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Johanna Schuh
Naikan – Die Welt der Innenschau: Innere Ruhe finden und sich selbst entdecken

Naikan –
Die Welt der Innenschau

Innere Ruhe finden und sich selbst entdecken

Johanna Schuh

INHALT

VORWORT von Setsuko Nakano

VORWORT von Prof. Akira Ishii

EINLEITUNG

1. INNERE RUHE FINDEN UND SICH SELBST ENTDECKEN

Klassisches Naikan: die Naikan-Woche

Naikan – lang oder kurz?

2. NAIKAN – WIE GEHT DAS?

Drei Fragen – ein einfaches Werkzeug

Die 1. Naikan-Frage: Was hat Person X für mich gemacht?

Die 2. Naikan-Frage: Was habe ich für Person X gemacht?

Die 3. Naikan-Frage: Welche Schwierigkeiten habe ich Person X bereitet?

Die verflixte 4. Frage, die an Macht verliert

Drei Fragen verändern

Das Gewicht der drei Fragen

Das Lügen und Stehlen

Klassisches Naikan und variantenreiches Naikan

Naikan Technik und Naikan Tiefenwirkung

Die Kraft der Stille

Ordnung im Innenleben schaffen

Sanfte, respektvolle Begleitung

Alles darf sein

3. NAIKAN – WIE LÄUFT SO EIN RETREAT AB?

Rückzug, Schweigen und Geborgenheit

Die eigene Lebensgeschichte ordnen: Biografiearbeit

Das Naikan-Gespräch

Wozu Naikan-Leiterinnen?

Die Verbeugung

Erinnern, Nachdenken, Einfühlen

Das Auf und Ab der Konzentration

Im Buch des Lebens schreiben

Bewegungsspielraum

Arbeitsmeditation

Das leckere Essen

Kann man Naikan öfter machen?

4. NAIKAN – KANN ICH DAS ALLEIN IM ALLTAG MACHEN?

Naikan über den Tag – einfach und effektiv

Naikan über eine Person

Naikan über die Partnerschaft

Naikan über ein Thema

Naikan im Hier und Jetzt

Naikan über die Zukunft

Naikan Jahresrückblick und Jahresausblick

Naikan Biografiearbeit

Schriftliches Naikan

5. NAIKAN – WARUM SOLL ICH DAS MACHEN?

Ich will Ruhe finden und Kraft tanken

Ich bin neugierig – Selbsterfahrung

Ich leide – Selbstheilung und Lebenshilfe

Ich suche – Selbstverwirklichung und Spiritualität

Kann jeder Naikan machen?

6. NAIKAN – WAS BRINGT MIR DAS?

Selbst-Erkenntnis, Selbst-Vertrauen, Selbst-Akzeptanz

Vergangenes bewältigen

Neue Perspektiven und neue Möglichkeiten

Achtsamkeit und innere Ruhe

In Frieden leben – mit mir, allen und allem

7. NAIKAN – WOHER KOMMT DAS?

Wie Naikan eine Methode wurde

Die buddhistischen Wurzeln

Die große Frage von Leben und Tod

8. NAIKAN – KANN ICH NOCH MEHR WISSEN?

Wo das Ich und das Du in Berührung gehen

Vom Entweder–Oder zum Sowohl–Als-auch

Die ewige Frage der Schuld

Der Schritt zur Versöhnung

Die Sache mit der Dankbarkeit

Die Vergangenheit und das Hier und Jetzt

Nichts Besonderes

Freiheit

Falsch verstandenes Naikan

Gelebtes Naikan

9. NAIKAN – WO KANN ICH EIN RETREAT BESUCHEN?

Wie kann ich mich auf das Naikan-Retreat vorbereiten?

Was mich beim Naikan-Retreat erwartet

Was sollte ich nach dem Naikan-Retreat beachten?

NACHWORT

FUSSNOTEN & LITERATUR

ÜBER DIE AUTORIN

VORWORT von Setsuko Nakano

Es war 1997 beim Internationalen Naikan Kongress in Brixen in Italien, als ich Johanna zum ersten Mal begegnete. Ich erinnere mich, dass ich sehr bewegt war, als ich ein Lied hörte, das mich tief im Herzen berührt hat. Es war die Stimme von Johanna. Nicht nur ihre Stimme war schön, sondern auch sie selbst. In der Zeit war sie Naikan-Assistentin bei Naikido unter der Leitung von Josef Hartl.

Jahre später beim Internationalen Naikan Kongress in Japan im Jahr 2000 hat sie wunderbare Lieder präsentiert. Abermals war ich von Johannas Stimme völlig in den Bann gezogen. In diesem Kongress habe ich die Geschichte von Naikan in der Drogentherapie gehört, was mich sehr beeindruckt hat.

