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Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-47239-7)
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www.beltz.de
www.psychologie-heute.de
© 2014 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Redaktion: Ursula Nuber
Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de, Stephan Engelke (Beratung)
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-47242-7

Inhalt

Vorwort
Ernst Augustin
„Wenn ich schreibe, habe ich niemals Angst“
Wilhelm Genazino
„Auch das Verlangen altert – vor allem das Verlangen!“
Daniel Glattauer
„Zuhören ist eine Stärke von mir“
Thomas Glavinic
„Ich will den Lesern zeigen, dass sie mit ihren Ängsten nicht allein sind“
Ulla Hahn
„Ich habe oft geweint, als ich über meinen Vater schrieb“
Felicitas Hoppe
„Hier bin ich! Ihr müsst mit mir rechnen!“
Michael Kumpfmüller
„Man muss bereit sein, sich dem Leben auszuliefern“
Rainer Merkel
„Mich interessiert, wie die Erinnerung arbeitet“
Joachim Meyerhoff
„Ich habe richtige Sehnsuchtsgefühle nach der Psychiatrie“
Hanns-Josef Ortheil
„Wenn ich nicht schreibe, geht es mir sehr schlecht“
Annette Pehnt
„Ich wollte zu viel von meiner Mutter“
Viola Roggenkamp
„Ich durfte nicht erzählen, dass ich Jüdin bin“
Ralf Rothmann
„Wo kein Selbstzweifel ist, da ist Stillstand“
Kathrin Schmidt
„Es ist ein großes Glück, dass ich diesen Beruf hatte, als ich erkrankte“
Peter Stamm
„Ein Roman sollte die Augen fürs eigene Leben öffnen“
Peter Wawerzinek
„Man bewahrt im tiefsten Inneren das Bild der guten Mutter“
Die Interviewerinnen
Vorwort
Mit der „Kunst des Erzählens“ geht es zu Ende. Das prophezeite der Philosoph Walter Benjamin in den 1930er Jahren und begründete seinen Pessimismus mit folgender Beobachtung: „Immer seltener wird die Begegnung mit Leuten, welche rechtschaffen etwas erzählen können. Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter den Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen.“ Wie würde Benjamin sich wohl heute äußern? Angesichts von elektronischen Büchern, Twittermeldungen, SMS-Botschaften, E-Mail-Korrespondenzen, die nur noch den Austausch von Informationen und Banal-Erfahrungen à la „Bin gerade gelandet“ zulassen. Würde die digitale Revolution seinen Pessimismus noch verstärken?
Wir wissen es nicht. Aber vermutlich müsste der Philosoph seine Aussage revidieren. Denn neben aller Digitalisierung, neben all dem Hype um Social Media & Co, gibt es eine sehr lebendige und vielfältige deutschsprachige Gegenwartsliteratur, gibt es so viele und so spannende Erzähler und Erzählerinnen, wie schon lange nicht mehr. Das beweisen jährlich die Buchmessen in Frankfurt am Main und Leipzig – und das beweist eindrucksvoll eine Interviewserie in der Zeitschrift PSYCHOLOGIE HEUTE mit zeitgenössischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen.
Begonnen wurde diese Gesprächsreihe mit der Intention, Antworten zu finden auf eine Frage, die schon Sigmund Freud umtrieb. Er schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Essay Der Dichter und das Phantasieren: „Uns Laien hat es immer mächtig gereizt, woher diese merkwürdige Persönlichkeit, der Dichter, seine Stoffe nimmt … und wie er es zustande bringt, uns mit ihnen so zu ergreifen, Erregungen in uns hervorzurufen, deren wir uns vielleicht nicht einmal für fähig gehalten hätten.“ Genau das wollten von PSYCHOLOGIE HEUTE beauftragte Interviewerinnen auch wissen – und sie ließen sich von der Aussage Freuds, „dass der Dichter selbst, wenn wir ihn befragen, uns keine oder keine befriedigende Auskunft gibt“ nicht verunsichern. Sie fragten – und bekamen mehr als nur „befriedigende Auskunft“. Erfolgreiche und preisgekrönte Autoren und Autorinnen sprachen bereitwillig und offen über ihre persönlichen Antriebskräfte für ihr Schreiben und reflektierten über psychologische und autobiografische Motive.
