Johanna Spyri


Wo Gritlis Kinder hingekommen sind

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-944869-55-1


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Kapitel 1 - Ein Landhaus am Rhein



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Die Junisonne leuchtete auf das schöne steinerne Haus nieder, an dem die eben aufgeblühten roten Rosen sich in Fülle emporrankten und ringsum einen süßen, würzigen Duft verbreiteten, dem von Zeit zu Zeit der frische Morgenwind noch andere würzige Düfte beimischte, die er von dem reich besetzten Blumengarten am Hause emportrug und durch die offenen Fenster ins Haus hineinwehte. Mitten im großen Blumengarten lag ein weites Wasserbecken, von dem ein hoher Strahl zum blauen Himmel aufstieg und wieder in den schimmernden Teich zurückfiel. Buntfarbige Schmetterlinge flogen in Menge in der blauen Luft herum und setzten sich da und dort auf die duftenden Blumen, und auf allen Zweigen der dicht belaubten Bäume, die ringsumher im Garten ihren Schatten über alte steinerne Bildsäulen mit Wasserschalen auf den Armen oder über verborgene Ruheplätzchen breiteten, sangen und zwitscherten die Vögel und wiegten sich lustig hin und her in der luftigen Höhe.

An einem der hohen Fenster des Hauses saß ein bleiches Mädchen und schaute hinaus in den leuchtenden Morgen, aber es konnte all das Blühen und Duften des herrlichen Gartens nicht eintrinken, denn das Fenster war geschlossen. Mit verlangenden Blicken schaute das Kind durch die großen Scheiben hinaus auf die leuchtenden Blumen und weiterhin auf die schimmernden Wellen des dahinziehenden Rheines, der am Ende des Gartens, wo die Terrasse niederstieg, in seinen grünen Wellen die tief herunterhängenden Zweige der alten Lindenbäume badete und dann vorüberrauschte. Man konnte vom Fenster aus die reich belaubten hohen Bäume unten am Wasser noch erblicken, aber man konnte nicht mehr sehen, wie dort im kühlen Schatten eine steinerne Bank stand, von der man gerade in die grünen Wellen hinuntersah, und über welche sich als schützendes Laubdach die dichten, alten Äste breiteten, die nachher bis hineinhingen in das schimmernde Wasser und wohlig eine Weile mit den Wellen dahinschwammen. Es war ein wonniges Plätzchen und lieblich in sonnigen Nachmittagen dort zu sitzen und träumend den vorübereilenden Wellen zuzuschauen. Das bleiche Mädchen mußte es wohl kennen, denn seine Augen blieben auf jener Stelle haften und nahmen einen immer verlangenderen Ausdruck an.

"O, Mama", sagte es jetzt mit bittender Stimme, "kann ich bald in den Garten hinuntergehen? Kann ich heute bis zur Bank am Rhein und unter die Lindenbäume gehen?"

Schon seit einer Stunde, da die Mutter ihr krankes Kind in das Zimmer hereingeführt und zu seinem Lieblingsplatz am Fenster gebracht hatte, waren ihre ängstlichen Blicke kaum von dem farblosen Gesichtchen gewichen, aus dem die zwei großen Augen so verlangend in den sonnigen Garten hinausblickten.

"Liebes Kind", sagte sie jetzt mit angstvoller Zärtlichkeit, "du weißt, du wirst am Morgen so müde; wir wollen warten bis Nachmittag, dann können wir vielleicht bis zum Rhein hinuntergehen. Nicht wahr, mein Kind, so ist dir’s auch recht?"

"Ach ja", seufzte das Mädchen und schaute wieder schweigend auf die sonnenbeschienenen Blumen und die leise wiegenden Baumwipfel hinaus.

"O, es ist so schön draußen, können wir nicht jetzt schon gehen, Mama?" bat das Kind nach einer Weile wieder, und so verlangend folgten seine Augen den fortziehenden schimmernden Wellen drüben, daß die Mutter nicht widerstehen konnte. Sie stand auf. In dem Augenblick trat eine ältere Frau ins Zimmer, die so pünktlich und geordnet aussah, daß man hätte denken können, sie habe weiter nichts zu tun, als die schönen grauen Haare mit dem schneeweißen Häubchen darauf und den einfachen, tadellosen Anzug in Ordnung zu bringen; sie hatte aber das ganze Haus mit allen verschiedenen Gliedern der Dienerschaft zu lenken und zu regieren. Kaum war sie eingetreten, als Mutter und Tochter ihr zugleich entgegenriefen: "O, Klarissa, es ist gut, daß du kommst!" Und beide brachten nun ihre Angelegenheit vor, die Mutter ängstlich fragend, ob sie meine, ein Gang durch den Garten dürfte schon gewagt werden, das Töchterchen dringend bittend, sie möchte doch ja sagen dazu. Die alte Klarissa war eine Persönlichkeit, bei der jeder im ganzen Hause, von der Herrin bis hinunter zum jungen Laufburschen, Rat und Hilfe suchte in jeglicher Not und Verlegenheit. Wer auch nur einmal in die freundlichen, guten Augen der alten Klarissa schaute, der mußte gleich ein Vertrauen zu ihr fassen, denn jedes Menschenkind schaute sie liebevoll, wie mit den Augen einer Mutter an. "Klarissa, sag, daß wir hinausgehen können", bat das kranke Kind noch einmal inständig.

