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Dramatis Personae

Menschen

Daghan, genannt Dag Herzog von Ansun
Aryanwen Königin von Tirgaslan
Alur ed Vertrauter Dags
Gladwyn Krieger Ansuns
Henquist ein Veteran
Anghas Ca’Dur Clansherr, Lord von Tarnag
Catriona Ca’Dur seine Tochter
Ferghas Ca’Dur sein Bruder
Yorus Ca’Gor Clansherr, Lord des Südens
Niall Ca’Bra Clansherr, Lord des Purpurclans
Dugay Clansmann
Ringelschwanz Sklavenhändler
Gunan Anführer der Nordmänner
Suvat Ramil ein Junge aus Tirgas Winmar
Zwerge  
Vigor ein Verstoßener
Bertin Zwergenhammer ein Freiheitskämpfer
Dado dessen Freund
Runward Eisenherz ein Waffenschmied
Waldrada eine Kriegerin
Dankrad Steinhag ein Krieger
Crodegang Oberpriester des Schattenkults
Orks  
Rammar ein Krieger
Balbok sein Bruder
Kurok ein Medizinmann
Alchemisten und Zauberkundige
Dwethan ein alter Druide
Lord Ansgar Meister der Alchemisten
Seumas Druide und Zeremonienmeister
Lyrx ein Wechselbalg
Nagaya ein Wesen aus alter Zeit

Prolog

Dag merkte, wie die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde, als das Luftschiff plötzlich an Höhe verlor.

Er hörte die Rufe seiner Kameraden, ihre hektischen Schritte auf den Trittbrettern – ebenso, wie er die markerschütternden Schreie der Bestien vernahm, die aus den grauen Wolken herabstürzten, bereit, jeden Feind mit ihren schwarzen Klauen zu zerreißen.

Dag wusste, dass es keine Gegenwehr gab.

Sie hatten sich mit allem zur Wehr gesetzt, das ihnen geblieben war, doch nun gab es kein Entrinnen mehr. Die Schattenbestien waren zu stark geworden. Einer der Ihren hatte im Kampf gegen sie bereits sein Leben verloren. Nun wollten die schrecklichen Kreaturen auch noch den Rest der Gefährten vernichten, um sie an ihrem Vorhaben zu hindern – und Dag und seine Leute hatten den Angreifern nichts mehr entgegenzusetzen.

»Dwethan!«, brüllte Dag den Namen seines Mentors, doch der Alte antwortete nicht. Stattdessen flirrten Pfeile von Bogensehnen und flogen durch die kalte Luft – ob sie ihr Ziel erreichten, wusste Dag nicht zu sagen.

Auch ohne sehen zu können wusste er um den Abgrund, der unter ihnen klaffte, ein Loch aus teeriger Schwärze, das den einzigen Ausweg zu bieten schien. Und doch war das, was sie dort in der Tiefe erwartete, womöglich schlimmer als alle Schattendrachen zusammen.

Der Urgrund des Bösen …

»Spring!«, schrie irgendjemand und drückte ihm ein Seil in die Hand. Dag fühlte den rauen Hanf in seinen Händen, während er bereits hören konnte, wie sich die ersten Gefährten über die Reling stürzten, ihre Kampfesrufe, mit denen sie sich selbst Mut zu machen versuchten, verloren sich in der Tiefe.

Wieder ein grässlicher Schrei – die Schattendrachen waren ganz nah! Dag konnte ihre dunkle Aura fühlen, roch den Odem des Todes, der ihnen stets vorauseilte.

Er wusste, dass es keinen anderen Ausweg gab.

Die Entscheidung war längst gefallen.

Er schlüpfte in die Schlinge, die das Seil formte, dann kletterte er auf die Bordwand, und obwohl er mit den Augen ohnehin nichts sehen konnte, ertappte er sich dabei, dass er sie fest zukniff.

»Jetzt!«, schrie jemand neben ihm.

Und indem er das Seil mit beiden Händen umklammerte, so als wäre es nicht nur ein Stück Hanf, sondern sein nacktes Leben, ließ er sich nach vorn in den bodenlosen Abgrund fallen, nur einen Herzschlag, ehe die schwarzen Klauen die Blase des Luftschiffs zerfetzten.

Dag spürte, wie er fiel.

Zukunft und Gegenwart wurden eins.

Der Tag der Entscheidung war gekommen.

Und während er in die bodenlose Schwärze stürzte, rasten Dags Gedanken zurück in die Vergangenheit, zu jenem Tag, an dem all dies seinen Anfang genommen hatte …

Buch I

1

Zwei Monde zuvor

Schattendrachen!«

Der Warnruf scholl über das flache Grasland.

Die vier Männer und die Frau, die sich im Gänsemarsch durch das wogende Meer der gelbgrünen Halme bewegt hatten, warfen sich augenblicklich zu Boden – doch die beiden grässlichen Kreaturen, die unvermittelt am grauen Himmel aufgetaucht waren, hatten sie bereits erspäht.

Unter markerschütterndem Geschrei, die weiten Schwingen ausgebreitet, stießen sie herab, bereit, sich mit ihren mörderischen Klauen auf alles zu stürzen, was sich am Boden bewegte – doch die Wanderer waren nicht so wehrlos, wie es den Anschein haben mochte.

»Wartet«, zischte der alte Mann mit dem verwilderten schwarzgrauen Haar, das ihm bis über die Schultern hing. Der Blick seiner dunklen Augen war zum Himmel gerichtet, seine knochige Rechte umfasste den Wanderstab aus Lindenholz wie eine Waffe. »Wartet ab«, schärfte er seinen Gefährten ein, die sich neben ihm im hohen Gras duckten. »Bis ich das Kommando gebe!«

Die Kreaturen näherten sich.

Wer sie aus der Ferne sah, hätte sie für schwarzen Rauch halten mögen, dem eine Laune der Natur zufällig Form und Kontur gegeben hatte, doch sie waren ungleich mehr als das. Denn mit jedem Schrei, den sie ausstießen, und mit jedem Flügelschlag wuchs ihre körperliche Präsenz.

Die Aura des Todes, die ihnen vorauseilte, stülpte sich über die Wanderer wie ein dunkler Sack. Sie verfinsterte die fahle Scheibe der Sonne, machte den Tag zur Nacht und ließ das Gras verfaulen. Maden und Würmer wanden sich auf dem Boden, der Odem von Fäulnis und Verwesung breitete sich aus, Furcht griff mit klammer Hand nach den Herzen der Wanderer.