Auffallend und ganz besonders interessant: Viele der interviewten Literaten haben eine große Nähe zur Psychologie. Ernst Augustin war viele Jahre lang als Neurologe und Psychiater tätig. Rainer Merkel studierte Psychologie und arbeite zeitweise als Psychologe. Joachim Meyerhoff wuchs auf einem Psychiatriegelände auf: Sein Vater leitete eine psychiatrische Klinik. Die Autorin Kathrin Schmidt absolvierte ebenfalls ein Psychologiestudium und war als Kinderpsychologin tätig. Auch der Schweizer Autor Peter Stamm studierte unter anderem Psychologie, und der Österreicher Daniel Glattauer hat sich nach dem Erfolg seiner ersten Bücher zum psychologischen Berater ausbilden lassen.
Zufall? Sicher nicht. Schriftsteller und Psychotherapeuten haben einen gemeinsamen „Stoff“, die menschliche Seele und ihre Regungen. Schon Sigmund Freud stellte fest: „Nicht ich, sondern die Poeten entdeckten das Unterbewusste.“ Und ebenfalls kein Zufall ist, dass die meisten der hier versammelten Autoren und Autorinnen – im weitesten Sinne – sich selbst zum Thema machen. Denn, so der Schriftsteller und Literaturprofessor Hans-Ulrich Treichel: „Die Kindheit ist eine wichtige Ressource für einen Schriftsteller … nicht wenige Schriftsteller schreiben, um biografische Konflikte zu verarbeiten.“ Auf viele Autoren und Autorinnen in diesem Band trifft das zu: Auf Peter Wawerzinek zum Beispiel, der in seinem Buch seine lebenslange Suche nach der Mutter aufarbeitet; auf Ulla Hahn, die durch die Frage „Wie bin ich geworden, was ich bin“ zu drei bewegenden Romanen inspiriert wurde. Und Felicitas Hoppe legte mit Hoppe sogar eine fantastische Autobiografie vor. Im Interview sagt sie dazu: „Ich bin in jedem meiner Bücher enthalten, so fantasievoll sie auch sein mögen, ich kann mich nicht verleugnen. Das ist auch tröstlich: Was immer ich erzähle, das bin ich.“
Ist die weit verbreitete Vorstellung also zutreffend, wonach Schreiben eine Art Therapie ist? Das wäre zu kurz gegriffen. Sicher, die Autoren und Autorinnen schreiben meist über sich selbst, aber sie wahren dabei in der Regel einen gesunden Abstand zum eigenen Ich. Sie externalisieren das Erlebte, das sich durch den Schreibprozess verwandelt und zu etwas anderem wird – zu Literatur. Es gelingt den Autoren und Autorinnen, die schwierige Balance zu halten zwischen der individuellen Lebensgeschichte und der „Welt da draußen“. Das wiederum ermöglicht es uns, den Leserinnen und Lesern, uns in die Geschichten hineinziehen zu lassen und durch sie etwas über uns selbst zu erfahren. Eine gute Erzählung, so meinte Walter Benjamin, ist frei von Erklärungen. „Das Außerordentliche, das Wunderbare wird mit der größten Genauigkeit erzählt, der psychologische Zusammenhang des Geschehens aber wird dem Leser nicht aufgedrängt. Es ist ihm freigestellt, sich die Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht.“
Die Interviews in diesem Band machen Lust aufs Lesen, und sie bringen uns die Menschen näher, die uns diese Lust bescheren. Möglicherweise wäre auch Sigmund Freud nach der Lektüre dieser Gespräche zufrieden. Denn auf seine Frage, woher die Dichter ihre Stoffe nehmen und warum sie uns damit so faszinieren, fände er hier aufschlussreiche Antworten.
