Karin Steger

Hättest halt kein
Kind gekriegt!

Auf der Suche nach mütterlicher Identität
in der Leistungsgesellschaft

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-7015-0573-9
Copyright © 2014 by Orac/Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus
Unter Verwendung eines Fotos von Marina Zlochin/Fotolia.com
Layout & typografische Gestaltung: Birgit Mayer, Extraplan
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Nun, da es fertiggeschrieben ist,
möchte ich dieses Buch meinen Liebsten widmen.
Meiner Mutter,
meiner Tochter Victoria,
meinem Mann Gregor
und unserem kleinen Sohn Emmanuel.
In dieser Reihenfolge seid ihr in mein Leben gekommen.
Ohne euch gäbe es nicht dieses Buch,
und ohne euch wäre mein Leben nicht das, was es ist.
Wie gut, dass ihr da seid!

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

TEIL I: ALLEINERZIEHERIN
Es geht sich nicht aus.
Zusammenbruch. Und eine Krise als Anfang.

Mama ist hilflos

Die Mami weint

Eingeknickt

Rückzug

Entschlossenheitsanfall

Einen Weg finden

Ente! Buuch!

Laufschritt. Bremsen. Rennen. Stop.

Kraa Kraaa

Unbesiegbar

Pippi, Bibi, W.I.T.C.H

Allmachtsfantasien

Lass mich klein sein

Entspannen. Loslassen. Festhalten.

TEIL II: PAARBEZIEHUNG
Liebe und Streit.
Aber worum geht es hier eigentlich?

Alles Gute im Neuen!

Ich stecke fest

Als Mann gesprochen

Hättest halt kein Kind gekriegt!

Emanziwas?

Leere und Schwere

Pattstellung

Weg gesucht, Rettungsanker gefunden

TEIL III: FAMILIE
Wiederholungen. Wertschätzung. Wunder.
Und warum wir ein anderes Wirtschaftssystem brauchen

Es hat sich bewegt

Bauchgefühl

Gelandet

Plötzlich! Es tut so weh …

Schräges Wertesystem

Heldinnen ohne Status

Zusammen. Leben.

Viel Familie, wenig Geld

Klinkenputzen

Kinderbetreuung

Mit voller Hingabe

Babykopfgeruch

Opa aus Leidenschaft

Mama-Phase? Vorsicht, Falle!

Im Paradies meiner Mutter

Apfelkuchen

Du sollst es besser haben!

Zweite Schwangerschaft. Doppelte Freude?

Erstes Kind. Zweites Kind.

Das Baby ist schuld!

In meinen Träumen

Ironie am Rande

Die Heilige Familie

Schöne Frau, cooler Mann und freche, süße Kinder

Ein anderes Familienbild

Liebe braucht Zeit

Glucke. Rabenmutter. Powerfrau.

Kraftwort gesucht

Vorsicht! Abwertung

Gar nicht wie eine Mutter

Raus aus den Schubladen

Liebe dich selbst

Du bist frei. Und ich bin stolz auf dich

Blumen in der Wüste

TEIL IV: NEULAND BETRETEN
Emanzipation und Geborgenheit.
Die Quadratur des Kreises und ein lächelnder Delfin.

Von einem Freund

Innen wie außen

Autonomie versus Geborgenheit

Demanzipiert?

Definiere Erfolg

Emanzipation

Familiensinn

Glücksmomente

Unterstützung war gestern

Was uns zusammenhält

Licht und Schatten

Versorgung. Gemeinschaft.

Afrikanisches Dorf

Graben im Boden der Realität

Einkaufsparadies

Delfinkind

Aller Anfang

Ich sag, du bist ein Hai

Auf der anderen Seite vom Mond

Einsatzbereit

In dieser Welt

Danksagung

Vorwort

Wie wird man freier?

Wie kann man endlich mehr Zeit für sich haben?

Wie lernt man Vertrauen?

Wie lässt man Zukunftsängste beiseite?