»Jetzt!«, schrie der Alte.

Die Pfeile schnellten von den Sehnen.

Steil stiegen sie in den Himmel und fanden ihr Ziel, durchbohrten schwarze Reptilienhaut, doch für die Ungetüme schienen es nur Nadelstiche zu sein. Einen Lidschlag später waren die Bestien heran und hätten die Wanderer mit ihren Klauen zerfetzt, hätte sich ihnen nicht etwas in den Weg gestellt.

Die Erkenntnis, dass die Pfeile nur der Ablenkung gedient hatten, dass sie nur dazu da gewesen waren, den Zorn der Schattendrachen auf sich zu ziehen, kam den grässlichen Kreaturen vermutlich nie – sie waren nur tumbe Diener, vom bösen Willen eines anderen gelenkt. Der Schlag, der sie traf, war so gewaltig, dass er einen von ihnen auf der Stelle zerschmetterte.

Der Kampfschrei des Schattendrachen endete jäh, als sein Angriff nur wenige Mannslängen über dem Boden abgefangen wurde. Die Kreatur schlug mit den Flügeln, als versuchte sie, einer unsichtbaren Fessel zu entfliehen, dann schien etwas sie zu packen und in der Luft zusammenzupressen. Ihre Flügel wurden gebrochen, ihr schlanker Körper zerquetscht. Dann jagte ein Lichtblitz zum Himmel, der die Kreatur einhüllte und verzehrte.

Auch der andere Schattendrache wurde von der unsichtbaren Faust getroffen, dem Blitz jedoch entging er knapp. Er schlug zu Boden, nur um sich sogleich wieder zu erheben und sich mit weit aufgerissenem, stinkendem Schlund auf die Wanderer zu stürzen. Erneut flogen Pfeile, dann wurden die Klingen aus ihren Scheiden gerissen.

Fauchend griff die Bestie an, ihr mörderischer, zackenbewehrter Schwanz wischte heran. Einer der Männer wurde getroffen und von den Beinen gerissen. Rücklings landete er auf dem Boden, die Augen vor Entsetzen aufgerissen, während der Schattendrache über ihm emporwuchs, bereit, ihn zu zermalmen. Doch schon waren die Gefährten des Verwundeten zur Stelle, allen voran ein junger Mann, der die Augen verbunden hatte – blind war er dennoch nicht. Er hatte gelernt, auf andere Weise zu sehen, durch Bilder, die sein Gehör und sein Geruchssinn ihm offenbarten, aber auch durch ein Empfinden, das weit jenseits gewöhnlicher Sinneseindrücke lag.

Sein Schwert beidhändig umklammernd, stürzte er sich auf die Kreatur, um sie von dem wehrlosen Kameraden abzulenken. Mit blitzschnellen Bewegungen brachte er ihr zwei Schnittwunden bei, ehe das grässliche, zackenbewehrte Haupt mit den glutrot leuchtenden Augen zurückpendelte und nach ihm schnappte. Gleichzeitig war ein heiseres Zischen zu hören, als das Schattenwesen die kalte Luft einsog, um Tod und Verderben aus seinem Pestrachen zu speien – doch dazu kam es nicht.

Ein weiterer, gleißender Blitz zuckte heran und fuhr in den Schlund der Kreatur, die heiser aufschrie.

»Jetzt!«, brüllten die Gefährten und stürzten sich gleichzeitig auf die riesenhafte Bestie, stießen ihre Klingen bis zum Heft in ihren Leib.

Schwarzer Lebenssaft quoll hervor, wo die Klingen wieder herausgerissen wurden. Der Schattendrache bäumte sich auf, schlug mit den Flügeln, als könnte er so seinem Schicksal entgehen – aber es war zu spät. Ein mächtiger Axthieb zertrümmerte seinen linken Flügel, dann schwirrte eine Schwertklinge heran und durchtrennte seinen Hals. Das Haupt fiel auf den von Fäulnis durchdrungenen Boden, wo es kullernd liegen blieb. Das Leuchten in den Augen erlosch – und schließlich starb, was schon seit Äonen hätte tot sein sollen.

»Verdammt, Druide«, rief einer der Männer, ein ergrauter Hüne mit fast kahlem Haupt und dafür umso üppigerem Bart, »Ihr habt Euch Zeit gelassen!«

»Nicht alles liegt in meiner Macht, mein guter Henquist«, versicherte der Alte, der so entkräftet war, dass er sich auf seinen Stab stützen musste. »Diesen Kreaturen standzuhalten, wird von Tag zu Tag schwerer. Einst waren sie nichts als Schatten, die sich nur des Nachts fortbewegen konnten – nun sind sie im hellen Tageslicht unterwegs, und ihre Stärke wächst beständig. Nur einen konnte ich sogleich vernichten, für den anderen haben meine Kräfte nicht mehr ausgereicht.«

»Aye, Druide, grämt Euch nicht«, knurrte ein anderer, der die derbe Kleidung und lederne Rüstung eines Hochländers trug. Sein ergrautes Haar war schulterlang und zum Zopf gebunden, sein Blick klar und direkt, beinahe stechend. »Wir sind auch so mit dem Vieh fertiggeworden.« Wie um seine Worte zu bestätigen, ließ er seine Axt noch einmal niedergehen und senkte sie in den Kadaver.

»Das darf uns kein rechter Trost sein, tapferer Ferghas.« Der Alte schüttelte den Kopf. »In den vergangenen Wochen sind wir mehr von diesen Kreaturen begegnet als all den Monden zuvor. Ihre Macht wächst.«

»Dann sollten wir zusehen, dass wir weiterkommen«, drängte Daghan von Ansun, der Mann mit der Augenbinde. Er hatte sich von dem Kadaver abgewandt, der bereits begann, zu zerfallen, und war zu der Frau getreten, die die Gruppe begleitete. Wie Daghan und der Druide trug sie grüne Waldläuferkleidung, die sie den Blicken neugieriger Beobachter entziehen sollte. Und wie die Männer hatte auch sie ihr Schwert gezogen, bereit, ihr Leben teuer zu verkaufen. Sie war von ruhiger Schönheit, mit grünen, an ihr elfisches Erbe gemahnenden Augen und langem schwarzem Haar, das sie zu einem Zopf geflochten hatte. Ihre einstmals vornehm blassen Züge waren sonnengebräunt und von anhaltender Strapaze gezeichnet. Dennoch stand eiserne Entschlossenheit darin zu lesen.

