Wenn die Wirkung im Lauf der Zeit nachgelassen hatte, würde sie ihn nicht umbringen, wenn nicht, würde sie den Nebel lichten, ihm einen strahlenden Blick und Schlagfertigkeit verleihen. Er stand auf und blickte aus dem Fenster. Die Spätschicht kam an. Ein paar Kollegen mit beeindruckenden Sonnenbränden. Keiner sah besonders glücklich aus. Aus allen Richtungen ertönten Sirenen, als sich die Abendstimmung allmählich verdichtete. London reagierte reizbar auf nicht eingelöste Versprechen.
Die Spätschicht kam, also musste es fast acht sein.
Belsey rasierte sich in der CID-Toilette. Die Schwellung war zurückgegangen, was für ein Date besser, wenn auch weniger heldenhaft aussah. Er hatte keine Zeit, zwischendurch nach Hause zu fahren, wohin es ihn aber sowieso nicht zog. Sein Zuhause war derzeit das heruntergekommene Hotel President an der Caledonian Road. Ursprünglich sollte es ein Notbehelf sein, bis Belsey eine Wohnung gefunden hatte, doch dauerte dieser Zustand inzwischen schon ein halbes Jahr an. Doch er brachte mit sich, dass er die Miete wöchentlich bezahlen konnte und sich keine Gedanken darüber machen musste, ob ihm die Seife ausging. Er verbrachte dort nicht mehr Zeit als nötig. Er rasierte sich, duschte, nahm ein paar Spritzer von Trappings Calvin-Klein-Aftershave und holte eine Packung Kondome hinten aus der Schreibtischschublade.
Auf dem Weg nach draußen sah er Kirsty Craik alleine in der Kantine sitzen. Die Rollläden waren geschlossen. Belsey stoppte. Er empfand leichte Schuldgefühle wegen des Bunkers und konnte kaum glauben, dass sie wieder in sein Leben getreten war. Noch einmal wischte er sich über den Anzug.
»Fängst du jetzt schon an, Überstunden zu machen?«
Sie blickte auf, etwas erschöpft, aber nicht so, als käme die Ablenkung ungelegen. Auf dem Tisch lagen ein paar Personalakten.
»Ich mach nur eine kurze Pause, bevor ich nach Hause fahre. Ist kühler hier unten.«
»Wo wohnst du?«
»In Kentish Town.«
»Gutes Viertel.«
Sie nickte und musterte ihn mit einer Miene, die er noch kannte: nachdenklich und unentschlossen.
»Müssen wir reden?«, fragte Craik.
»Ich denke, zwischen uns ist alles okay. Was mich betrifft, bist du der neue Detective Sergeant. Ich hab dich im Einsatz erlebt, und du bist gut. Beruflich, meine ich. Ich freu mich auf die Zusammenarbeit.«
Sie lächelte, dann wurde ihr Lächeln weicher.
»Du bist suspendiert.« Belsey nickte. Also hatte sie sich seine Akte angeguckt. Auf was für einer wilden Achterbahnfahrt würde sie ihn gesehen haben, als sie das las? »Wie kommst du damit zurecht?«, fragte sie.
»Ist schon ein bisschen langweilig.« Er fragte sich, was sie sonst noch gehört hatte, stellte sich ihr Gesicht vor, als man sie vor ihm warnte. Ach, der macht also nichts als Ärger, was? »Aber ist in Ordnung, mir geht’s schon viel besser. Wenn ich allerdings wieder voll einsteigen soll … Manchmal komme ich mir ein bisschen vor wie ein Hilfspolizist.«
»Du könntest in Schulen gehen und Vorträge halten«, sagte Craik lächelnd.
»Ich würde gern in Schulen gehen und Vorträge halten.«
»Ich halte es für unwahrscheinlich, dass dich irgendjemand in irgendeine Schule schicken würde.«
Sie beobachtete ihn eingehend, fast schon berechnend. Alte Flamme war ein eigenartiger Begriff, dachte Belsey. Vielleicht ging es darum. Und das alles verkomplizierte sich noch dadurch, dass die Erinnerung von der Fantasie angedickt wird. Sie hatten sich gemocht. Genau das war das Problem gewesen, wobei sich ihm diese Logik momentan nicht ganz erschloss.
