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Zum Buch

August Pichler (1898–1963) gehörte jener Generation von Südtirolern an, die ihre Jugendjahre noch in der Monarchie verbracht hatte und die von Altösterreich geprägt war. Als Bub erlebte er noch den Glanz der späten Monarchie, während man allerdings in seiner engeren Heimat, dem Tiroler Unterland, bereits den nationalen Hader zwischen den Volksgruppen spürte. Und als schließlich Ende Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, musste der erst 16-Jährige an die Front. Nachdem er diese und zwei Lawinenunglücke überlebt hatte, legte er mit einer rasch bestandenen Kriegsmatura und anschließendem Jusstudium den Grundstein für seine spätere Laufbahn als Rechtsanwalt.

Als die Südtiroler 1939 vor die Option gestellt wurden, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen und ins Reich abzuwandern oder im faschistischen Italien zu verbleiben, entschloss sich der streng katholische August Pichler für die Heimat und gegen das unchristliche Reich, dem er nebenbei keine lange Lebensdauer vorhersagte.

Der Zwiespalt des Jahres 1939/40 brach mit aller Gewalt im Herbst 1943 wieder auf, als Italien zu den Alliierten wechselte und Deutschland daraufhin einen Großteil der Halbinsel und damit auch Südtirol besetzte. Der Umschwung der Verhältnisse alarmierte die Dableiber, viele versuchten, unterzutauchen oder zu fliehen. So auch August Pichler, der sich zunächst ins Trentino absetzte und schließlich auf abenteuerlichen Wegen ins Schweizer Exil ging.

Das am 31. März 1944 begonnene Tagebuch entstand aus der Unmittelbarkeit des Exilalltags. Der Text ist ein emotionales Wechselbad, bestimmt durch die nervenaufreibende Belastung der ständigen Orts- und Lagerwechsel und die ständige Sorge um die zurückgelassene Familie. „In seiner Knappheit“, so schreibt der Historiker Hans Heiss im Vorwort, „konzentriert es exemplarisch die Erfahrungsmuster eines späten Alttirolers, der seine konservativen Wertvorstellungen und seinen Heimatsinn gegen den Druck des Nationalsozialismus, des totalitären Italiens und trotz der sozialen Ausgrenzung durch viele Landsleute bewahrte und festigte.“

Mit freundlicher Unterstützung der Abteilung deutsche Kultur in der Südtiroler Landesregierung über das Südtiroler Kulturinstitut

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Inhaltsverzeichnis

Hans Heiss: Der Kanton Heimat
Das Exil-Tagebuch des Rechtsanwalts August Pichler

Beschreibung der Quellen

Editorische Bemerkung

Tagebuch August Pichler

Der Kanton Heimat

Das Exil-Tagebuch des Rechtsanwalts August Pichler
Hans Heiss

Rechtsanwalt August Pichler (1898–1963) aus Branzoll gehörte jener Generation von Südtirolern an, die ihre Jugendjahre noch in der Monarchie verbracht hatte und die von Altösterreich geprägt war. Günther Pallaver und Leopold Steurer haben 1998, zum 100. Geburtstag von Pichler, die Biografie des Antifaschisten und einzigen Südtiroler Vertreters in der Consulta Nazionale (1945/46) ausführlich dargestellt:1 Sein Vater war Ortsschulleiter in Branzoll, wo die Familie eine materiell bescheidene, aber angesehene Position im Ortsleben errungen hatte. Die Mutter Maria Sutter, Tochter eines Vorarlberger Eisenbahners, brachte mit dem Zungenschlag des „Ländle“ auch jene Migrantentradition ein, die untrennbar mit der Geschichte Tirols verbunden ist.

Jugendjahre zwischen Altösterreich und Faschismus

Der Bub erlebte noch den Glanz der späten Monarchie mit ihren markanten Höhepunkten: das 60. Krönungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph 1908, das patriotische Hochgefühl der Hundertjahrfeier der Tiroler Erhebung 1909, den Wirtschaftsaufschwung und die ersten Automobile, die der blühende Tourismus bald nach 1900 nach Tirol führte.