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© Regina Schnecken
  
  
Ernst Augustin
„Wenn ich schreibe, habe ich niemals Angst“
Er war als Neurologe und Psychiater lange Jahre in Afghanistan tätig. Dann wurde er Schriftsteller. In surrealistischen Romanen versuchte er, die Schizophrenie und die Psychosen literarisch zu erfassen. Ernst Augustin ist ein Grenzgänger zwischen Literatur und Psychiatrie
  
  
Das Treppenhaus von Ernst Augustins Villa in München erinnert an eine Traumlandschaft: Die Wände sind in Gold, Blau und Braun bemalt, einzelne Deckenspots tauchen die Szenerie in ein unwirkliches Licht. Im Arbeitszimmer des Psychiaters und Schriftstellers verstärkt sich der Eindruck des Exotischen noch: Riesige Ölgemälde und Masken schmücken die Wände, viele Stücke stammen aus Augustins Auslandsjahren als Arzt in Afghanistan und anderen Ländern. In einer Ecke des Raumes steht ein riesiges, weißes Modell der Pariser Oper. In einer anderen Ecke ist eine Hausbar mit Spiegelwand untergebracht. Obwohl der 84-jährige Autor vor einigen Jahren erblindete, bewegt er sich sicher durch den Raum. Während des Gesprächs erzählt der Autor immer wieder spannende Anekdoten, von denen man nicht genau weiß, ob sie ausgedacht oder erlebt sind. Solche surrealen Zwischentöne prägen auch seine Romane, die mit zahlreichen renommierten Preisen, unter anderem dem Kleist-Preis und dem Hesse-Preis ausgezeichnet wurden.
PSYCHOLOGIE HEUTE Herr Augustin, Sie waren als Psychiater tätig, haben jahrelang als Arzt in der Entwicklungshilfe gearbeitet und sind dazu noch Romanautor. Ein vielfältiger Lebenslauf. Wie kam es dazu?
ERNST AUGUSTIN Ich erlebe mein Leben geteilt in einen äußeren und einen inneren Lebenslauf. Das heißt, dass ich auf der einen Seite immer hinaus in die Welt wollte, das Abenteuer gesucht habe. Deshalb bin ich als Arzt nach Afghanistan und Polynesien gegangen und auch sonst viel gereist. Auf der anderen Seite bin ich ein innerlicher Mensch, interessiere mich für Gefühle, Gedankenspielereien, Bewusstseinszustände. Deshalb habe ich zum Beispiel jahrelang meditiert. Und in diese sehr persönliche Entwicklung, in diese Suche nach innerer Erkenntnis gehört auch die Psychiatrie. Als ich während meines Medizinstudiums das erste Mal auf einer psychiatrischen Station arbeitete, war für mich klar: Es ist mir ein Anliegen, selbst Psychiater zu werden.
Was hat Sie denn an der Psychiatrie persönlich so stark interessiert?
Von Anfang an haben mich die Patienten beeindruckt, die an Schizophrenie erkrankt waren. Ich hatte größten Respekt vor ihrer Fantasie, vor den Ideen, mit denen sie ihre Wahngebilde aufbauten. Und genau da liegt auch die Verbindung zu meinem eigenen Leben: Ich bin selbst seit Kindheit fantasiebegabt, schrieb schon früh Abenteuergeschichten, las viel und fühlte mich deshalb von dem Phänomen Schizophrenie angesprochen. Ich habe damals auch häufig die Gedanken von Psychosepatienten protokolliert. Nicht aus medizinischen Gründen, sondern weil sie mir wertvoll erschienen.
Konnten Sie das Wahnerleben Ihrer Patienten zum Teil auch nachvollziehen?
Nein, das allermeiste konnte ich nicht wirklich verstehen. Denn das Erleben der Patienten ist ja nicht nur fantasievoll, sie leiden auch extrem, haben viel Angst. Vor allem die Ideen, verfolgt zu sein oder von Stimmen beeinflusst zu werden, die typisch für die Erkrankung sind, werden häufig von Panikzuständen begleitet. Es hat mich getroffen, das zu sehen, denn für mich war Fantasie immer positiv besetzt. Deshalb habe ich auch dazu geforscht. Ich wollte verstehen, was in den Patienten vorgeht.
