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1.

Kapitel

»Wann sind wir denn endlich da?«

Ich klappte zum zehnten Mal an diesem Morgen die Sonnenblende unseres alten Ford Fiesta herunter und guckte in den Rückspiegel. Hinter mir auf der Rückbank schmollte unsere sechzehnjährige Tochter Ricarda. Das kurz geschnittene blonde Haar stand nach allen Seiten ab, und ihre Augen verbarg sie hinter einer schwarzen Sonnenbrille. Ricarda trägt meistens eine Sonnenbrille, damit sie, wie sie sagt, das Elend der Welt »nicht so krass mitkriegt«.

»Mami, ich hab gefragt, wann wir endlich da sind.«

»Wir sind da, wenn wir da sind, Ricarda. Wie oft soll ich das noch sagen?«

»Mann, das dauert ewig. Können wir mal anhalten? Mir ist schlecht.« Sie wandte den Blick ab und sah aus dem Seitenfenster. Es regnete.

»Regnet es auf der Insel auch?«

»Ricarda, ich bin kein Meteorologe, aber im Oktober regnet es eigentlich überall.«

»Warum können wir dann nicht in den Süden fliegen, wie alle anderen auch?«

Sie rutschte noch ein paar Zentimeter tiefer und verschwand aus meinem Blickfeld.

»Ricarda, die Diskussion hatten wir schon! Du weißt genau, warum wir nach Norderney fahren.«

Ricarda ist ziemlich groß und dünn. Und das macht ihr zu schaffen, obwohl sie eigentlich, mal abgesehen von ihrer Garderobe, ganz bezaubernd aussieht. Sie findet sich hässlich und sagt das jedem, der es hören will oder auch nicht. Überhaupt findet sie alles hässlich. Und nervtötend. Und überflüssig. Das sieht man übrigens auch an ihrer Kleidung. Ihre T-Shirts bestehen eher aus Löchern als aus Stoff, und an den Füßen trägt sie grundsätzlich Doc Martens. Sie behauptet von sich, dass sie sowieso kein Mädchen sein will und dass es ihr egal ist, dass sie nicht wie ein Mädchen aussieht. Ich hoffe, diese Phase geht bald vorbei. Vielleicht sollte sie es mal mit einer gewissen Liebenswürdigkeit versuchen. Also mit weiblichem Charme. Aber davon hält sie nichts. Sie ist und bleibt eine kleine Kratzbürste.

Na ja, von wem in dieser Familie sollte sie sich den Liebreiz auch abgucken? Wir sind da nicht gerade die idealen Vorbilder!

Ich hob den Kopf ein bisschen, um einen Blick auf Rolfi zu erhaschen. Er hockte neben ihr auf der Rückbank und spielte Nintendo. Das macht er eigentlich ununterbrochen. Er redet wenig. Eigentlich nur noch in Ausnahmefällen. Sicher liegt das an der Pubertät. Weshalb ich die Hoffnung habe, dass es irgendwann aufhört, denn langsam liegen meine Nerven blank.

Rolfi ist Ricardas jüngerer Bruder. Vierzehn Jahre alt und, wie ich finde, ziemlich hübsch. Er hat braunes, dichtes Haar, das einmal im Monat geschnitten werden muss, damit es die Form behält. Aber er muss eine Zahnspange tragen, unter der er leidet.

Jedes Mal, wenn ich die beiden im Rückspiegel betrachtete, fehlte etwas. Und jedes Mal, wenn mir das auffiel, spürte ich einen kleinen Stich im Herzen.

Denn Matz fehlte. Unser Neunjähriger. Er hatte es vorgezogen, die Woche mit Opa Edgar bei dessen Schwester zu verbringen. Tante Annegret hat eine kleine Dackelzucht, und Matz war nicht mehr zu halten gewesen, als er erfahren hatte, dass es dort Nachwuchs geben würde. Der Abschied fiel mir ziemlich schwer, wir waren noch nie lange getrennt.

Auch wenn ich es Ricarda nicht sagen würde, auch ich habe keine Lust zu verreisen. Noch nie gehabt. Und ich kann mir Schöneres vorstellen, als meine Ferien mit meiner Schwiegermutter zu verbringen.

Ich bin grundsätzlich am liebsten zu Hause, da weiß ich, was ich habe. Aber Gerald hat darauf bestanden, mit mir wegzufahren, weil er findet, dass wir uns in letzter Zeit, also in den letzten siebenundzwanzig Jahren, zusehends auseinandergelebt hätten.

