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MATHIAS CHRISTIANSEN

Tod an der

GRENZE

SCM Hänssler
SCM Stiftung Christliche Medien



Bestell-Nr. 394.895
ISBN 978-3-7751-4895-5 (Print)

ISBN 978-3-7751-5097-2 (E-Book)



© Copyright der deutschen Ausgabe 2008 by
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG . 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de
E-Mail: info@scm-haenssler.de
Umschlaggestaltung: oha werbeagentur gmbh, Grabs, Schweiz;

www.oha-werbeagentur.ch

Titelbild: David Luscombe / istockphoto.com
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany



Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer
Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Werde ich morgen leben?
Ich kann es nicht sagen.
Aber ich weiß, dass ich heute nicht lebe.
Jimi Hendrix







Meinst du, ein toter Mensch wird wieder leben?
Die Bibel – Hiob 14,14

Danke



Jürgen für den zündenden Gedanken.
Frau und Kindern für die Freistellung.
Andreas für die Ermutigung.
Der Gruppe delirious? für die Musik.
Und schließlich und in erster Linie:
meinem Chef – für alles!

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Epilog

Prolog

Ostberlin,

Dienstag, 15. November 1983, 21:50 Uhr

Der Einsatzbefehl war in dem Augenblick gekommen, als Joachim Fork sich gerade mit dem Gedanken angefreundet hatte, dass an diesem Abend wohl nichts Aufregendes mehr passieren würde. Abgesehen von ein paar unwichtigen Meldungen, die er weitergeleitet hatte, war nichts Besonderes zu tun. Und als diensthabenden Offizier interessierten ihn die abendlichen Aufräum- und Reinigungsaktivitäten im Objekt wenig. Also hatte er sich entspannt zurückgelehnt und zum neuen Sport-Echo gegriffen, um die Zeit sinnvoll zu nutzen und ein wenig zu lesen. Aber die Zeitung war noch nicht einmal aufgeschlagen gewesen, als das Telefon geklingelt hatte und der Befehl gekommen war.

Schweigend hatte Fork den Anweisungen des Majors gelauscht und sie laut und deutlich wiederholt. So, wie es die Dienstvorschrift verlangte. Als er den Hörer auf die Gabel zurücklegte, war er im Bilde. Er wusste, worum es ging und dass einiges auf dem Spiel stand. Und er sah dem Ganzen mit gemischten Gefühlen entgegen, denn eine Sache würde anders sein bei diesem Einsatz. Eine entscheidende Sache: Er sollte das Kommando führen.

Es war nicht das erste Mal, dass sie mit dem Mannschaftswagen ausrückten. Direkt an die Grenze. Dorthin, wo seit zweiundzwanzig Jahren und drei Monaten der Weg zum Westteil der Stadt durch einen Stacheldrahtzaun, einen Betonwall und strenge Bewachung versperrt war. Dorthin, wo vor einer Woche mehrere Kompanien damit begonnen hatten, eben diesen Wall, den sie nicht nur im Westen Die Mauer nannten, noch höher zu machen. Nach und nach und möglichst rasch sollte das Bauwerk um einen guten halben Meter an Höhe gewinnen. Drei Meter sollten es werden und damit ein für alle Mal unüberwindbar. Unüberwindbar, bedrohlich und abschreckend. So sollte sie sein, die Mauer. Und Fork zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sie diese Anforderungen bald erfüllen würde.

Noch immer gelang es vereinzelten Waghalsigen, mit Leitern oder ähnlichen Hilfsmitteln die Sperranlagen zu überwinden und die Republik zu verlassen. Manche ließen Frau und Kinder zurück und setzten alles aufs Spiel. Fork hatte kein Verständnis für sie. Was wollten sie denn dort drüben, im angeblich so goldenen Westen? Ging es ihnen hier in der DDR wirklich so schlecht? Nein, dachte Fork, wer sich gesetzestreu und loyal dem Staat gegenüber verhielt, der konnte auch in der DDR ein gutes Leben haben. Er selbst war das beste Beispiel dafür: Nach der dreijährigen Armeezeit, die er bei den Grenztruppen abgeleistet hatte, war er zur Transportpolizei gegangen und hatte sich nebenher nach und nach zum Kriminalisten ausbilden lassen. Manchmal war es hart gewesen, aber niemals hatte ihn der Mut verlassen und immer hatte er ein Ziel vor den Augen gehabt: zur Kripo zu kommen. Zur Kripo zu kommen und Straftaten aufzuklären. Und dieses Ziel hatte er nun fast erreicht. In eineinhalb Monaten würde seine Einsatzzeit bei der Transportpolizei zu Ende gehen und er würde ab 1. Januar im Rang eines Oberleutnants bei der K anfangen. Mit knapp vierzig würde er endlich ein eigenes Büro bekommen. Manche seiner Kollegen kamen nie in diesen Genuss.

