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·  Damaris Kofmehl  Demetri Betts– JACK ROSS | Der Countdown– SCM Hänssler

SCM | Stiftung Christliche Medien

ISBN 978-3-7751-7214-1 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5257-0 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

2. Auflage 2010

© Copyright der deutschen Ausgabe 2010 by
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de
E-Mail: info@scm-haenssler.de

Umschlaggestaltung: gestalterstube, Arne Claußen

Für die Familie von Marianne Hughes, Julia Johne und Nikola Miloradovic. Ob nur für einen Moment oder ein ganzes Leben, eure Herzlichkeit hat mein Leben gesegnet. Ich wünsche euch Gottes reichen Segen.

Demetri Betts

Für meine Patentochter Cécile Burger, die mich an einen bunten Schmetterling oder eine Frühlingsblume erinnert. Du bist ein Geschenk Gottes. Ich hab dich lieb.

Damaris Kofmehl

Inhaltsverzeichnis

1  Die Schule brennt

2  Die Strafe

3  Der Neue

4  Das geheimnisvolle Kästchen

5  Duell mit Sergeant Jones

6  Die fliegende Spinne

7  Das Training

8  Bart’s Café

9  Mrs. Jackson kriegt ein Kind

10  Null-Acht-Fünfzehn

11  Abenddämmerung

12  Das Halbfinale

13  Riskantes Manöver

14  Jacks Geheimnis

15  Das Finale

16  Der Countdown läuft

17  Lissy

18  Jack

Nachwort von Damaris Kofmehl

Nachwort von Demetri Betts

1  Die Schule brennt

FEUER!!! OH MEIN GOTT!!! ES BRENNT!!!

Jack starrte wie gebannt in die immer höherschlagenden Flammen. Rechts von ihm zersplitterte eine Fensterscheibe. Kreischend sprangen ein paar Mädchen zur Seite und hielten sich schützend die Hände über den Kopf. Fast gleichzeitig löste sich eine Neonröhre von der Decke. Geistesgegenwärtig hechtete Jack nach vorn und konnte gerade noch die Lehrerin mit sich reißen, bevor die Röhre krachend und Funken sprühend hinter ihnen auf dem Boden zerschmetterte. Es zischte und knallte. Die Flammen züngelten von allen Seiten in den Raum, und der Qualm wurde immer dicker. Man konnte kaum noch die eigene Hand vor Augen sehen. Ein einziges Inferno aus meterhohen Flammen, Rauch und tödlicher Hitze umschloss sie von allen Seiten.

Wir müssen raus hier!, schoss es Jack durch den Kopf, während er sich wieder aufrappelte und aus vollen Lungen durch das Klassenzimmer brüllte: »RAUS HIER! ALLE RAUS HIER! SCHNELL!!!«

Mit einer ungeheuren Geschwindigkeit breitete sich ein Meer aus violetten Flammen über der gesamten Zimmerdecke aus, als hätte jemand einen Kessel mit flüssiger Lava darauf ausgegossen. Die Deckenplatten begannen sich zu verformen. Sie ächzten und stöhnten. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die gesamte Decke einstürzen und sie alle unter sich begraben würde. Reagenzgläser und Glasgefäße zersprangen klirrend. In einer Ecke gestapelte Plastikbehälter zerschmolzen wie flüssiges Wachs. Mit einem lauten Knall explodierte eine zweite Neonröhre an der Decke. Glasscherben regneten auf die Schüler herunter. Die Rauchmelder hätten längst angehen müssen, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund taten sie es nicht.

»RAUS HIER!«, schrie Jack erneut und packte ein völlig verstörtes Mädchen am Arm, dem das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben war. Er zog es mit sich zur Tür, die sich in einen glühenden Feuerring verwandelt hatte. Die anderen stolperten keuchend und nach Luft ringend hinter ihnen her, während die ersten Deckenplatten nachgaben und wie Schuppen eines riesigen Panzers stöhnend von der Decke abblätterten. Hysterische Schreie vermischten sich mit dem Tosen der Feuersbrunst.

»Warum funktionieren die Rauchmelder nicht?«, quiekte ein Mädchen. »Wir müssen den Feueralarm auslösen! Weiß jemand, wo der Feueralarm ist?«

»Draußen im Gang!«, rief ein anderer hustend durch den undurchdringlichen Qualm hindurch. »Er ist draußen im Gang, bei der Treppe!«

Jack überlegte nicht lange. Die Schülerin im Schlepptau, die noch immer unter Schock stand, nahm er Anlauf und sprang, wie im Zirkus, durch den brennenden Türrahmen auf den Korridor hinaus. Dann ließ er das Mädchen stehen und eilte so schnell er konnte durch den verrauchten Gang zur Treppe.