Ich habe dann klein beigegeben. Ich will ja nicht allein daran schuld sein, dass es mit unserer Ehe endgültig den Bach runtergeht.

Susanne hat die Reise nach Norderney bei einer Zeitschrift gewonnen. Also, besser gesagt, bei einem Kreuzworträtsel. Und ursprünglich wollte sie auch allein verreisen.

Sie war völlig aus dem Häuschen, als sie mich anrief und mir davon erzählte. Aber das hielt nicht lange an. Beim nächsten Anruf war ihre Freude schon gedämpfter, weil sie mir mitteilte, dass sie die Reise nur bekommen würde, wenn wir sie begleiteten. Das hatte sie sich auch anders vorgestellt.

Der Sponsor ist nämlich ein Marmeladenhersteller aus Westfalen. Und die Bedingung dafür, dass Susanne die Reise antreten durfte, war, dass sie ihre Familie mitbringen würde. Weil die Marmeladenfirma mit einer glücklichen Familie werben möchte.

Ich habe zu Gerald gesagt:

»Das ist doch komisch. Warum laden sie eine ganze Familie dazu ein, diese Reise zu machen? Das wird doch teurer. Reicht doch, wenn sie Susanne einladen.«

»Die brauchen uns, um ihr Image aufzupolieren«, hat Gerald nur geantwortet.

»Mit unserer Familie?«

Mir fehlte der Glaube daran. Und ganz schön riskant, einfach so eine Familie einzuladen! Freiwillig hätte Geralds Mutter uns jedenfalls nie und nimmer mitgenommen. Wir hatten uns ja erst zu Weihnachten gesehen. Da wollte Susanne bei uns feiern, und diese Begegnung ist völlig aus dem Ruder gelaufen, wie man so sagt. Sie ist dann ziemlich schnell wieder abgereist. Und meine Mutter auch. Genau wie mein Bruder mit seiner Frau. Aber das ist eine andere Geschichte.

Gerald fand die Idee mit der Reise großartig. Egal, ob mit oder ohne Anhang.

Er meinte, so eine Chance auf unbezahlte Ferien werde es nie wieder geben. Das sei sozusagen ein Wink des Himmels. Deshalb bleibe uns gar nichts anderes übrig, als die Reise anzutreten.

Und Ricarda und Rolfi kamen natürlich mit. Ohne die beiden können wir nicht verreisen, die kann man zurzeit unmöglich aus den Augen lassen. Die machen nur das, was sie nicht machen sollen. Und sonst gar nichts.

Ich schaute aus dem Fenster. Oktoberwetter. Es regnete in Strömen, und obwohl es mitten am Tag war, hatte ich das Gefühl, dass es bereits dämmerte.

Die Landschaft zog grau und trostlos an mir vorüber. Die Bäume hatten sich verfärbt, und das erste Laub bildete matschige Klumpen am Straßenrand. Die Natur zeigte sich von ihrer schlechtesten Seite, alles wirkte düster und feindselig.

Ich sah meine Seele vor mir, die zielstrebig auf einen großen Felsvorsprung zulief, um sich dann, eben noch frohgemut und zuversichtlich, in die abgrundtiefe Schlucht der Depression zu stürzen.

Ich zuckte zusammen.

Nein, das würde ich nicht zulassen! Heute nicht und die kommenden Tage auch nicht. Ich hatte nämlich einen Plan für diese Ferien.

Ich versuchte, mich in meinem Sitz aufzurichten, und stieß mit dem Kopf an den Himmel, weil ich auf Ricardas Tasche saß.

»Super Idee von Oma Susanne, uns in den Herbstferien auf eine Nordseeinsel einzuladen.« Ricardas Stimme klang gepresst. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie Streit suchte. Ich sah zu Gerald hinüber, der aber nicht reagierte, sondern stattdessen die Scheibenwischer auf Höchststufe schaltete. Sie quietschten erbärmlich.

»Und warum ausgerechnet jetzt? Wir hätten doch auch nächsten Frühling fahren können.«

»Im Frühling ist das Wetter da auch nicht besser, Ricarda.«

Ich versuchte, gelassen und entspannt zu klingen. Wenn Kinder streiten wollen, muss man als Mutter ruhig bleiben. Sich bloß nicht auf das Niveau ihrer Konversation hinabziehen lassen, sonst endet es in einer Katastrophe.

