ZORAN

DRVENKAR

STILL

 

THRILLER

 

 

 

Eder & Bach

 

1. Auflage, August 2014

 

© 2014 Zoran Drvenkar

© 2014 Eder & Bach GmbH, Berlin

 

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlaggestaltung: wunderlandt.com

Autorenfoto: © Corinna Bernburg

Gesetzt aus der Adobe Garamond

Gestaltung und Satz: Corinna Bernburg

 

ISBN: 978-3-945386-01-9

 

www.drvenkar.de

www.ederundbach.de

 

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

 

für Mika & für jeden,

der in die Dunkelheit eintaucht,

um sich das Herz der Bestie zu holen

SIE

Sie steigen aus dem Eis wie hungrige Geister, die einen Wirtskörper suchen. Ihre Haut dampft und ihr Haar gefriert innerhalb von Sekunden. Die Genitalien sind geschrumpft, die Brustwarzen hart. Sie lachen, stoßen sich an und stapfen durch den Schnee, als würden sie einem unsichtbaren Pfad folgen. Bevor sie die Hütte betreten, reibt jeder von ihnen über die Einkerbungen, die auf Augenhöhe in den Türrahmen eingeritzt sind. Es ist eines von vielen Ritualen, es soll Glück bringen. Keiner von ihnen vertraut auf das Glück, dennoch tut es gut, dieses Ritual zu haben. Es verbindet sie miteinander wie ein Knoten, der nur einmal alle hundert Jahre gelöst wird.

 

Als sie die Hütte wieder verlassen, hat sich das Eisloch geschlossen, und nur ihre Fußabdrücke im Schnee erinnern daran, daß sie aus dem See gestiegen sind. Jetzt tragen sie Stiefel und Mäntel, jetzt ist ihnen warm. Sie setzen sich in den Wagen und fahren ohne Licht los. Die Dunkelheit ist angebrochen, und der Mond schaut zwischen den Wolken hervor, als würde er sie im Auge behalten wollen. Erst nachdem sie die Straße erreicht haben, schalten sie die Scheinwerfer ein, und das Licht reißt eine Bresche in die Nacht. Es ist windstill, aber die Stille täuscht, in den nächsten Stunden soll es stürmen. Sie schweigen und schauen in die Dunkelheit, und die Dunkelheit weicht ihren Blicken aus und schaut nicht zurück.

 

Das Haus unterscheidet sich kaum von den anderen Häusern. Zwei Stockwerke, ein Vorgarten, drei Tannen und eine Schaukel mit einem Schneemann davor. Es liegt in einer schmalen Einbahnstraße im Herzen von Lankwitz. Hier gibt man sich noch der Illusion hin, nicht zu Berlin zu gehören. Die Fahrbahn ist unberührt, und auf dem Bürgersteig sind keine Fußspuren zu sehen.

Sie parken den Wagen und betrachten die Häuserreihe. Das Blinken der Weihnachtsbeleuchtung färbt die Fassaden in einen regelmäßigen Takt, als hätte die Straße ihren ganz eigenen Herzschlag. Der Schneefall ist jetzt dicht. Sie warten und lassen den Motor laufen, sie sitzen reglos im Wagen, und der Rhythmus der blinkenden Lichter wird zu einem Rhythmus der Ruhe.

Ihr Blick kehrt immer wieder zu dem einen Haus zurück.

Eine Stunde vergeht, dann steigen sie aus.

DU

Sie holen dich in der Nacht, drei Tage später lebst du nicht mehr.

So schnell kann das gehen.

 

Es ist kurz nach sieben und ein Winterabend, wie du ihn dir nur wünschen kannst – seit gestern sind Weihnachtsferien und vor einer Stunde hat es wieder angefangen zu schneien. Der Schneefall liegt über der Stadt wie eine Decke, die sich bei jeder Windböe hebt und senkt und dir zu winken scheint. Es ist Weihnachtsstimmung pur. Am Fensterglas ranken sich die ersten Eisblumen, und über deinem Bett hängt eine Lampe in der Form eines roten Papiersterns. Sie verwandelt dein Zimmer in eine warme, schummrige Höhle, der die Kälte nichts kann.

Wäre da nicht der Fernseher an deinem Bettende, würdest du die ganze Nacht am Fenster stehen und rausschauen. Es ist zwar noch früh, dennoch trägst du schon deinen Schlafanzug und liegst neben deinem kleinen Bruder. Eigentlich hat er nichts in deinem Zimmer verloren und erst recht nichts in deinem Bett. Er sollte bei einem Freund übernachten, aber der Freund ist krank geworden. Also haben dir deine Eltern zwanzig Euro versprochen, damit du dich den Abend über um ihn kümmerst. Und so teilt ihr euch eine Schale Popcorn, und du erträgst sein Gequassel, wie man im Sommer die Mücken erträgt. Du bist müde, denn ihr schaut schon den zweiten Film, aber um keinen Preis würdest du auch nur eine Minute versäumen wollen. Eure Eltern haben euch den Fernseher nach dem Abendbrot hochgetragen und gesagt, sie bräuchten heute Zeit für sich. Es ist ihr Hochzeitstag, und gleich werden sie in die Oper gehen und später in dem kleinen Restaurant essen, in dem sie sich kennengelernt haben.

Du hörst ihre Stimmen aus dem Erdgeschoß – das Lachen deiner Mutter, den Bass deines Vaters, und immer wieder ihr Flüstern, als würden sie ein Geheimnis teilen.

Es geht deiner Familie gut, und das Leben könnte nicht besser sein, wenn du nur nicht so müde wärst. Dein Bruder dagegen ist hellwach. Seine Füße bewegen sich unter der Bettdecke, als wollte er jeden Moment lossprinten. Er stopft sich Popcorn in den Mund und kommentiert den Film mit Sprüchen, die alle mit »Ach, du Kacke« anfangen. Er ist sechs Jahre alt, und du hast es längst aufgegeben, ihn zum Schweigen zu bringen.

Als eure Eltern hochrufen, daß sie jetzt gehen würden, schreckst du zusammen.