Viele Eltern stehen enorm unter Druck.

In einer wirtschaftlich unsicheren Zeit sollen sie ihren Kindern möglichst viel Sicherheit geben. Wer versucht, Beruf und Familie zu kombinieren, gerät beim Geldverdienen aber rasch ins Hintertreffen. Die Einkommens- und Armutsstatistiken machen es deutlich: Besonders Mütter werden in unserem Wirtschaftssystem eindeutig benachteiligt.

Kinder haben in unserem Bewusstsein keine eigene Bedeutung. Sie werden erzogen, gebildet, bewertet, verwaltet. Ihre liebevolle Begleitung und die Familienarbeit insgesamt werden in unserer Gesellschaft gering geschätzt.

Viele Frauen wissen das und verschieben deshalb den Zeitpunkt des Kinderkriegens immer weiter nach hinten. Oder sie entscheiden sich überhaupt gegen eigene Kinder, um so dem Dilemma der Doppelbelastung und des drohenden Karriereverlustes zu entgehen.

Kinder haben und sie begleiten, bräuchte vor allem: Zeit.

Meine eigenen Erfahrungen als Mutter decken sich mit denen meiner allermeisten Freundinnen: Hetzen. Hamsterrad. Und dazu das Gefühl, trotzdem nie gut genug zu sein.

Als ich am Abgrund eines Burn-Outs angelangt war, musste ich innehalten.

In dieser tränenreichen Zeit habe ich mit dem Schreiben begonnen. In meiner Krise war ich zunächst bitterböse auf alles, was mir als Mutter das Leben so schwer gemacht hat. Ich war doch emanzipiert, warum war plötzlich alles so schwer?

Die wirklich großen Herausforderungen lassen sich aber durch Räsonieren über gesellschaftliche Verhältnisse alleine nicht lösen. Veränderungen können meiner Erfahrung nach erst dann entstehen, wenn man die außen wahrnehmbare Schieflage auch in sich selbst erkennt.

Folgende Frage hat mich also während des Schreibens am meisten beschäftigt: Inwiefern hängen meine eigenen inneren Bilder zum Thema Mutterschaft mit den Höhen und Tiefen meines Frauenlebens zusammen?

Dieses Buch ist über einen Zeitraum von sieben Jahren entstanden. Es erzählt von meinen persönlichen Erfahrungen, von meinem Hadern und später immer öfter davon, wie ich als Mutter doch noch zu mehr Ruhe und Zufriedenheit gefunden habe.

Dieses Buch ist eine Chronik meiner Suche nach der eigenen mütterlichen Identität.

Ich wünsche mir, dass ich damit viele lebendige Diskussionen anregen kann. Über unser Wirtschaftssystem und über unsere Beziehungen und Aufgaben in den Familien.

Über die Möglichkeiten, sich selbst zu verändern, und natürlich auch über gesellschaftliche Impulse und Veränderungen für mehr Lebensqualität.

Teil I: ALLEINERZIEHERIN

Es geht sich nicht aus.
Zusammenbruch. Und eine Krise als Anfang.

Mama ist hilflos

Irgendetwas sagt mir, dass ich trotzdem keine schlechte Mutter bin. So lange ich irgendwie konnte, habe ich versucht, alles richtig zu machen. Möglicherweise war genau das mein Fehler?

Ich sitze auf einem Stuhl im Wohnzimmer, und auf meinem Schoß sitzt meine kleine Tochter, sie schaut mit dem Gesicht zu mir her, und legt dann ihren Kopf über meine rechte Schulter. Sie streichelt mir über die Haare und über meinen Rücken, spricht mit gesenkter Stimme und redet auf mich ein wie auf ein krankes Pferd: Aaaaalles wird guuuut. Gaaaaanz ruuuhig. Sie stupst mit ihrer kleinen Nase an mein Gesicht. Gaaaanz ruuuhig, Mami.