»Warum dann nicht in den Sommerferien?«

Ich atmete tief durch und machte einen neuen Anlauf.

»Ricardaschatz, bis zu den nächsten Sommerferien ist es noch fast ein Jahr hin, und du hast selbst gesagt, dass du gern mal wieder verreisen würdest, weil wir seit zwei Jahren nicht verreist sind.«

»Ob verregnete Ferien mit Oma Susanne so wahnsinnig erholsam werden? Da bleib ich lieber zu Hause!«

»Du hast gesagt, du hättest Lust, mit uns und Oma Susanne nach Norderney zu fahren, also fährst du jetzt mit uns nach Norderney.«

»Aber doch nicht im Oktober.«

Mein Adrenalinspiegel stieg an. Tief durchatmen, sagte ich mir. Nicht aus der Ruhe bringen lassen.

»Ricarda, du hast doch mit Oma Susanne telefoniert. Da hast du gesagt, dass du prinzipiell Lust auf diese Reise hättest.«

»Aber nicht im Regen.«

Ich schloss die Augen.

»Außerdem hat sie mit mir telefoniert und nicht ich mit ihr. Ich konnte mich gar nicht wehren.«

Einfach ignorieren. Aber Ricarda war jetzt richtig in Fahrt:

»Das sind andere Voraussetzungen, wenn ich aus Versehen den Hörer abnehme und von ihr totgequatscht werde.«

Auf meiner Oberlippe bildete sich ein leichter Schweißfilm.

Dann ertönte Rolfis Stimme von hinten:

»Und warum fahren wir jetzt ausgerechnet nach Norderney?«

»Weil Oma Susanne uns eingeladen hat. Herrgott noch mal!« Geralds Stimme rutschte etwas höher.

»Aber warum im Oktober?«, maulte Ricarda. »Wenn ich schon ans Meer fahre, will ich auch braun werden. Im Oktober wird man nicht braun.«

»So, Ricarda, jetzt ist mal Schluss mit dem Gejammer. Ich drehe gleich um und fahre nach Hause zurück.«

Gerald verlor die Nerven und trat aufs Gaspedal. Dann rüttelte er an seinem Schalthebel herum.

»Irgendwas klemmt hier, verdammter Mist!«

Ich stupste ihn an und flüsterte: »Einfach ignorieren!«

»Ich hab eh keinen Bock!« Ricarda war jetzt in Bestform.

»So«, sagte Gerald. »Ich sage es jetzt ein letztes Mal für alle. Und dann will ich nie mehr gefragt werden, warum wir im Oktober auf diese verdammte Insel fahren: Wir fahren jetzt nach Norderney, weil es diese Reise nur zum Herbst zu gewinnen gab. Das war die Abmachung mit dem Marmeladenhersteller. Im Sommer haben die auf Norderney genügend freiwillige Gäste … War die Ausfahrt jetzt schon?«

»Welche Ausfahrt, Gerald?«

Ich nahm mir vor, ihm beizustehen.

»Na, die Ausfahrt nach …«

»Keine Ahnung.«

Er tastete neben seinem Sitz herum und durchsuchte dann seine Hosentasche, während er versuchte, das Auto bei gleichbleibender Geschwindigkeit in der Spur zu halten.

»Was machst du da, Gerald?«

»Wo ist der Zettel?«

»Welcher Zettel?«

»Auf dem ich die Route ausgedruckt habe.«

»Keine Ahnung.«

»Rolfi, wo ist der Zettel, den ich dir heute Morgen gegeben habe?«

»Welcher Zettel?«, kam es von der Rückbank.

»Der Zettel mit der Route.«

»Der ist zu Hause.«

Gerald bremste so scharf, dass das hinter uns fahrende Auto eine Vollbremsung hinlegen musste, um uns nicht plattzumachen.

»Gerald, spinnst du?«

»Wieso ist der Zettel zu Hause?«

»Mann, wusste ich doch nicht, dass ich den mitnehmen sollte. Ich dachte, du kannst den Weg auswendig!«

»Ich gebe dir doch keinen Zettel, den du mitnehmen sollst, damit du ihn dann liegen lässt! Ich hab ewig dafür gebraucht, diese Scheißroute auszudrucken!«

»Boah, super Stimmung, ich fühl mich schon richtig erholt!«, jodelte Ricarda und reckte sich demonstrativ.