Joachim Fork griff nach seiner Uniformjacke und schob sich hinein. Auf dem Flur hörte er das Rennen schwerer Stiefel – die Kameraden waren also schon informiert und auf dem Weg zur Garage.

Schnell verließ Fork den Wachraum und eilte ebenfalls die Treppe hinunter. Die Bande, hinter der sie her waren und die es dingfest zu machen galt, nutzte die Gier der Menschen nach dem Westen aus und versuchte von Zeit zu Zeit, Bürger der DDR nach Westberlin zu schleusen. Offiziell hieß es natürlich, es handele sich bei den flüchtenden Personen um imperialistische Agenten, aber so gut wie jeder wusste, dass es einfache Bürger waren, die – aus welchen Gründen auch immer – abhauen wollten. Rübermachen, wie die Sachsen unter Forks Kollegen es nannten.

Zwei Fluchtversuche hatten sie bislang vereiteln können, mindestens drei weitere waren geglückt. Klar, dass die für den Einsatz verantwortlichen Genossen langsam die Nerven verloren. Wollten sie noch eine Weile auf ihren Posten bleiben, mussten sie zusehen, dass jeder weitere Fluchtversuch unter allen Umständen verhindert wurde. Und Fork brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was damit gemeint war.

Es war nicht unbedingt üblich, die Transportpolizei bei Einsätzen wie diesen hinzuzuziehen, und genau das schien für Fork der beste Beweis, wie ernst die Sache in Wirklichkeit war: Sämtliche verfügbaren Genossen, die auch nur im Entferntesten etwas mit der Grenze zu tun hatten, waren im Einsatz.



Draußen peitschte der Regen; schneidender Wind drang Fork entgegen und er kniff seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Für Mitte November war es schon außerordentlich kalt geworden.

Nebenan schwang das Tor der Ausfahrt auf und der Mannschaftswagen rollte mit aufgeblendeten Scheinwerfern heraus. Fork setzte sich mit schnellen Schritten in Bewegung und brachte sich mit einem kühnen Sprung auf die kleine Trittleiter an der Beifahrerseite. Ohne dass der Wagen abbremsen musste, öffnete Fork die Tür und schob sich auf den Sitz.

Der Fahrer grinste und Fork wusste warum: Er war bekannt für seinen Aufschwung, wie sie es hinter seinem Rücken nannten. Aber als einem der jüngeren und vor allem schlankeren unter den Genossen der Transportpolizei fielen ihm derartige Übungen nicht sonderlich schwer. Und außerdem, so dachte er, würde ihn eine solche Eigenheit vor den Genossen, deren Vorgesetzter er war, etwas sympathischer erscheinen lassen. Viele Möglichkeiten für ein bisschen Spaß und Menschlichkeit gab es nicht in diesem Dienst – er war Offizier, die anderen einfache Soldaten. Da galten klare Regeln.



Zehn Minuten später waren sie am Einsatzort. Ein junger Grenzsoldat öffnete ihnen das Tor und der Fahrer bog in Höhe der Esplanade auf den betonierten Postenweg ein. Mit abgeschalteten Scheinwerfern rollten sie ein paar Meter entlang des Sperrzauns in Richtung Süden, auf den S-Bahnhof Bornholmer Straße zu.