"Liebe Frau Stanhope, wollen wir es nicht versuchen?" sagte nun Klarissa, zu der Mutter gewandt. "Die Luft ist lieblich und alle Vögel singen, als wollten sie uns hinausrufen."

"Nun, wenn du denn meinst, Klarissa, so wollen wir es tun", stimmte die Mutter bei, und nun wurde der Friedrich herbeigeholt, der langjährige Bediente; der hatte das kranke Töchterchen die Treppe hinunterzutragen, damit es nicht schon ganz ermüdet im Garten ankomme, denn seine Kräfte waren so bald erschöpft. Unten angekommen, nahmen die beiden Frauen das Kind in ihre Mitte und führten es durch den sonnigen Garten. Auf allen Zweigen zwitscherten lustige Vögelein, die Rosen dufteten und ganze Scharen von bunten Schmetterlingen flatterten fröhlich in der lauen Luft umher.

"Nora, fühlst du dich wohl hier?" fragte die besorgte Mutter.

"O ja, es ist so schön", entgegnete das Kind, "aber ich möchte so gern zu der steinernen Bank hinunter und in die Wellen schauen, wo die Zweige hineintauchen."

Der Weg wurde fortgesetzt, die grünen Rasenterrassen hinab bis unter die alten Lindenbäume, wo die steinerne Bank stand, fast verborgen von den tief herunterhängenden Ästen, deren blätterreiche Enden leise auf dem schimmernden Wasser sich wiegten. Die Lindenbäume standen in der Blüte und erfüllten ringsum die Luft mit süßem Duft. Nora saß nun auf der Bank und schaute still den Zweigen im Wasser und den forteilenden Wellen zu.

"O, wenn ich auch so fortziehen könnte, Mama; aber ich bin immer müde. Ich möchte auch so flink umherhüpfen und so fröhlich singen, wie die Vögel da oben in den Linden! O, es ist so schön da, aber ich bin immer müde."

"Liebes Kind, du wirst ja kräftiger werden", tröstete die Mutter; aber sie sah so aus dabei, als habe sie selbst am nötigsten, daß ihr der Trost werde, den sie zu geben versuchte. "Heute kommt auch der Arzt, und wir fragen ihn, was wir den Sommer zu deiner Stärkung tun sollen. Jetzt müssen wir wohl wieder ins Haus zurückkehren; du bist so bleich geworden, Nora, was ist dir?"

Nora versicherte, daß sie nur müde sei. Es war auch immer so: nach jeder größeren Anstrengung kam auf ihr bleiches Gesichtchen eine noch größere Blässe. Sie erreichte auch nur mit Mühe das Haus wieder, und nachdem sie von Friedrich die Treppen hinaufgetragen worden war, wurde sie auf das Sofa gelegt, wo sie eine Zeitlang ganz still und ohne Regung lag, um von der Anstrengung auszuruhen.

Gegen Mittag kam der erwartete Arzt. Auf der Mutter eingehenden Bericht über die überhandnehmende Kraftlosigkeit ihres Töchterchens erklärte er, es müsse eine Luftveränderung stattfinden, und zwar die Versetzung in eine stärkende Bergluft für den ganzen Sommer. Nach einigem Nachsinnen fügte der Doktor bei, er werde sich gleich schriftlich an einen Studienfreund wenden, der in der Schweiz lebe, und ihn um Rat fragen, denn zu hoch hinauf dürfe die junge Kranke auch nicht gebracht werden. Sobald er Antwort von seinem Freunde erhalten hätte, würde er wiederkommen, um Frau Stanhope davon Mitteilung zu machen. Damit verabschiedete sich der Arzt.