»Muss seltsam für dich sein«, sagte sie.
»Für uns beide. Aber es gibt Seltsameres im Leben. Letzten Monat bin ich an einen Tatort gekommen, wo jemand in eine Tierchirurgie-Klinik eingebrochen ist und sich eine Überdosis Pentobarbital verpasst hat. Er lag noch ausgestreckt auf dem Operationstisch. Wir können zusammenarbeiten, das weißt du so gut wie ich. Ich hab dir doch damals schon gesagt, dass du schnell Karriere machst.«
Er machte sich bereit zu gehen, bevor das Gespräch noch tiefschürfender wurde. Dann überraschte sie ihn.
»Wo kann man denn hier um diese Zeit noch was Ordentliches essen? Brauner Rum und ohne Fett geröstete Erdnüsse – das war doch damals dein übliches Abendessen, wenn ich mich recht entsinne.«
Das Abendlicht hatte den Glanz ihrer Augen verschleiert. Gute Polizistenaugen, schwer zu entschlüsseln. Aber das Angebot war doch recht durchschaubar. Eigentlich wäre er gern mitgegangen. Dafür war aber immer noch genug Zeit, dachte er. Wenn das so lief.
»An der Hauptstraße im La Traviata. Ist besser, als es aussieht. Das Carluccio’s ist auch einen Versuch wert. Das Nights of India sollte man meiden. Glaub mir.« Er lächelte noch einmal, bot nicht an, sie zu begleiten, und ihr geschulter Polizistinnenblick glitt über seinen Anzug und das frisch rasierte Kinn. Er spürte, wie er den Duft von Calvin Klein verströmte.
»Du hast ein Date.«
»Treffe mich nur mit einer Freundin.«
»Okay, Nick. Dann lass deine Freundin nicht warten.« Sie wandte sich wieder den Akten zu, war jedoch nicht schnell genug, um ihr Erröten zu verbergen.
»Wir sehen uns morgen. Frisch und munter, damit wir den Bibliotheksräuber schnappen können.«
Er ging, leicht belustigt von dem schwachen Bedauern. Dann surrte ein Handy, und alle Gedanken verflogen: Bin unterwegs, drei Küsse.
Jemma mit J, wie sie sich in der Arrestzelle vorgestellt hatte. Eine Frau, die ihre ganze Zukunft noch vor sich hatte. Sein Anmachspruch: »Du nimmst drei Gramm Kokain auf eine politische Protestveranstaltung mit? Wie viel Spaß willst du denn haben?« Drittes Date, drei Küsse. Zeit, den Plan in die Tat umzusetzen.
Er hielt beim Blumenladen am U-Bahnhof Belsize Park und kaufte einen Strauß cremefarbene Nelken mit roten Rändern. Im Co-Op-Supermarkt gab es nur Geburtstagskerzen, aber das war besser als nichts. Er kaufte eine Zwanzigerpackung. Er kaufte noch ein paar frische Batterien für die Maglite, bezahlte zehn Pence für eine übergroße Plastiktüte, in der er alles versteckte. Er ging ins Haverstock Arms, bestellte zwei Glas spanischen Sekt, trank sie und steckte die Gläser zur Taschenlampe und den Blumen in die Plastiktüte.
Jemma mit J war zweiundzwanzig Jahre alt, Kunststudentin, Tequila-Girl und Politaktivistin. Drei noble Arten, sich die Zeit zu vertreiben. Es würde ihr Spaß machen. Sie würde ihn etwas besser kennenlernen. Außerdem würde es ihm die Peinlichkeit ersparen, seine aktuelle Wohnsituation zu erklären. Bisher war er ein paarmal in dem Club gewesen, in dem sie arbeitete, hatte sie einmal zum Essen eingeladen und hatte sie am letzten Wochenende auf ein paar Gratisdrinks bei einer Vernissage eingeladen. Miteinander geschlafen hatten sie noch nicht. Sie hatte nach einem kleinen Einblick in sein Leben gefragt, vielleicht in dem Irrglauben, dass dem Dasein eines CID-Detectives ein gewisser Glamour innewohnte. Mehr als der Glamour, den sie selbst ausstrahlte. Er würde ihr zeigen, worin seine Kunst bestand.