Das verheerende Feuer hatte sich bereits durch einen großen Teil des Flurs gefressen. Unmittelbar vor Jacks Kopf tauchte das ausgefranste Ende eines dicken Kabels auf. Es hing von der Decke und zuckte und zischte gefährlich wie eine wütende Schlange. Jack wich dem Kabel geschickt aus und rannte weiter. Flammen bleckten unter den Türen mehrerer Klassenzimmer hervor. Panische Hilferufe waren aus allen Richtungen zu hören.

Nur noch ein paar Meter!, dachte Jack und zog sich den Kragen seines Pullovers über die Nase, um besser atmen zu können. Seine Augen tränten vom beißenden Rauch. Obwohl er genau wusste, wo er sich befand, hätte er in dem Qualm beinahe die Orientierung verloren. Endlich erreichte er die Treppe und fand das kleine Kästchen mit dem Feueralarmknopf. Ohne eine Sekunde zu überlegen, zerstörte er die Plastikhülle und presste hastig den roten Knopf. Die Sirene heulte auf, und die Wassersprenkler, die überall an der Decke verteilt waren, begannen, ihre rettende Flut in alle Richtungen zu schleudern. Jack atmete erleichtert auf und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer an die Wand.

Geschafft, dachte er. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, und als er sie wieder öffnete, war um ihn herum bereits das absolute Chaos ausgebrochen. Die Türen der Klassenzimmer waren aufgeflogen, und eine Flut aufgebrachter und völlig verwirrter Schüler wurde in den Korridor gespült. Alle schrien wild durcheinander und stolperten wie eine Herde gejagter Büffel zu den Ausgängen.

»Was ist denn eigentlich los?«

»Ich glaube, es brennt!«

»Oh mein Gott!«

»Ich glaube, der Chemieraum ist explodiert!«

»OH MEIN GOTT!!!«

»Alle nach draußen! Und bitte keine Panik! Die Feuerwehr ist bereits unterwegs! Es besteht kein Grund zur Panik! KEIN GRUND ZUR PANIK!«

Jack ließ die Schüler und Lehrer an sich vorbeirauschen, während er versuchte, zu verstehen, was soeben passiert war. Er hatte keine Ahnung, woher das Feuer gekommen war und wie es sich so schnell hatte ausbreiten können. Es war einfach schlagartig da gewesen. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ihr gesamter Klassenraum in Flammen gestanden. Einfach so. Wie auf Kommando. Zum Glück hatte er blitzschnell reagiert und sich auf Mrs. Hatcher geworfen, bevor die Neonröhre von der Decke gestürzt war. Nicht auszudenken, welche Verletzungen sie sich sonst zugezogen hätte.

Genau in dem Moment, als Jack an die Lehrerin dachte, tauchte sie plötzlich vor ihm auf. Ihre Kleider waren patschnass von den Wassersprenklern. Ihr Haar klebte ihr auf der hohen Stirn, und ihre Schminke war verschmiert. Sie sah nicht gerade aus, als hätte sie gute Laune. Ganz im Gegenteil: Sie hatte einen hochroten Kopf, als würde ihr jeden Moment der Kragen platzen. Ihre Augen schleuderten regelrecht Blitze in seine Richtung. Sie sah aus wie eine Furie kurz vor dem Explodieren. Sie war definitiv nicht hier, um sich bei Jack für seine heldenhafte Tat zu bedanken, soviel stand fest.

»Ross, das wird Konsequenzen haben!«, fauchte sie und bohrte dem Siebzehnjährigen ihren rotlackierten Zeigefinger in die Brust. »Ich schwöre Ihnen, diesmal kommen Sie nicht mit einem blauen Auge davon!«

»Wie bitte?!«

Jack hatte nicht den leisesten Schimmer, wovon sie redete. Was war denn auf einmal in sie gefahren?

»Ich erwarte Sie morgen um neun Uhr zusammen mit Ihrem Vater im Büro des Headmasters!«

»WIE BITTE?!«, rief Jack empört aus. »Was hab ich denn getan?!«

»Werden Sie bloß nicht frech, Ross!«, raunzte ihn Mrs. Hatcher in vorwurfsvollem Ton an. »Sie wissen ganz genau, was Sie getan haben! Morgen um neun Uhr im Büro des Headmasters! Ihren Vater werde ich höchstpersönlich anrufen! Diesmal sind Sie endgültig zu weit gegangen, Ross!«

»Aber … Moment mal!«

Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte sich Mrs. Hatcher auf dem Absatz um und tänzelte auf ihren hohen Stöckelschuhen davon.

»O. K.!«, rief ihr Jack provokativ hinterher. »Nächstes Mal können Sie sich von mir aus erschlagen lassen! Mir soll’s recht sein! Ihr Unterricht ist eh zum Kotzen!«, aber seine Stimme ging im Lärm der Schüler unter, und die Lehrerin war ohnehin bereits in der Masse verschwunden und hörte ihn nicht mehr.

Blöde Zicke, dachte Jack und schlug wütend die Faust hinter sich an die Wand. Da will man einmal etwas Gutes tun, und das ist dann der Dank dafür. Großartig. Einfach großartig.