Das Innere deines Mundes fühlt sich pelzig an, und dein Kopf ist schwer, einen Moment lang bist du weggenickt. Eure Eltern rufen, daß sie jetzt gehen, daß sie in drei Stunden wieder da sind, und daß ihr spätestens um halb elf im Bett sein sollt. Bevor du ihnen antworten kannst, schnappt die Haustür zu, dann ist kein Laut mehr von unten zu hören. Dein Bruder stellt fest, er würde auf jeden Fall bis Mitternacht und noch später wach bleiben. Du gähnst, von dir aus kann er bis um fünf Uhr früh Polka tanzen, falls er überhaupt weiß, was Polka ist.

– Von mir aus kannst du Polka tanzen, sagst du.

– Ausgerechnet Polka, sagt er.

Deine Augen fallen wie von allein zu.

Das Lachen deines Bruders weckt dich wieder auf.

Du weißt nicht, wieviel Zeit vergangen ist. Auf dem Boden der Schale liegen nur noch ein paar Maiskörner, und die Cola in deinem Glas ist lauwarm. Dein Bruder hat nicht einmal mitbekommen, daß du geschlafen hast. Er zeigt auf den Fernseher und stellt fest, der Film wäre ganz schön albern. Du willst ihm gerade sagen, er solle mal in den Spiegel schauen, dann würde er sehen, was wirklich albern ist, als es dunkel wird im Haus. Stockdunkel und still. Du kannst den Schnee hören, der mit einem Knistern an das Fensterglas geweht wird. Dein kleiner Bruder sitzt so reglos neben dir, daß du nicht weißt, ob er noch im Zimmer ist. Kein Atemzug, nichts. Du lauschst, und nach einer gefühlten Ewigkeit hörst du ihn sagen:

– Was jetzt?

Du wartest, daß der Stern wieder angeht und der Fernseher erwacht, aber nichts geschieht. Nur der gelbliche Schein der Straßenlaterne beleuchtet einen Teil der Zimmerdecke, und die Schatten der Schneeflocken wandern wie träge Insekten durch dieses Licht.

– Gleich wird es wieder hell, flüsterst du, aber es klingt nicht überzeugend.

Dein Bruder drückt sich an dich.

– Mach was, sagt er.

Du versuchst die Lampe neben deinem Bett einzuschalten, sie bleibt aus. Deine Fingerspitzen sind klebrig vom Popcorn. Du wischst die Hand an der Bettdecke sauber, obwohl du weißt, daß deine Mutter deswegen meckern wird. Ihr habt euch in letzter Zeit wegen den winzigsten Kleinigkeiten gestritten. Du bist dreizehn Jahre alt und lebst deine erste Rebellion, es ist ein wunderbares Gefühl der Macht, bewußt Nein zu sagen.

– Lucia?

– Was denn?

– Mach mal was.

Du wünschst dir, deine Eltern wären noch da. Bestimmt würden sie dann mit Kerzen zu euch hochkommen, wie letztes Jahr, als ein heftiger Sturm über Berlin hereinbrach und der Strom für Stunden ausfiel. Dein Bruder hatte alles verschlafen, du aber weißt noch ganz genau, wie es sich angefühlt hat, zwischen den Eltern zu liegen und dem Wind zu lauschen, der zornig an den Fensterläden rüttelte, während dein Vater im Kerzenschein aus einem Buch vorlas und deine Mutter dir über das Haar strich, als wäre der Sturm aus deinem Kopf entflohen und sie müßte nur deine Gedanken besänftigen, dann würde auch das Unwetter sich beruhigen. Das war im Sommer, jetzt ist Winter, und du wünschst dir, deine Eltern wären noch im Haus.

Kaum hast du das gedacht, hörst du Schritte auf der Treppe. Es knarrt, und dein Bruder sagt was, aber du achtest nicht auf ihn, denn du konzentrierst dich auf dieses Knarren.

Einmal, zweimal. Pause.

Ein drittes Mal.

Du weißt, woher das Knarren kommt. Es ist die achte Stufe von unten. Sie ist lose, seitdem eurer Mutter beim Putzen der Staubsauger runtergefallen ist. Euer Vater will die Stufe seit Monaten reparieren, und niemand tritt mehr drauf, weil das Knarren so fies ist, daß selbst dein kleiner Bruder sich das gemerkt hat.

Es knarrt ein viertes Mal.

Wer ist das? denkst du, als die Tür zu deinem Zimmer aufschwingt.

 

Sechs Jahre später sitzt du auf einem Stuhl und dein Bruder und deine Eltern sind nicht mehr. Ihre Namen, ihre Worte, ihre Gedanken. Die Erinnerung an sie befindet sich in einem verschlossenen Zimmer, von dem niemand weiß, daß es existiert. Deine Erinnerung ruht dort und auch du ruhst. Ohne Bewußtsein, ohne Gedanken. Du kannst dieses Zimmer nicht betreten, denn du bist in dir selbst gefangen. Dein Bewußtsein ist ein zerbombtes Dorf, aus dem alle Bewohner geflohen sind. Alle außer dir. Du sitzt in den Ruinen und bist geduldig. Deine rechte Hand liegt auf deinem rechten Knie, die Handfläche zeigt nach oben und wartet, daß jemand kommt und den Schlüssel hineinlegt, der das Zimmer deiner Erinnerung öffnet.

Und wann immer jemand deine Hand schließt, kommen dir die Tränen.

Und wann immer Schnee fällt, stirbst du ein bißchen mehr. Du bist eine Tote, die atmet. Du bist eine Tote, die wartet. Genau das hast du gesagt, als sie dich fanden.

– Ich bin tot.

– Nein, widersprachen sie dir, Du bist gerettet.

Als du das hörtest, hast du dir gedacht: Nur ein Lebender kann sowas sagen, die Toten wissen es besser. Seitdem sitzt du geduldig am Fenster, Tag für Tag, mit der offenen Hand auf dem Knie und hoffst und wartest, daß jemand den Schlüssel findet und zu dir bringt. Jemand wie ich.