Meine Tochter ist siebeneinhalb, und ihre Mami kann nicht mehr. Sitzt da und heult. Die Augen geschwollen, das Gesicht salzig und nass. Gaaaaanz ruuuhig, sagt die gesenkte Kinderstimme. Jaaaaa, Mama … aaalles wird guuut.

Die Mami weint

Herzrasen, Nierenschmerzen, Schlaflosigkeit. So geht das jetzt seit ein paar Wochen und es wird immer schlimmer. Ich fühle mich alleingelassen. Ich kann nicht mehr.

Ich kriege keine Luft mehr und zittere. So wache ich auf, an jedem Morgen. Mein Körper funktioniert nicht mehr wie sonst.

Mir war, mir ist, andauernd schlecht. Kopfweh, und nun auch der Hals, aber nicht innen, sondern außen. Der Hals fühlt sich manchmal an, als würde er seitlich platzen wollen.

Wut und Trauer haben sich also auf mein Herz und auf meine Nieren geschlagen.

Und weil mir mein Herz und die Nieren immer wieder so weh tun, sind die anderen, die kleineren Symptome fast schon wieder egal. Übelkeit? … Ja, sowieso … Und Kopfweh? … immer wieder … Schlaflosigkeit? … eigentlich schon, aber ich weiß ja gar nicht mehr, wann das damals angefangen hat …, ich meine, … ich glaube, dass ich in letzter Zeit … schon wieder ein bisschen besser …?

Nein, also … die Schlaflosigkeit, die ist nicht so schlimm.

Der Versuch eines Lächelns. Anscheinend habe ich mich daran gewöhnt, dass ich nachts wach liege, die Augen geschlossen, und stundenlang immer wieder auf der Suche bin nach einer halbwegs bequemen Stellung. Vor allem der Kopf! Ich kann kaum eine bequeme Position für ihn finden. Irgendetwas glüht in mir, heiß ist es und unbequem und es rattert und pocht. Das geht schon, werde ich demnächst zu meinem behandelnden Arzt sagen. Nein, schlafen ist kein Problem.

Schon wieder bin ich dabei, meine Beschwerden herunterzuspielen. Ich will es einfach nicht wahrhaben. Ich trage noch immer das Bild einer unverwundbaren Superheldin in mir. Wie eine Comicfigur: mit großen, schweren Stiefeln, mit windzerzausten Haaren. Eine, die alles schafft. Alles kann.

Mein Selbstbild: erfolgreich, sehr kommunikativ, strahlend. Macht alles mit links. Immer ein offenes Ohr auch für andere, und das Ganze als alleinerziehende Mutter.

Aber …

Seit ein paar Wochen habe ich alles, was irgendwie vermeidbar war, abgesagt. Seminare an der Universität, die ich hätte abhalten sollen. Sendungen, die ich sonst moderiert hätte. Treffen mit Freunden.

Hab mich über eine Grippe gefreut, endlich ins Bett! Und die Wahrheit ist: Ich kriege keine Luft mehr.

Schon bevor ein behandelnder Arzt es ausgesprochen hatte, war mir klar: So etwas heißt Burn-Out-Syndrom. Die Superfrau geht in die Knie. Sie zieht Bilanz. Fragt sich: Woher kommt dieser Widerstand? Wie hat das alles angefangen? Bevor ein normales Telefonat zu einem schier unüberwindbaren Hindernis geworden ist.

In meinem Körper tobt ein Krieg. Schon in der Früh, wenn ich aufwache, zittere ich. Kann nicht frei atmen, die Brust ist zu eng. Entweder mich fröstelt, oder ich habe das Gefühl, innerlich zu glühen. Nichts ist normal.

Ich habe in der Nacht nicht geschlafen, weil ich nicht abschalten konnte.

Aber jetzt will ich weiterschlafen. Will meine Augen nicht aufmachen müssen.

Manchmal, ganz kurz, einen Augenblick lang: feine, kleine Glücksmomente.

Kann also alles nicht so schlimm sein, denke ich mir.