Eine Vorladung ins Büro des Headmasters. Das war so ziemlich das Letzte, was er in seiner ohnehin vertrackten Situation gebrauchen konnte. Er war weiß Gott kein Unschuldslamm. Aber dieses eine Mal hatte er wirklich vorbildlich gehandelt. Das hätte selbst eine Schnepfe wie Mrs. Hatcher erkennen müssen. Ohne sein kühnes Eingreifen hätte das Ganze übel ausgehen können, nicht nur für Mrs. Hatcher, sondern für die gesamte Schule! Was um alles in der Welt hatte die Frau für ein Problem mit ihm? Fehlt nur noch, dass sie mir die Schuld an dem Feuer gibt, überlegte Jack und wischte sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Gott, ich hasse diese Schule!

Er schloss sich dem Schülerstrom an, um das Gebäude zu verlassen. Der Linoleumboden hatte sich in eine einzige große Pfütze verwandelt, und das Wasser tropfte überall von den Wänden. Erst jetzt fiel Jack auf, dass der Rauch sich vollständig verzogen hatte. Er konnte auch nirgends mehr Flammen ausmachen, was nahezu an ein Wunder grenzte nach der Feuersbrunst, die eben noch im gesamten Flur und sämtlichen Klassenzimmern gewütet hatte.

Auf der Wiese vor dem Schulgebäude trieben die Lehrer ihre aufgeregten Schäfchen zusammen und wiesen sie an, Ruhe zu bewahren. Die wildesten Gerüchte zirkulierten über den Grund des Feueralarms, aber keiner konnte mit Sicherheit sagen, was wirklich vorgefallen war. Wenig später fuhr die Feuerwehr mit heulenden Sirenen in der Hope Valley Highschool ein und schickte ihre Experten in das Schulhaus, um festzustellen, wo es brannte. Aber offenbar gab es nichts mehr zu löschen, und so zog die Feuerwehr wieder von dannen.

Die Schüler bekamen den Rest des Tages frei, wogegen natürlich niemand etwas einzuwenden hatte. Und während sich die Jugendlichen eifrig diskutierend und plappernd vom Schulgelände entfernten, blieb Jack noch eine ganze Weile auf der Wiese stehen und blickte verständnislos an dem Gebäude hoch, das, soweit er es beurteilen konnte, durch den fürchterlichen Brand nicht im Geringsten beschädigt worden war. Nicht einmal schwarzer Ruß war um die Fenster herum haften geblieben.

Eigenartig, dachte Jack. Hab ich jetzt Halluzinationen oder was?

Irgendetwas ging hier definitiv nicht mit rechten Dingen zu. Was um alles in der Welt war eigentlich los?

2  Die Strafe

Jack lungerte den ganzen Nachmittag auf der Straße herum und ging erst nach Hause, als es sich nicht mehr vermeiden ließ. Er hasste sein Zuhause, wenn man es denn überhaupt als solches bezeichnen konnte. Jack war ein Einzelkind und lebte zusammen mit seinem Vater in der kleinen Stadt Thomasville. Sie besaßen einen heruntergekommenen Wohnwagen im Trailerpark an der Blackstreet 17. Jacks Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Sein Vater hatte ihren Tod nie überwunden und machte allein Jack dafür verantwortlich. Es verging selten ein Tag, an dem er nicht irgendeine bitterböse Bemerkung dazu fallen ließ.

»Du bist schuld am Tode deiner Mutter!«, schleuderte er seinem Sohn oftmals schmerzhaft ins Gesicht. »Ohne dich wäre Silvia noch am Leben! Ich wünschte, du wärst nie geboren worden!«

Seit jenem Tag vor siebzehn Jahren hatte Jacks Vater nicht mehr ins normale Leben zurückgefunden und begonnen, seine Trauer und Bitterkeit im Alkohol zu ertränken. Eigentlich war Robert Ross Bauarbeiter, doch wegen seines zunehmenden Alkoholproblems konnte er keinen Job länger als ein paar Wochen halten. Das Einzige, was ihm half, sich und seinen Sohn einigermaßen über Wasser zu halten, war die Lebensversicherung von Jacks Mutter – und davon war auch nicht mehr viel übrig. Trotzdem bemühte sich Jacks Vater schon lange nicht mehr um eine neue Anstellung, sondern ließ sich stattdessen völlig gehen.

Früher war er einmal ein gut aussehender, überaus attraktiver Mann gewesen. Doch davon war nicht mehr viel übrig geblieben. Jacks Vater trug tagelang dieselben Kleider. Sein Bierbauch wurde von Jahr zu Jahr größer und seine Glatze auch. Nur noch ein einzelner dunkler Haarring war von seinem einst üppigen Haar übrig geblieben. Er machte sich nicht die Mühe, es jemals zu kämmen, und rasieren tat er sich auch nur einmal die Woche. Mit dem Duschen hielt er es genauso.