In seiner engeren Heimat, dem Tiroler Unterland, verspürte man aber auch die Spannungen, die der nationale Hader zwischen den Volksgruppen aufbaute, obwohl man in Branzoll seit langem zu einem auskömmlichen Verhältnis zwischen deutschen und italienischen Tirolern gefunden hatte. Der begabte Bub hatte bereits die ersten Oberschuljahre am Franziskanergymnasium in Bozen absolviert, als mitten in den Ferien, am 31. Juli 1914, der Erste Weltkrieg ausbrach.

Im Alter von nur 16 Jahren rückte August 1915 an die Front ein und wurde an seinem Einsatzort im Fleimstal im schneereichen Winter 1916/17 zweimal durch eine Lawine verschüttet. Nach rasch bestandener Kriegsmatura entschloss er sich zum Jus-Studium, das er zunächst in Innsbruck begann, um es dann in Modena fortzusetzen. In mehreren Kulturen aufgewachsen, mit dem Unterland emotional verwurzelt und durch die Turbulenzen der Zeit an Entbehrungen und Flexibilität gewöhnt, stellte sich der junge stud. jur. 1923 bald auf eigene Beine. Im Winter 1923/24 nahm er eine Stelle als Lehrer im Wipptaler Bergdorf Außerratschings an und besserte sein dürftiges Lehrergehalt durch die Stelle als Gemeindesekretär gehörig auf. Trotz der beruflichen Doppelbelastung gelang dem an hartes, konsequentes Arbeiten gewöhnten August 1927 der Studienabschluss, sodass er an neue berufliche Perspektiven denken konnte.

Sein Privatleben verlief dank der Heirat mit der Branzollerin Hermine Zambelli seit 1924 in geordneten Bahnen; in das Elternhaus seiner Frau kehrten das junge Paar und der Erstgeborene, der kleine Gusti, bereits 1927 zurück.

Wenige Jahre nur blieb man im kleinen Branzoll, danach verlegte die rasch wachsende Familie ihren Wohnsitz in die Col-di-Lana-Straße im Bozner Stadtteil Gries. Gries, bis 1925 eine eigenständige Gemeinde, war eine reizvolle Mischung aus Kurort und Weindorf, bestimmt durch die Präsenz des Benediktinerklosters Muri. Hier erweiterte sich die kleine Familie ziemlich rasch: Auf den Ältesten, den 1925 geborenen Gusti († 1989), folgten bald Günther (1928), Norbert (1930–1994), Paul (1931), Luis (1935) und Peter (1939). An die früh verstorbenen Kinder Maria (1926) und Leonhard (1926) dachten die Eltern oft wehmütig zurück.

In verschiedenen Kanzleien, ab 1933 dann als Partner des Rechtsanwalts Emil Silbernagl, verfolgte der junge Rechtsanwalt engagiert seine beruflichen Aufgaben, in denen er die materiellen Nöte seiner Landsleute in der wirtschaftlichen Depression der frühen Dreißigerjahre zur Kenntnis nahm. Hier wuchs seine Ablehnung des Faschismus und die innere Distanz zu Italien, das er als mitverantwortlich für die Zerschlagung der hochgeschätzten Habsburgermonarchie verurteilte.