Gegen Abend saß Nora wieder in ihrem Lehnstuhl am Fenster und schaute still mit müden Blicken hinaus, wo die Abendsonne goldene Streifen über den grünen Rasen warf und die Rosenblätter durchleuchtete, die hier und da von den Strahlen getroffen wurden. Die alte Klarissa saß am Arbeitstischchen der Nora vorüber, und ihre treuen Augen erhoben sich von Zeit zu Zeit von der Arbeit und folgten den Blicken des kranken Kindes.

"Klarissa", sagte Nora jetzt, "sag mir einmal wieder das alte Lied vom Paradies."

Klarissa legte ihre Arbeit weg. "Einmal wollen wir es wieder zusammen singen, Kind, wenn du etwas kräftiger bist; jetzt will ich dir’s sagen", und sie legte ihre Hände ineinander und begann:

"Es fließt ein Strom kristallenklar
Durch immer grüne Auen,
Da glänzt der Lilien weiße Schar
Im Duft, dem himmelblauen.

Und Rosen duften, Rosen glühn
Auf sonnengoldner Wiese,
Und Vögel jauchzen laut im Grün:
Wir sind im Paradiese!

Und immer milde Lüfte wehn
Auf all den Blumenwegen,
Und Menschen wie im Traume gehn
Und kommen sich entgegen.

Und grüßen sich allüberall
In Staunen und in Wonne.
Sie kommen aus dem dunkeln Tal
Ins Land der ew’gen Sonne.

Und ziehen selig hin und her
Und wissen nichts von Leide,
Die kennen keine Tränen mehr,
Die kennen lauter Freude."

Als Klarissa geendet hatte, war eine Zeitlang alles still; Nora schien in Gedanken vertieft zu sein.

"Klarissa", sagte sie nach einer Weile, "das ist so schön, und macht mir so große Lust, zu gehen."

"Geh nur gern, du liebes Kind, ja geh nur gern", sagte Klarissa mit Tränen der Freude in den Augen, "dann wandelst auch du fröhlich unter den leuchtenden Blumen hin und singst:

'Wir kennen keine Tränen mehr,
Wir kennen lauter Freude.'

Und wir kommen dir bald nach, erst ich, und dann die Mama."

In diesem Augenblick trat die Mutter herein. Klarissa stockte, sie wußte ja wohl, Frau Stanhope konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Nora sie verlassen und in den Himmel gehen könnte. Aber die Mutter hatte die letzten Worte der Klarissa wohl verstanden und schaute mit erneuter Sorge auf ihr Kind, das sie auch so blaß und müde aussehend fand, daß sie gleich darauf drang, es sollte zur Ruhe gebracht werden, was dann auch ausgeführt wurde.

Als am späten Abend die Mutter mit der alten Freundin allein noch im Zimmer saß, begann sie ängstlich zu fragen, was denn Klarissa dazu gebracht habe, mit Nora solche Gespräche zu führen; das Kind sei doch nicht so krank, daß man an das Allertraurigste denken müßte, und warum denn davon reden.

"Nora wollte gern mein altes Lied hören", entgegnete Klarissa, "und, liebe Frau Stanhope, lassen Sie mich nur eins sagen: Wenn unser liebes Kind so einsam und kraftlos fortleben sollte, was hätte es doch an diesem Leben? Nicht das geringste von allen reichen Gütern, die es umgeben, wird ihm zur Freude, ja nicht einmal einen kurzen Gang durch den schönen Garten kann es genießen, alles wird ihm vergällt und verwandelt sich dem armen Kinde in Schmerz und Leid. Sollten wir ihm nicht die Heimkehr gönnen in ein schönes Land, wo kein Leid und keine Schmerzen mehr sind?"

"Ich kann es nicht hören, Klarissa, ich kann es nicht ertragen, daran zu denken, es kann nicht sein. Kann denn nicht alles noch ganz anders werden und unsere Nora neue Kräfte bekommen?" jammerte die Mutter, und so schmerzlich wurde sie von diesen Gedanken aufgeregt, daß sie nicht weitersprechen konnte. Sie zog sich zurück, und mit schwerem Herzen ging auch die treue Klarissa nach ihrem Gemache. Bald stand das schöne steinerne Haus in dem herrlichen Garten still und lichtlos da; aber von oben leuchtete der Mond darüber, und wer so die hohen, weißen Säulen durch die dunkeln Bäume schimmern sah, der dachte: "Dort drinnen muß es herrlich sein"; denn den Kummer, der drinnen wohnte, konnte keiner sehen.