Sein Gesichtsausdruck war immer derselbe, abgestumpft und leer. Jack konnte sich nicht erinnern, wann er ihn zum letzten Mal hatte lächeln sehen. Dagegen konnte er sich sehr wohl an das letzte Mal erinnern, als sein Vater ihn geschlagen hatte – es war noch gar nicht lange her. Die blauen Flecken auf Jacks Unterleib waren noch immer nicht ganz verheilt. Jack hasste sein Leben. Oh, er hasste es. Und manchmal, ja manchmal wünschte er sich tatsächlich, er wäre nie geboren worden.

Als Jack an diesem Abend nach Hause kam, saß sein Vater wie immer mit einer Flasche Bier auf dem zerschlissenen Sofa im Wohnzimmer, das gleichzeitig Küche und Schlafzimmer war, und schaute fern. Jack war sich sicher, dass Mrs. Hatcher ihn bereits angerufen und über das Treffen beim Headmaster informiert hatte, und ihm graute davor, wie sein Vater darauf reagieren würde. Jack hatte schon für kleinere Vergehen Prügel kassiert, und was auch immer Mrs. Hatcher am Telefon gesagt hatte, es war nur eine Frage der Zeit, bis sein Vater ihn dafür bestrafen würde.

Die Bestrafung an sich war schon schlimm genug. Doch das Warten darauf war beinahe noch schlimmer. Es war unerträglich, zu wissen, dass sein Vater ihn schlagen würde, aber nicht zu wissen wann.

Am allerschlimmsten war es, wenn sein Vater ihm die Strafe vorankündigte und Dinge sagte wie: »Nach dem Abendessen haben wir beide noch etwas zu besprechen.« Oder: »Mach erst deine Hausaufgaben. Was danach kommt, weißt du ja schon.« Oder: »Heute bin ich zu müde. Aber morgen kriegst du deine Strafe, darauf kannst du dich verlassen!«

Solche Sätze waren schlicht der Horror für Jack. Jedes Mal hoffte er, wenn nur genügend Zeit verstrich, würde sein Vater die angedrohte Züchtigung vielleicht vergessen. Doch bisher hatte er vergebens auf ein solches Wunder gehofft. Eher würde die Sonne vom Himmel fallen, als dass sein Vater Gnade vor Recht walten lassen würde. Eigentlich war Jack längst stark genug, um sich zu verteidigen. Dennoch hätte er es nie gewagt, die Hand gegen seinen Vater zu erheben. Sobald sein Vater vor ihm stand, war Jack wie gelähmt. An der Schule hatte er sich schon mehrmals mit anderen Jungs geprügelt und scheute sich nicht davor zuzuschlagen. Aber sobald er zu Hause war, wehte ein anderer Wind, und Jack ertrug die Schläge seines Vaters wie ein geprügelter Hund die Fußtritte seines Meisters. So war es schon immer gewesen. Und so würde es wohl immer sein. Das war sein Leben. Etwas anderes kannte er nicht. Und so wie sein Vater seine Bitterkeit im Alkohol ertränkte, hatte auch er begonnen, seine Wut heimlich mit Bier, Wodka oder Whisky herunterzuspülen, indem er die angefangenen Flaschen seines Vaters auf seinem Zimmer leer trank.

Jack warf seine Schulsachen in eine Ecke und ging an seinem Vater vorbei zur Küche, um sich ein Brot zu schmieren. Eigentlich hatte er Lust auf einen vollen Teller dampfender Spaghetti, aber eine warme Mahlzeit würde er eh nur kriegen, wenn er sie sich selbst kochte, und dazu war er nicht in der Stimmung. Das Schweigen seines Vaters hing wie ein Damoklesschwert in der Luft. Jack erwartete jeden Moment eine Explosion. Aber sie kam nicht. Stattdessen stand sein Vater auf und ging seelenruhig zum Kühlschrank, um sich ein neues Bier zu holen. Für einen Augenblick hörte Jack auf zu kauen und zog die Schultern ein. Er glaubte, sein Herz müsste stehen bleiben, als der Vater vor ihm haltmachte und ihn mit seinem harten Blick durchbohrte.

»Die Schule hat angerufen«, stellte er trocken fest, während er die Bierflasche öffnete. »Was hast du angestellt?«

»Nichts, Vater.«

»Und das soll ich dir glauben?«

»Ich hab nichts getan, Vater. Ich schwör’s.«

»Elender Lügner«, brummte der Vater, nahm einen tiefen Schluck von der Flasche, und Jack wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ihm die Hand ausrutschte. »Ich weiß wirklich nicht, wozu ich dich siebzehn Jahre lang durchgefüttert habe. Du wirst sowieso eines Tages in der Gosse landen. Oder im Knast. Weit davon entfernt bist du ja eh nicht mehr.«

Er warf einen vielsagenden Blick auf Jacks rechtes Bein. Jack wusste genau, worauf er anspielte. Und er hasste es. Er hasste das Ding an seinem Knöchel, das ihn vierundzwanzig Stunden am Tag an das Schreckliche erinnerte, das er getan hatte und daran, dass seine Freiheit an einem silbernen Faden hing. Wenn auch nur die wenigsten wussten, was das Gerät an seinem Fuß zu bedeuten hatte, ihn selbst brachte das dunkle Geheimnis, das damit verbunden war, manchmal beinahe um den Verstand.