Gestern, da habe ich mich einen Augenblick lang gefreut, weil sich in mein Zimmer die Sonne hereintastete.

Ein zartrosa Morgenlicht, fein ist das. Sogar jetzt im November …!
Diese Zustimmung hielt nicht lange an, sie wurde gleich anschließend zu … sie soll doch ruhig scheinen! Trotz hat sich eingemischt, … es stört mich ja nicht! Gleich war ich wieder nur noch genervt. Meine Kraft reichte für so etwas wie Freude über einen Sonnenstrahl ganz einfach nicht aus.

Ich hab mich ruckartig umgedreht, Augen zu … Aber was, scheiß auf die Sonne!

Eingeknickt

Ich kann nicht mehr

heißt eigentlich:

Ich mag nicht mehr.

Ich mag nicht mehr funktionieren.

Ich stelle mich tot.

Ich hab keine andere Wahl.

Ich habe erfahren, dass auf meine Schwierigkeiten (oder wie ich versucht habe, sie zu kommunizieren) niemand reagiert hat.

Eine unbeschreibliche Wut und Enttäuschung in mir über dieses Alleingelassen-Sein lähmt im Moment alles andere.

Ich bin über die Jahre,

schön langsam,

wie in Zeitlupe,

eingeknickt

Ich habe da und dort immer wieder versucht zu signalisieren, dass ein bisschen mehr Unterstützung für eine alleinerziehende Mutter wirklich nicht schlecht wäre; aber das Echo war nahe bei Null. Meine Eltern? Zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Meine jeweiligen Arbeitgeber? Nicht zuständig für mein Glück.

Alle schienen sich sicher zu sein, dass ich das schon irgendwie schaffen würde.

Wenn also auf meine stillen Hilferufe und auf meine wütende, innere Einsamkeit wieder einmal niemand reagiert hat, bin ich jedes Mal schnurstracks wieder in meine gut angepasste Lebensrolle geschlüpft, so als wäre sie ein Kleid. Und zwar das einzige, das ich besitze. Ich habe sie mir wieder angezogen, und habe mich in meiner gewohnten Rolle schnell wieder sicher gefühlt. Nach außen hin stark und strahlend.

Fröhlich. Eine Wow-wie-die-das-alles-schafft-Mutter.

Jetzt schmerzt ein riesiger Stein in meiner Brust.

Ich hoffe, dass es nur ein Stein ist.

Es gibt auch Tage, da fühlt es sich an wie eine Granate, und ich hab Angst, dass sie demnächst explodiert. Wenn es gerade ganz schlimm wird, dann denke ich, dass es mich demnächst zerreißen wird. Zerfetzen.

Ich schlürfe Nierentee, er schmeckt ganz gut, und eine Kollegin empfiehlt mir „Nervenruh“. Ich hab sie gerade angerufen, und habe die Sendungen für kommende Woche, die ich moderieren sollte, abgesagt. Ich habe bis zum letzten Moment überlegt, ob ich es nicht doch irgendwie schaffen könnte. Ich will nicht aufgeben, immer noch nicht.

Ich frage verallgemeinernd, und meine mich selbst: Was muss passieren, damit eine Mutter zugibt, dass sie krank ist? Und dass sie so nicht mehr weitermachen kann?

Rückzug

Mittlerweile ist mir alles, sogar ein einzelner Telefonanruf, zur unerträglichen Last geworden. Allerkleinste Verpflichtungen verschiebe ich tagelang, wochenlang, und ich wuchte die unerledigten Dinge wie große, schwere dunkle Wolken vor mir her. Anstrengend.

Ich bin mir selbst noch ziemlich fremd in diesem Zustand. Kann ich mich anderen so anvertrauen?

Die ersten zwei Wochen ab dem Verlassen meiner Scheinstärke verbringe ich wie in Trance. Ich kommuniziere wenig, bin still. Bin ohne mein Sprechen und ganz nahe bei mir. Das Schweigen scheint mir in diesem Moment als die einzig mögliche Form des Seins.