»Ricarda, du verdeckst den Rückspiegel!«, sagte Gerald. »Dann muss ich jetzt rausfahren, ich hab noch irgendwo eine Straßenkarte. Zum Verrücktwerden das alles. Wo ist die nächste Ausfahrt? Wenn ihr eine seht, sagt Bescheid.«

»Tankstelle!«, rief Rolfi. »Ich brauche Chips!«

»Ja, Cola!«, rief Ricarda. »Kaugummi!«

»Nichts da«, sagte ich. »Wir haben Schnittchen, die müssen wir erst mal aufessen.« Ich hatte die Haushaltskasse geplündert, um den Anhänger für die Hunde bezahlen zu können. Große Sprünge würden wir deshalb auf dieser Fahrt nicht machen können. Schon gar keine überflüssigen!

Kurze Zeit später hielten wir auf einem Parkplatz und durchsuchten das Auto nach einer Straßenkarte. Nichts! Dann packte ich unsere belegten Brote aus. Wir mussten im Wagen bleiben, weil es immer noch regnete.

Ich beobachtete Gerald, der verzweifelt an einem Kanten herumknabberte. Ich hatte den Kanten eigentlich für mich reserviert, aber Gerald hatte sich sozusagen geopfert. Er wollte mir eine Freude machen und hatte mir sein Schnittchen überlassen.

»Du musst den Kanten nicht essen, wenn er dir zu hart ist, Gerald.«

»Nein, nein, macht mir nichts aus. Hauptsache, du wirst satt! Mir macht nur Sorge, dass ich nicht weiß, wo wir sind.«

Er sah aus dem Fenster. Der Parkplatz lag grau und gottverlassen da.

»Ist auch keiner hier, den man mal fragen könnte.«

»Wir sind eindeutig aus der Übung, Gerald. Wir sollten öfter Urlaub machen. Das ist ein schlimmes Zeichen, wenn man nicht mal mehr nach Emden findet.«

»Wieso haben wir eigentlich kein Navi?«, fragte Rolfi.

»Alle haben Navi«, schob Ricarda nach. »Ihhh! Was ist denn da drauf? Stinkt total!« Sie hielt mir ihr Brot unter die Nase.

»Käse.«

»Ich mag keinen Käse, Mami, wie oft soll ich dir das noch sagen?«

»Du hast Rolfis Schnittchen, Rolfi wollte Käse.«

»Rolfi, gib mir mein Nutellabrot.«

»Ricarda, bitte nicht in dem Ton.« Meine Stimme wurde schon wieder schärfer. Ich musste noch einmal tief durchatmen.

»Mann, Scheiße, ich hab aber Hunger!«, maulte Ricarda.

»Du bist sowieso zu fett«, sagte Rolfi. »Ich muss mal pinkeln.«

Damit öffnete er die Tür und stieg hinaus in den strömenden Regen.

2.

Kapitel

Nachdem wir uns leidlich gestärkt hatten, setzten wir unseren Weg fort. Gerald hatte beschlossen, bei der nächsten Tankstelle zu halten und eine Straßenkarte zu kaufen.

»Das kostet uns jetzt noch mal zehn Minuten, so schaffen wir die Fähre nie.« Geralds Laune sank mit jedem gefahrenen Kilometer.

Ich sah ihn kurz an, schloss dann die Augen und versuchte, meine Zehen zu bewegen. Nichts rührte sich. Sie schliefen tief und fest. Was daran lag, dass Ricardas Koffer zwischen meinen gespreizten Beinen steckte und die gesamte Blutzufuhr lahmlegte. Wahrscheinlich würde ich die Insel sowieso nicht erreichen, weil mich vorher eine Thrombose niedergestreckt hatte. Und womöglich würden sie uns gar nicht auf die Fähre lassen. Unser Ford Fiesta sah aus wie ein Lastenkamel: Tüten und Taschen stapelten sich bis zur Decke, denn obwohl Gerald die glorreiche Idee gehabt hatte, unsere Koffer mit einer Wäscheleine aufs Dach zu binden, war es uns ziemlich schwergefallen, unser restliches Gepäck im Kofferraum unterzubringen. Auch weil Ricarda zum Beispiel darauf bestanden hatte, Turnschuhe, Jogginghosen, Hanteln, Taucherflossen und Schwimmbrille mitzunehmen, vier Badeanzüge und einen dicken Frotteebademantel. Außerdem hatte sie sich ihr Kopfkissen unter den Hintern gestopft, weil sie sich grundsätzlich weigert, auf fremden Kissen zu schlafen.