Erstaunlicherweise kassierte Jack an diesem Abend keine Prügel. Doch Jack kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass die Angelegenheit noch nicht vom Tisch war.

Als Jack am nächsten Morgen zusammen mit seinem Vater zum Büro des Headmasters unterwegs war, kam es ihm vor, als würde er die berühmte grüne Meile zurücklegen, an deren Ende der elektrische Stuhl auf denjenigen wartete, der sie beschritt. Auch wenn es ihm nach wie vor ein Rätsel war, was den Anlass dieses Treffens darstellte, gut würde es nicht enden. Ein Gespräch im Büro des Headmasters konnte nicht gut enden – vor allem nicht, wenn man Jack Ross hieß …

Es war unheimlich still auf dem Korridor der Highschool. Kein Vergleich zu dem heillosen Durcheinander tags zuvor. Alle Schüler waren brav in ihren Klassenzimmern. Nur der Hausmeister fegte mit seinem Schrubber durch den leeren Flur und trocknete die letzten Wasserlachen. Jack hörte, wie seine Turnschuhe auf dem Linoleumboden quietschten. Er wunderte sich, dass außer den grauen Wasserflecken an den Wänden nichts mehr an den Brand vom Vortag erinnerte. Es gab keine verkohlten Türen, keine losen Kabel, die von der Decke hingen, ja, es roch nicht einmal verbrannt. Die ganze Geschichte war mehr als merkwürdig.

Ich hab mir das Ganze doch nicht eingebildet, dachte Jack. Aber wie kann ein Feuer dieses Ausmaßes keinerlei Spuren zurücklassen?

Er hatte nicht länger Zeit, darüber nachzugrübeln, denn sie hatten das Büro des Headmasters erreicht. Sein Vater klopfte an.

»Herein!«, erklang eine tiefe Männerstimme von drinnen.

Sie traten ein. Der Headmaster hatte sich von seinem bequemen Drehsessel erhoben, um sie zu begrüßen. Mrs. Hatcher war ebenfalls anwesend. Sie stand wie ein Storch neben dem Schreibtisch des Headmasters, mit verschränkten Armen und hochgesteckter Frisur, und machte eine überaus saure Miene. Der Headmaster, ein großer, schlanker Mann um die fünfzig, drückte Jack und seinem Vater die Hand.

»Mr. Ross«, sagte er, schloss die Tür hinter den beiden und deutete auf die zwei leeren Stühle vor seinem Schreibtisch, »bitte, nehmen Sie doch Platz.« Sie setzten sich. Der Headmaster setzte sich ebenfalls. Nur Mrs. Hatcher blieb stehen und musterte Jack missbilligend von oben herab.

»Ich danke Ihnen, dass Sie so kurzfristig kommen konnten, Mr. Ross«, sagte der Headmaster höflich. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Wasser? Kaffee?«

Jacks Vater schüttelte den Kopf und kam ohne Umschweife zur Sache.

»Was hat er diesmal verbrochen?«

Als hätte Mrs. Hatcher nur auf dieses Stichwort gewartet, holte sie tief Luft und verkündete mit spitzer Stimme: »Ihr Sohn, Mr. Ross, hat mich während meines Unterrichts tätlich angegriffen!«

»Was?!« Jack blieb die Spucke weg. Er starrte die Lehrerin entgeistert an. »Tätlich angegriffen?! Was soll der Quatsch?«

»Spielen Sie jetzt bloß nicht den Unschuldigen, Ross«, sagte Mrs. Hatcher scharf. »Sie sind mitten im Unterricht über mich hergefallen wie ein … wie ein Tier!«

Jack fielen die Kinnladen herunter. Er konnte nicht glauben, was ihm die Lehrerin da unterstellte. In ihm begann es zu brodeln.

»Ist das wahr?«, fragte Jacks Vater und warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Nein, Vater, ich …« Jack schüttelte energisch den Kopf und wusste nicht mehr, was er sagen sollte. »Ich … ich hab versucht, sie zu beschützen!«

»Beschützen?!« Mrs. Hatcher ließ ein hölzernes Lachen vernehmen. »Wovor, wenn ich fragen darf?«

»Na vor …« Jack sprach den Satz nicht zu Ende. »Ich fass es nicht, dass Sie mir daraus einen Strick drehen wollen«, stellte er dann bitter fest und richtete seinen Blick auf eine unscheinbare Kerbe im Schreibtisch des Headmasters, um niemanden mehr ansehen zu müssen. Sie haben ihr Urteil über mich eh schon gefällt. Es ist immer das Gleiche.