An der Berliner Charité haben Sie dann auch zum Thema Schizophrenie promoviert. Haben Sie dadurch mehr begriffen?
Im Gegenteil. Ich bekam sogar während meiner Forschungsarbeit immer stärker das Gefühl, dass ich die Krankheit rein wissenschaftlich nicht begreifen werde. Ich kam dann mit der Psychiatrie der 1950er und 1960er Jahre immer mehr in Widerstreit. Was die meisten meiner Kollegen dachten, war mir zu vordergründig. Sie blieben in großem Abstand zu den Patienten, redeten kaum mit ihnen, gaben ausschließlich Medikamente. Ich war in dieser Zeit ziemlich frustriert von meiner Arbeit als Psychiater.
Sie haben mit Raumlicht und Der Kopf bald darauf zwei literarische Romane über Schizophrenie verfasst. Haben Sie mit dem Schreiben begonnen, obwohl Sie die Erkrankung nicht verstanden haben, oder gerade deshalb?
Tatsächlich wollte ich der Sache genauer auf den Grund gehen. Und Schreiben ist für mich immer ein sehr vielschichtiger, tiefer Prozess: Ich kann dann poetische Worte und Gleichnisse für das komplexe Geschehen der Krankheit finden. Beim Arbeiten am Text habe ich dann auch entdeckt, was mich selbst an der Schizophrenie besonders interessiert: Es ist der Zustand der Ent-Ichung.
Können Sie das genauer erklären?
In unserem Alltag sind wir uns ganz selbstverständlich bewusst, dass wir auf der Welt sind, dass wir leben. In einem akuten Schub verlieren Schizophreniepatienten dieses Wissen, sie sind sich nicht mehr sicher, ob sie noch da sind, wissen oft nicht mehr, wer sie sind. Deshalb sprechen Fachleute ja auch von einer Störung des Ich-Bewusstseins. Beim Schreiben habe ich immer deutlicher gespürt, dass in unserem Leben noch an anderen Stellen solche besonderen Bewusstseinszustände auftauchen und wie dünn die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich letztlich ist. Beispielsweise gibt es in dem Roman Raumlicht einen Jugendlichen, der in einen Spiegel schaut und sich plötzlich fragt: Was bin ich? Bin ich wirklich am Leben? Solche Mini-Entfremdungen kennt jeder, es sind nicht selten Momente, in denen man denkt, dass man verrückt wird. Aber: Die meisten von uns kehren danach wieder in die gewohnte Alltagsrealität zurück.
Der Roman Raumlicht wirkt wie ein surrealistisches Gemälde: Szenen aus der Psychiatrie und aus der afghanischen Wüste wechseln schnell ab, fließen zum Teil ineinander. Warum wählten Sie diese Form?
Es passt für mich zur poetischen Wahrnehmung der Krankheit, dass man etwas sprunghaft und surreal erzählt, mal beängstigende, mal fantasievolle Bilder wählt. Insgesamt entsteht eine Landschaft, die mal real, mal eher wie ein Traum wirkt. Es ist der Versuch, mit Worten zu verdichten, was im Kopf einer schizophrenen Person ablaufen mag.
Was wollen Sie mit dieser Art der Darstellung bewirken?
Der Kern aller meiner Romane, sozusagen mein Lebensthema sind die verschiedenen Bewusstseinszustände, die wir erleben können. Der Grenzbereich von Traum und Wirklichkeit gehört zwingend dazu. Und all die fantastischen und zum Teil beängstigenden Szenen zielen auf die gleiche Erkenntnis ab: Mal scheint unser Leben geregelt und normal, mal gibt es plötzlich unwirkliche Momente, in denen wir die Oberfläche unserer Alltagswelt verlassen und in eine tiefere und unbewusste Wahrheit eintauchen.
Heißt das: Das Leben ist verrückter, als wir denken?
Nein, so einfach ist das für mich nicht. Aber ich will meine Leser für verschiedene Bewusstseinszustände, die wir erleben können, sensibilisieren. Und natürlich finde ich: Die Fantasie ist auch eine Wahrheit. Der Traum ist eine Wahrheit. Und auch die Psychose ist eine Wahrheit.