Hier in diesem Grenzbereich vermutete man die geplante Flucht. Woher der Hinweis kam und ob er zuverlässig war, wusste Fork nicht. Der Major hatte sich zu diesem Thema ausgeschwiegen und Fork war klar, dass er ohnehin nur so viel erfahren würde, wie unbedingt nötig. Mit der Bande, hinter der sie her waren, war nicht zu spaßen, das wusste er. In beiden Fällen, in denen es ihnen gelungen war, eine Flucht zu verhindern, war es ihnen nur vergönnt gewesen, die Flüchtenden selbst zu fassen, nicht jedoch die Hintermänner. Und die Festgenommenen waren keine große Hilfe. In den Verhören gaben sie übereinstimmend zu Protokoll, die Namen der Fluchthelfer nicht zu kennen. Alles sei über Mund-zu-Mund-Propaganda abgelaufen. Nun ja ... Aber einiges deutete dennoch darauf hin, dass auch Bürger der DDR zu der Bande gehörten.

Mit quietschenden Bremsen hielt der W 50 am Sperrzaun.

»Alles absitzen«, befahl Fork mit gedämpfter Stimme und empfand es irgendwie als lächerlich, einen Befehl zu flüstern, anstatt zu brüllen.

Er, der junge Leutnant, der an diesem Tage zum ersten Mal das Kommando für die Besatzung dieses Fahrzeugs bekommen hatte, trug die volle Verantwortung. Mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben konnten. Einschließlich eines möglichen Feuerbefehls ...

Fork wusste nicht, ob er wirklich schießen würde. Er hatte schon während seiner Armeezeit an der Grenze oft über diese Frage nachgedacht, aber er war zu keinem klaren Ergebnis gekommen. Würde er schießen? Würde er einen Menschen töten? Er hatte es stets als vollkommen abstrakte, als undenkbare und irreale Vorstellung empfunden und die Frage beiseitegeschoben, in der Hoffnung, nie in eine solch fatale Lage zu geraten. Nie in die Lage zu geraten, einem Grenzverletzer gegenüberstehen zu müssen. Und jetzt war genau diese Situation da. Jetzt war es sehr wahrscheinlich, dass er es mit echten Grenzverletzern zu tun bekäme.

Die Situation war ernst. Ernster als je zuvor, denn er trug das Kommando. Er war verantwortlich. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Genossen, deren Vorgesetzter, deren Befehlsgeber er war.

Vorsichtig und darauf bedacht, Geräusche zu vermeiden, stiegen sie vom Lkw. Fork wies die Genossen an, sich in einem Abstand von je fünfundzwanzig Metern entlang des Schutzzaunes zu postieren, die Augen und Ohren offenzuhalten und auf weitere Befehle zu warten.

Er selbst bewegte sich zum nördlichen Ende des Grenzabschnitts.

Fork wusste, dass die Genossen der Grenztruppen die andere, die nach Westen gelegene Seite der Gleise, ins Visier genommen hatten. Die Aufteilung war offensichtlich aus Sicherheitsüberlegungen heraus getroffen. Man könnte es auch Angst nennen, dachte er. Die Chefs der Grenzabschnitte trauten ihren eigenen Genossen nicht über den Weg. Noch weniger aber trauten sie den Kollegen anderer Einheiten. Transportpolizei, Volkspolizei, Bautruppen – alles, was nicht dauerhaft im Bereich der Staatsgrenze Dienst tat, war ihnen suspekt.

Plötzlich rief ihn jemand; halblaut nur, aber hörbar. Fork brauchte nur einen Moment, um zu erkennen, wer gerufen hatte: Es war einer der Unteroffiziere, einer von den jüngeren, die noch nicht lange bei der Transportpolizei waren. Fork trat zu ihm und der Genosse wies auf einen dunklen Gegenstand, der zwischen den Gleisen lag.

Es war ein Rucksack. Und er gehörte definitiv nicht hierher.

Es musste also tatsächlich jemand hier gewesen sein. Jemand, der etwas im Schilde führte. Jemand, der ... Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen was.

Fork ging in die Hocke und betrachtete den Tornister. Er war dunkelblau und stammte offenbar aus westlicher Produktion. Es würde interessant sein zu sehen, was sich in seinem Innern befand, aber dazu mussten zuerst alle Spuren gesichert werden. Zumindest die, die der Regen übrig gelassen hatte.

Fork erhob sich wieder und taxierte die Umgebung. Es war niemand zu sehen. Die Frage war also, wohin der Besitzer des Rucksacks verschwunden war. Weit konnte er eigentlich nicht gekommen sein – zumindest nicht in Richtung Westen, die Bewachung war aufgrund der Alarmierung heute Nacht lückenlos.