»Sie haben sich den Strick selbst gedreht, Ross«, versetzte die Lehrerin spitz. »Sie sind gemeingefährlich! Wenn Sie mich fragen, hätte man Sie besser gleich in den Jugendknast gesteckt!« Jack spürte, wie die Wut sich wie ein Geschwür in seinem Magen ausbreitete. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre auf die Lehrerin losgegangen. Stattdessen bündelte er seinen Zorn wie einen Laserstrahl auf die Kerbe im Schreibtisch, und er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sein Blick tatsächlich ein Loch in das Holz gebrannt hätte.

Mrs. Hatcher wappnete sich für einen neuen verbalen Angriff, und der Headmaster nutzte die Lücke, um das Wort zu ergreifen.

»Mr. Ross. Dass Ihr Sohn Mrs. Hatcher angegriffen hat, ist leider nur ein Grund, warum wir Sie sprechen wollten«, sagte er mit ruhiger Stimme. Er beugte sich etwas vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und faltete die Hände zusammen. »Ihr Sohn hat außerdem den Feueralarm ausgelöst, obwohl es dazu nicht den geringsten Anlass gab. Seinetwegen wurde der gesamte Unterricht eingestellt, die Feuerwehr rückte an, und durch die Wassersprenkler entstanden überall schwere Wasserschäden.«

Jacks Vater wandte sich vorwurfsvoll seinem Sohn zu. »Stimmt das, Jack? Musste deinetwegen die Feuerwehr einrücken?«

»Ich sag überhaupt nichts mehr«, entgegnete Jack, ohne den Blick von seinem Visierpunkt wegzunehmen. »Ihr glaubt mir ja eh kein Wort.«

Doch Jacks Vater ließ nicht locker. »Hast du den Feueralarm ausgelöst?«, fragte er, und es war ihm deutlich anzumerken, dass ihm langsam der Geduldsfaden riss.

Jack schwieg beharrlich, worauf die Stimme seines Vaters mit einem Mal zu einem dröhnenden Donnergrollen anschwoll.

»SIEH MICH GEFÄLLIGST AN, WENN ICH MIT DIR REDE! ICH BIN IMMERHIN NOCH DEIN VATER!«

Jack hob widerwillig seinen Blick und zwang sich, seinen Vater anzusehen.

»Hast du das getan, Jack?«, wiederholte sein Vater die Frage. »Hast du tatsächlich den Feueralarm ausgelöst?«

»Es hat gebrannt, O. K.?«, knirschte Jack zu seiner Verteidigung. »Es hat gebrannt!«

Mrs. Hatcher lachte verächtlich auf. »Haben Sie etwa Drogen genommen?«

Jack ertrug ihre herablassende Art nicht länger. »Nein, Sie etwa?«, gab er frech zurück, und es war ihm egal, ob ihm die Bemerkung eine Ohrfeige einbrachte oder nicht. Doch sein Vater hielt sich zurück. Und die Lehrerin klimperte empört mit ihren Wimpern.

»Ich verbitte mir solche Unterstellungen! Ihnen ist wohl nicht klar, wie tief Sie in der Klemme stecken! Was Sie getan haben, ist eine Straftat!«

Jack riss wütend die Hände in die Luft. »Sie glauben, ich hätte den Feueralarm zum Spaß ausgelöst? Das ist es, was Sie glauben? Warum sollte ich so etwas tun? Warum?«

»Das fragen wir uns allerdings auch«, warf der Headmaster ein. »Ross, Sie sind leider kein unbeschriebenes Blatt an dieser Schule. Es ist nicht das erste Mal, dass Sie austicken und etwas Unüberlegtes tun. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich bisher immer sehr großzügig mit Ihnen verfahren bin, und das, obwohl ich von Anfang an offen meine Bedenken geäußert habe, als ihr Bewährungshelfer Sie vor einem Jahr herbrachte. Aber ich wollte Ihnen eine faire Chance geben, denn ich bin der Ansicht, dass jeder Mensch die Möglichkeit eines Neuanfangs verdient. Tja, aber nach dem, was gestern passiert ist …« Er wandte sich Jacks Vater zu und zögerte einen Moment. Es schien, als käme ihm das Urteil, das er gefällt hatte, nicht leicht über die Lippen.

»Mr. Ross. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn nicht länger an der Hope Valley Highschool willkommen ist.«

»Heißt das, er fliegt von der Schule?«, fragte Jacks Vater ungerührt.

»O ja, das heißt es allerdings«, zischte Mrs. Hatcher in giftigem Flüsterton und verschränkte mit äußerster Genugtuung die Arme. Sie sah aus, als hätte sie im Lotto gewonnen.

»Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht, das dürfen Sie mir glauben«, lenkte der Headmaster entschuldigend ein, auch wenn Jacks Vater nicht danach aussah, als bräuchte er irgendeine Erklärung. Der Rauswurf schien ihn kein bisschen zu überraschen.

»Irgendwann musste das ja passieren«, stellte er tonlos fest.