Nach ungefähr zwei Wochen beginne ich erstmals, mich bei einer Freundin auszusprechen, und schon bald fließen die Tränen.

Es ist ein Strömen. Alle Dämme sind gebrochen, und ich selbst bin der Fluss.

Ich beginne zu erzählen, in was für einen Film ich da geraten bin. Ich taste mich langsam an meine Gefühle heran. Ich erzähle.

Erzähle nun Freundinnen von meinen körperlichen Symptomen. Erzähle von Herzrasen, erzähle von Schlaflosigkeit und bekomme von Freundinnen, die ebenfalls Mütter sind, immer wieder die eigenen Geheimwaffen präsentiert: Angeblich ganz harmlose Medikamente dienen unauffällig als Auffangnetz, und sehr viele Mütter in meinem Freundinnenkreis können ein Lied davon singen.

Für mich ist diese Information etwas vollkommen Neues. Bei jedem Gespräch bekomme ich außerdem noch eine Woge von guten Wünschen und eine Welle von Mitgefühl.

Nach fast jedem Gespräch bin ich um ein Zettelchen mit den Namen von ein oder zwei Medikamenten reicher. Pillen oder Tropfen, die angeblich Besserung oder zumindest eine Beruhigung versprechen. Das nehm’ ich seit Jahren. Oder: Das nehme ich immer, wenn’s mir gerade wieder sehr schlecht geht. Oder: Ohne das könnte ich sowieso gar nicht einschlafen …

Ich staune.

Ich beginne zu realisieren, dass es vielen, oder dass es anscheinend fast allen Müttern in meinem Freundeskreis schon einmal ähnlich ergangen ist. Fast alle scheinen zu kennen, wovon ich stockend erzähle. Die meisten kämpfen mit Gefühlen und Symptomen, wie ich sie vor ein paar Monaten hatte. Sozusagen mit der Vorstufe.

Die Parole lautet: durchhalten. Freiwillig sagt keine von uns, dass sie ganz einfach nicht mehr weiter weiß. Ich bekomme von immer mehr Müttern ganz viele unterschiedliche Tipps: Welche angeblich harmlosen Nervenberuhigungsmittel man auch über längere Zeit gut nehmen kann, und was man dann noch zusätzlich hinunterschlucken kann, wenn’s gerade wieder einmal ganz arg wird. Also im Notfall.

Das alles hat etwas Unheimliches.

Ich will mich nicht beruhigen. Da bin ich mir ganz sicher!

Ich möchte schon gerne irgendwann einmal wieder ruhiger werden, aber in meiner eigenen Zeit, nach diesem Sturm, und aus mir heraus.

Ich will nichts beschönigen, will nun nichts mehr behübschen.

Ich spüre: Je weniger Wimperntusche ich auftrage, desto besser ist das für mich. Mein eigenes Spiegelbild, ein Gesicht mit roten, geschwollenen Augen, wird mir mit jedem Tag ein bisschen vertrauter. Wir freunden uns an.

Ich heul’ noch ein paar Tage weiter, schlafen und heulen und schlafen … es beutelt mich hin und her, und irgendwann, während ich in meinen Polster schluchze und schluchze, streift mich trotz allem dieses Gefühl, dass ich eines Tages wieder gesund sein werde. Wann oder wie, weiß ich noch nicht.

Salzige Tränen, klebrige Wangen. Aber der Stein in meiner Brust wird dadurch jedes Mal ein bisschen kleiner. Schwer und schmerzhaft und spitz und beängstigend meldet er sich aus meinem Inneren, alle Tage und immer wieder. Bevor ich loslassen und meine Tränen fließen lassen kann, macht er mir richtig Angst.

Danach bade ich in meinem eigenen Meer.

Wenn ich meinen Widerstand aufgebe, kann ich mich manchmal voller Vertrauen in dieses große, reinigende Wasser fallen lassen.