»Warum machst du das, Ricarda?«, hatte ich sie gefragt. »Das passt doch alles gar nicht in unser Auto!«

»Ich muss abnehmen. Und in fremden Betten krieg ich Herpes.«

Auch Rolfi wollte zwei Koffer mitnehmen, und Gerald fluchte, weil er nicht wusste, wie er die unterbringen sollte.

»Er macht sich eben gerne schick«, sagte ich gerührt.

Als ich einen seiner Koffer öffnete, befanden sich darin ungefähr zweihundert Nintendo-Spiele, Comics und Motorradzeitungen.

»Rolfi, warum nimmst du das ganze überflüssige Zeug mit? Wir fahren in die Ferien, da gibt es genug anderes zu tun.«

»Mami, hast du in meinen Sachen rumgeschnüffelt?«

»Nein.«

»Wieso weißt du dann, was ich mitnehme?«

»Ich weiß es nicht, ich denke es mir.«

»Wieso?«

»Du hast doch gar nicht genug Klamotten, um zwei Koffer zu füllen.«

»Kümmer dich doch bitte um Matz, wenn du deine Muttergefühle ausleben willst. Ich brauch das echt nicht mehr.«

Damit ließ er mich stehen.

Na ja. Er befindet sich eben mitten in der Pubertät. Das wird schon wieder. Das liegt nicht daran, dass er mich auf einmal nicht mehr mag. Das sage ich mir immer wieder.

Aber wehgetan hat es trotzdem.

Geralds Koffer packe ich immer ganz automatisch. Er hat keine Geheimnisse vor mir. Gerald ist zwar gut im Organisieren, aber Koffer packen kann er nicht. Ist ja auch eher Frauensache. Genau wie Schnittchen schmieren.

Ich versuchte, meine Beine anzuwinkeln und die Knie an meine Brust zu ziehen, blieb aber mit den Füßen auf halbem Weg zwischen Seitenwand und Koffer hängen und gab mich wieder meinen Gedanken hin.

Obwohl ich mich im Laufe der Jahre, wie ich finde, gut in mein Leben als Hausfrau und Mutter eingefunden habe, überkommt mich manchmal eine ganz grauenvolle Sehnsucht nach etwas anderem. Nach etwas Neuem.

Dann sage ich mir, das ist bestimmt das Alter. Das liest man ja immer, dass die Wechseljahre die psychische Stabilität der Frauen erschüttern. Denn eigentlich könnten sie ja glücklich sein. Also ich zumindest könnte oder müsste eigentlich glücklich sein. Wir haben drei gesunde Kinder, zwei gesunde Hunde, sind selber gesund, der Mann ist allem Anschein nach treu, hat einen sicheren Beruf, das Häuschen ist so gut wie abbezahlt, man muss sich morgens nicht mehr stundenlang zurechtmachen, weil es sowieso keinen mehr interessiert, und über Mode muss man sich keinen Kopf mehr machen, weil man in nichts mehr reinpasst. Man könnte sich einfach entspannen. Die Jagd ist vorbei.

Und trotzdem bin ich unzufrieden.

Deshalb habe ich in letzter Zeit viel über meine Unruhezustände nachgedacht. Und ich glaube, ich bin der Ursache für meinen schlimmen Gemütszustand um einen Schritt näher gekommen.

Es ist eigentlich ganz einfach: Mir fehlt die Anerkennung. Also ein bisschen Respekt für das, was ich täglich mache. Das ist zugegebenermaßen schwer, weil es in den Augen meiner Familie praktisch jeden Tag das Gleiche ist.

Denn Fakt ist doch, dass Ehefrauen und Mütter nur dann in Erscheinung treten, wenn irgendwas schiefläuft. Solange alles funktioniert, werden sie still geduldet. Aber wehe, sie vergessen mal was oder lassen das Essen anbrennen … wobei, diesbezüglich kann ich mich über mangelnde Aufmerksamkeit eigentlich nicht beklagen.

Jedenfalls hatte ich mir fest vorgenommen, in Zukunft mal an mich zu denken, wenn das schon sonst keiner machte.

Und die Lösung war ganz einfach:

Ich würde wieder arbeiten.