Politische Herausforderung Option

Aber Abneigung und Distanz trieben Pichler nicht in eine Haltung lähmenden Ressentiments, sondern veranlassten ihn zur Pflege innerer Werte und zu eindringlicher Reflexion über die Werte Familie, Heimat, Religion sowie die rechte Völker- und Staatenordnung. Die Pflege eines guten Familienlebens betrachtete Pichler als konstitutiv, als unerlässlich zum Aufbau einer tragfähigen Gemeinschaft. So wie er selbst und seine Frau an ihrer großen, sechs Kinder umfassenden Familie unerschütterlichen Halt gewannen, so sollte auch die allgemeine Ordnung der Gesellschaft in familiengleichen Bindungen gründen. Die Übertragung des Familiensinns auf die unmittelbare Lebenswelt und die soziale Umgebung schuf dann jenen Sinn für Heimat, den Pichler in seinem Exil-Tagebuch eindringlich beschwor: Der soziale Raum des Dorfes und seine Orte, die vielfach erwanderten Landschaften der heimischen Bergwelt fügten sich in ihrem langsamen Wandel zu einem Bild innerer Ordnung, das persönliche Bindungen und äußere Umgebung zu einem harmonischen Ganzen verschmolz. Religion und Kirche schließlich hoben den familiären und heimatlichen Sinnzusammenhang auf eine neue, das Irdische übersteigende Stufe. August Pichler war gläubiger Katholik, dem die Glaubensgemeinschaft und die Gewissheit einer göttlichen Vorsehung Beruhigung und Halt boten. Die Habsburgermonarchie verklärte August Pichler rückblickend zum Modell einer Völkerfamilie, in der das Haus Habsburg für Ausgleich und innere Ordnung sorgte. Das Kronland Tirol schließlich galt Pichler als kleines Sinnbild der Mission Altösterreichs, als Heimat dreier Sprachgruppen, die darin trotz mancher Konflikte letztlich doch in Frieden zusammenlebten. Dies waren gewiss idealisierte Bilder, der Rechtsanwalt und Familienvater festigte sie jedoch durch eine Lebensführung, die diese Vorstellungen durch konsequente Praxis vertiefte.

Dank der festgefügten Anschauungen wurde August Pichler auch in der Phase der Option 1939 nicht aus der Bahn geworfen. Das Berliner Abkommen zwischen Dienststellen des Deutschen Reiches und des Königreichs Italien vom Juni 1939 stellte die Südtiroler vor die Alternative, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen und ins Reich abzuwandern oder in Italien zu verbleiben. Dies war für die betroffenen Südtiroler kein erfreulicher Ausweg aus ihrer Lage, sondern ein lähmendes Dilemma, das sie zur Entscheidung zwischen „Volkstum“ und „Heimat“ nötigte. In den Herbstmonaten 1939 brach ein verbissener Propagandakrieg zwischen „Gehern“ und „Bleibern“ aus, der die zweite Gruppe bald in eine Minderheitenposition nötigte. Die übergroße Zahl der Deutschlandoptanten, die bis zum 31. Dezember 1939 rund 80 % der Optionsberechtigten umfasste, fand, getrieben durch vielfältige Hoffnungen und Illusionen, zu einer brüchigen Einheit. Die Abneigung gegen das faschistische Italien, die Hoffnung, eine gemeinsame Entscheidung „für Deutschland“ würde Hitler zu einer „Heimholung“ auch Südtirols veranlassen, die Aussicht auf bessere Lebenschancen in Deutschland und schließlich eine spürbare Faszination durch den Nationalsozialismus, zumal unter Jugendlichen, erklärt das scheinbar so geschlossene Votum „für Deutschland“. Die Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit der Entscheidungsmotive, aber auch die Unsicherheit über die Folgen der Deutschlandoption, trieben viele Optanten in erbitterte Gegnerschaft, oft in eine wahre Hasskampagne gegen die „Bleiber“, die für die Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft entschieden hatten. Auf sie wurde die eigene Ungewissheit und Angst projiziert, sie dienten als Sündenböcke der Optanten-Ängste. Unter den prominenten Bleibern fand sich auch der inzwischen landbekannte Rechtsanwalt August Pichler. Für ihn war es nur schlüssig, sich für „die Heimat“ und gegen das unchristliche Reich zu entscheiden, dessen „Führer“ an die Stelle von Recht und Gemeinsinn eine brutale Ordnung sowie die Zwänge der „Volksgemeinschaft“ setzte. Außerdem beurteilte er die Chancen eines siegreichen Kriegsausgangs für Deutschland trotz aller Anfangserfolge denkbar negativ und bemerkte trocken: „Geopolitisch betrachtet, kann Hitler den Krieg nicht gewinnen.“2 Mit solchen Argumenten kämpfte Pichler im Unterland entschieden gegen die Option seiner Landsleute und musste dabei viele Schikanen einstecken.