Fork erhob sich und wies den Unteroffizier an, die anderen Genossen zu verständigen und die Spurensicherung anzufordern. Er selbst blieb am Fundort und hielt Wache.



Es dauerte keine drei Minuten, bis der Unteroffizier zurückkehrte, mehrere Grenzsoldaten und zwei Zivilisten im Schlepp, von denen Fork annahm, dass sie zum Ministerium für Staatssicherheit gehörten. Sie schalteten kleine Taschenlampen ein und leuchteten den Rucksack ab, während der Unteroffizier die Umstände des Fundes schilderte.

Fork trat einen Schritt zur Seite und folgte mit seinem Blick einer S-Bahn, die in Richtung Oranienburg unterwegs war und an ihnen vorbeiratterte. Ob jemand im Zug davon Notiz nahm, dass heute Abend hier etwas Ungewöhnliches vorging? Das sich etwas tat, hier an der Mauer?

Fork sah, wie der Zug in den Bahnhof Pankow einfuhr und zum Stehen kam. Ob jemand ein- oder ausstieg konnte er auf die Entfernung nicht genau erkennen und im Grunde war es auch nicht wichtig. Fork wandte seinen Blick von der S-Bahn ab und wollte sich gerade wieder dem Geschehen rund um den Rucksack zuwenden, als er einen eigenartigen Schatten wahrnahm. Einen Schatten, der ihn irgendwie ... alarmierte.

Was war es? War es überhaupt etwas gewesen oder hatte er sich getäuscht? Langsam ging Fork einige Schritte in die Richtung, in der er meinte, den Schatten wahrgenommen zu haben. Er war sich nicht sicher, aber irgendetwas sagte ihm, dass dort drüben bei den Baracken etwas oder jemand war. Vorsichtig und immer darauf bedacht, keinen Lärm zu verursachen, schlich er voran. Wenn es wirklich eine Person war und Fork sich nicht getäuscht hatte, dann war diese Person drauf und dran, in Richtung des Rangierbahnhofs zu verschwinden.

Für einen Augenblick blieb er stehen und drehte sich um. Die Genossen waren noch immer mit ihren Taschenlampen an der Stelle zugange, an der sie den Rucksack gefunden hatten. Keiner hatte mitbekommen, dass Fork sich entfernt hatte.

Er wusste, dass er sich entscheiden musste: auf eigene Faust weitergehen oder zurück, um die Kameraden zu alarmieren. Zu dumm, dass er kein Funkgerät bei sich trug.

Fork entschied sich, seiner Intuition nachzugeben und die Person zu verfolgen, die er im Verdacht hatte, ein Fluchthelfer zu sein. Wer sonst kannte sich hier aus? Wer wusste um die Möglichkeit, auf diesem Weg das Grenzgebiet und das Bahngelände zu verlassen?

Schnell nahm Fork Tempo auf und setzte seine Verfolgung fort. Die Silhouette der Person vor ihm befand sich mittlerweile genau auf der Bahnbrücke hinter dem S-Bahnhof Berlin-Pankow und bewegte sich auf den Ablaufberg der Rangieranlage zu.

Fork dachte einen Moment lang nach, änderte dann die Richtung und überwand die Brücke auf dem südlichen Aufleger, auf dem sich die Gütergleise befanden. Weiter, schneller, rief er sich selbst zu. Schneller, du musst schneller sein ...

Irgendwann erreichte er die kleine Holzbude der Rangiermeister und drückte sich gegen die Außenwand. Eine Schaufel, die dagegen gelehnt war, drohte umzustürzen. Doch Fork fing sie rechtzeitig auf und stellte sie behutsam an die Hauswand zurück.

Dann sah er den Mann. Er kam rasch näher, bewegte sich direkt auf ihn zu. Fork merkte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, und er versuchte sich zur Ruhe zu zwingen. Mit zitternden Händen griff er nach seiner Dienstwaffe und zog sie aus dem Halfter. Als der Mann noch vielleicht zehn Meter entfernt war, trat Fork aus seiner Deckung hervor und rief den Unbekannten an: »Halt! Stehen bleiben! Transportpolizei!«

Der Mann gehorchte wie auf Kommando. Verdattert blieb er stehen und schien vollkommen überrascht zu sein. Forks Hoffnungen, dass es sich bei dem Mann vielleicht doch nur um einen Bahnarbeiter handeln könnte, wurden durch dessen erschrecktes Verhalten enttäuscht.