Jetzt werden Sie vermutlich denken, haha, guter Witz, mit schlappen fünfzig Jahren auf den Arbeitsmarkt zurückkehren. Klar. Als Putzfrau vielleicht.

Hab ich auch lange gedacht, aber man muss es einfach manchmal in die Hand nehmen und aktiv werden. Hab ich auch gemacht und auf eine Anzeige in einer von Geralds Tageszeitungen geantwortet, mich um einen Job beworben. Und – Sie werden es nicht glauben – ich wurde sofort genommen. Gleich nach dem ersten Telefonat! Erfreulicherweise wollten sie mich gar nicht erst sehen. Und das Zeugnis meines letzten Arbeitgebers auch nicht. Das wäre auch nicht so optimal gewesen, das ist jetzt sechzehn Jahre alt, und die Zeiten ändern sich.

Das Tolle an meinem neuen Job ist: Ich bin ziemlich flexibel, weil ich im Außendienst tätig sein werde. Mehr weiß ich noch nicht, ich sollte im Lauf der nächsten Woche in München anrufen, um Genaueres zu erfahren. Aber ich würde schon im November anfangen können.

Meine Idee war nun, meine Familie in den Ferien in mein Vorhaben einzuweihen. Im Urlaub kann man gut über schwierige Themen reden. Da ist man ja doch entspannter und offen für Neues. Ich musste nur den richtigen Zeitpunkt erwischen, um keine Schockstarre auszulösen. Denn natürlich würde eine arbeitende Mutter die häusliche Routine gewaltig durcheinanderbringen.

Ich öffnete die Augen und blinzelte zu Gerald hinüber.

»Tankstelle dreißig Kilometer. Gut, dass hier wenigstens einer mitdenkt«, sagte er grimmig.

3.

Kapitel

»Wie, Sie haben keine Karten?«

Gerald war außer sich. Er stand am Tresen der Tankstelle und sah aus, als würde er dem Verkäufer im nächsten Moment eine reinhauen.

»Kauft keiner mehr heutzutage, gibt ja Navi.«

»Das weiß ich selbst, dass es Navi gibt. Es gibt aber immer noch Leute, die auch ohne Navi ihren Weg finden wollen.«

»Ja klar, solche gibt’s immer noch. Völlig bekloppt, wenn Sie mich fragen.«

»Ich hab Sie aber nicht gefragt.«

»Stimmt. Jedenfalls wäre ein Navi in Ihrem Fall gut gewesen.«

Er erklärte uns, dass wir die Abzweigung nach Hamburg vor gut fünfzig Kilometern verpasst hatten. Gerald wischte sich den Schweiß von der Stirn, während ich das Geld für vier Tüten Chips und zehn Kaugummipäckchen auf den Tresen legte.

Danach füllte ich den Wasserbehälter für Gulli und Othello. Die hockten in einem Anhänger für Schlachtvieh, den wir hinter uns herzogen. Wahrscheinlich dachten sie über ihre Zukunft als Leberwurst in der Fleischtheke irgendeines Supermarkts nach, jedenfalls hatten sie keinen Durst und starrten lethargisch vor sich hin. Vielleicht hatten sie sich schon in ihr tragisches Schicksal gefügt.

Nachdem wir Chips und Kaugummis an die Kinder verteilt hatten, ließ Gerald sich auf den Fahrersitz fallen und schloss die Augen.

»Drei Stunden Fahrt. Und wofür? Dafür, dass ich jetzt wieder umdrehen darf.«

Armer Gerald. Seine Geduld war schon vor der Reise auf eine harte Probe gestellt worden. Er hatte sich so auf eine ruhige Woche mit seiner Familie gefreut. Und nicht damit gerechnet, dass ich es nicht schaffen würde, die Hunde rechtzeitig unterzubringen. Denn dass die Hunde im Anhänger saßen, war zugegebenermaßen meine Schuld. Ich hatte versäumt, einen Ferienplatz für sie zu finden, und wir konnten sie ja schlecht eine Woche lang sich selbst überlassen.

Othello, unseren kleinen Rauhaardackel, hätte unsere Nachbarin genommen, aber für unsere Dogge Gulliver hatte sich niemand gefunden. Und deshalb hatte ich den Anhänger organisiert und Gerald kurzerhand mitgeteilt, dass wir die Hunde in dem Wägelchen hinter uns herziehen und mit auf die Reise nehmen würden. Er hatte sich erst mal theatralisch in seinen Zeitungssessel fallen lassen und eine Stunde lang die Wand angestarrt.