Ihr Name war Aryanwen, und sie war die rechtmäßige Erbin des Throns von Tirgaslan. Doch in diesen Tagen spielte das keine Rolle. Die Machtverhältnisse in Erdwelt hatten sich geändert – und mit ihnen auch die Dinge, die wichtig waren.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Dag und drehte den Kopf in ihre Richtung.

»Ja«, versicherte sie, aber dem Beben in ihrer Stimme war zu entnehmen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten.

»Die Biester sind tot«, versicherte Dag. »Sie können uns nichts mehr anhaben.«

»Das ist es nicht, und das weißt du auch«, widersprach sie. »An die ständige Bedrohung durch die Schattendrachen habe ich mich gewöhnt. Aber jedes Mal, wenn sie uns angreifen, habe ich schreckliche Angst, dass … dass …« Sie unterbrach sich, wollte die Worte nicht aussprechen.

»Dass wir unsere Suche womöglich nie zu Ende bringen werden«, fügte Dag hinzu.

Er konnte nicht sehen, wie sie nickte, aber sie kannten einander so lange und gut, dass das auch nicht nötig war.

Schon damals, als der Krieg zwischen den Menschenreichen Tirgaslan und Ansun getobt hatte, war es ihre Liebe gewesen, die alle Gegensätze überbrückt und die einstigen Feinde zusammengeführt hatte, damit sie sich gemeinsam der Bedrohung durch die Zwerge entgegenstellten. Und als die Menschen den Krieg verloren hatten und der Zwergenkönig Winmar durch Verrat und dunklen Zauber triumphierte, hatte ihnen dieser unlösbare Bund Mut und Hoffnung gegeben. Nie hatte ihre Liebe in Zweifel gestanden, selbst dann nicht, als Aryanwen nach dem Tod ihres Vaters Tandelor dem Marionettenkönig Lavan zur Frau gegeben worden war, und als Dag, der einzige Sohn Herzog Osberts von Ansun, nicht nur seines Titels und Besitzes, sondern auch seines Augenlichts beraubt worden war und sich in den östlichen Wäldern verkrochen hatte, in Selbstmitleid und Verzweiflung versunken. Dort hatte Dwethan ihn schließlich gefunden, der alte Druide, und ihm die Augen für die Wahrheit geöffnet.[1]

Doch das lag lange zurück.

Zwei Sommer und zwei Winter waren seither vergangen, in denen Dag und Aryanwen alles darangesetzt hatten, das Kostbare wiederzufinden, das ihnen genommen worden war. Nur für kurze Zeit war es Aryanwen vergönnt gewesen, ihr neugeborenes Kind in den Armen zu halten, jenes winzig kleine und doch so lebendige Wesen, dem vom ersten Atemzug an ihre ganze Liebe gehört hatte.

Ihre gemeinsame Tochter … Alannah.

Vor die Wahl gestellt, ihr Kind in tödliche Gefahr zu bringen oder sich von ihm zu trennen, hatte sich Arynwen für Letzteres entscheiden müssen. In höchster Bedrängnis hatte sie Alannah zwei Gestalten anvertraut, die von allen Kreaturen Erdwelts wohl am ungeeignetsten waren, um für ein Menschenkind zu sorgen: den Orks Balbok und Rammar.

In ihrer Verzweiflung und dem womöglich völlig unberechtigten Vertrauen darauf, dass die beiden halten würden, was die Geschichtsbücher über sie behaupteten, hatte Aryanwen ihnen ihr Kind geben müssen – und diese Entscheidung hatte sich bitter gerächt. Denn die Orks hatten Alannah nie in die Hügellande gebracht, wie es vereinbart gewesen war. Jedenfalls waren sie dort niemals angekommen. Oder an sonst einem Ort, von dem eine Nachricht zu ihr hätte dringen können.

Entweder, ihnen war unterwegs etwas zugestoßen und sie waren dem Angriff eines Schattendrachen oder einer Kaldrone zum Opfer gefallen. Oder aber – und darin lag Aryanwens letzte, leise Hoffnung – die Orks hatten einen anderen Weg eingeschlagen.

Zwar konnte sie sich keinen vernünftigen Grund dafür denken, jedoch waren Balbok und Rammar, wie sie stets behaupteten, zwei Orks aus echtem Tod und Horn, und das bedeutete, dass sie nicht nur die ihrem Volk eigene Schlichtheit, sondern auch dessen Sturheit besaßen.

Anfangs war Aryanwen noch guter Dinge gewesen, dass sie die Orks noch einholen und das Kind rasch zurückbekommen würden. Doch jeder volle Mond, der verstrich, ohne dass sie die kleine Alannah wieder in ihren Armen hielt, hatte an ihrer Zuversicht genagt, und längst war es die Furcht, die alles überwog.

Nachdem sie die Hügellande abgesucht hatten, ohne auch nur auf einen Klauenabdruck der beiden Orks zu stoßen, hatten sie sich nach Osten gewandt. Die Städte der Menschen, von Arquat bis Suquat und von Girnag bis Suln, hatten sie ebenso aufgesucht wie Dags Heimatstadt Andaril, die inzwischen fest in der Hand der Zwerge war. Von der kleinen Alannah jedoch fehlte jede Spur.

Also hatten sie ihre anstrengende Suche noch weiter ausgedehnt, hatten sich die Siedlungen im Süden vorgenommen und den Wald von Trowna bis an die Gestade des Meeres; wann immer sich ein Hinweis ergeben hatte, waren sie ihm gefolgt, doch am Ende hatte sich alles als Irrweg erwiesen.

Schließlich hatten sie sich nach Norden gewandt und die weite Ebene von Scaria durchkämmt, die durch den Krieg zwischen Menschen und Zwergen zum Ödland geworden war. Die Felder waren verwüstet; Tod und Pestilenz herrschten, wo Äcker einst reiche Frucht getragen hatten; Schattendrachen und plündernde Orksöldner, die keinen Herren mehr hatten, verbreiteten Angst und Schrecken. Nur Tirgaslan, die alte Königsstadt, hatte noch Bestand; nach dem Tod König Lavans war dort ein Statthalter des Zwergenkönigs an die Macht gelangt, der über den riesigen steinernen Moloch herrschte. Daran, dass es ihr Recht gewesen wäre, den Thron von Tirgaslan zu besteigen, dachte Aryanwen nicht. Ihre Gedanken galten allein ihrem Kind, das sie seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte und dessen Antlitz ihr ständig vor Augen war, davon abgesehen, dass es heute ganz anders aussehen würde. Wenn es noch lebte.