Fork trat einen Schritt nach vorn. Es war außerordentlich dunkel an dieser Stelle des Rangierbahnhofs und noch hatte Fork das Gesicht des Mannes nicht gesehen.

Als er zwei Schritte gemacht hatte, sprang der Unbekannte zur Seite, überwand ein paar Signalspanndrähte und steuerte die Ausfahrt der Laderampe an.

»Stehen bleiben!«, brüllte Fork erneut und setzte sich ebenfalls in Bewegung.

Der Mann stolperte und stürzte. Schnell rappelte er sich wieder auf und versuchte, seine Flucht fortzusetzen, aber in diesem Moment hatte Fork ihn erreicht, riss ihn an der Jacke herum und ... Fork glaubte seinen Augen nicht zu trauen: Es war Bernd! Sein eigener Bruder stand vor ihm!

»Bernd!«, keuchte er. »Bist du übergeschnappt? Was hast du hier zu suchen?«

Regen prasselte auf sie hernieder und im gelblichen Schein der Laternen des Rangierbahnhofs glaubte Fork, so etwas wie Hass im Gesicht seines Bruders zu erkennen.

Fork konnte es einfach nicht glauben – sein eigener Bruder war ein ... Feind der Republik? Ein Krimineller? Einer, der mit den imperialistischen Aggressoren im Westen gemeinsame Sache machte?

Ohne zu antworten, riss sich Bernd los und versuchte weiter zu fliehen.

»Bleib stehen!«, brüllte Fork. »Bleib endlich stehen, du feiger Hund!«

Aber Bernd blieb nicht stehen, sondern versuchte davonzukommen.

Fork umfasste seine Pistole fester, während er Bernd hinterherrannte. Unter seinen Stiefeln knirschte der Schotter und es kostete ihn einige Kraft, vorwärtszukommen ohne zu stolpern. Aber dieses Problem machte auch Bernd zu schaffen; er kam immer wieder ins Schlingern.

»Bleib doch endlich stehen!«, rief Fork erneut, aber deutlich leiser. Langsam ging ihm die Puste aus. Er riss die Pistole hoch und entsicherte sie. In dem Moment, als er sie in die Höhe hielt, um den bei flüchtenden Tätern vorgeschriebenen Warnschuss abzugeben, wurde ihm zum ersten Mal die Tragweite dieser Situation bewusst: Wenn er die Vorschriften nicht verletzen wollte und sein Bruder auf den Warnschuss nicht reagieren und stehen bleiben würde, dann ...

In diesem Augenblick stürzte Bernd erneut. Diesmal über eine unbeleuchtete Weichenlaterne, die er offenbar nicht bemerkt hatte. Fork beschleunigte seinen Lauf und war in wenigen Augenblicken bei Bernd, der gerade mühsam versuchte, sich wieder aufzurappeln. Fork griff nach der Jacke seines Bruders und zerrte ihn zu Boden. Die Waffe fiel ihm aus der Hand.

»Lass mich los«, stöhnte Bernd. »Lass mich verschwinden. Ich habe euren Staat so satt! Ich will nur weg, verstehst du? Nur weg ...«

Fork drückte den Kopf seines Bruders auf das Gleisbett und versuchte, ihm einen Arm auf den Rücken zu drehen. Es war eine total verrückte Geschichte, in die er hier geraten war. Eine elende und vollkommen wahnsinnige Geschichte. Sein eigener Bruder, ein Krimineller!

Joachim Fork schossen tausend Gedanken durch den Kopf: Welche Strafe erwartete Bernd? Sicher würde er für viele Jahre ins Zuchthaus wandern. Und was wäre, wenn er ihn laufen ließe? Wenn er behaupten würde, Bernd sei geflohen? Würde man ihm glauben? Nein, diese Version würde ihm keiner abnehmen, selbst wenn sie stimmen sollte. Man würde Sippenhaft betreiben und anstelle von Bernd ihn einsperren. Und dann ...

Ehe er zu einem Entschluss kam, wie er mit Bernd weiter verfahren sollte, riss dieser sich aus der Umklammerung los und hatte Forks Pistole in der Hand.