Ich sehe nichts, ich habe kein Ziel. Meine Augen sind geschlossen. Ich lasse mich fortspülen, um irgendwann irgendwo möglichst heil anzukommen.

Entschlossenheitsanfall

Nach ein paar Tagen erwacht in mir eine kleine Entschlossenheit. Zart und fragil, sie taucht ganz langsam auf. Zeitgleich wird es ein kleines bisschen heller.

Ein Satz dreht sich in mir im Kreis, er dreht sich und er macht mich schwindlig: Das kann doch nicht sein!

Bitte, ehrlich, (und jetzt lauter) das darf doch nicht sein …!

Ein kleiner Anfall von Weltverbesserung wirbelt durch meinen Kopf, es sind lauter Gedanken über den Zustand unserer Gesellschaft und wie sie mit dem Thema Mutterschaft umgeht, und all das will ich nicht länger so hinnehmen.

Allen geht’s ähnlich, und alle wissen davon … Und alle schauen wir hilflos zu, wie nicht nur in Einzelfällen sondern quasi flächendeckend die Beziehungen zerbrechen? Und wie Familien zerbrechen, weil sich Papa und Mama aus den Augen verloren haben bei ihren jahrelangen hilflosen Versuchen, miteinander oder nebeneinander ihre Kinder aufzuziehen und dazu das nötige Geld zu verdienen?

Natürlich bin ich in dieser Phase noch nicht in der Lage, ruhig oder gar differenziert über irgendetwas nachzudenken. Die Gedanken gehen im Kreis und die Gefühle haben eindeutig die Vorherrschaft. Tempowechsel und Stimmungsschwankungen kennzeichnen diese Tage.

Erwerbsgesellschaft, Leistungsdruck, die Kaufkraft erhöhen, …

Solche Begriffe taumeln durch das Feld meiner Anklage, sie rattern pochend durch meinen Schädel, bis es wieder stiller wird. Ich werde müde.

Wir leben halt in einer seltsamen Zeit …

Ich resigniere. Ich bin wie alle anderen.

Ich komme mir vor wie bei einem Angst machenden Film, in den ich eigentlich gar nicht hätte hineingehen wollen, aber nun läuft er halt. Und ich sitze da und versuche, möglichst unbeteiligt zu bleiben.

Die Gedanken über meine eigene Situation lösen sich auf. Mit geschlossenen Augen sehe ich nun meine Nachbarin Elif. Sie stammt aus der Türkei, hat drei Kinder, sie arbeitet halbtags. Sie und ihr Mann haben ein besonders niedriges Einkommen. In der zweiten Monatshälfte weiß sie oft nicht, womit sie Milch und Brot bezahlen soll.

Ihr Bild wird wieder unscharf, und es erscheint meine in Wien lebende afrikanische Freundin mit ihren zwei kleinen Buben und dem dritten Kind in ihrem Bauch. Sie ist Pharmaziestudentin, sie steht kurz vor dem Abschluss. Was wird aus ihr werden? Wer wird sie und ihre Familie unterstützen? Wie lange wird sie noch durchhalten können?

Es gibt in meinem Bekanntenkreis so viele Mütter und Väter, denen es gar nicht gut geht. Wir wissen davon, denn man sieht ihnen die Erschöpfung und die Traurigkeit an. Eltern, die nichts geerbt haben (oder zumindest nichts, was ihnen in ihrer aktuellen Lebenssituation nützen könnte). Familien, in denen Mama und Papa arbeiten gehen und Geld verdienen müssen, damit es für alle irgendwie reicht.

Wir sehen, dass sich diese Eltern, und natürlich ganz besonders die Alleinerziehenden, in ihrem Hamsterrad abstrampeln. Sehen, dass so viele Mütter immer am Rande der gerade noch erträglichen Belastbarkeit herumlavieren.

Achselzucken.

Sie hat ja freiwillig ihr Kind bekommen.

Oder: Wir müssen alle schauen, wie wir über die Runden kommen.

Meine Augen sind angeschwollen. Ich weine, in Wellen.