»Verdammte Biester.« Henquist trat mit dem Fuß gegen den Kadaver. »Was treiben sie so weit im Westen?«

»Die Schattendrachen sind die Augen unseres Feindes«, entgegnete der alte Dwethan düster. »Und sie suchen dasselbe wie wir. Winmar weiß, dass euer gemeinsames Kind der Erbe der Menschenreiche ist – und dass es ihm eines Tages gefährlich werden könnte. Also lässt er seine Schergen danach suchen.«

»Er darf Alannah nicht vor uns finden«, erinnerte Aryanwen ihn, wie so oft zuvor. »Auf keinen Fall.«

»Wenn es überhaupt noch etwas zu finden gibt«, knurrte Henquist mürrisch, um gleich darauf ein halblautes »Verzeiht, Königin«, hinterherzuschicken.

»Nenn mich nicht so. Du weißt, dass ich keine Königin mehr bin. Und streng genommen war ich es nie.«

»Für mich werdet Ihr immer eine Königin sein«, beharrte Henquist. »So wie ich jederzeit mein Leben opfern würde, um Euch oder den jungen Herzog zu retten. Aber unsere Suche währt nun bereits zwei Sommer, und ich frage mich ob wir nicht …«

»Aufgeben sollten?« Aryanwen sah ihn unverwandt an.

»In all der Zeit haben wir nichts gefunden«, gab der Kämpe zu bedenken. »Von den beiden Grünhäuten keine Spur, dafür Zerstörung, wohin das Auge blickt. Und diese Kreaturen.« Er stieß abermals mit dem Fuß gegen die jetzt rasch zerfallenden Überreste des Schattendrachen. »Wie lange wollen wir noch so weitermachen?«

»Bis wir entweder tot sind oder gefunden haben, wonach wir suchen«, antwortete Dag an Aryanwens Stelle.

»Fünf von uns haben diese Suche bereits mit dem Leben bezahlt, Herr! Dugay – tot, von einer Donnerbüchse niedergestreckt. Gladwyn – von einer Kaldrone zermalmt. Der Rest – gestorben an Entbehrung und an vergiftetem Wasser. Der Tod ist wohlfeil in diesen Tagen.«

»Aye.« Ferghas, der leibliche Bruder des Clansfürsten Anghas Ca’Dur, nickte nachdenklich. »Auch ich bin müde«, gestand er. »Meine Glieder schmerzen, und ich habe es satt, ruhelos umherzuwandern. Verzeiht, aber ich möchte endlich wieder nach Hause und die grünen Hügel meiner Heimat sehen …«

»Das kann dir niemand verdenken«, erwiderte Aryanwen. »Aber«, fuhr er fort, »wenn auch nur die geringste Hoffnung besteht, dass Euer Kind noch am Leben ist, würde ich mir lieber die Beine abhacken, als unverrichteter Dinge nach Hause zu gehen. Die Frage ist nur, wie unsere Suche weitergehen soll. Womöglich hat Henquist recht, und die Grünhäute haben das Kind irgendwo zurückgelassen, um sich selbst zu retten – wie können wir dann jemals hoffen, es zu finden? Was meint Ihr, Druide? Ihr wisst doch sonst auch alles.«

»Manches in der Tat«, verbesserte Dwethan, »aber längst nicht alles. Einst vermochte ich die Zukunft zumindest in Teilen vorherzusehen, aber meine Kräfte haben nachgelassen. Durch das Eingreifen der Orks ist das Element des Chaos hinzugekommen, das sich nur schwer voraussehen lässt. Auch ich vermag deshalb nicht zu sagen, was der kleinen Alannah widerfahren ist.«

»Sie ist am Leben«, beharrte Aryanwen leise.

»Aye, das hoffen wir«, räumte Ferghas ein, »vielleicht aber auch nicht. Die Grünhäutigen sind schwer zu durchschauen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Ork aus einer Laune heraus eine Katastrophe vom Zaun bricht.«

Aryanwen nickte. »Dennoch dürfen wir nicht an Balbok und Rammar zweifeln. Unser Kind ist am Leben, irgendwo auf dieser Welt. Das spüre ich.«

»Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen«, gestand Dwethan leise. »Inzwischen sind viele Dinge geschehen, die ich nicht vorhergesehen habe. Die Welt hat sich verändert, und nicht zum Guten.«

»Die Dunkelkeit ist auf dem Vormarsch, das habt Ihr selbst gesagt, Druide«, stimmte Henquist zu. »Sollten wir also nicht lieber heimkehren, um unsere Familien zu beschützen?«

»Diesen Wunsch kann ich gut nachvollziehen«, versicherte Dag. »Meine Familie ist hier, deshalb bin ich am rechten Ort, aber für euch gilt das nicht. Wenn ihr also gehen wollt, steht euch das frei. Ihr habt uns lang und treu gedient, wir stehen tief in eurer Schuld.«

»Und Ihr?«, fragte Henquist. »Was werdet Ihr tun?«

»Weiter nach Westen gehen. Auf die andere Seite des Schwarzgebirges.«

»Ihr … Ihr wollt in die Modermark?«, fragte Henquist unngläubig. »Nachdem wir den Schattendrachen nur mit knapper Not entkommen sind, habt Ihr jetzt vor, in die Modermark zu marschieren? In die angestammte Heimat von allem, was uns Menschen feindlich gesinnt ist?«

»Balbok und Rammar stammen von dort«, stimmte Aryanwen zu. »Vielleicht sind sie in ihre Heimat zurückgekehrt und haben Alannah mitgenommen.«

»Selbst wenn – die Modermark ist auch die Heimat von Gnomen, Trollen und anderen Kreaturen, deren Namen wir noch nicht einmal kennen! Glaubt Ihr im Ernst, dass ein Menschenkind dort überleben kann?«

»Das muss ich wohl«, erklärte Aryanwen mit bebender Stimme.