ICH

1

Ich will nichts Falsches sagen. Ich habe mein drittes Bier vor mir stehen und will auf keinen Fall was Falsches sagen. Die Jukebox wiederholt Eye of the Tiger zum achten Mal an diesem Abend, der Dartautomat dudelt seine Melodie, das Licht ist gedimmt. Ich starre auf die Theke. Die Worte in meinem Kopf sind poliert wie Flußkiesel, die vom Wasser glattgerieben wurden. Keine Kanten, keine Ecken. Ich sortiere sie immer wieder neu und suche nach der richtigen Ordnung. Die Worte müssen mir ins Blut übergehen. Ich muß ein Teil des Flusses sein.

Der Mann links von mir murmelt, daß nichts mehr so ist, wie es einmal war, seitdem keiner mehr rauchen darf, wann er will, wo er will, und sind wir denn hier in der DDR oder was? Er wiederholt sich wie einer von diesen mechanischen Papageien, die auf dem Volksfest die Besucher anlocken sollen. Die Leute ignorieren ihn, der Barkeeper wischt über die Theke, ich sehe auf.

Sie sind zu zweit an einem der Tische. Sie sitzen im Halbdunkel und reden, wie Männer gerne reden – mit beiden Händen ums Glas, ohne sich anzusehen, versunken im Bierschaum oder in der Maserung des Tisches und manchmal auch im Raum, als wäre da ein unsichtbarer Zuhörer. Einer der Männer fängt meinen Blick auf, ich nicke ihm zu und hebe mein Glas. Er nickt zurück, läßt sein Glas aber stehen.

Der Anfang ist gemacht.

Ich zahle und gehe.

 

Zu Hause stelle ich mich unter die Dusche und warte, daß die Kälte weicht. Das Bad ist eine Nebellandschaft, meine Haut steht in Flammen, die Fingerspitzen sind aufgequollen. Nach zehn Minuten gebe ich auf. Die Kälte sitzt so tief in meinen Knochen, daß ich frierend aus der Dusche steige. Nichts hilft.

 

Die nächsten Stunden verbringe ich im Internet, bis meine Beine unruhig sind und ich saure Übelkeit auf der Zunge schmecken kann. Ich will die Augen nicht verschließen. Ich will sehen, was es zu sehen gibt. Nach sechzehn Downloads kann ich nicht mehr. Es ist keine gute Zeit für mich. Ich balanciere auf einem schmalen Grat entlang, dabei weiß ich es besser. Es gibt Regeln. Wir sollten immer jemanden an unserer Seite haben, der uns vor dem Absturz bewahrt. Immer. Meine Frau fehlt mir. Sie ist bitter, sie ist wütend. Ich kann mich nicht gut erklären. Sie nennt mich krank, sie nennt mich pervers und hat mir mit der Polizei gedroht. Ich konnte sie nur ansehen. Ich bin nicht der, der ich sein wollte. Ich wurde zu dem, der ich bin, weil der Wind sich gedreht hat, weil ein Stern verlöscht ist oder irgendwo in Afrika ein Blatt vom Baum fiel. Ich weiß, es wird nicht ewig so weitergehen. Ich arbeite daran.

 

Meine größte Sorge ist im Moment, daß man mich so kurz vor meinem Ziel ausfindig machen könnte. Auch wenn alle sagen, daß das Usenet sicher ist, gibt es keine Garantien. Nichts im Internet ist sicher. Vielleicht bin ich paranoid, vielleicht reichen die neu installierten Programme völlig aus. Ich weiß es nicht, ich weiß nur, es ist das Risiko wert. Jeden Tag aufs Neue.

Das Notebook fährt mit einem Seufzer herunter, ich klappe es zu und gehe schlafen.

 

2

Der Pub befindet sich in Friedenau und wirkt sehr stilvoll. Er ist keine von diesen Kneipen mit Spitzengardinen und Stammtisch. Sie haben Guinness und Murphy ’s vom Faß, und zu jedem Bier gibt es eine kleine Schale mit Chips oder Erdnüssen. Zu Weihnachten befanden sich Lebkuchenherzen in den Schalen, und den ersten Glühwein gab es umsonst. Obwohl der Pub schon ab zwei geöffnet hat, kommen die Gäste erst zum späten Nachmittag. Anfangs habe ich jeden dritten Tag vorbeigeschaut, jetzt lasse ich kaum einen Abend aus. Ich trinke, werfe Geld in die Jukebox, trinke mehr. Ich werde gesehen, denn ich lasse mich sehen, und spricht mich jemand an, antworte ich, ansonsten bin ich für mich allein.

 

Die Barkeeper wechseln sich die Woche über ab. Gunter. Ivan. Ferris. Jeder von ihnen hat seine Art, seinen Humor, sein eigenes Publikum. Ich beobachte, an welchen Tagen welche Gäste in den Pub kommen. Studenten, Vereinsleute, Junggesellen, Pärchen, Dartspieler, Säufer. Die, die sich langweilen, die sich einsam fühlen, und dann die, die so sehr mit der Umgebung verschmelzen, daß man mehrmals hinschauen muß, um sie zu bemerken. Leute wie ich. Leute, die an dem Tisch in der Ecke sitzen. Ich weiß, wer sie sind. Ich bin bereit für sie. Und was auch passiert, ich darf nichts Falsches sagen. Keine Ecken, keine Kanten.

 

Am nächsten Abend hebt einer der Männer sein Glas und prostet mir zu. Auch der andere sieht mich an. Geduldig. Ich nicke nicht. Ich lächle nicht. Ich halte seinem Blick stand. Das habe ich vor dem Spiegel geübt, bis mir schwindelig wurde und ich Tränen in den Augen hatte. Der Blickkontakt bricht ab, weil der eine Mann was zum anderen Mann sagt. Als ich erneut aufsehe, winken sie mich zu sich.

 

Heute sind sie zu zweit, manchmal sind sie zu dritt, aber ich weiß, daß sie erst zu viert komplett sind. Ich kenne ihre Namen. Seit einem Jahr studiere ich diese Männer wie einen Splitter, der sich mir unter die Haut gebohrt hat – ich spüre ihn, sehe ihn aber nicht. Seit zwei Monaten besuche ich diesen Pub regelmäßig. Ich darf es nicht vermasseln. Sie müssen mich verstehen. Das ist die ganze Wahrheit: ich lechze nach ihrem Verständnis.