Im Literaturbetrieb wurden Ihre Schizophrenieromane begeistert aufgenommen. Was gab es für Resonanzen aus Fachkreisen?
Von Kollegen habe ich kaum etwas gehört, aber ich habe viele Zuschriften von Betroffenen bekommen. Die schrieben: „Sie haben getroffen, was ich erlebe. Ich fühle mich angesprochen.“ Einige baten mich, sie zu behandeln. Ich schrieb zurück: „Bedaure, ich habe alles getan, was ich konnte. Ich kann beschreiben, ich kann Gleichnisse finden, ich kann mich einfühlen. Aber ich kann Ihnen leider nicht helfen.“
Sie haben also irgendwann die Seite gewechselt und sich dafür entschieden, als Schriftsteller und nicht mehr als Psychiater zu sprechen?
Ja, aber das war ein langer Prozess. In den letzten zwanzig, dreißig Jahren bin ich zunehmend in die Welt der Fantasie und des Erzählens eingetaucht. Ich habe immer deutlicher gespürt: Exakte theoretische Definitionen zu einem Thema gelingen mir nicht, ich bin nicht gut im Analysieren und Bewerten. Ich kann das, was ich wahrnehme, viel besser in einer Geschichte erzählen. Ich will die Schönheit der Fiktion. Ich bin der Meinung, dass man damit beim Leser etwas berührt, einen poetischen Hauch schafft oder einen Sog des Fabulierens, dem man sich nicht entziehen kann.
Auf Ihre Fantasie verlassen Sie sich. Dennoch loben Kritiker auch Ihre sehr präzisen Beschreibungen. Wie passt das zusammen?
Tatsächlich glaube ich heute, dass Literatur durch konkrete Erfahrungen noch plastischer und vielleicht auch besser wird. Ich habe oft die Rückmeldung bekommen, dass Präzision meinen Romanen guttut. Und tatsächlich scheinen gerade die Schilderungen aus der Psychiatrie, aus Afghanistan und die Beschreibung medizinischer Phänomene die Leser anzusprechen.
Sie schreiben aber auch über Sujets, die Sie nicht kennen: In dem historischen Roman Mahmud der Bastard beschreiben Sie einen Eroberer Indiens. Haben Sie für das Buch viel recherchiert?
Ich recherchiere nie. Denn: Man kann sich Dinge auch präzise ausdenken. Beispielsweise habe ich in einem frühen Roman sehr treffend Amsterdam beschrieben. Das Buch wurde nur aus diesem Grund ins Niederländische übersetzt. Aber in Wahrheit bin ich nie in Amsterdam gewesen. Und in dem Roman Mahmud, den Sie gerade erwähnten, geht es häufig um Pferde. Ich bekam nach der Veröffentlichung einen Brief von einem Gestütsbesitzer, wie gelungen die Beschreibung der Pferde sei. Aber auch da: Ich habe noch nie edle Pferde beobachtet oder studiert.
Wie erklären Sie sich, dass das im Fluss des Schreibens funktioniert?
Ich glaube, es gibt eine Art poetisches Unbewusstes, das dem kollektiven Unbewussten nicht unähnlich ist. Wenn man sich etwas sehr schön und mit literarischen Worten ausdenkt, bekommt es eine neue Art Wahrheit. Die Pferde in dem Buch hatten zum Beispiel wohlklingende arabische Namen, die übersetzt etwa so was wie „Farbe des Windes“ oder „Pferdekaiser“ bedeuteten. Solche Namen wirken ähnlich wie Märchen oder Mythen, sie bringen etwas in uns zum Klingen, treffen direkt in unsere Seele. Genauso ist es mit Traumlandschaften, wenn man sie gut beschreibt. Menschen finden sich darin wieder, treten in Resonanz damit.
Wenn Sie sich in unbewusste Welten fallenlassen, Wahngebilde und Schattenwelten schildern, haben Sie dann beim Schreiben jemals selbst Angst gehabt?