»Mensch, Bernd«, keuchte Fork, »mach doch keinen Mist!«

Bernd sprang auf und hielt den Lauf der Waffe auf Fork gerichtet. Langsam, Schritt für Schritt ging er rückwärts und entfernte sich von seinem Bruder, der seinerseits versuchte, sich aufzurichten, um ihm zu folgen.

»Bleib wo du bist!«, schrie Bernd und seine Stimme hatte einen merkwürdigen Klang. Einen so merkwürdigen Klang, dass Fork in der Bewegung innehielt.

Aus dem Augenwinkel heraus glaubte er wahrzunehmen, dass sich auf der Ladestraße etwas bewegte. Hatten die Genossen mitbekommen, wohin er gegangen war, und beobachteten nun, dass hier am Ablaufberg etwas Dramatisches passierte?

Bernd war mittlerweile gute zehn Meter entfernt und Fork nahm an, dass er sich im nächsten Moment umdrehen und davonlaufen würde. Aber das passierte nicht. Stattdessen blieb er stehen. Er blieb einfach stehen und rührte sich nicht.

Fork zögerte einen Augenblick. Eine Sekunde oder vielleicht auch zwei. Nicht länger. Dann sprang er auf, rannte auf Bernd zu und trat diesem direkt in den Bauch. Beide stürzten zu Boden und Fork fragte sich, warum sein Bruder überhaupt stehen geblieben war und ob er ihn jetzt vielleicht abknallen würde.

Aber Bernd schoss nicht. Er lag da, blickte Fork direkt in die Augen und in seinem Gesicht stand ein eigenartiger Ausdruck, den Fork nicht beschreiben konnte und den er auch noch nie zuvor bei seinem Bruder gesehen hatte.

Durch den Hauch, den sie beide beim schnellen Atmen ausstießen, sah Fork plötzlich einen Schatten von links auf sie zukommen. Erst glaubte er, es sei einer von den Genossen, aber dafür war der Schatten entschieden zu groß. Dann wusste er, was es war: Ein Güterwagen! Er rollte fast lautlos heran und Fork bekam Angst. Es war keine gute Idee, sich hier im Gleisbett zu prügeln. Es war gar keine gute Idee.

»Da!«, stieß er hervor und deutete auf den näher kommenden Waggon. Bernd schien schnell zu begreifen, denn er rollte sich instinktiv zur Seite und riss Fork mit sich. Der Güterwagen war inzwischen fast auf ihrer Höhe und Fork hörte das leichte Zischen der Räder. Es war wie ein leises Singen. Wie eine Melodie. Eine Melodie, dachte er, eine schöne Melodie inmitten dieser unwirklichen Szene. Das Singen wurde lauter und die Melodie dramatischer, und eigentlich war das Singen gar kein Singen mehr, sondern ein Schreien. Ein furchtbares, ein wahnsinniges Schreien. Ein unmenschliches Schreien und Fork drückte die Hände auf seine Ohren, um es nicht länger ertragen zu müssen. Dann riss es mit einem Schlag ab und in diesem Moment erkannte Fork, woher das Schreien gekommen war: Sein Bruder lag blutüberströmt neben ihm und war ... tot.

1. Kapitel

Berlin, 21. Dezember 2006

Brodersen stand am Küchenfenster und starrte in die Dämmerung. In der Scheibe spiegelte sich sein unrasiertes Gesicht und er erschrak darüber, wie schrecklich er im schwachen Licht der Adventsbeleuchtung aussah.

Der Kommissar wusste, dass er älter geworden war. Aber so alt? Er fühlte sich vollkommen ausgelaugt und zerschlissen. Seit drei Wochen war er krankgeschrieben. Offiziell litt er an einer schweren Bronchitis, aber der Arzt hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass sein Leiden wohl ganz andere Ursachen hatte. Bei Frauen würde man es Wechseljahre nennen, hatte der Doktor gesagt und eine ebenso undefinierbare wie süßsaure Grimasse dazu geschnitten. Nun denn, die ganze Wahrheit hatte Brodersen ihm auch nicht gesagt.