Seine religiöse Kraft, der Zusammenhalt der Familie und die Zuversicht auf einen besseren Ausgang ließen August Pichler die Anfeindungen der Jahre 1939/40 gefasst überstehen. Als bereits 1940 die ersten enttäuschten Reaktionen aus den Reihen der rund 70.000 Abwanderer Südtirol erreichten, flaute der Optantenstrom rasch ab - es blieb im Lande, wer nur konnte. Der Umschwung der Stimmung milderte aber kaum die Ablehnung der Dableiber, denen man nur widerwillig zugestand, dass sie vielleicht richtig gehandelt hätten.

Der Zwiespalt des Jahres 1939/40 brach mit aller Gewalt im Herbst 1943 wieder auf, als Italien aus dem aussichtslosen Krieg an der Seite Deutschlands ausschied und am 8. September seinen Kriegseintritt an der Seite der Alliierten erklärte.3 Die Folge war die sofortige Besetzung eines großen Teils der Halbinsel durch deutsche Einheiten. Südtirol wurde mit den Provinzen Trient und Belluno zur Operationszone Alpenvorland vereint, das faschistische Regime entmachtet und eine deutsche Parallelverwaltung unter dem Obersten Kommissär Franz Hofer errichtet. Der Umschwung der Verhältnisse alarmierte die Dableiber, zumal jene, die als entschiedene Gegner des Nationalsozialismus aufgetreten waren. Sie suchten vielfach noch am 9. September unterzutauchen oder zu fliehen, um der absehbaren Verfolgung zu entgehen.

August Pichler setzte sich aus Bozen sofort nach Deutschnofen ab, schnürte noch nachts ein Fluchtpaket und entkam am nächsten Morgen nur knapp der Arretierung, die Deportation, vielleicht sogar Folter und Tod, bedeutet hätte. Dass man an seiner Stelle die 12- und 13-jährigen Söhne Norbert und Paul für kurze Zeit festnahm, zeigte die brutale Konsequenz, mit der das neue Regime gegen seine Gegner vorging.

Die Flucht führte den Rechtsanwalt zunächst nach Maria Weißenstein, dann über Molina nach Dorà im Fleimstal. Von dort aus wechselte er in ein Sommerfrischhäuschen des befreundeten Trienter Rechtsanwaltes Deluca in Pera, einer Fraktion von Vigo di Fassa. Der Kontakt mit seiner Frau verlief über Mittelsleute und riss auch in Trient nicht ab, wo Pichler am 22. Jänner für beinahe zwei Monate untertauchte. Die Bindung an seine Familie war einer der Hauptgründe, weshalb sich der Flüchtige nicht früher ins Exil absetzte. Die Liebe zu Frau und Kindern und eindringliche Sehnsucht nach ihnen beherrschten während der langen Monate der Flucht einen Großteil seiner Gedanken.

Trotz aller Vorsicht und schützender Tarnung mit Bart und Brille wurde die Situation für August Pichler in Trient gegen Winterende 1944 immer bedenklicher. Mitte März fiel der Entschluss zum Exil und nach einem berührenden Abschied von Frau Hermine, seinem „Weibele“, reiste Pichler im Auto nach Stresa, seinem Ausgangspunkt für die Flucht in die Schweiz. Pichler trat den Weg über die Grenze nur aus dem Grund an, da er sich völlig sicher war, dass der Krieg in wenigen Monaten aus sein würde. Im Sommer, spätestens im Herbst, würde er wieder nach Südtirol zurückkehren. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht, die Dauer des Exils wurde zur zehrenden Kraftprobe.