 

Hagen ist groß und schlank. Er hat das Gesicht einer Statue und lockiges blondes Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt. Seine Hände sind groß und sehen aus, als wären sie unter eine Walze gekommen, die Finger sind erschreckend dünn, die Nägel flach und lang. Er sagt, das kommt vom Rudern. Wenn er vom Tisch aufsteht und zur Toilette geht, drehen sich die Frauen nach ihm um. Er erinnert an einen dieser Engel aus alten Gemälden, der gegen das Böse ankämpft und nie unterliegt. Seine Wangen sind immer leicht gerötet, als würde er sich für seine Gedanken schämen. Vor vier Jahren hat er das Studium abgebrochen, nachdem ihm sein Vater ein gutgehendes Antiquariat im Herzen von Charlottenburg vererbt hat. Hagen ist seit dem Frühjahr ein fester Teil der Gruppe und mit Ende zwanzig der Jüngste von ihnen.

– Hagen von Rhys, sagt er und reicht mir die Hand, sein Lächeln ist warm, der Griff schwielig und sicher.

– Mika, sage ich.

– Mika wer? fragt der andere Mann.

Er heißt Achim und er ist das Gegenteil von Hagen – niemand dreht sich nach ihm um, niemand würde ihn für einen Engel halten. Achim hat die Statur eines Rammbocks und bleckt gerne die Zähne. Es ist seine ganz eigene Form der Einschüchterung. Ich zucke ein wenig zurück, er ist zufrieden mit meiner Reaktion. Achim verkauft Solarund Satellitenanlagen, seine Frau ist Steuerberaterin und Mutter von zwei Jungen. Sie war dabei, als Achim vor acht Jahren ein Hund angefallen hat. Die Narbe ist von vorne nicht zu sehen, sie beginnt am rechten Ohr, geht um den Kopf herum, wo sie am Nacken endet. Früher trug Achim sein Haar halblang, jetzt rasiert er sich den Schädel, damit jeder sehen kann, daß mit ihm nicht zu spaßen ist. Er sagt: »Ich habe den Köter überlebt, ich überlebe alles.« Seine Frau war auch mit dabei, als Achim den Hund danach erwürgt hat. Niemand erstattete Anzeige. Der Köter war ein Streuner und hatte es verdient zu sterben. Es scheint, als wäre das Wesen des Hundes auf Achim übergegangen. Sein Gesicht ähnelt einer müden Bulldogge. Die Schatten unter seinen Augen liegen tief und schimmern lila. Ich weiß, daß er ein Schlafproblem hat.

– Mika Stellar, sage ich und reiche ihm die Hand.

– Achim, sagt er, und ich frage nicht, wie er weiter heißt. Ich habe mir Regeln zurechtgelegt. Regeln der Bescheidenheit. Sein voller Name ist Achim Brockhaus. Mein Name ist nicht Mika Stellar.

– Setz dich doch, sagt Achim.

Die Kellnerin kommt, Hagen fragt, was meine Sünde sei. Ich werde rot, schaue auf die Tischplatte und sage Wodka Lemon. Hagen bestellt drei Wodka Lemon. Ich schaue wieder auf, sie sehen mich fragend an. Ich weiß, was sie wissen wollen.

– Ihr werdet es nie erraten, sage ich.

Sie warten.

– Lehrer, sage ich.

Hagen stößt einen Pfiff aus. Achim schlägt mir auf die Schulter.

– Scheiße, ein Lehrer! ruft er. Es ist ein guter Anfang.

 

Nichts weiter geschieht an diesem Abend. Wir trinken, wir lernen uns kennen und tauschen Geschichten, Abenteuer, Vorlieben aus. Ich erfahre kaum etwas Neues. Die Oberfläche ist dünn, aber sie bricht nicht. Die Chemie zwischen uns stimmt. Mit Hagen gibt es überhaupt keine Probleme. Achim wird erst mit der Zeit privat und läßt die Deckung nur zögerlich sinken. Sie spüren meine Einsamkeit, auch sie haben mich über die letzten zwei Monate hinweg beobachtet, wie ich da am Tresen saß und für mich war. Ich bin gut vorbereitet.

 

Die folgenden Abende verlaufen ähnlich. Wir reden, trinken, reden. Am fünften Abend kommt der dritte Mann gegen Mitternacht dazu. Er ist gebaut wie ein Grizzly und mit einem Jahr Unterschied zu Achim der Älteste in der Gruppe – silbergraues Haar, das immer zu einem Zopf geflochten ist, und eine Brustbehaarung, die aus dem Hemdkragen emporwächst. Plötzlich steht er in seiner Lederkluft am Tisch, sieht auf mich herab und stellt fest:

– Das ist also der Neue.

Ich komme ungeschickt auf die Beine und stoße gegen den Tisch, Bier schwappt aus den Gläsern, ich schwanke und es sieht aus, als ob ich nach zwei Wodka Lemon schon angeschlagen wäre. Die Männer lachen, ich strecke die Hand aus.

– Der ist Lehrer, sagt Achim, Die sind alle ein wenig wacklig.

– Mika, sage ich.

Seine Hand schließt sich fest um meine. Ein richtiger Kumpelgriff. Dann dreht er meine Hand, so daß sich unsere Handballen treffen, zwei Hände werden zu einer Faust. Es fehlt nur noch, daß er mich umarmt.

– Edmont, sagt er und zieht mich zu sich ran, so daß ich fast über den Tisch falle, Und weißt du was?

– Was?

– Ich hasse Lehrer.

Ich mache große Augen, Edmont ahmt mich nach und läßt die Sekunden verstreichen, dann löst er den Moment auf und lacht mir ins Gesicht, so daß ich sein Abendessen riechen kann – Hähnchen, Pommes, Mayonnaise. Achim und Hagen lachen mit ihm. Ich tue, als wäre der Witz eben erst bei mir angekommen. Und lache. Und lache.

 

Ich kehre gegen ein Uhr morgens nach Hause zurück. Plötzlich geht es so schnell. Hagen. Achim. Edmont. Ich habe das Gefühl ich könnte die ganze Nacht laufen, so rastlos bin ich. Der Wetterbericht hat einen Kälteeinbruch für das Wochenende angekündigt, die Luft ist frostig, und ich schmecke den Winter bei jedem Atemzug. Eisig und bitter wie eine Frucht, die nicht gegessen werden sollte. Ich fürchte mich vor dem Schnee. Er wird meine Erlösung sein, aber dennoch fürchte ich mich vor ihm.