Ich fühle mich fiebrig, aber gleichzeitig fühle ich mich, als wäre ich auf einem mir unbekannten Weg einer Besserung. Aus irgendeinem Grund, den ich überhaupt nicht verstehe, vermittelt mir dieses Weinen auch so etwas wie Zuversicht.

Einen Weg finden

Am nächsten Morgen beobachte ich meine kleine Tochter, wie sie gerade über einzelne Bretter des mehrfarbigen Vorzimmerbodens surft. Die helleren Bretter sind ihre Schiffe, sagt sie zu sich selbst. Und wie in Zeitlupe bewegt sie sich. Es ist eine Bewegung wie mit Rollschuhen, oder wie beim Langlaufen. Sie rührt sich dabei nicht von der Stelle, aber sie bewegt ihre Arme und ihre Beine, so als wollte sie nach vorne. Irgendwohin, aber weitergehen. Sie fühlt sich unbeobachtet.

Sie tut das nur für sich alleine, und sie singt dabei. Der Text erzählt von ihren Gefühlen. Sie singt, was ihr gerade durch den Kopf geht.

Ein siebenjähriges Mädchen mit langen, dunklen Haaren und großen dunklen Augen. Sie schaut wie durch den Boden hindurch in eine Ferne, und sie bewegt sich wie in Trance. Sie singt zu sich, leise.

Ich muss

einen Weg finden

zum Glück

den ich nicht kenne.

Immer wieder. Immer wieder. Dann wechselt der Text.

Ich muss

einen Weg finden

zum Glück

den niemand kennt.

Niiiieeemand.

Sie sagt und sie singt es ganz lang gezogen. Sehr leise, beinahe ehrfürchtig.

Die kleine Maus! Mir bleibt die Luft weg, ich muss mich setzen.

Das Wasser schießt mir in die Augen, und als ich aufschaue, kommt sie zu mir gelaufen und setzt sich auf meinen Schoß.

Wir umarmen uns. Wortlos. Sehr lange.

Mir wird klar, wie sehr sie von mir abhängig ist. Und wie gut sie mich jetzt schon kennt und versteht. Sie muss den Weg finden, falls ich ihn nicht finde. Ich bin ihre Mutter, und sie ist meine Tochter.

Mein Kind hat schon mehrere Male versucht, mich zu trösten, so wie auch ich immer wieder versucht habe, meine eigene Mutter zu trösten. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Mutter-Trösten für ein Kind nicht die richtige Aufgabe ist. Trotz aller Anstrengungen und auch in dieser emotionalen Ausnahmesituation weiß ich überdies ganz genau: Mein kleines Mädchen ist das größte Wunder in meinem Leben.

Sie hat eine ganze Menge Stress mitbekommen in den letzten Wochen und Monaten. Von meiner Wut, von meinen Zusammenbrüchen, von meinem Ausgebranntsein.

Ich habe ihr in meiner Erschöpfung schon einige Male vorgeworfen, sie sei undankbar, und habe im selben Augenblick gewusst, dass dieser Vorwurf ungerecht war, und dass er wie ein kleiner Vernichtungsschlag gewesen sein muss.

Jedes Mal hatte ich danach ein sehr schlechtes Gewissen. Ich will damit aufhören. Ich muss eine andere, eine neue Stärke in mir finden.

Ich sehe mein Kind, sehe seine rudernden Bewegungen. Meine Kleine, mein Kind!

Sie hat einen Bann gebrochen: Es muss einen Weg geben. Einen anderen.

Auf dem man sich weniger aufreibt, auf dem man nicht innerlich mürbe und müde gemacht wird. Es muss einen Weg geben, der nicht in die Verbitterung führt.

Falls ich also wieder einmal zaudern sollte, will ich mich an Victorias Lied erinnern. An ihre eindringlich gesummten Worte: Ich muss einen Weg finden zum Glück, den ich nicht kenne.

Ente! Buuch!

Ein paar Wochen später.