Frau Stanhope bewohnte ihr väterliches Haus am Rhein. Sie hatte sich sehr jung nach England verheiratet und dort nach wenigen Jahren ihren Mann verloren. So war sie mit ihren zwei kleinen Kindern, dem lieblichen, braunäugigen Philo und der zarten, blondlockigen Nora, in ihr väterliches Haus zurückgekehrt, das einsam und verlassen dastand, denn ihre Eltern waren unterdessen beide gestorben, und Geschwister hatte sie keine. Überallhin hatte die treue Klarissa, die Pflegerin ihrer Kindheit, sie begleitet, und wie eine Mutter hatte sie ihr im fremden Land über alles Neue und Ungewohnte hinweggeholfen und stand ihr nun wieder im vereinsamten Vaterhaus als sorgende Mutter und Pflegerin ihrer Kinder zur Seite. Mehrere Jahre waren so für die friedliche Familie in dem schönen Landhause in Freuden und Sorgen dahingegangen, denn die zarten Kinder ließen keine ungestörte Fröhlichkeit aufkommen. Nun waren es bald zwei Jahre, als auf das Haus ein tiefer Schatten gefallen war: der liebliche Philo hatte seine fröhlichen braunen Augen für immer geschlossen und lag nun unter den weißen Rosen begraben unten im Garten bei den alten Lindenbäumen. Philo, der Bruder, war der Ältere gewesen, doch nur um ein Jahr der Nora voran, die jetzt in ihrem elften Jahre stand. –

Etwas mehr als eine Woche mochte seit dem sonnigen Tage vergangen sein, als der Arzt wieder erschien. Er hatte die gewünschte Auskunft gefunden. Sein Freund selbst bewohnte eine waldumkränzte, gesunde Berggegend. Er wollte den geeigneten Ort ausfindig machen, wo Frau Stanhope mit ihrem Töchterchen in seiner Nähe den Sommer zubringen konnte. Er war sicher, das Gewünschte zu finden; Frau Stanhope konnte nach Belieben ihre Reise antreten und bei ihm erscheinen, es mußte alles zu ihrem Empfang sich vorbereitet finden.

Gleich in den folgenden Tagen wurden alle Vorbereitungen zur Reise getroffen. Klarissa sollte dableiben und das Haus verwalten; nur das junge Zimmermädchen sollte mit auf die Reise genommen werden, und schon acht Tage nachher saß Frau Stanhope mit ihrem Töchterchen im Wagen, um die Reise nach der Schweiz anzutreten, begleitet von den tausend Glück- und Segenswünschen, welche die sorgliche Klarissa immer und immer noch einmal in den Wagen hineinbot. Jetzt rollte dieser die weiße Straße entlang und Klarissa trocknete sich die Tränen weg, die sie im letzten Augenblick nicht mehr zurückzuhalten vermocht hatte. Mit gefalteten Händen trat sie in das stille Haus zurück, und leise sagte sie vor sich hin:

"Die kennen keine Tränen mehr,
Die kennen lauter Freude."


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Kapitel 3 - Im Dorf und in der Schule von Buchberg



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Das Dorf Buchberg bestand aus vielen zerstreuten Bauernhöfen und größeren und kleineren Gruppen von Häusern und Häuschen, die da und dort hinter den reichbelaubten Fruchtbäumen hervorguckten. In der Nähe der Kirche standen nur einige Häuser: das Schulhaus, die Küsterwohnung, das feste alte Haus des Gemeindepräsidenten und einige kleinere Bauernhäuser. Für sich allein in einiger Entfernung, der waldigen Anhöhe zu, stand das Haus des Arztes. Die größten Gebäude von Buchberg aber standen unten an der großen Landstraße, die ungeheure Fabrik und daneben das geräumige Haus des Fabrikbesitzers, der beide Gebäude selbst hatte errichten lassen. Zwischen der Landstraße und dem Wohnhause lag ein sehr sonnereicher Garten; da war kein Baum noch Busch hineingepflanzt, denn so hätte man ja das schöne Haus von der Straße aus nicht recht sehen können. Der Besitzer dieses schönen Hauses und der Fabrik war der ausnehmend reiche Herr Bickel, der mit seiner Frau und dem einzigen Sohne die unteren Räume des Wohnhauses bewohnte, indes die oberen – sechs große, prächtige Zimmer – immer fest abgeschlossen waren mit grünen, glänzenden Jalousieladen. Da kam auch nie ein Mensch hinein, als nur Frau Bickel, wenn sie hinging, den Staub von den schönen Möbeln wegzunehmen und diese bei dem Anlaß mit stiller Feierlichkeit zu bewundern. In solchen Augenblicken durfte auch das Söhnchen etwa eintreten, nachdem es seine Schuhe vor der Tür hatte ausziehen müssen, und so stand es dann in dem Halbdunkel mit einer Art andächtigen Schauers und starrte die unentweihten Sessel und Kommoden an. Herr Bickel war ein sehr angesehener Mann in der Gemeinde, denn in seiner Fabrik fanden viele große und kleine Leute Arbeit, welche Herr Bickel hinwiederum sehr wohl zu gebrauchen wußte. Er war auch so eifrig in seinem Geschäft, daß er jeden Menschen darauf ansah, ob er in seiner Fabrik zu gebrauchen wäre oder nicht, und ihn je nach dieser Eigenschaft oder dem Mangel derselben schätzte. Auch wenn in Buchberg ein Kind auf die Welt kam, berechnete er gleich, in welchem Jahr es unter die Zahl seiner Arbeiter könnte aufgenommen werden. Fast alle Kinder in Buchberg wußten auch, daß sie einmal unter die Herrschaft des Herrn Bickel kommen würden, und wichen immer scheu und respektvoll zur Seite, wenn er daherkam mit dem dicken Stock, auf dem ein großer, goldener Knopf saß, und mit der massiven, weithin glänzenden, goldenen Uhrkette, an der ein ungeheures Petschaft majestätisch hin und her baumelte.