Wenn ich schreibe, habe ich niemals Angst. Im realen Leben haben mir die Grenzerfahrungen, die ich in meinen Büchern behandele, aber schon häufig Angst eingejagt. Beim Meditieren gibt es zum Beispiel eine Art Nichts-Zustand, ich habe ihn in jungen Jahren einige Male erahnt und dann große Angst bekommen. Und ich hatte jahrzehntelang einen wiederkehrenden Albtraum, in dem ich durch ein Gebäude mit Leichen gehen musste. Aber beim Schreiben selbst geht es mir immer darum, etwas zu schaffen, etwas zu erfinden, eigene Welten zu bauen. Und das ist für mich pure Freude.
Gibt es auch biografische Gründe für Ihre Flucht ins Fabulieren?
Die Wurzeln liegen in meiner Kindheit. Ich bin in der Nazizeit aufgewachsen. In Schwerin. Damals haben meine Freunde und ich uns quasi eine Gegenwelt aufgebaut. Wir haben den ganzen Tag Wildwestgeschichten und Seeräuberstorys nachgespielt. Ein Freund von mir war Sohn eines Glasers, da gab es in der Werkstatt riesige Pappen, wir haben uns Labyrinthe gebaut, mit Saloons und Burgen. Draußen tobte der Krieg, und wir waren trotz der furchtbaren Zeit frei. Ich muss im Rückblick sagen, das haben wir damals richtig gut gemacht.
Wie sind Sie mit dem Druck und den Pflichten der NS-Zeit umgegangen? Waren Sie bei der Hitlerjugend?
Ja, da war ich, aber ich bin immer Pimpf geblieben. Die ganze Nazizeit war für mich eine Serie von Vermeidungen. Typisch waren zum Beispiel die Aufmärsche, zu denen man jeden Sonntag antreten musste. Ich bin hingegangen, hundert Meter mitmarschiert, habe mich dann aus der Kolonne rausgeschlichen und bin in ein Lokal gegangen, die Schlosshalle. Dort gab es Fleischbrühe und Illustrierte. Ich saß da und las, und hörte den Tross durch die ganze Stadt ziehen, weil sie so brüllten, ich meine, sie nannten es Singen, aber es war furchtbar. Durch das Gebrüll wusste ich immer: Jetzt sind sie am Rathaus, jetzt sind sie am Osdorfer See. Nach zwei Stunden kam die Gruppe wieder bei mir vorbei, und ich bin für die letzten hundert Meter noch mal ins Glied eingetreten.
Wie erklären Sie sich Ihre instinktive Ablehnung?
Die ganze Marschiererei und das Getue haben mich unendlich gelangweilt. Deshalb habe ich das Weite gesucht. Es hat auch immer gut funktioniert. Nur in den letzten Kriegstagen hatte ich Angst, sie würden mich vielleicht einziehen. Es war nicht unrealistisch, denn ich war 17 Jahre alt. Damals habe ich angefangen, jeden Abend eine lange Runde durch unser Viertel zu joggen. Ich sagte mir: Wenn es ernst wird, will ich weglaufen können.
Diese Szene findet sich auch in einem Ihrer Romane. Sie wirkt dort komisch. War das beabsichtigt?
Nein. Aber ich glaube, dass Dinge komisch werden, wenn man sie sehr genau beschreibt. Ein Junge, der dem Krieg durch Joggen entkommen will, wirkt tragisch und komisch, weil er so chancenlos ist. Der Effekt wird noch stärker, wenn man Alltagsrituale und scheinbar normale Kleinigkeiten genau unter die Lupe nimmt: Sie wirken dann sogar häufig lächerlich.
Ihr Roman Eastend über eine Gruppentherapie ist so ein Beispiel. Das Buch ist eine regelrechte Satire.