Selbstbewahrung im Exil

Das am 31. März 1944 begonnene Tagebuch von August Pichler entstand aus der Unmittelbarkeit des Exilalltags, weshalb die Sichtweise des Schreibers nicht durch spätere Reflexion oder den Hintergrund des späteren, guten Ausgangs geglättet ist. Der Text ist ein emotionales Wechselbad, bestimmt durch die nervenzerrende Belastung der ständigen Orts- und Lagerwechsel, dazu durch den ungewissen, ständig erweiterten Zeitrahmen der ersehnten Rückkehr. In der Niederschrift beruhigte der Flüchtende Sorgen und innere Widersprüche, suchte im Schreiben Halt zu gewinnen und fixierte in der diaristischen Selbstprüfung seine Lebensperspektiven und grundlegenden Werte. Mithin bildet das kleine Tagebuch nicht nur eine Basisquelle der Existenz Pichlers und seiner Familie, sondern repräsentiert auch ein Kerndokument eines in Glauben und Werthaltung gefestigten Alttirolers, den die Bindung an seine Kirche und die Hoffnung auf ein transnationales Europa gegen nationalistische und totalitäre Versuchungen immunisierte. Es gibt wenige Quellen der jüngeren Landesgeschichte, die die Auffassungen eines wertkonservativen Tirolertums derart überzeugungsstark und anrührend komprimierten. Obwohl manche Beurteilungen des Schreibers zunächst skeptisch aufhorchen lassen, wie etwa sein Urteil über die Juden, so beeindruckt doch seine Fähigkeit, die eigenen Urteile selbstkritisch zu überprüfen und sie durch kontrafaktische Argumentation so lange in Frage zu stellen, bis ein fester, moralisch tragfähiger Standpunkt gewonnen war.

Neben dem Grundton einer immer wieder neu zu bestimmenden Werthaltung markiert das Tagebuch die vielen Stationen des Exils in der Schweiz, beschreibt ungeschminkt die prekäre Lage der Internierten und die bürokratisch vertrocknete Humanität des Gastlandes. Denn nach kurzem Aufenthalt in der opulenten Kulisse eines Grandhotels in Stresa machte sich Pichler auf den Weg in die Schweiz unter entbehrungsreichen, physisch aufreibenden Bedingungen im ständigen Wechsel der Internierungslager.

Von Stresa aus begleiteten ihn teuer bezahlte Schmuggler von Stresa über Domodossola im Anstieg durch schneebedeckte Wälder und Jöcher am 12. April zunächst nach Gondo, ehe es von dort aus weiter nach Brig ging. Nach polizeilicher Erstaufnahme erfolgte die Einweisung ins Quarantänelager Lausanne, wo mit einem Kontrollaufenthalt von drei Wochen ab 25. April 1944 für August Pichler „das richtige Lagerleben“ begann. Bei seinem Transfer durch Internierungslager in verschiedenen Schweizer Kantonen bildete der innere „Kanton Heimat“ eine spirituelle Zuflucht im Wandel der Verhältnisse. Sein Interesse galt sofort den Mitinternierten unterschiedlichster Nationalität und beruflicher Herkunft, mit denen er vielfach in regen Austausch trat. Vor allem mit Menschen aus Grenzregionen, so etwa mit Mithäftlingen aus dem Elsass, dazu all jenen Personen, die eine Beziehung zu Tirol hatten, unterhielt Pichler regen Gesprächskontakt und entwickelte mit Einzelnen sogar freundschaftlichen Kontakt. Die Solidarität mit einzelnen Internierten zum einen, zugleich aber auch die Distanz zu bestimmten Personen wuchs dann, als der bereits 46-jährige Rechtsanwalt aus dem Übergangsstadium in Lausanne zum Arbeitseinsatz in das Lager Hedingen (14. Juni 1944) überstellt wurde. War die dortige Arbeitsbelastung noch erträglich, so geriet Pichler an die Grenze seiner Kräfte, als er am 21. Juli einem Bauernhof in Oetwil zugewiesen wurde. Bauer Ringger presste aus dem Mann das Äußerste heraus, sodass Pichler bereits nach 14 Tagen um Rückkehr nach Hedingen ansuchte – glücklicherweise mit Erfolg. Erschöpft und mit einem Gewichtsverlust von sechs Kilogramm kehrte er in die relative Geborgenheit Hedingens zurück. Hier hatte er Freunde, dazu die Möglichkeit, im nahen Bremgarten einen weiteren Südtiroler Exilanten, den Bozner Arzt Dr. Ludwig Thalheimer zu besuchen.4 Der wegen seiner jüdischen Herkunft geflohene Thalheimer und seine Frau behandelten den Landsmann zuvorkommend und freundschaftlich. Die humane Seite des Exils tröstete Pichler jedoch nicht über die Trennung von seiner Familie und die völlige Nachrichtensperre hinweg, sodass ihn die Sehnsucht nach seiner Frau Hermine und den Kindern, zumal dem Nesthäkchen Peterle, innerlich förmlich verzehrte. Erst über einen zum Grieser Kloster Muri gehörenden Benediktinerpater und den Branzoller Theodor Lentsch erhielt er erste, halbwegs beruhigende Auskunft über ihre Situation und wurde zugleich über die schweren Bombenangriffe auf Bozen und das Unterland informiert.