Als ich das Haus betrete, gebe ich mir Mühe, leise zu sein, und laufe nur in Socken durch die Zimmer. Ich kann jetzt nicht schlafen, also starte ich den Computer, aber das Internet ermüdet bloß die Augen, der Verstand bleibt ruhelos und will gehört werden. Ich wünschte, ich wäre wieder im Pub. Ich wünschte, ich könnte sie sofort wiedersehen.

Hagen. Achim. Edmont.

Wir sind fast komplett.

Ich setze mich vor den Fernseher. Als es draußen hell wird, ziehe ich mich an und mache mich bereit für die Arbeit. Ich bin Lehrer und muß Geld verdienen, denn ich habe ein Leben.

 

3

Der Mittwochabend beginnt mit einem Kurzschluß. Draußen tobt ein Sturm, die Scheiben sind vereist. Plötzlich ist es finstere Nacht im Pub. Die Gespräche verstummen, irgendwo klirren Gläser aneinander, dann ist nur noch der Verkehr auf der Rheinstraße deutlich zu hören. Ein Bus rumpelt vorbei und gibt ein Schnaufen von sich. Jemand ruft, ob denn die Welt untergegangen sei oder was. Sie lachen und verlangen nach Freibier. Feuerzeuge werden in die Luft gehalten, einer stimmt Freiheit von Westernhagen an, und alle singen mit. Mittendrin geht das Licht wieder an. Der Gesang verstummt, keiner sagt was, die Gäste runzeln die Stirn und sehen sich um, dann brechen sie in lauten Jubel aus, als hätten sie einen Bombenangriff überlebt. Die Jukebox erwacht wieder zum Leben und nach einer Minute ist es so, als wäre nichts geschehen.

 

Vor mir steht eine Schale mit Erdnüssen und ein Wodka Lemon. Das Glas schwitzt auf die Tischplatte. Es ist Mitte Februar und die Heizungen laufen auf Hochtouren. Hagen sitzt mir gegenüber und weigert sich, seine Wollmütze abzunehmen. Seine Locken schauen unter den Rändern hervor, und er erinnert mich an einen Fischer, der eben sein Schiff verlassen hat. Achim und Edmont sind mir so nahe, daß sich unsere Schultern berühren. Achim sitzt links von mir, er hat bisher kein Wort gesagt. Sein kahler Kopf glänzt, als hätte er ihn eben erst rasiert. Rechts von mir rieche ich Edmonts Kleidung. Sein Hemd ist aus Hirschleder, und ich muß es anfassen, weil er meint, sowas Weiches hätte ich bestimmt noch nie berührt.

– Wie Babyhaut, erklärt er mir.

Edmont ist einer von diesen Kumpels, die einen immer anstoßen. Derb, laut und nah. Er klackt mit seinem Glas gegen Achims Glas.

– Ohne dich wäre ich nicht hier.

– Laß mal stecken, sagt Achim und grinst plötzlich.

 

Achim und Edmont sind Mitte der 80er Jahre direkt nach dem Abitur von Bonn nach Berlin gezogen, um dem Wehrdienst zu entgehen. Sie sind seit ihrer Kindheit beste Freunde und sagen, sie haben die Flucht gemeinsam geplant. Bonn hat sie seitdem nicht wiedergesehen. Achim schloß sein Studium als Elektroingenieur ab, zwei Jahre später leitete er seine eigene Firma und verlegte sich Anfang der 90er auf die Installation von Satellitenschüsseln. Edmont dagegen hat zehn Jahre lang Oldtimer aufgemotzt, jetzt betreibt er mit seiner Frau eine Fahrschule in Frohnau. Lemke & Lenkrad. Er fährt das ganze Jahr über Motorrad und trägt einen offenen Helm. Dementsprechend ist sein Gesicht windgegerbt, und die Männer nennen ihn spaßeshalber Leatherface. Edmont hat ein winziges Hörgerät, ohne das er auf dem rechten Ohr taub wäre. »Irgendeine Kinderkrankheit«, hat er mir erklärt, aber ich weiß es besser. Als er sieben war, schlug ihn sein Stiefvater krankenhausreif. Edmont spricht nie über seine Kindheit. Er spricht viel über seine Urlaube. Die letzten drei Wochen war er mit seiner Frau in Tunesien. Sie verreisen zweimal im Jahr. Es muß immer exotisch sein, denn exotisch ist anders und spannend. Jetzt ist er braungebrannt und froh, wieder in Deutschland zu sein. Er sorgt für die Balance in der Gruppe, er wäre gerne der Anführer, der Anführer ist noch nicht da.

– Irgendwas von Franco gehört? fragt Hagen.

Achim und Edmont schütteln den Kopf.

– Ich ruf ihn mal an.

Hagen fischt sein Handy heraus. Achim legt ihm die Hand auf den Arm.

– Franco kommt schon.

– Aber---

– Alter, laß es sein, okay?

Achim grinst, seine Zähne sind unglaublich weiß, Hagen steckt das Handy weg, sein Gesicht ist rot angelaufen, er nimmt die Wollmütze ab und fährt sich durch die Haare. Es ist an der Zeit, daß ich neugierig bin.

– Wer ist Franco?

Edmont lacht, und wenn Edmont lacht, ist am Tisch alles wieder gut. Hagen ist der schüchterne Witzbold, Achim der Brüter und Franco ihr Anführer. Edmont hat sich wieder gefangen, er wischt sich eine Träne aus dem Auge und legt dann die Hände zusammen, als würde er ein Gebet in den Himmel schicken. Mit tiefernster Stimme sagt er:

– Du fragst, wer Franco ist? Ich sage dir, wer Franco ist. Franco ist Gott.

Achim spuckt vor Lachen sein Bier über den Tisch. Hagen schmeißt Edmont ein paar Erdnüsse an den Kopf. Edmont grinst. Ich schaue überrascht.

– Gott! spielt Hagen das Echo und weitet dabei seine blauen Engelsaugen, Jeder muß einen Gott haben, unser Gott ist Franco, verstehst du?