Seit er im vergangenen Jahr geheiratet hatte, fühlte der Kommissar sich zwar in mancher Hinsicht besser, aber in stillen Momenten musste Brodersen sich zu seiner eigenen Verwunderung eingestehen, dass er so richtig glücklich nicht war. Er hatte hin und her überlegt, war aber zu keiner Erkenntnis gelangt, woran dies liegen könnte. Christiane war eine treu sorgende Ehefrau, intelligent, attraktiv, warmherzig, aber irgendetwas schien trotzdem zwischen ihnen zu stehen. Irgendetwas, das Brodersen weder benennen noch erklären konnte.

Vor ziemlich genau vier Jahren war Christiane in sein Leben getreten. Wieder in sein Leben getreten, musste man wohl sagen, denn exakt siebzehneinhalb Jahre zuvor hatte er ein Verhältnis mit ihr gehabt. Ein Verhältnis, das nicht folgenlos geblieben war. Nur dass Brodersen bis zum neuerlichen Auftauchen seiner ehemaligen Freundin nichts von seiner Vaterschaft gewusst hatte und ebenso erstaunt wie geschockt war, als ein junger Mann, der den Namen Stefan trug, eines Nachmittags völlig unvermittelt vor Brodersens Haustür gestanden und sich als sein Sohn vorgestellt hatte.

Ob das der Grund für seine Probleme war? Dass er nicht damit zurechtkam, dass Christiane ihm seinen Sohn so lange vorenthalten hatte? Andererseits: Hätte er je Zeit gehabt, sich um ein Kind zu kümmern? Bei dem Job?

Und dann war da noch die andere Sache. Die, die ihm am meisten zusetzte und die sich mit Sicherheit auch auf seine Ehe auswirkte. Er hatte versucht, dem Ganzen mit Nüchternheit zu begegnen, aber es war ihm nicht gelungen.

Brodersen schloss für einen Moment die Augen und versuchte, an gar nichts zu denken. Das Einzige, auf das er sich konzentrierte, war seine Atmung. Er merkte, wie die kalte Fensterscheibe seinen Atem zurückwarf. Irgendwo in der Ferne hörte er schwach das Bellen eines Hundes.



Als das Telefon klingelte, schreckte er auf. Er rieb sich über die Augen und schlurfte in den Flur um abzuheben.

Eigentlich sollte ich gar nicht rangehen, dachte er und drückte im selben Moment auf den grünen Gesprächsannahmeknopf. »Brodersen.«

»Werner? Ich bin’s, Thomas Koch. Wir haben hier ein Problem.«

Brodersen hob die Augenbrauen und schnitt eine Grimasse. Konnte der Kollege ihn nicht in Ruhe lassen? Ihn einfach vergessen?

»Es geht um eine merkwürdige Geschichte. Ein Mann ist verschwunden.«

»Das kommt öfter vor«, murmelte Brodersen halblaut in den Hörer, »aber soviel ich weiß, arbeiten wir bei der Mordkommission und nicht beim Vermisstendezernat. Und außerdem bin ich krank.«

»Ja, ja – du hast ja recht. Aber im Moment ... Wir haben einfach keine Leute hier und daher ... ich dachte, du könntest vielleicht ... Der Mann wohnt ganz in deiner Nähe ...«

Brodersen seufzte. Dann setzte er sich in Bewegung und schlich mit dem schnurlosen Telefon durch die Wohnung. »Sag mir einfach, was du von mir willst.«

»Ich wusste, du würdest uns helfen!« Koch klang erleichtert. »Es geht um einen Mann namens Rudow. Volker Rudow. Mitte vierzig. Ein Journalist. Von der Tagespost. Er ist seit gestern Abend als vermisst gemeldet.«

»Seit gestern Abend?«, unterbrach Brodersen seinen Kollegen barsch. »Soviel ich weiß, beginnen wir erst nach drei Tagen, etwas zu unternehmen ...«

»Es sei denn ...«

»Es sei denn, es gibt Anhaltspunkte für eine Straftat.«

»Und die gibt es.«

Brodersen, der feststellte, dass er inzwischen im Wohnzimmer stand, ließ sich in einen Sessel fallen. »Und welche sollen das sein?«

»Also – zunächst haben wir Rudows Wagen gefunden. Zwar sauber abgeschlossen, aber an einer sehr ungewöhnlichen Stelle.«

»Wo denn?«

»Am Blankenburger Pflasterweg. Im totalen Halteverbot. Fast auf der Fahrbahn und unbeleuchtet.«