Ja, ich muss zugeben, dort habe ich mich auch bewusst ein bisschen lustig gemacht. Denn ich kenne zwar die Psychoszene ganz gut, aber habe für mich selbst nie viel rausgezogen. Obwohl ich sogar selbst an einer Gruppentherapie teilgenommen habe, aus reiner Neugier. Der Gruppenleiter hat damals sofort gemerkt, dass ich Zaungast und vielleicht sogar gegen ihn bin. Er hatte ja recht: In meinem Buch ist er nicht gerade gut weggekommen. Und obwohl alles wahr ist, was ich geschrieben habe, der Therapeut von damals würde sich nie wiedererkennen. Dafür ist das, was man aufschreibt, viel zu stark verändert. Da ist die Literatur gnädig.
Sie sind als Schriftsteller stets ein Geheimtipp geblieben. Fehlt Ihnen manchmal der große Erfolg?
Früher gelegentlich schon. Aber mein ganzes Leben bin ich nicht dem äußeren Erfolg, sondern der poetischen Schönheit nachgerannt. Zum Beispiel habe ich in den 1970er Jahren in London in einer total abgerissenen Gegend ein Haus gesehen, ganz nah am Wasser, die großen Pötte lagen vor der Tür, es war ein magischer, surrealer Ort. Ich bin mit meiner Frau hingefahren, mit dem Bus, weil kein Taxifahrer diese Adresse ansteuern wollte. Wir haben das Haus dann tatsächlich gekauft. Heute sind die West India Docks eines der teuersten Pflaster von London. Aber das ist nicht der Teil der Geschichte, der mich glücklich macht. Eher geht es darum: Ein Stück meiner Fantasie ist durch das Haus real geworden. Und mein reales Leben ist in meine Bücher eingeflossen. Realität und Fantasiewelt wachsen also immer mehr zusammen: Das ist der wahre Erfolg meines Lebens.
Mit Ernst Augustin sprach Anne Otto
ERNST AUGUSTIN,
geboren 1927 in Hirschberg/Riesengebirge, verbrachte seine Jugend in Schweidnitz und Schwerin. Mit seinem ursprünglichen Berufswunsch, Architekt zu werden, konnten sich die Eltern nicht anfreunden. So studierte er Medizin und arbeitete zunächst als Unfallchirurg in Wismar, dann als Neurologe und Psychiater an der Charité im damaligen Ost-Berlin. 1958 floh er nach Westdeutschland. Von dort führte ihn sein Weg nach Afghanistan, wo er ein Krankenhaus leitete. Danach war er als Stationsarzt an der Münchner Universitäts-Nervenklinik tätig. Im Jahr 2009 musste er sich wegen eines gutartigen Tumors einer Hirnoperation unterziehen; dabei wurde ein Sehnerv durchtrennt und sein Augenlicht fast nahezu zerstört.
Wichtige Veröffentlichungen
Die Schule der Nackten. DTV, München 2005
Mahmud der Bastard. DTV, München 2007
Eastend. DTV, München 2008
Raumlicht. Der Fall Evelyne B. DTV, München 2009
Robinsons blaues Haus. C.H.Beck, München 2012
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© Isolde Ohlbaum
  
  
Wilhelm Genazino
„Auch das Verlangen altert – vor allem das Verlangen!“
Männer mittleren Alters sind sein Thema. In seinen Romanen beobachtet er sie in ihrem Alltag, in ihren Beziehungen und beschreibt ihre Sehnsucht nach Liebe. Doch dabei verliert der Schriftsteller Wilhelm Genazino die Frauen nicht aus dem Auge
  
  
PSYCHOLOGIE HEUTE Die Helden in Ihren Büchern sind, was man früher Flaneure nannte: Sie sind in den Straßen der Großstadt unterwegs, beobachten ihre Alltagswelt und verdichten, was sie sehen, zu psychologischen und philosophischen Einsichten, die erbarmungslos genau sind und doch immer wieder wunderbar tröstende Momente enthalten. Ihr Romanheld Abschaffel macht eine Psychoanalyse, Sie selbst haben Philosophie studiert. Welchen Einfluss haben Psychoanalyse und Philosophie auf Ihr Schreiben?