Jack reagierte überhaupt nicht. Er saß bloß mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl und starrte ins Nichts, so, als ginge ihn das alles gar nichts an.

»Ich habe darauf verzichtet, die Polizei über den Vorfall zu informieren«, fuhr der Headmaster großzügig fort. »Ich denke, der Schulverweis ist Strafe genug. Alles andere liegt jetzt bei Ihnen, Mr. Ross.«

Jacks Vater warf seinem Sohn einen flüchtigen Blick zu.

»Keine Sorge«, sagte er. »Ich werde mich um ihn kümmern, sobald wir zu Hause sind.«

Nur Jack wusste, was sein Vater damit meinte, und ein kaum merkliches Zucken ging durch seinen Körper. Dass er soeben von der Schule geflogen war, machte ihm weit weniger aus als das Bewusstsein, von seinem Vater dafür verprügelt zu werden, sobald sie nach Hause kamen.

Nachdem der Headmaster Jack dringend ans Herz gelegt hatte, sich bei einer anderen Highschool zu bewerben, um in einem Jahr nicht ohne Schulabschluss dazustehen, verabschiedete er sich von ihm und seinem Vater und begleitete sie zur Tür. Mrs. Hatcher blieb indessen steif und mit einem böse triumphierenden Lächeln auf den Lippen neben dem Schreibtisch stehen. Jack spürte ihre Schadenfreude sogar noch im Nacken, als sie das Büro bereits verlassen hatten. Doch was kümmerte ihn Mrs. Hatcher. Er hatte im Moment ganz andere Probleme.

Auf dem ganzen Nachhauseweg in dem verbeulten braunen Chevrolet seines Vaters sagte Jack kein Wort. Sein Vater beschimpfte und verfluchte ihn während der ganzen Fahrt, doch Jack drehte demonstrativ den Kopf zur Seite und blickte kommentarlos zum Fenster raus, während die verletzenden Worte an ihm vorbeirieselten. Wenn es nur schon vorbei wäre, war das Einzige, woran er dachte.

Sie erreichten die Wohnwagensiedlung, die sich etwas außerhalb in einem Waldstück befand. Der Vater parkte das Auto auf dem Kiesweg unter einer großen, schief gewachsenen Lärche, sie stiegen aus und betraten den Wohnwagen. Jack hatte nicht einmal Zeit, sich hinzusetzen, als ihn bereits der erste Faustschlag seines Vaters schmerzhaft in die Rippen traf. Der zweite Hieb schleuderte ihn gegen die Couch, und bevor er sich wieder aufrappeln konnte, ließ ihn ein brutaler Kinnhaken zu Boden gehen. Wie ein gejagtes Tier versuchte sich Jack in Sicherheit zu bringen, aber sein Vater zerrte ihn hoch und schlug ihm die Faust mitten ins Gesicht.

»Ich werde dich schon lehren, wie man sich zu benehmen hat, du nichtsnutziger Rotzbengel. Ich werde dich schon lehren!«

Er prügelte so lange auf Jack ein, bis Blut aus seiner Nase lief und der Junge kaum noch aufrecht stehen konnte. Doch Jack gab keinen Laut von sich, kein Wimmern und kein Schluchzen. Den Gefallen würde er seinem Vater nicht tun. Er konnte wohl seinen Körper brechen, aber nicht seinen Geist. Wenigstens so viel Würde wollte er sich bewahren.

»Und jetzt geh auf dein Zimmer und denk über deine Sünden nach! Das Abendessen kannst du dir ans Bein schmieren! Vor morgen früh will ich dich nicht mehr sehen, ist das klar?«

Jack stolperte davon und verbarrikadierte sich in seinem Zimmer. Er wischte sich das Blut von der Nase und setzte sich an seinen Schreibtisch. Seine Hände zitterten. Er spürte das Blut in seinem rechten Auge pulsieren. Spätestens morgen würde es zugeschwollen sein. Eine einzelne Träne kullerte ihm über die Wange. Jack wischte sie rasch weg. Mit aller Kraft kämpfte er gegen die in ihm hochsteigenden Gefühle an und schluckte sie hinunter. Er würde nicht weinen. Die Blöße würde er sich nicht geben. Sein Vater konnte tun mit ihm, was er wollte. Doch weinen würde er nicht. Das hatte er sich vor Jahren geschworen, und daran hielt er sich.

Nachdem er ein paar Schluck billigen Whisky heruntergeschüttet und sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, öffnete er die Tischschublade und holte sein Tagebuch hervor. Er schlug es auf, griff nach einem Kugelschreiber und begann einfach drauflos zu schreiben. Schon in der Grundschule hatte er begonnen, ein Tagebuch zu führen, und über all die Jahre hinweg hatte er nie damit aufgehört. Es war sein Ventil, um all die Wut, die Trauer und seine ganzen Probleme irgendwo abzuladen. Jack hatte niemanden, mit dem er reden konnte, also vertraute er alles, was ihn beschäftigte, seinem Tagebuch an. Es war sein eigenes kleines Refugium, wohin er sich flüchten konnte, wenn die Welt um ihn herum wieder einmal wie eine Sturmwelle über ihm einzubrechen drohte.