»Das ist in der Nähe von diesem neuen Golfplatz, nicht wahr?«

»Dort draußen will niemand etwas mitbekommen haben«, fuhr Koch fort. »Ich war heute Vormittag persönlich dort. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Allerdings können wir Rudows Verschwinden inzwischen auf die Zeit zwischen gestern Abend und heute früh eingrenzen.«

»Wer weiß schon, was dahintersteckt«, entgegnete Brodersen, der merkte, dass ihn die Geschichte nicht sonderlich interessierte. Er war krankgeschrieben und hatte genug mit sich selbst zu tun. Und außerdem roch die ganze Sache stark nach der immer wieder zu erlebenden Flucht aus dem Alltag. Was hatte Koch gesagt, wie alt der Mann war? Mitte vierzig! Na bitte, dachte Brodersen, genau das richtige Alter für derartige Kandidaten. »Bei aller Liebe, Thomas«, sagte Brodersen schließlich, »ich denke, dass können die Leute vom örtlichen Abschnitt übernehmen, oder?«

Am Ende der Leitung breitete sich Schweigen aus. Im Hintergrund hörte man ein anderes Telefon klingeln.

»Werner«, sagte Koch nach einer halben Ewigkeit in die Stille.

»Ja?«

»Tut mir leid, dass ich dich gestört habe. Du hast vollkommen recht, es war keine gute Idee, dich mit dienstlichen Dingen zu belasten. Entschuldige die Störung.«

Noch ehe Brodersen etwas entgegnen konnte, hatte Koch aufgelegt.

Verärgert feuerte Brodersen das Telefon aufs Sofa, griff zur Fernbedienung und schaltete den Flimmerkasten an. Den Ton stellte er stumm. Auf keinem der Programme lief etwas, das den Kommissar beeindruckte. Eine Weile schaute er dem verzweifelten – weil ja tonlosen! – Gesang irgendeiner Popband zu, die inmitten unzähliger Rauchgeneratoren, bunter Lichter und sich drehender Kulissenelemente herumtobte. Das Publikum bestand fast ausnahmslos aus Jugendlichen, die auf Brodersen einen apathischen Eindruck machten und sich wie in Trance zu dem Lärm, den die Band offenbar produzierte, hin und her wiegten.

Massenpsychose, ging es dem Kommissar durch den Kopf. Wie leicht man Menschen in einen Bann ziehen und sich anhimmeln lassen konnte, war immer wieder beängstigend zu sehen. Wie leicht konnte man dieses Phänomen missbrauchen ...

Irgendwann schaltete Brodersen den Fernseher ab. Es war unfair von mir, dachte er. Es war unfair von mir, wie ich Koch abgebügelt habe, eben am Telefon. Natürlich, die Krankschreibung war eine Sache, aber wenn Koch eins und eins zusammenzählte, dann musste ihm klar sein, dass Brodersen zumindest in physischer Hinsicht keineswegs dienstunfähig war. Und wer weiß, vielleicht hatte es Koch ja auch gut gemeint und ihn auf andere Gedanken bringen wollen mit dieser kleinen Ermittlungsarbeit. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint, dachte Brodersen. Und ob die Ermittlungsarbeit wirklich klein sein würde, war alles andere als klar. Vielleicht war es in der Tat so, wie Brodersen vermutete. Dass der Mann einfach nur aus seinem Alltag geflohen war. Vielleicht aber hatten sie es auch mit einem wirklichen Verbrechen zu tun.

Der Kommissar erhob sich und griff nach dem Telefon. Dann trat er ans Fenster und starrte hinaus. Er fragte sich, wo Christiane blieb. Und er fragte sich, was hinter dem Verschwinden dieses Journalisten stecken mochte. Und vor allem fragte er sich, wieso er das Gefühl nicht loswurde, das er in sich aufsteigen spürte. Das Gefühl, dem geheimnisvollen Verschwinden des Zeitungsmannes auf die Spur kommen zu wollen.

Brodersen atmete tief durch. Dann nahm er das Mobilteil, tippte Kochs Nummer ein und stellte eine Verbindung her. Mindestens ein Dutzend Mal wiederholte er den Vorgang, aber immer meldete sich nur Kochs Mailbox. Und mit einem Tonband wollte er nicht sprechen.

Also gut, dachte Brodersen, du hast gewonnenPost-it