»Meine Güte, was ist denn schon dabei, wenn die Hunde im Anhänger sitzen und mitkommen?«, hatte ich ihn gefragt.

Irgendwann hatte er genug Kraft, um wieder zu sprechen.

»Was dabei ist? Ich habe keine Lust, in meinen Ferien ständig hinter Gulli und Othello herzurennen. Die sind doch komplett schwerhörig.«

Othello und Gulliver, die wie immer neben uns saßen und dem Gespräch lauschten, ließen betrübt ihre Köpfe hängen.

»Gerald, spinnst du? Sie können dich hören.«

Gerald betrachtete das achtbeinige Elend zu seinen Füßen. Dann sah er mich an.

»Du meinst, sie verstehen, was ich sage?«

»Natürlich. Guck doch, wie sie aussehen, sie lassen die Ohren hängen. Sie verstehen jedes Wort.«

Wie zur Bestätigung ließ sich Gulliver seufzend auf den Boden sinken.

»Meine Güte, Gundula, ich habe keine Lust auf Stress. Ich will mich erholen! Wieso fällt dir immer alles in letzter Minute ein? Du hättest doch früher überlegen können, wo wir die Hunde unterbringen können.«

»Ja, hätte. Hab ich aber nicht.«

Ich war diese Diskussionen so leid. Natürlich ist es schwer für einen hart arbeitenden, mitten im Berufsleben stehenden Mann, zu akzeptieren, dass seine Frau die einfachsten Dinge im Leben vergisst. Eine Frau, die nichts tun muss, außer Schulbrote zu schmieren oder die Waschmaschine anzuwerfen. Oder Hunde rechtzeitig unterzubringen, wenn man in die Ferien fahren will. Oder den Nachbarn zu bitten, die Blumen zu gießen. Oder den Arzttermin abzusagen, den der Mann nicht einhalten kann, oder die Zahnspangentermine für die Kinder …

Ich weiß auch nicht, wo mir manchmal der Kopf steht, dass ich immer so viel vergesse, denn eigentlich müsste er ja relativ leer sein.

Manchmal denke ich, vielleicht sind bei mir schon ein paar Gehirnareale stillgelegt. Da ist vielleicht schon so eine Art Degenerationsprozess angelaufen, weil ich den Großteil meines Gehirns nur noch in Ausnahmefällen nutze. Der macht inzwischen einfach nicht mehr mit. Der hat es schlicht verlernt zu denken.

Und der benutzte Teil kollabiert irgendwann. Also der Hausfrauen- und Mutterteil. »Plong.«

Eigentlich total logisch.

Ich glaubte, für Gerald und mich, also für unsere Beziehung, sei eine kleine Veränderung ziemlich wichtig.

So jedenfalls konnten wir nicht mehr nebeneinanderher leben. Ihm war das bestimmt gar nicht so aufgefallen. Männer sind ja eher eindimensional. Also mit dem zufrieden, was sie haben. Zumindest zu Hause.

Mir genügte das nicht mehr.

4.

Kapitel

Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, dass wir uns vor etwa neun Monaten, nämlich exakt zum vergangenen Weihnachtsfest, ewige Liebe geschworen hatten. Das war wirklich ein romantischer Abend, ich denke gern daran zurück.

Aber wahrscheinlich wirkte das Versprechen nur so romantisch auf mich, weil wir uns davor beinahe gegenseitig erschlagen hätten. In alten Filmen ist das ja auch immer so, dass die Helden sich nach einem heftigen Streit in die Arme fallen und miteinander glücklich werden.

Wie dem auch sei, von der neu auflodernden Leidenschaft war bald nichts mehr zu spüren. Der Versuch, den Partner nach siebenundzwanzig mehr oder weniger routinierten Ehejahren plötzlich in einem ganz neuen Licht zu sehen, hielt bei uns eine Woche lang, dann war es wieder dunkel. Wobei ich zugeben muss, dass Gerald sich manchmal schon darum bemüht hat, mir zuzuhören. Aber ich wusste trotzdem oft nicht mehr, was ich mit ihm reden sollte. Es war irgendwie immer das Gleiche, und ich merkte, dass er nur aus Höflichkeit zuhörte.