Manchmal schrieb er nur wirres Zeug, manchmal endete jeder seiner Sätze mit hundert Ausrufezeichen, und manchmal entstanden seitenlange, tiefgründige Gedichte. Schreiben war Jacks Leidenschaft – eine Leidenschaft, von der niemand etwas wusste. Und Jack hütete sich davor, es irgendjemandem zu erzählen, um nicht als melancholischer Schwächling dazustehen.

Häufig setzte sich Jack nachts im flackernden Schein einer Kerze an seinen Schreibtisch und schrieb sich die Seele vom Leib. Oh, er liebte es zu schreiben. Mehr als alles andere in der Welt. Es verlieh ihm Flügel, mit denen er wenigstens in Gedanken alles hinter sich lassen konnte, was ihn bedrückte, und einfach nur er selbst zu sein.

Eines Tages, das war seine Hoffnung, würde sich sein Schicksal wenden. Doch solange er mit seinem Vater unter einem Dach lebte, war diese Hoffnung nichts weiter als ein unwirklicher Traum. Und gerade an diesem Abend hatte er den Eindruck, dass dieser Traum niemals in Erfüllung gehen würde.

3  Der Neue

In der Mensa der privaten Highschool St. Dominic’s herrschte wie immer um die Mittagszeit Hochbetrieb. Eine Horde hungriger Schüler in blau-weißen Uniformen drängte sich zum Essenfassen, und wie jeden Mittag wurde dabei heftig geschubst, gelacht, geplappert und getuschelt.

Jenny nahm ihr Tablett und schlängelte sich an der Meute vorbei zu Nikki hindurch. Der strohblonde Junge wedelte bereits wie ein Verrückter mit der Hand in der Luft herum, obwohl ihn seine Schulkameradin längst gesehen hatte.

»Hier bin ich, Jenny!«, rief er mit heller Stimme. »Ich hab dir einen Platz frei gehalten!«

Jenny und Nikki waren beste Freunde. Sie kannten sich seit der Grundschule, und obwohl sie völlig verschieden waren, gab es nichts, was ihre Freundschaft jemals auseinandergerissen hätte. Es war so eine Art Seelenverwandtschaft, die sie verband, und das schon seit vielen Jahren.

Jenny war sechzehn und bildhübsch. Sie war schlank, hatte dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar und strahlend blaue Augen. Sie kam aus einer der reichsten und angesehensten Familien der Kleinstadt Green Valley. Ihr Vater, Mr. Lamoure, war ein erfolgreicher und ehrgeiziger Geschäftsmann und Inhaber der »Lamoure Investment Bank«. Er war selten zu Hause und flog mit seinem Business-Jet der Marke Cessna Citation, einem der schnellsten zivilen Flugzeuge überhaupt, von einem Geschäftstreffen zum nächsten.

Jenny hatte sich nie mit dem luxuriösen Lebensstil ihrer Familie identifizieren können. Sie verabscheute den Prunk und das Sich-zur-Schau-stellen der High Society und schlug ganz bewusst eine andere Richtung ein – eine, die ihr zwar nicht viel Ruhm und noch weniger Reichtum einbringen würde, ihr dafür aber das Gefühl gab, das Richtige zu tun.

Ihr neuestes Projekt war die Rettung eines vom Aussterben bedrohten Fisches aus dem indischen Ozean. Sie quasselte Nikki seit Tagen den Kopf davon voll und hatte ihn sogar dazu überredet, einen Handzettel dafür zu entwerfen. Nikki hatte es ihr zuliebe getan, obwohl er ihr »Helfersyndrom«, wie er es nannte, manchmal doch eine Spur zu übertrieben fand. Sie wiederum fand es absolut übertrieben, wie viel Zeit Nikki vor dem Spiegel verbrachte, bis seine verstrubbelte Frisur perfekt saß.

»Und dafür hast du wirklich zwei Stunden gebraucht?«, pflegte sie ihn zu necken. »Ich wette, wenn du morgens aufstehst, siehst du genauso aus. Komm doch einfach zu mir. Ich verstrubble dir deine Haare in drei Sekunden.«

»Um Himmels Willen! Davon verstehst du nichts, Schätzchen!«, war dann seine entsetzte Antwort. »Verstrubbeln ist nicht gleich verstrubbeln! Schließlich will ich nicht wie eine Vogelscheuche aussehen. Das perfekte Styling ist eine Kunst, die nicht zu unterschätzen ist. Jedes Haar auf meinem Kopf erfüllt seinen ganz bestimmten Zweck. Wenn du nicht so viel Zeit in die Rettung der Welt investieren und dich stattdessen wie jedes vernünftige Mädchen etwas mehr mit Kosmetik beschäftigen würdest, wüsstest du, wovon ich spreche.«