»Wir zwingen niemanden, mit uns zu kommen«, stellte Dag klar. »Ihr alle habt uns lange begleitet und mehr getan, als wir jemals erwarten konnten. Vielleicht ist es uns bestimmt, von nun an allein zu gehen.«

»Da würdet ihr nicht weit kommen«, war Ferghas überzeugt und schwang seine Axt. »Deine Fertigkeiten in allen Ehren, aber gegen eine Horde wilder Orks hättet ihr allein keine Chance. Ich komme also mit euch – zumal ich meinem Bruder und Clansherrn einen Schwur geleistet habe, wie ihr wisst.«

»Sei’s drum.« Henquist trat ein drittes Mal nach dem Kadaver, der auf unheimliche Weise bereits fast vollständig zerfallen war. Die Natur holte sich innerhalb von Augenblicken zurück, was dunkle Magie ihr über Jahrhunderte vorenthalten hatte. »Ich bin ebenfalls dabei. Ich habe dem Haus Ansun Treue geschworen – ich werde es nicht ausgerechnet jetzt im Stich lassen.«

»Also bleiben wir zusammen.« Dwethan nickte.

»Ihr wirkt darüber nicht überrascht«, stellte Ferghas fest.

»Natürlich nicht – weil es irrig wäre zu glauben, dass wir eine Wahl haben.«

»Was meint Ihr damit?«

»Dass wir gar nichts anderes tun können, als weiter nach diesem Kind zu suchen. Dieses Mädchen, meine Freunde, ist die Zukunft von Erdwelt, wir brauchen es so notwendig wie die Luft zum Atmen. Es trägt das Erbe von Elfen und Menschen in sich und vereint das Blut beider Herrschergeschlechter. Sollte es nicht mehr am Leben sein, so bedeutet es auch für Erdwelt das Ende.«

»Und das heißt?«, fragte Henquist.

»Dass dieselbe Finsternis, die die Schattendrachen hervorbringt, uns alle verschlingen wird«, antwortete der Druide.

2

Sie kommt.«

Der Warnung, die Bertin seinen Leuten zuraunte, hätte es nicht bedurft – das stampfende Geräusch, mit dem sich die Kaldrone ankündigte, war unüberhörbar, ebenso wie das grässliche Zischen, das den Kampfkoloss auf seinem Weg über die Brücke begleitete.

Es war ein Kriegsgerät der ersten Generation – ein kugelförmiges, eisernes Gebilde, das auf kurzen Beinen ging und mechanische Arme hatte, mit denen es eine riesige Axt und einen Hammer schwang. Gesteuert wurde die Kaldrone von einem Zwergenkrieger, der im Inneren der Kugel kauerte und die todbringenden Vorrichtungen lenkte. Ein Gittervisier, das über den breiten Bauch der Kaldrone verlief, sorgte dafür, dass der Steuermann Sicht nach vorn hatte – und war zugleich der verwundbarste Punkt des Kolosses.

Bei den Kaldronen neuester Bauart war das Gitter deshalb durch eine mit Sichtlöchern versehene Panzerplatte ersetzt worden; doch die Kampfmaschinen, die in der Festung Gorta Ruun ihren Dienst versahen, gehörten fast ohne Ausnahme der älteren Baureihe an. Der Grund dafür lag auf der Hand: Winmar, der Herrscher der Zwerge und Menschen, war aus Gorta Ruun abgezogen und residierte jetzt in Tirgas Anar, das er nach sich selbst in »Tirgas Winmnar« umbenannt hatte. Die Kampfmaschinen der neuen Generation hatte er mitgenommen, auf dass sie auch an seinem neuen Herrschersitz Angst und Schrecken verbreiten – die alten hingegen hatte er zurückgelassen. Im Auftrag von Winmars Hofalchemisten, die seither über die Festung herrschten, unterdrückten sie die Bevölkerung – aber es regte sich Widerstand.

Gleich mehrere Rebellengruppen gab es inzwischen, die der Schreckensherrschaft der Alchemisten trotzten. Doch keine war auch nur annähernd so berüchtigt wie jene Bertins.

»Brüder des Zorns« nannten sie sich.

Und diese Bezeichnung hatte sie nicht grundlos gewählt …

Das Stampfen der Kaldrone schwoll an und wurde ohrenbetäubend laut, bei jedem ihrer Schritte fauchte heißer Dampf aus ihren Gelenken. Es musste dieselbe Kaldrone sein, die in Schieferhall, einem der höher gelegenen Bezirke der Stadt, ein furchtbares Blutbad unter der Bevölkerung angerichtet hatte. Und dabei hatten die Leute dort nur zu fragen gewagt, wann sie endlich wieder Brot zu essen bekämen. Die riesige Axt, an der noch trockenes Blut klebte, verriet, welche Antwort die Kaldrone ihnen gegeben hatte.

»Nur weiter«, knurrte Bertin in seinen Bart, der inzwischen bis zum Kinn reichte und sein blasses Gesicht zur Hälfte bedeckte. »Nur noch ein kleines Stück weiter …«

Vorsichtig spähte er über den Rand des Felsblocks. Dado auf der linken Flanke war bereit zum Losschlagen, ebenso wie Runward Eisenherz, der die andere Seite übernommen hatte. Obwohl Runward älter war als Bertin und seinen Bart bereits geflochten trug, akzeptierte er ihn als Anführer, ebenso wie all die anderen, die sich seiner Gruppe angeschlossen hatten. »Bertin Zwergenhammer« nannten sie ihn, nach dem Werkzeug, das er von seinem Vater, dem Steinmetz Drogo, geerbt hatte. Es trug den Namen Martog und hatte einst dazu gedient, dem Fels der Berge unsterbliche Kunstwerke zu entlocken – nun schlug der Hammer die Schädel jener ein, die das Volk grausam unterdrückten. Auf diese Weise war er zum Symbol des Widerstands gegen König Winmar und seine Alchemistenbrut geworden.

Aber Martog war nicht die einzige Waffe, derer sich Bertin bediente. Zwar trug er den Hammer stets bei sich, doch die Donnerbüchse, die er vor zwei Monden bei einem Überfall erbeutet hatte, verrichtete noch weitaus zuverlässigere Dienste. Ein schwarzgraues, hochentzündliches Pulver sorgte dafür, dass Kugeln aus Blei oder Eisen aus dem trichterförmigen Lauf der Donnerbüchse jagten – und beim Gegner entsetzlichen Schaden anrichteten. Das Getöse, das eine solche Waffe veranstaltete, war unbeschreiblich, die Wirkung war es ebenso. Keine Armbrust konnte es an Wucht und Durchschlagskraft mit einer guten Donnerbüchse aufnehmen. Und Bertin hatte gelernt, gut damit zu zielen.