Ich habe Gerald irgendwann vorgeschlagen, eine Ehetherapie zu machen, stieß damit aber auf taube Ohren. Ohne fremde Hilfe jedenfalls würden wir nicht weiterkommen, glaubte ich.

Das machte mich wirklich traurig. Ich hing an Gerald. Und ich war mir sicher, dass ich ohne ihn nur noch ein halber Mensch wäre. Und doch ergänzten wir uns nicht mehr so wie zu Beginn unserer Liebe. Und ich hatte das Gefühl, dass Gerald Gesprächen mit mir aus dem Weg ging und sich lieber hinter seiner Zeitung vergrub. Oder im Hobbykeller.

Ich hatte ja auch wirklich nicht viel zu erzählen. Wie schon gesagt. In meinem Leben passierte nicht viel. Und dass ich mich im Frühling darüber freute, wenn die ersten Schneeglöckchen sprossen oder im Herbst die ersten Blätter fielen, schien Gerald nicht in dem Maße nachvollziehen zu können.

War ja auch nicht weltbewegend.

Aber dass seine Arbeit beim Finanzamt im Gegensatz zu meiner Hausarbeit um so vieles spannender sein sollte, glaubte ich auch nicht.

Sie werden sich fragen, ja, wenn die beiden so wenig Gemeinsamkeiten haben, warum haben sie überhaupt je zusammengefunden? Die Antwort liegt auf der Hand. Wir kommen aus einem kleinen Städtchen. Da war die Auswahl überschaubar, und man war froh, wenn man überhaupt jemanden abbekam. Jedenfalls erkläre ich es mir manchmal so.

Eine Zeit lang besuchte ich Herrn Mussorkski, der in der Nähe unseres Hauses wohnt. Er arbeitete früher als Heilpraktiker, hat sein Betätigungsfeld aber dahingehend erweitert, dass er auch Ehetherapeut und Krisenmanager wurde. Ich fand die Stunden bei ihm ganz hilfreich, aber letztes Weihnachten spürte ich plötzlich, dass er mir nachstellte. Gerald hielt das für eine meiner Wahnvorstellungen, er konnte sich nicht vorstellen, dass sich irgendein Mann auf der Welt für mich interessieren würde. Aber ich spürte während der letzten Sitzungen bei Dr. Mussorkski, wie manchmal sein Blick von meinem Gesicht auf die tieferen Regionen meines Körpers absackte und dort hängen blieb. Sie wissen, was ich meine. Höchst unangenehm. Dann rief er mich ständig während der Weihnachtstage an und bat um ein Gespräch. Ich hatte das ganze Haus voll mit meiner verrückten Familie und wirklich keine Zeit, mich mit meinem Therapeuten über seine Probleme zu unterhalten. Unsere Schwiegermütter kratzten sich im Wohnzimmer die Augen aus, mein dementer Vater ging ständig verloren, mein Bruder Hans Dieter und seine Frau Rose wollten zur Mitternachtsmesse, aber nicht zu Fuß, Gerald redete sowieso nicht mit mir, und die Kinder rauchten. Nicht nur Tabak. Es war entsetzlich. Und dann ständig Herrn Mussorkski am Ohr zu haben, der plötzlich mit mir über seine verkorkste Ehe sprechen wollte, war eindeutig zu viel.

Dann gab es noch diesen merkwürdigen Zwischenfall kurz nach Weihnachten, als der kleine Yorkshireterrier von Frau Mussorkski plötzlich spurlos verschwunden war. Und im Frühjahr wuchsen im Garten der Mussorkskis auf einmal zwei Stachelbeerbüsche aus dem Nichts. Die trugen später so viele Früchte, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Und ich bin ganz sicher, dass Herr Mussorkski die kleine Tartine (den Hund) umgebracht und dann an eben jener Stelle verbuddelt hat.

Ich hatte Gerald davon erzählt, weil mir Herr Mussorkski wirklich nicht mehr geheuer war. Geralds Reaktion war typisch. Er schlug vor, ich solle unsere Hunde auch im Garten verbuddeln. Bei den Erdbeeren. Wo ich doch immer so traurig darüber sei, dass die so wenig Früchte trügen.

Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen konnte und aus dem Fenster schaute, kam es mir so vor, als stünde Herr Mussorkski an unserem Zaun und guckte zu mir nach oben. Ich konnte ihn nur wegen der Hecke schwer erkennen. Aber irgendetwas stand da und beobachtete mich.

5.

Kapitel