Ich sitze in der U-Bahn, schräg vis-à-vis ein kleines Mädchen, ich schätze sie auf zwei bis zweieinhalb Jahre alt. Puppengesicht, dunkelblonde Locken, ein Stirnband hält ihre krausen Haare zurück. Augen, Nase und Mund, alles ganz eng beieinander. Ein bildhübsches Kind mit graublauen Augen, mit rundlichen Kleinkindwangen und hoher Stirn. Das personifizierte Kindchenschema, wie aus dem Bilderbuch.

Es ist gegen sieben Uhr am Abend. Das Mädchen sitzt, behütet von ihrer Großmutter (oder zumindest glaube ich, dass es sich um ihre Großmutter handelt), am vorderen Rand der Bank gegen die Fahrtrichtung. Die U-Bahn schaukelt, das Kind ist warm eingepackt in eine ziegelrote Daunenjacke, und ihre kleinen Stiefelchen baumeln in der Luft. Sie schaut auf einen runden Knopf, an dem sonst die U-Bahn-Magazine baumeln; schaut hin, ganz irritiert, und sagt immer wieder: Mein Buch! Mein Buuuch …!

Sie zeigt mit ihrem kurzen Kinderzeigefinger auf diesen leeren, runden Knopf, sie blickt ihre Omi an und dann wieder dorthin, wo heute eben gar nichts baumelt. Mein Buch! Sie schaut unendlich traurig drein. In diesem Moment ist die ganze Welt für sie eine einzige, große Enttäuschung.

Kein Buch.

Nichts ist da.

Ihre Omi nickt. „Ja“, sagt sie, „da ist heute kein Buch, das wir anschauen können.“ Aber dann nimmt sie die Kleine auf ihren Schoß, und das Blickfeld, der Horizont des Mädchens, verändert sich dadurch. Sie entdeckt etwas Neues.

Ente sagt sie, und ihr Gesichtchen hellt sich auf. Ente!!

Das Kind streckt den rechten Arm im Daunenjackenärmel weit aus, zeigt diagonal durch den Waggon, mehrere Menschen drehen sich um, … Ente! … und die Oma sagt: „Ja, du hast recht! Wirklich! Da oben ist eine Ente.“

Die Kleine genießt es offensichtlich, die Dinge beim Namen zu nennen. Alles, was sie erkennt und was sie selbst schon benennen kann, lässt sie sich auf der Zunge zergehen: Buch! … Ente!! … Fenster?, … Frau. (eigentlich: Fau.)

Mütter, Väter, Onkel und Tanten, große Geschwister und eben auch Großeltern, alle diese Menschen wissen, mit welcher Begeisterung sich Kleinkinder in die Welt der Sprache hineintasten. Jedes Mal ein kleiner Triumph, wenn ein neuer Begriff artikuliert wird. Er wurde gerade noch geraten, dann ein oder zweimal mühevoll ausgesprochen, sozusagen ausgelotet mit dem Mund; wenn so ein Begriff dann endgültig aufgenommen worden ist in das kindliche Repertoire, dann ist das Kind in diesem Moment ein Stück weit über sich selbst hinausgewachsen.

Ente! – Volltreffer! Das Kind fühlt sich großartig, es fühlt sich souverän. Ente!

Wer keine Zeit hat, wer währenddessen im Büro war oder sonst irgendwo seinen oder ihren Job gemacht hat, war nachher: nicht dabei. Solche Glücksmomente lassen sich nicht verschieben und sie richten sich nicht nach dem Terminkalender. Sie treten ein, völlig unvorhersehbar. Sie lassen sich nicht planen. Ein Wunder nach dem anderen geschieht.

Greifen. Sitzen. Krabbeln. Stehen …

Wir können entweder dabei sein, oder eben nicht.

Die Frauen der Generation vor uns, Frauen also wie meine eigene Mutter, waren zuerst traurig und dann verbittert darüber, dass ihre Männer nie da waren, wenn so ein Wunder geschah.