Aus dem schönen Hause trat jeden Morgen der Sohn des Herrn Bickel, der junge Feklitus, und wanderte die Straße hinauf, der Schule zu. Auf seinem Rücken trug er den Ledertornister mit dem wundervollen Deckel, auf dem, mitten unter schönen Rosengirlanden, groß und hervortretend die Buchstaben F. B. zu sehen waren. Diesen Deckel hatte Frau Bickel dem Sohn auf Weihnachten brodieren lassen. Zu seinem etwas ungewohnten Namen Feklitus war er folgendermaßen gekommen. Sein Großvater war ein Schneider gewesen, und da dieser klein von Statur war und auch von ferne nie in einer Stellung sich befand, wie einst sein Sohn sie einnehmen sollte, sondern ein blutarmes Schneiderchen war, das sich kaum durchbringen konnte, so hieß er allgemein: der Schneiderli. Als er nun seinem Sohn in der Taufe den Namen Felix gab, wurde dieser gleich nach der Sitte der Gegend zu einem Fekli und hieß nun fortan zur näheren Bezeichnung: der Schneider-Fekli. Diesem aber, der früh ein Vorgefühl seiner einstigen Bedeutung hatte, war dieser Name anstößig und wurde ihm immer mehr zuwider, je höher er in Reichtum und Ansehen stieg. Aber die Buchberger waren nicht davon abzubringen: wenn sie einmal an einen Namen gewohnt waren, so blieben sie unveränderlich dabei und trugen ihn von einem Geschlecht aufs andere über. So noch zur Stunde; obschon jeder, der mit Herrn Bickel zusammentraf, wohl sagte: "Guten Tag, Herr Bickel!" – so nannte ihn doch kein einziger, wenn er von ihm redete, anders als: der Schneiderli-Fekli. Davon hatte Herr Bickel eine Ahnung, und die Sache war ihm sehr empfindlich. Als er nun schon ein großer Herr war und mit der Frau Bickel in dem neuen, schönen Hause wohnte und ihm dann ein Söhnlein geschenkt wurde, da konnte er sich sehr lange nicht entschließen, es taufen zu lassen, denn er suchte und suchte und fand immer den Namen nicht, der zu gleicher Zeit die Stellung und alle Aussichten dieses Sohnes andeuten und auch das Übertragen des verhaßten Namens unmöglich machen würde. Nun hatte Herr Bickel um diese Zeit als Schulvorsteher dem Examen in Buchberg beizuwohnen. Da traf es sich, daß der Lehrer den Kindern eben die Bedeutung des Namens Fortunatus auseinandersetzte. Freudestrahlend kam Herr Bickel nach Hause. "Der Name ist gefunden, jetzt wird getauft", rief er seiner Frau entgegen; und so geschah es. Das Söhnchen wurde von Vater und Mutter Fortunatus genannt und jedesmal mit besonderem Genuß, denn der Name entsprach vollkommen seiner Stellung im Leben, und Herr Bickel war überzeugt, er habe damit den alten, ihm anstößigen Namen ausgerottet. Sobald aber sein Söhnchen in die Schule eintrat, fand es sich, daß der Name Fortunatus den Kindern zu lang war; sofort wurde er in "Tus" abgekürzt, und gleich darauf zur näheren Bezeichnung wurde der "Schneiderli-Fekli-Tus" daraus, welcher lange Name dann mit der Zeit in "Fekli-Tus" überging, wobei man blieb, und schließlich glaubte jedermann in Buchberg, der Name heiße wirklich Feklitus, und fand es natürlich, um der Abstammung willen.