WILHELM GENAZINO Mich interessiert das Verfahren der Psychoanalyse. Ich halte es für eine tolle Errungenschaft, dass es das gibt: dass man sich des Lebens eines anderen fragend und beratend annimmt. Aber einen direkten Einfluss sehe ich nicht. Philosophisch hat mich Theodor Adorno stark beeinflusst. Das in den Verhältnissen mühsam zurechtkommende Subjekt, um das es Adorno immer wieder geht, und das im Leben ja auch häufig den Kürzeren zieht, das interessiert mich bis heute. Dem Einzelnen würde im Grunde ja seine eigene Kompliziertheit genügen, der Mensch bräuchte nicht noch zusätzlich die komplizierte Gesellschaft. Der Kampf des Ichs gegen seine dauernde Verdinglichung, seine dauernde Zerstreuung, sein Kampf gegen den ständig versuchten Missbrauch in der Arbeitswelt oder durch die Bewusstseinsindustrie, wie es Adorno genannt hat – dieses Thema interessiert mich nach wie vor an allererster Stelle. Auch wenn die Kritische Theorie inzwischen als veraltet gelten mag – die Macht der Bewusstseinsindustrie über den Menschen ist heute größer denn je. Schauen Sie sich nur an, wie sich die Menschen in den Castingshows des Fernsehens entäußern, um Schlagersänger oder was immer zu werden und dadurch für Minuten Medienbekanntheit zu erlangen. Schrecklich!
In den letzten Jahren habe ich mich sehr mit Simone Weil und ihren Cahiers auseinandergesetzt. Weils Radikalität und entschiedene Abwendung von diesem ordinären Leben hat eine starke Anziehungskraft auf mich. Alle Texte, die von der Scheinhaftigkeit und Trughaftigkeit dieser Welt wegwollen, faszinieren mich. Es gibt überhaupt keine Philosophie, die nicht mit der Frage beginnt: Wie befreie ich mich wieder aus der Drangsal, den Fängen der anderen?
Und doch begeben wir uns immer wieder in Beziehungen hinein. Ihre Helden, meist männlich, mittleren Alters, gebildet, nicht besonders „karrierebewusst“, sondern immer auf der Suche nach Zeit für das eigene Nachdenken, sind ausgesprochen einzelgängerisch, manchmal eigenbrötlerisch. Trotzdem suchen sie ständig nach Beziehung zu einer Frau. Was suchen sie da?
Sie suchen natürlich das ihnen Fehlende. Man kann ja kein Konzept zu 100 Prozent ausfüllen, auch wenn man ein Eigenbrötler ist oder ein Entsagender im Goetheschen Sinne. Man ist alles immer nur eine Weile. Und dann, wie meine Figuren, bemerkt der Mensch den Mangel, seine Unvollständigkeit, die Trughaftigkeit der Vorstellung, dass man es mit der Hälfte aushalten könnte. Also nur mit sich. Dann geht die Suche wieder los, und dieser dynamische Prozess kommt nie zum Ende. Die Beziehungen gehen wieder auseinander, aus vielen, vielen Gründen, und dann kommt der nächste Rundgang. Bis sich ein Überdruss einstellt, der aus einer andern Ecke kommt, nämlich vom Älterwerden. Das Älterwerden erhebt dann einen milden Einspruch, dem man sich freudig beugt und denkt, ja gut, wenn mein Alter, meine Müdigkeit meint, ich könne mich jetzt einfach aufs Sofa legen, dann will ich es damit gut sein lassen. Und mir nicht mehr einbilden, ich würde heute Abend noch die Frau meines Lebens kennenlernen. Das Alter macht einem sozusagen eine Mitteilung, die an Seriosität nicht mehr zu überbieten ist. Man braucht dann keine tolle Party mehr, die ganze Illusionsfabrik bröckelt langsam weg, man wird ein mit seinem Älterwerden halbwegs identifizierter Mensch, und der Widerwillen gegen die eigene Eigenbrötlerei nimmt ab.
Obwohl der Mensch letztlich allein ist und seine Vereinzelung nicht aufgehoben werden kann, streben wir aber doch immer wieder nach Beziehungen, in der Hoffnung und Vorstellung, dass der andere unsere Einsamkeit aufheben wird …
Unter solchen törichten Zielvorstellungen können Beziehungen keinen dauerhaften Bestand haben.