Nach kurzem Zwischenaufenthalt in Hedingen wurde Pichler am 21. August 1944 ins Lager Dornach bei Basel überwiesen, wo er zum Leiter der Lagerkanzlei avancierte. Von dieser Zeit an wuchs Pichlers Bedrückung über das nicht enden wollende Exil um ein Vielfaches: Bereits bei seiner Flucht im September 1944 hatte er gehofft, dass der Krieg bis Weihnachten beendet sein würde und musste seither Monat für Monat seine Prognosen verlängern. Im Herbst 1944 wurde deutlich, dass jede Aussicht auf ein Kriegsende vor Ausgang des Winters 1945 unrealistisch war. In seiner Verzweiflung dachte Pichler sogar kurzfristig, sich für eine Widerstandsorganisation, die „Patria“, nach Italien zurückschleusen zu lassen. Die aus US-Geheimdienstmitteln finanzierte „Patria“ und ihr Leiter, der junge Österreicher Wilhelm Bruckner,5 verloren nach anfänglicher Zustimmung aber bald schon das Vertrauen Pichlers, der das Vorhaben für unausgereift hielt und Bruckner eine harsche Abfuhr erteilte.

Rückkehr und Erinnerung

Die Lager-Odyssee schien mit der Übersiedlung von Dornach ins nahe Lager Gempen-Plateau, dann nach Stollenhäuser und wiederum nach Hedingen nicht enden zu wollen. Mit einem Elf-Stunden-Einsatz als Gärtner im Lager Hausen ausgerechnet am Allerseelen-Tag erreichte Pichlers Stimmung den absoluten Tiefpunkt. Solche Arbeitseinsätze bei oft feuchtem Wetter und Nässe schadeten seiner Gesundheit nachhaltig und riefen ein später aufgetretenes Herzleiden hervor, das seinen frühen Tod 1963 verursachte.

Die fortgesetzten Enttäuschungen führten wohl auch dazu, dass Pichler ab 17. November 1944 die Niederschrift nur mehr kursorisch fortsetzte. Am 27. März 1945 kam er dank Intervention des Benediktiners P. Ildefons aus der Lagerinternierung frei und konnte sich in der Umgebung seines Gönners in Hermetschwil aufhalten, wo er auch beruhigende Auskunft über seine Familie erhielt. Nach so langem Warten konnte August Pichler unmittelbar nach Kriegsende noch im Mai 1945 heimkehren. Ein letzter Zwischenstopp führte den Rückkehrer von Leifers aus zu Fuß zu einem stillen Dank in den nahen Wallfahrtsort Weißenstein, ehe er in Deutschnofen nach 20 Monaten seine Familie wiedersah.