Ich verstehe. Wir lachen zusammen.

 

4

Einen Abend später betritt Gott den Pub und sieht sich um. Sein voller Name ist Franco Abramo Pardi, und er arbeitet für das Radio. Als er acht war, verließen seine Eltern Italien und kamen nach Deutschland, wo sie im Zentrum von Stuttgart eine Pizzeria eröffneten. Franco hielt nie viel von dem Familienbetrieb, er hatte nur ein Ziel, und das war, so schnell wie möglich aus Stuttgart verschwinden. Wenn Achim eine Bulldogge ist, dann ist Franco ein Windhund. Elegant, schlank, edel. Er trägt nur italienische Markenklamotten, und seine Schuhe werden in Turin handgemacht. Ein Seidenschal verbirgt eine Narbe, die ein Strick vor dreißig Jahren hinterlassen hat. Im Polizeibericht steht, zwei Türken hätten Franco vor dem Restaurant seiner Eltern aufgelauert. In dem Polizeibericht steht nicht, was Franco den zwei Türken danach angetan hat. Damals war er siebzehn, es war auch das Jahr, in dem er Stuttgart verließ. Franco trinkt als einziger von uns Rotwein.

– Du mußt Mika sein.

Er reicht mir die Hand. Seine Finger sind eisig von der Kälte, aber sein Griff ist warm und sicher. Achim nickt mir zu, als hätte ich eine Prüfung bestanden. Franco setzt sich. Er sieht nicht aus wie achtundvierzig, ich hätte ihn gute zehn Jahre jünger geschätzt. Edmont kehrt von den Toiletten zurück und riecht nach Zigarettenrauch. Seit Jahren versucht er, mit dem Rauchen aufzuhören. Wir tun, als hätte er es geschafft. Edmont freut sich, Franco wiederzusehen.

– Na, Meister, alles klar?

– Alles klar, Edmont. Wo ist Hagen?

– Er kommt gleich.

Edmont wedelt mit der Hand, ich soll rüberrutschen. Ich rutsche rüber, er setzt sich neben mich auf die Bank, legt seinen Arm um meine Schulter und zeigt mit dem Kinn auf Franco.

– Siehst du den? Ich nicke.

– Das ist Gott.

Franco lächelt zufrieden. Edmont spricht weiter.

– Wenn du nachts im Bett liegst und nicht mehr weiterweißt, dann machst du das Radio an und suchst ein wenig nach dem richtigen Sender, und wenn du Glück hast, hörst du, wie Gott zu dir spricht.

– Aber nur, wenn du Glück hast, sagt Gott.

– Ich werde es versuchen, verspreche ich.

 

Gegen Mitternacht kommt Hagen dazu, und wir sind das erste Mal komplett. Die Zeit des Wartens ist vorbei. Sie sind alle in der Stadt und werden die nächsten Wochen in der Stadt bleiben. Wir sind fünf Männer um einem Tisch, die ihre Gläser heben.

– Auf unseren Neuen!

Sie mögen mich. Ich bin schüchtern und dennoch neugierig, ich zeige Respekt und kann zuhören. Achim und Edmont reden von ihrer Studienzeit, Franco hat nie studiert, und Hagen wünscht sich manchmal, er würde es noch immer tun. Achim reibt sich über den geschorenen Kopf und stellt fest, daß ihm die langen Haare manchmal fehlen würden. Edmont will in diesem Winter unbedingt in eine Schwitzhütte und »mal so richtig die Sau rauslassen«. Achim sagt, für sowas wäre er zu alt. Franco fragt mich, was ich von Neapel halte. Er besitzt dort zwei Hotels, klein aber chic. Er liebt sein Heimatland und weiß überhaupt nicht, was er im arschkalten Deutschland verloren hat. Hagen spricht von seinem Ruderverein, von der vietnamesischen Küche und den vielen Serien, die er aus dem Fernsehen aufnimmt, um dann die Werbung rauszuschneiden. Hagen kauft keine DVDs.

– Ich bin ja kein Idiot, erklärt er mir.

Sie reden gerne durcheinander, aber sie hören, was der andere sagt. Es ist ein guter Rhythmus, es gibt keinen unangenehmen Moment des Schweigens. Der Schlagabtausch ist entspannt, denn sie sind zufrieden mit sich, und es gibt viel zu erzählen.

Achim hält sich als einziger zurück. Wenn Ratschläge gefragt sind, hat er immer ein paar parat, ansonsten ist er wie ein Reserverad, das gepflegt wird, weil man ja nie weiß, ob man es braucht. Er beobachtet. Ich habe das Gefühl, daß ihm nichts entgeht. Vor Achim muß ich mich in Acht nehmen, jede Bewegung und jedes Wort muß stimmen. Achim und Franco haben als einzige Familie und bereuen es nicht. Edmont wird nächstes Jahr fünfzig und denkt nicht daran, sich ein Kind ans Bein zu binden. Hagen ist single und will es auch bleiben.

 

Der Abend endet vor dem Pub. Wir schließen Jacken und Mäntel und ziehen die Schultern hoch. Die eisige Luft sticht in den Lungen. Franco drückt mir zum Abschied die Hand und sagt, es hätte ihn sehr gefreut mich kennenzulernen. Edmont steigt auf sein Motorrad und setzt den Helm auf. Er will nicht, daß wir Motorrad sagen. Es ist eine Yamaha XVS 1100 Drag Star. Cruiser ist das richtige Wort. Edmont tätschelt den Tank, als wäre er der Maschine dankbar, daß sie auf ihn gewartet hat. Dann streift er sich die Handschuhe über und fährt vom Bordstein. Der Zopf ragt wie ein Stück Tau unter dem Helm hervor und hängt gerade auf seinen Rücken. Achim schaut auf seine Uhr und überquert die Straße, ohne sich von uns zu verabschieden. Hagen winkt ein Taxi heran. Ich sage, ich habe nicht weit zu laufen. Hagen und Franco steigen ein. Als das Taxi außer Sichtweite ist, hocke ich mich zwischen zwei geparkte Autos und erbreche den Abend. Ich bin zu nervös, meine eigenen Worte machen mir Angst, ich darf verdammt nochmal nichts Falsches sagen.