Die Kaldrone war jetzt nah genug heran.

Sie hatte mehr als die Hälfte der Brücke überquert, die sich über den achtzig Schritt breiten Abgrund spannte – und war damit in Reichweite von Bertins Kugeln.

Geladen hatte er die Waffe bereits. Jetzt ging er in Stellung, presste den mit reichen Schnitzereien verzierten Kolben an seine bärtige Wange, hielt die Luft an und zielte.

Gleich, nur noch ein Augenblick …

Jetzt.

Bertins Finger rissen am Abzughebel. Ein Funke, ein Feuerstoß, und die Wucht der Donnerbüchse fuhr ihm in die Schulter. Dazu ein infernalischer Knall, der von der gegenüberliegenden Wand der Schlucht zurückgeworfen wurde – aus dem Trichter war, viel zu schnell für zwergische Augen, ein kantiges Stück Eisen gefegt, zur Brücke hinübergeflogen und durch das Gitter der Kaldrone geschlagen.

Schon wollte Bertin die Arme hochreißen und sich selbst zu diesem Meisterschuss gratulieren, als er begriff, dass die Kaldrone unbeirrt weiterstampfte – geradewegs in das Seil, das quer über die Brücke gespannt war.

Das Geflecht aus Höhlenwurmgedärm, das eigentlich dazu hatte dienen sollen, den Sturz der Kaldrone aufzufangen, spannte sich zum Zerreißen, gab jedoch nicht nach. Und so strauchelte die Kaldrone und kam zu Fall, schlug zu Boden, wo sie, einem feisten Käfer gleich, mit hilflos um sich schlagenden Armen liegen blieb.

»Angriff!«, brüllte Bertin aus Leibeskraft.

Die Büchse warf er sich kurzerhand über die Schulter und griff stattdessen nach Martog, der schon bereitlag. Den Hammer mit beiden Händen umklammernd, setzte er über die Felsen, hinter denen er sich verschanzt hatte, und rannte auf die Brücke zu. Gleichzeitig kamen auch Dado und Runward mit ihren Leuten aus den Verstecken, und alle stürzten sie sich auf die Kaldrone, die vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.

Der Zusammenstoß war ebenso kurz wie heftig.

Funken stoben, als Äxte und Hämmer der Freiheitskämpfer auf die Waffen des Kampfkolosses trafen, der zwar am Boden lag, jedoch alles andere als wehrlos war. Einer von Bertins Leuten, der so unvorsichtig war, sich der Axt zu nähern, wurde von ihrem Blatt erfasst und enthauptet. Unter fürchterlichem Wutgebrüll stürzten sich seine Gefährten daraufhin auf die waffenstarrenden Gliedmaßen der Kaldrone und schlugen so lange darauf ein, bis sie sie vom Rumpf getrennt hatten.

Dann wälzten sie den Koloss herum und droschen auf das Gitter, bis es aus den Scharnieren brach. Bertin setzte vor, bereit, den Steuermann im Inneren der Kaldrone, der wie durch ein Wunder dem Geschoss der Donnerbüchse entgangen sein musste, mit dem Hammer zu erschlagen.

Doch es kam anders.

Denn in der Kaldrone befand sich kein Zwerg aus Fleisch und Blut – sondern nur ein Schatten.

Eine Kreatur, die zwar die Umrisse und Formen eines Zwergenkriegers besaß, jedoch kein Gesicht hatte. Schwärze klaffte dort, wo das Antlitz des Mannes hätte sein sollen.

»Was bei den Feuern von Karak Nor …?«

Einen Augenblick lang war Bertin zu entsetzt, um zu reagieren. Dann fielen seine Mundwinkel vor Abscheu nach unten, und er hieb mit dem Hammer zu.

Martog fuhr nieder – den Schattenkrieger traf er jedoch nicht. Denn in dem Augenblick, da der Hammer sie zu berühren drohte, verflüchtigte sich die dunkle Gestalt, wurde zu einem schwarzen Schemen, der aufstieg und davonwehte wie Kaminrauch im Abendwind. Bertin stieß eine Verwünschung aus, Dado und einige andere Zwerge warfen sich erschrocken zu Boden und schirmten die Häupter mit den kurzen Armen. Doch schon Augenblicke später war der Spuk vorbei und die schattenhafte Gestalt verschwunden.

»Was, beim großen Hammer, war das?«, wetterte Runward, der als Erster die Sprache zurückgewann. Sein pechschwarzes Haar hatte er zu einem Schopf gebunden, sein von der Arbeit an der Esse gezeichnetes Gesicht war mit der Rune seiner Familie tätowiert.

»Ich weiß es nicht«, stieß Bertin unter heftigem Herzklopfen hervor, Martog noch immer in seinen Händen haltend. »Aber Kreaturen wie diese sind nicht natürlichen Ursprungs, das steht fest.«

»Elendes Alchemistenpack«, maulte Dankrad Steinhag, ein weiterer Kämpfer aus Bertins Reihen. »Das ist ihr Werk!«

»Ohne Zweifel«, stimmte Bertin grimmig zu. »In all den Jahrhunderten, die unser Volk schon in Gorta Ruun weilt, haben Zauberei und dunkle Magie hier nie etwas zu suchen gehabt. Stets sind wir ehrliche Handwerker gewesen, Schmiede und Steinmetze. Wir haben Bergbau betrieben und Schätze gehortet, haben Waffen geschmiedet und Kriege geführt – aber niemals in all dieser Zeit haben wir dunklem Zauber gefrönt. Bis die Alchemisten kamen.«

»Ansgar und sein elendes Pack.« Runward spuckte aus. »Wie sollen wir sie jemals besiegen, wenn sie jetzt schon vermögen, Krieger aus dem Nichts zu erschaffen? Die nur aus Bosheit und dunklem Rauch bestehen?«

»Ich weiß es nicht, meine Brüder«, gab Bertin offen zu. Ein kalter Schauer durchfuhr ihn dabei.

Seit etwas mehr als zwei Jahren leisteten sie den Alchemisten nun Widerstand, hatten ihnen unzählige Nadelstiche versetzt und sogar manch empfindliche Niederlage beigebracht. Doch in all dieser Zeit hatten sie es stets mit Gegnern aus Fleisch und Blut zu tun gehabt.

Das hatte sich nun offenbar geändert.