Das kleine Tagebuch bildet mit seinem Wechselspiel zwischen persönlicher Emotion und politischer Reflexion nur eine kleine Facette in der kaum überblickbaren Menge europäischer Exil-Erinnerungen. Für Südtirol genießt Pichlers Chronik jedoch als Unikum einen besonderen Rang. In seiner Knappheit konzentriert es exemplarisch die Erfahrungsmuster eines späten Alttirolers, der seine konservativen Wertvorstellungen und seinen Heimatsinn gegen den Druck des Nationalsozialismus, des totalitären Italiens und trotz der sozialen Ausgrenzung durch viele Landsleute bewahrte und festigte. Wer begreifen will, auf welche Weise der katholische Glaube ein plurinationales Tiroler Landesbewusstsein konstituierte, findet in Pichler einen unvergleichlich prägnanten Gewährsmann. Dieses rare Selbstzeugnis weist zurück in die vergehende Welt des 20. Jahrhunderts, die sich aus der Perspektive des folgenden Säkulums immer rascher verflüchtigt. Die Erinnerung wird uns immer weniger dabei helfen können, die Zukunft zu meistern.6 Texte wie das Tagebuch Pichlers werden ihre anrührende Kraft des Andenkens jedoch weiterhin bewahren.

Beschreibung der Quelle7

Das Tagebuch füllt zwei Schreibhefte (H1 und H2), das erste zur Gänze, das zweite zu fast zwei Dritteln. H1: mit drei Klammern geheftetes, einlagiges Schreibheft in Oktav, Kartonumschlag überzogen mit gaufriertem schwarzem Lederimitationspapier, dreiseitiger karminroter Schnitt, 24 Doppelblatt mit durchgehendem 24-Zeilen-Vordruck. H2: fadengeheftetes, einlagiges Schreibheft in Oktav, Kartonumschlag überzogen mit gaufriertem schwarzem Lederimitationspapier, dreiseitiger hellroter Schnitt, 24 Doppelblatt mit durchgehendem 20-Zeilen-Vordruck.

Der Tagebuchtext durchwegs in fortlaufenden Einträgen von einer Hand in – mit wechselnd graubrauner (nachgehellter?), fallweise auch graublauer bis dunkelgrauer/hellschwarzer Tinte geschriebener – sauberer Lateinschrift abgefasst. Wenige zeitgleiche oder nachträgliche Korrekturen und Einfügungen von Hand des Verfassers, Hervorhebungen (durch Unterstreichung mit Tinte) beschränken sich im Wesentlichen auf die zumeist zusätzlich links ausgerückten Tagesangaben. In H2 eine Textpartie über fast vier Seiten mit vertikaler Wellenlinie (mit rotem Stift gezogen) jeweils am linken Seitenrand ausgezeichnet, wahrscheinlich von späterer Hand. In H1 bei den Einträgen zum 9. Juni 1944 ein mit Bleistift gezeichneter Plan von Pichlers Zimmer in Lausanne, ebendort (auch mit Bleistift ausgeführt) zwei Schemata zur Anordnung der im Zimmer aufgehängten Fotografien (und Bilder).

Editorische Bemerkung

Dr. August Pichler schrieb sein Tagebuch in den Jahren 1944 und 1945. Der hier abgedruckte Text folgt weitestgehend dieser Vorlage, abweichend dazu wurde die Schreibweise aber der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst. Grammatikalische Unstimmigkeiten wurden stillschweigend berichtigt, offenkundige Fehler der Vorlage im Text verbessert, die Variante der Vorlage dabei in Fußnoten ausgewiesen. Ergänzungen der Bearbeiter zum Originaltext wurden in eckige Klammern gesetzt, Ortsnamen an die heutige gängige Schreibweise angepasst. Die von Pichler uneinheitlich gehandhabte Interpunktion wurde behutsam an grammatikalische Erfordernisse angepasst. Lexikalische Übernahmen aus dem Italienischen und Französischen wurden kursiv gesetzt; Abkürzungen wurden soweit als möglich aufgelöst, Zeitangaben originalgetreu belassen.

Margot Pizzini Dalsass

Tagebuch

1944

Mitte März