Ich fürchte mich vor mir selbst.

 

5

– Mensch, wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht gesehen!

Er ist mein Urologe. Ich brauche keinen Termin, ich kann zu ihm kommen, wann ich will, er zieht mich immer den anderen Patienten vor. Wir plaudern eine Viertelstunde, dann fragt er, was mich zu ihm führen würde. Er kennt mein Leben nicht mehr. Wir haben zusammen studiert, ehe er zu den Medizinern wechselte. Vor drei Jahren haben wir uns das letzte Mal gesehen. Kein Mann geht aus Spaß zum Urologen.

– Ich brauche Hilfe, sage ich.

Er schüttelt bedauernd den Kopf, als ich ihm von der Trennung erzähle. Er hat meine Frau nur einmal gesehen, wir aßen nach einem Theaterbesuch im selben Restaurant. Sie war ihm sympathisch. Also erzähle ich ihm von dem Umzug. Wie schwer es ist, sich auf die neue Umgebung einzustellen, wie unterschiedlich sich Häuser anfühlen, und betone dabei, daß ich schlecht schlafe. Er nickt und fragt, wie meine Tochter die Trennung verkraftet. Ich hebe die Schultern. Langsam. Wie jemand, der sich zu entspannen versucht.

 

– Wie soll ein Kind es schon verkraften, wenn die Mutter ihre Sachen packt und verschwindet?

Ich lasse die rhetorische Frage einen Moment in der Luft hängen.

– Es geht ihr gut, füge ich hinzu.

Meine Stimme ist kontrolliert, ich habe geübt und weiß, wie was klingen muß. Ich bin jemand, der sich erklärt.

– Außerdem habe ich eine andere Frau kennengelernt. Sie …

Ich schaue auf meine Hände.

– Nun, sie ist jünger und eine Kollegin an meiner Schule. Das war, nachdem mich meine Frau verlassen hat und---

– Es ist in Ordnung, unterbricht mich mein Urologe verständnisvoll, Du mußt ja auch an dich denken. Was sagt deine Tochter zu der neuen Freundin?

– Sie hat sie noch nicht getroffen.

Wir schweigen. Ich muß auf den Punkt kommen.

– Ich brauche Hilfe, sage ich halblaut, Da unten, da … passiert nichts mehr.

Mein Urologe stellt mir ein Rezept für Viagra aus. Er sagt, so eine Reaktion wäre völlig normal nach einer Trennung. Besonders wenn man verlassen wurde. Ich solle mir keine Sorgen machen. Er fragt, wieviel Tabletten ich haben will. Ich sage sechs. Er erklärt mir Viagra. Ohne daß ich nachfragen muß, verschreibt er mir auch ein Schlafmittel. An der Tür hält er meine Hand länger als üblich, während er mir einen letzten Ratschlag gibt.

– Du solltest bald mit deiner Tochter reden.

Er hat ihren Namen vergessen. Es ist in Ordnung. Er ist nur mein Urologe, und ich habe, was ich wollte.

 

6

Ein Mensch kann sich nur für eine bestimmte Zeit vor dem Leben verstecken. Ein Mensch kann hungern und dürsten, ein Mensch kann verdrängen und neu anfangen, er wird aber nie die Erinnerung daran verlieren, wie es ist, ein Mensch zu sein. Ich erinnere mich sehr gut, auch wenn ich mich jeden Tag mehr und mehr vom Menschsein entferne.

 

Das Zimmer meiner Tochter befindet sich im ersten Stockwerk am Ende des Flurs. Das Licht leuchtet am Abend beruhigend unter der Tür hervor. Wir haben ihr die Lampe geschenkt, als sie mit fünf Jahren Angst vor der Dunkelheit hatte. Es ist eine Jugendstillampe mit einem sich drehendem Papierschirm. Auf dem Schirm sind Papageien abgebildet, die zwischen Baumwipfeln fliegen. Das Licht verwandelt ihr Zimmer in einen magischen Ort, der voller Abenteuer ist. Ich betrete es nicht mehr. Das letzte Mal war ich voller Wut und habe ein Loch in die Wand geschlagen. Ich lerne dazu, ich reiße mich zusammen.

Ihr Name hängt in bunten Buchstaben an der Tür. Das eine S verrutscht immer wieder, ich rücke es gerade und hoffe, daß meine Tochter merkt, daß ich das für sie tue. Wir haben es schwer miteinander. Ich gehe ihr, so gut ich kann, aus dem Weg, wie man jemandem aus dem Weg geht, der einen daran erinnert, wer man einst gewesen ist. Manchmal lege ich die Hand auf ihre Türklinke, weiter komme ich nicht. Oder ich decke den Tisch für uns beide. Dann gibt es Tage, da liegt ihr Name wie ein schweres Gewicht auf meiner Zunge, und kein Ton kommt heraus. An solchen Tagen denke ich nur an meine Tochter, ich denke nie an meine Frau, die ihr neues Zuhause auf der anderen Seite der Stadt gefunden hat. Sie sagt, mein Leben wäre eine Lüge, sie erträgt mich nicht mehr.

Oft stelle ich mir vor, was meine Frau für ein Gesicht machen würde, wenn sie die zwei Teller auf dem Tisch sehen würde. Gläser. Besteck. Servietten. Manchmal eine Kerze. Ich kann ein guter Vater sein, ich kann einen Tisch decken und es anständig aussehen lassen. Ich tue es nicht für meine Frau, denn ich suche nicht mehr ihre Zustimmung, ich tue es für unsere Tochter und die Normalität im Leben. Unseres Lebens.

An besonders guten Tagen hinterlasse ich meiner Tochter einen Zettel mit einer Nachricht, aber kaum kehre ich von der Arbeit zurück, zerknülle ich das Papier hastig, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen. Sie soll es nicht lesen, sie soll es lesen. Ich weiß nicht, was ich will. So werden aus besonders guten Tagen besonders schlechte Tage.

 

7

Edmont sitzt mir gegenüber und sein Hemd ist zwei Knöpfe weit geöffnet. Um den Hals trägt er ein Lederband mit einem indianische Symbol als Anhänger. Er sagt, den Talisman hätte er von einem Schamanen geschenkt bekommen. Niemand dürfte ihn anfassen, sonst ginge die Kraft verloren.