Ansgar und seine Brut zeigten ihr wahres Gesicht.

Der Kampf um Gorta Ruun war in eine neue Phase getreten.

3

Es war eine eigentümliche Prozession, die durch die Straßen von Tirgas Anar marschierte.

Tirgas Anar …

Schon den Namen auszusprechen, galt in diesen Tagen als todeswürdiges Verbrechen. Denn seit Winmar der Steinerne, der sich zum König über ganz Erdwelt aufgeschwungen hatte, seinen Herrschersitz von Gorta Ruun auf die andere Seite des Reiches verlagert hatte, hieß die Stadt »Tirgas Winmar«. Wer sie bei ihrem alten Namen nannte, fand seinen Kopf über den hohen Klippen aufgespießt, die südlich der Stadt aus den Wellen der Ostsee aufragten und sie mit einem natürlichen Schutzwall umgaben. »Pfeiler des Todes« waren sie in den alten Tagen genannt worden, und das nicht von ungefähr, denn manche feindliche Flotte war an den schwarzen Klippen zerschellt.

Ein Leben galt nicht viel in diesen Tagen – vor allem dann nicht, wenn es einem Menschen gehörte. Winmar und seine Zwerge hatten eine wahre Schreckensherrschaft in der Stadt errichtet, die sich nach Norden hin eng an die Hänge des Feuerberges schmiegte.

Die Zwerge hatten ihre eigene Geschichte darüber, wie der Feuerberg entstanden war. Am Anbeginn der Zeit, so hieß es, als unzähliger Schmiede Arbeit dafür gesorgt hatte, dass das Feuer im Inneren der Welt eingeschlossen wurde, ließ ein Schmied, den die Überlieferung nur schlicht den »Hammermann« nannte, eine Lücke im Schild der Erde. Dort erhob sich das Feuer aus dem Inneren und formte einen Vulkan, in dessen Tiefen bis zum heutigen Tag flüssiges Gestein in glühenden Pfuhlen brodelte. Und wehe, wenn es an die Oberfläche stieg.

Der letzte Ausbruch des Feuerbergs lag mehr als fünfhundert Jahre zurück. Zur Regierungszeit König Corwyns war dies geschehen[2], als Tirgas Anar schon einmal in Dunkelheit und Chaos versunken war. Nach erbittertem Kampf war die Stadt damals erobert worden. Doch das Böse war zurückgekehrt, wenn auch anders als zuvor.

Was Winmar den Steinernen dazu bewogen hatte, seinen Herrschersitz hierherzuverlegen, konnte Alured nur vermuten. Er musste gute Gründe dafür gehabt haben, denn durch den Umzug hatte sich der Zwergenkönig angreifbar gemacht, wie nicht zuletzt die Seeschlacht an der Engwacht bewiesen hatte. Lavan, der von Winmars Gnaden eingesetzte Marionettenkönig von Tirgas Lan, hatte eine Chance gewittert, seinen Herrn vom Thron zu stoßen. In aller Eile hatte er Schiffe ausgerüstet und Winmars Flotte bei der Insel Olfar aufgelauert. Nicht viel hätte gefehlt, und die Aufständischen hätten den Sieg davongetragen, aber dann hatte sich das Schlachtenglück gewendet und Winmar war entkommen.

Zwei Jahre waren seither vergangen, aber noch immer wusste Alured, der sich als blinder Passagier auf eines von Winmars Schiffen geschlichen hatte, um die Absichten des Zwergenkönigs auszukundschaften, beim besten Willen nicht, was damals wirklich geschehen war. Geflügelte Kreaturen waren aufgetaucht, Schattenwesen wie aus einer anderen Welt und Wirklichkeit, und hatten Lavan und seine Leute in die Flucht geschlagen. Damit war vor aller Welt klar geworden, dass Winmar mit dunklen Mächten im Bunde stand.

Die Niederlage seiner Feinde war vollkommen gewesen, ebenso wie sein Sieg. Als Triumphator war er in Tirgas Anar eingezogen, dessen Bewohner sich ihm bereitwillig unterworfen hatten.

Seit diesem Tag hatte ihn niemand mehr gesehen.

Dennoch war Winmar der Steinerne allgegenwärtig.

Von dem großen Turm aus, der sich hoch über den an den Hängen emporwachsenden Häusern erhob, herrschte er mit eiserner Hand über die Stadt. Furcht hielt die Einwohner gefangen, denn die Schergen des Dunklen Königs, wie man Winmar inzwischen nannte, waren überall. Wer seine Stimme erhob oder auch nur den Eindruck erweckte, kein loyaler Untertan zu sein, verlor die Zunge oder gleich den Kopf. Noch schlimmer jedoch war der Kult, der zusammen mit Winmar Einzug gehalten hatte.

An allen öffentlichen Plätzen der Stadt waren Statuen errichtet worden, die den Zwergenherrscher zeigten. Wer eine solche Statue passierte, war angehalten, niederzuknien und Winmar zu huldigen; wer sich weigerte, verlor das Leben. Nackte Furcht hatte daraufhin um sich gegriffen, genährt von Zwergenpriestern, die durch die Straßen zogen und die Menschen ängstigten. »Diener des Schattens« nannten sie sich und erzählten, dass das Ende der Menschen gekommen sei, wenn sie sich ihnen nicht anschlossen und dem Dunklen König Treue schworen.

Anfangs waren es nur ein paar gewesen, die ihnen folgten, doch dann war die Angst, die in den Straßen herrschte, in puren Fanatismus umgeschlagen. Immer mehr Menschen hatten sich dem Kult der Schatten angeschlossen. In lärmenden Prozessionen zogen sie durch die Stadt, angeführt von Zwergenpriestern, zum Turm hinauf, wo sie dem Dunklen Herrscher huldigten und Opfergaben brachten.

Anfangs waren dies nur materielle Dinge gewesen: Gold, Edelsteine und andere Habe aus dem Besitz der Menschen, die Winmars Schergen bereitwillig entgegengenommen hatten – die ohnehin schon prall gefüllte königliche Schatzkammer musste bereits aus allen Nähten platzen.

Doch dann hatte es geheißen, dass der Dunkle König von den Einwohnern seiner Stadt noch größere Opfer forderte, wenn sie ihn ihrer Loyalität versichern wollten – und er hatte damit begonnen, Menschenleben zu verlangen.

