Johanna Spyri



Was der Grossmutter Lehre bewirkt

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-944869-53-7


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Kapitel 1 - Der Kummer der alten Waschkäthe



Die alte Waschkäthe saß in ihrem Stübchen im einsamen Berghüttchen und schaute nachdenklich auf ihre gekrümmten Hände, die sie vor sich auf die Knie gelegt hatte. Bis der letzte Abendschein hinter den fernen Waldhöhen verglommen war, hatte sie fleißig an ihrem Spinnrad gearbeitet. Jetzt hatte sie es ein wenig beiseite gerückt, die Hände mußten müde sein, die so gekrümmt und abgearbeitet aussahen.

Die Alte seufzte auf und sagte vor sich hin: "Ja, wenn ich noch könnte wie früher!" Sie meinte wohl arbeiten, denn das hatte sie tapfer ihr Leben lang getan. Nun war sie alt geworden, und die früher so rüstige und unermüdliche Waschfrau konnte gar nichts mehr tun, als ein wenig spinnen, und das trug sehr wenig ein. Dennoch hatte sie sich schon seit ein paar Jahren auf diese Weise durchgebracht und noch dazu ihr Enkelkind erhalten, das bei ihr lebte und noch nicht viel verdienen konnte. Es hatte zwar auch seine kleinen Einnahmen, denn es war ein flinkes und geschicktes Kind.

Heute erfüllte die Grossmutter aber noch ein besonderer Kummer, der ihr schon seit dem frühen Morgen das Herz schwer gemacht hatte. Ihr Enkelkind, das fröhliche Trini, das sie von klein auf erzogen hatte, war zwölf Jahre alt geworden. Es sollte im Frühling aus der Schule entlassen werden und dann in einen Dienst gehen. Heute früh nun war der ferne Vetter unten aus dem Reußtal heraufgekommen und hatte der alten Kusine den Vorschlag gemacht, das Kind ihm anzuvertrauen. Er hatte zwar selbst nicht viel und konnte nichts geben, aber es war dort unten ein guter Verdienst zu finden.

Denn die neue Fabrik, die an der wasserreichen Reuß erbaut worden war, brauchte viele Arbeitskräfte. Dort konnte das Trini die Woche über ein schönes Stück Geld verdienen, und daneben konnte es die nötige Arbeit in seinem Haus verrichten, dafür wollte er es beherbergen. Da seine Frau kränklich war und sie keine Magd anstellen konnten, so war ihnen das Kind erwünscht, denn sie wußten, daß es groß und kräftig und sehr geschickt war.

Die Grossmutter halte schweigend zugehört, aber in ihrem Herzen hatten die Worte einen großen Kampf entfacht. Der Vetter wünschte auch, daß das Kind schon im Herbst herunterkomme, das halbe Schuljahr könne schon abgekürzt werden, es wisse genug und könne dann gleich etwas verdienen. Außerdem hätte seine Frau es im Winter besonders nötig. Die Grossmutter hatte noch immer nichts gesagt. Jetzt, als der Vetter drängte und gleich das Jawort haben wollte, sagte sie, er müsse ihr ein wenig Zeit lassen.

Vor dem Herbst wollte sie sich noch nicht entscheiden. Sie sehe den Vorteil des Kindes wohl ein, aber sie müsse sich das alles erst noch überlegen und dann auch mit dem Kinde reden. Der Vetter war nicht recht zufrieden, er hätte gern gleich alles festgemacht und den Tag bestimmt, wann das Trini herunterkommen sollte. Er meinte, mit dem Kind sei doch nichts zu reden, das besitze noch keine Vernunft und kenne seinen eigenen Vorteil nicht. Aber die Grossmutter blieb standhaft. Im Herbst möge er noch einmal kommen, dann solle er bestimmt eine Antwort haben. Wenn sie dann einverstanden sei, so könne er dann das Kind gleich selbst mitnehmen, für den Augenblick könne sie nichts weiter sagen. Dabei blieb sie. Der Vetter sah, daß da nichts zu machen war. Er ermahnte nochmals die alte Kusine, des Kindes Vorteil nicht außer acht zu lassen. Es sei ja doch auch ihr eigener Vorteil, wenn das Kind etwas einnehme und sie nachher auch unterstützen könne. Dann ging er.

Schon den ganzen Tag während der Arbeit dachte die Grossmutter nach über die Worte des Vetters, aber sie konnte keinen Entschluß fassen. Jetzt in der Dämmerung überlegte sie in Ruhe, und sie mußte ein paarmal tief aufseufzen dabei. Der Vetter hatte recht, es war ein großer Vorteil für das Kind, daß es in seinem Haus wohnen konnte, um von da aus in der Fabrik einen sicheren Verdienst zu finden. Sie selbst wußte keinen vorteilhafteren Weg für das Kind, sie wußte eigentlich gar keinen. Rings herum waren nur kleine Güter, die die Leute alle selbst bebauten und die an der Hilfe ihrer eigenen Kinder genug hatten. Wer eine Magd anstellte, wie es unten im Pfarrhaus oder im Amtshaus oder in dem neuen Wirtshaus die Frauen taten, da mußten es ältere Mädchen sein. Es waren kräftige, erwachsene Personen, die in Küche und Garten zu arbeiten wußten.