– Da steckt eine Power dahinter, das kannst du dir nicht vorstellen.

Es ist Samstag und die Straßen sind vereist. Wir sind die ersten am Tisch. Sonntags lasse ich mich nicht blicken. Zwischendurch setze ich immer wieder einen Tag aus, damit kein Rhythmus erkennbar ist. Ich will nicht berechenbar sein. Ich bin ein Mann mit Hintergrund und Geschichte. Ein Mann, den seine Frau verlassen hat, und das Leben geht weiter.

Edmont trinkt Kaffee. Ein Abend im Pub muß für ihn genau so beginnen – Kaffee mit Milch, zwei Kekse und Bruce Springsteen. Die Uhrzeit ist ihm dabei egal. Edmont rührt Zucker in seinen Kaffee und klopft den Löffel sorgfältig am Rand der Tasse ab, ehe er sagt, er würde jetzt mal ehrlich sein.

Ich nicke, es freut mich, daß Edmont jetzt mal ehrlich sein will.

Er nippt von seinem Kaffee und verzieht das Gesicht, als wäre es selbstgebrannter Schnaps. Danach legt er die Hände um die Tasse und schaut mich mit einem Lächeln an. Er sagt, daß er mich mag, er sagt, daß mich die Jungs mögen, aber er sieht da ein Problem.

– Irgendwas stimmt nicht mit dir, Mika, und ich wüßte gerne, was da nicht stimmt.

Seht mich, hier bin ich.

– Denk gut nach.

– Denk sehr gut nach. Und wenn wir dann alle hier sind, dann …

Everybody’s got a hunger, a hunger they can’t resist.

Drei Stunden später, und der Abend nimmt seinen üblichen Lauf. Samstag bedeutet volle Tische und viel Lärm. Eine neue Kellnerin sorgt für gute Laune, und die Männer machen ihr Augen, als wäre sie die Verführung in Person. Die Frauen spüren die Spannung und trinken mehr. Edmont und Achim spielen Dart. Franco konnte mit ihnen nicht mithalten und hat geschworen, daß Gottes Rache grausam sein würde. Jetzt sitzt er wieder an unserem Tisch und läßt sich darüber aus, wie albern Dartspielen ist. Hagen bestellt eine Runde Bier und einen Rotwein. Während wir warten, erzählt Franco von seiner Idee, einen neuen Radiosender ins Leben zu rufen.

Ich gebe ihm Recht, das macht Sinn. Hagen erklärt, daß er sich nur für klassische Musik interessieren würde. Ich weiß, daß er drei Jahre auf dem Hamburger Konservatorium war, ehe er das Antiquariat übernahm. Er spielt noch immer Geige. Franco schnaubt, er findet, Klassik wäre was für frigide Frauen, die auf frigide Männer stehen. Hagen fühlt sich nicht beleidigt, es gibt kaum etwas, was ihm nahegeht. Rod Stewart gibt einen Schrei von sich. Hot Legs setzt ein, und Franco stellt anerkennend fest, daß wohl jemand in diesem verdammten Pub Geschmack hat, denn das wäre genau die Musik, von der er die ganze Zeit über sprechen würde. Ich nicke mal wieder zustimmend, denn ich weiß, daß Franco die Jukebox vorhin selbst gefüttert hat. An manchen Tagen ist Gott sehr durchschaubar.

– Ich muß euch etwas erzählen, sage ich mitten in eine Diskussion über die Gaspreise hinein und bin überrascht, daß sie mir sofort zuhören. Ich atme tief durch und mit dem Durchatmen setzen sich die Flußkiesel in meinem Kopf langsam und träge in Bewegung, als hätte ich sie aus einem tiefen Schlaf geweckt. Erst einer, dann zwei. Das Wasser reißt sie mit. Keine Kanten, keine Ecken mehr, nur das Schaben von Stein auf Stein, als sie sich lösen. Seit einem Jahr arbeite ich auf diesen Moment hin. Ich habe mir Zeit gelassen. Der Winter hat sich jetzt erst auf die Stadt gestürzt, es hätte mir nichts genützt, diese Männer vorher kennenzulernen, denn das hier ist ihre Zeit.

– Ich wollte mich bedanken. Wie ihr mich die letzten Wochen aufgenommen habt, ihr …

– Es ist mir peinlich, aber ich will, daß ihr mich versteht. Meine Frau und ich … Ich habe euch ja erzählt, daß sie mich verlassen hat, ich habe euch aber nicht erzählt, was der Grund gewesen ist. Ich … Ich weiß einfach nicht, wohin mit mir.

– Manchmal wache ich nachts auf und halte mich an der Matratze fest, damit ich nicht aufstehe, so hungrig bin ich.

– Ich hungere nach meiner Tochter. Ich träume von ihr. Ich will sie. So sehr. Ihr seid Männer, ihr versteht das doch, oder? Ich meine … Bitte, versteht mich. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich will sie, versteht ihr mich? Ich will sie.

– Was hast du da gesagt?!

– Bitte, versteht mich. Ich … Ich habe niemanden, dem ich das erzählen kann … Und ich dachte, ihr … Denn meine Frau … Sie ist …

– Du willst was?!

– Es tut mir leid, flüstere ich.

– Antworte dem Mann, sagt Franco.

– Mach schon, drängt Hagen.

– Ich begehre meine Tochter, sage ich.

Der Kokon ist gerissen. Die Worte sind raus. Der Lärm kehrt mit einem Mal zurück. Die Kellnerin lacht an der Theke, ein Stuhl scharrt über den Boden, die Gespräche brechen sich schrill in meinen Ohren. Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich habe es getan, ich habe begehre gesagt. Die vergängliche Poesie der Verlangens. Ich habe es getan.

Sie wechseln einen Blick.

– Mensch, Mika! Alter Junge, sieh dich doch mal um. Siehst du, was ich sehe? Wir alle wollen doch unsere Töchter ficken, nur leider hat nicht jeder von uns das beschissene Glück, eine Tochter zu haben.

– Leider, sagt Edmont und seufzt.

Dann rufen sie nach der nächsten Runde.