Das Entsetzen unter der Bevölkerung war groß gewesen, aber wiederum nicht so groß wie ihre Furcht. Schon am nächsten Tag hatten sie ihm einen der Ihren ausgeliefert, einen Dieb, der wenige Tage zuvor auf dem Marktplatz gefasst worden war. So hatten sie sich eine Weile lang beholfen und ihrem Herrscher die ungeliebten Kinder der Stadt geschickt. Doch irgendwann waren ihnen die Mörder und Diebe, die Betrüger und Vergewaltiger ausgegangen. Deshalb bestimmte seit einigen Monaten das Los darüber, wer sich opfern, wer den Priestern durch das Tor der Schatten ins Innere von Winmars Turm folgen musste. Was dort mit ihnen geschah, wusste niemand, aber Alured bezweifelte, dass es ein erstrebenswertes Schicksal war.

Mehrmals hatte er erfolglos versucht, sich ins Innere des Turmes zu schleichen, von dem es hieß, dass sich seine Wurzeln bis weit ins Innere des Feuerberges erstreckten; beim letzten Versuch war Alured um ein Haar erwischt worden. Seither versuchte er, sich unauffällig zu verhalten und möglichst unsichtbar zu bleiben – sein ganzes Bestreben war inzwischen darauf gerichtet, aus Tirgas Anar zu entkommen.

In den ersten Tagen, nach Winmars Sieg über König Lavan, als die Zwergenflotte im Hafen von Tirgas Anar angekommen und die ganze Stadt in Aufruhr gewesen war, wäre dies noch ein Leichtes gewesen. Damals aber war Alured geblieben; der Auftrag, den Daghan von Ansun ihm erteilt hatte, lautete, möglichst viel über die Stärke und die Pläne König Winmars herauszufinden, und diese Aufgabe hatte er noch längst nicht erfüllt.

Also war Alured geblieben – ein Entschluss, den er inzwischen bitter bereute.

Denn herausgefunden hatte er nichts, dafür saß er jetzt hier fest, in dieser Stadt, in der Angst und Furcht regierten. Wer hinauswollte, musste es entweder mit den schroffen Hängen des Feuerberges oder den Pfeilern des Todes aufnehmen, vor allem aber mit den Wachen, die die Tore, Mauern und Türme besetzten und jeden töteten, der sich unerlaubt näherte.

Die Schlinge zog sich immer enger um seinen Hals, Alured konnte sie bereits fühlen. Die belebten Viertel der Stadt mied er längst, trieb sich lediglich in den dunklen Ecken herum, und das meist nur nach Einbruch der Dunkelheit. Die Gesellschaft, in der er sich befand, war entsprechend geartet, Gauner, Betrüger und Fremde, die danach trachteten, dem Lostopf zu entgehen. Das wenige Geld, das sie besaßen, saß locker bei diesen Leuten, ebenso wie der Dolch; man lebte das Heute und scherte sich einen Dreck um das, was kommen würde, kannte weder Skrupel noch Mitgefühl. Es war ein täglicher Kampf ums Überleben, den nur überstand, wer stets wachsam war. Entsprechend hatte Alured sich angewöhnt, niemandem zu vertrauen und seinen Aufenthalt stetig zu wechseln; Ruhe fand er nur selten, und auch dann schlief er meist nur für Augenblicke, während seine übrigen Sinne alarmiert blieben und auf der Hut …

So wie jetzt.

Unter dem Vorsprung eines der schindelgedeckten, nach oben gewölbten Dächer, die für die Bauweise dieser Gegend typisch waren, hatte er vor dem Regen Zuflucht gesucht, der am späten Nachmittag eingesetzt hatte. Die umliegenden Dächer lagen hinter grauen Schleiern, in den Schmutzrinnen der steilen Gassen plätscherten Sturzbäche zu Tal. Dennoch suchte sich die Prozession unbeirrt ihren Weg hinauf zum Turm, der spiralförmig war, gewunden wie der Körper einer Schlange. Wer ihn einst errichtet hatte, war nicht bekannt, aber es hieß, dass er alt war.

Sehr alt …

Ein Zwergenpriester ging voraus, eine Laterne in der Hand, die der Dunkelheit und dem Regen trotzte. Gefolgt wurde er von rund fünfzig Sektierern, allesamt Menschen. Ihre Kleider waren bis auf die Haut durchnässt, was ihnen aber gleichgültig zu sein schien. Monoton wiederholten sie den Singsang, den der Zwergenpriester ihnen vorgab, Alured sah den Fanatismus in ihren Augen leuchten.

In ihrer Mitte führten sie einen Karren, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Darauf stand, mit Ketten gefesselt, eine junge Frau. Ihr zarter Wuchs, die schmalen Augen und das pechschwarze Haar kennzeichneten sie als Tochter der Stadt. Das graue Hemd, das sie trug, war vom Regen durchnässt und der Stoff dadurch durchsichtig geworden, sodass sie eigentlich nackt auf dem Karren stand. Dennoch strahlte sie eine Ruhe und Würde aus, für die Alured sie bewunderte – und für die er ihre Häscher umso mehr verabscheute.

Instinktiv fühlte er sich an eine andere junge Frau erinnert, die er gekannt hatte.

Und geliebt …

Er wischte den Gedanken sofort wieder beiseite, denn er bereitete ihm nur Schmerz. Wer an diesem Ort überleben wollte, der musste lernen, Gefühle zu verdrängen.

Allein das Überleben zählte.

Dennoch: der Anblick der jungen Frau ließ ihm keine Ruhe.

Von seinem hohen Versteck aus blickte er ihr nach, bis sich der Zug mit dem Karren die Straße hinaufgeschleppt und um eine Biegung verschwunden war. Ein Teil von ihm erwog, den Sektierern zu folgen und den Versuch zu unternehmen, die Gefangene zu befreien, aber er verwarf den Gedanken gleich wieder.

Was für einen Unterschied hätte es gemacht, ein Leben zu retten in dieser Stadt, in der das Böse regierte und die ohnehin vor die Hunde ging?

Auch Alured war abgestumpft, war gleichgültig geworden gegenüber dem Schicksal anderer. Es gefiel ihm nicht, aber es störte ihn auch nicht so sehr, dass er etwas dagegen unternommen hätte. Warum auch? Es war eine weitere wichtige Voraussetzung, wenn man in der Stadt des Dunklen Königs überleben wollte.

Aber warum fühlte er sich dann schlecht deswegen?

Warum regte sich sein Gewissen?