Nach dem Internationalen Naikan Kongress 2010 in Deutschland hatte ich die Gelegenheit, Johannas Naikan Zentrum in Wien zu besuchen. Das war ein sehr schönes Zentrum. Dort hat Johanna mit einem japanischen Duri Spieler spontan musiziert und zu den Klängen des japanischen Bambus-Instruments gesungen. Das war sehr fein.

Nach dem Internationalen Naikan Kongress 2013 in Japan hatte ich die Ehre, dass sie zwei Wochen Naikan in meinem Zentrum geübt hat. Bei der Naikan-Begleitung von Johanna, die auch Naikan Zentrumsleiterin ist, reinigte sich mein Herz. Eine gute Zeit wurde mir geschenkt. Ich verstand ihre Begeisterung für Naikan und ihr Gefühl für Musik. Ich glaube, Johanna ist eine Naikan Zentrumsleiterin, die eine führende Rolle für Naikan in Europa einnehmen wird.

Als eine Person, die sich ebenfalls mit Naikan beschäftigt, wünsche ich mir, dass Naikan mehr Verbreitung in der Welt findet und dass sich der Blick vieler Menschen auf dieses Buch richten möge.

Setsuko Nakano
Leiterin des Shinshu Naikan Zentrum, Japan

VORWORT von Prof. Akira Ishii

Johanna hat seit 1994 viele Naikan-Übende bei Naikan begleitet.

Während der Zeit ihres Naikan-Weges hat Johanna in Europa und in Japan Naikan für sich selbst geübt. Aus solch langjähriger, tiefer Erfahrung wurde dieses Buch über das Wesen von Naikan in klaren Worten geschrieben, sodass alle Menschen verstehen können.

Dies ist ein wichtiges Buch, das sowohl als Einführung als auch zur Vertiefung von Naikan gelesen werden kann.

Naikan ist ein Weg zum Glück, einfach dadurch, dass man sich selbst sieht. Ich wünsche mir, dass viele Menschen durch dieses Buch mit Naikan in Berührung kommen und selber Naikan machen und glücklich werden. Es wäre schön, wenn Sie sich durch das Lesen inspirieren lassen und die Fähigkeit glücklich zu werden in sich selbst entdecken.

Prof. Akira Ishii
Professor an der Aoyama Gakuin Universität, Japan

EINLEITUNG

Wir leben in einer Kultur, die eine unendliche Fülle im Außen bietet. Sehr leicht verliert man dabei die eigene Innenwelt, das eigene Selbst aus den Augen. Damit meine ich nicht die Wünsche nach dem, was man haben möchte, oder nach dem, was sein soll oder was anders werden soll. Ich meine damit die Wahrnehmung für das, was ist. Was geht in mir vor? Was sind meine Bedürfnisse? In welche Richtung gehe ich in meinem Leben?

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Einsicht immer mehr durchgesetzt, dass ein zufriedenes Leben weit mehr bedeutet als ein ausgeglichenes Konto und materielle Sicherheit. Galt es früher noch als Luxus, sich Zeit für sich selbst zu nehmen, Pausen einzulegen, Persönlichkeitsentwicklungsseminare zu besuchen, ist es heute eine allgemein anerkannte Tatsache. Viele Techniken und Methoden werden mittlerweile für alle zugänglich angeboten, um sich mit sich selbst und den eigenen Möglichkeiten und Zielen zu befassen.

Doch im Alltag mit seinen enormen Anforderungen scheint niemals genügend Zeit vorhanden zu sein, um sich tatsächlich um sich selbst zu kümmern. Schneller, besser, mehr – so lautet die Devise, sowohl im Berufsleben als auch privat. Immer mehr Leistung wird verlangt, egal was es an persönlichen Ressourcen kostet.

Leider braucht es oft überdeutliche Signale, bis wir uns dazu entschließen, uns selbst und unser Tun auf den Prüfstand zu stellen. Manchmal zwingt uns eine körperliche Krankheit oder psychische Belastung zum Innehalten. Manchmal bewegen wir uns so lange im ewig gleichen Trott, bis die inneren Ressourcen bis zum Burnout erschöpft sind.

Warten Sie nicht – handeln Sie jetzt!

Dieses Buch stellt Ihnen Naikan vor, eine einfache Methode, mit der Sie einerseits täglich im Alltag und andererseits als Auszeit-Retreat – ideal ist eine Woche – den Blick nach innen wenden und innere Ruhe finden können.

„Naikan“ ist ein japanisches Wort und bedeutet „Innenschau“ oder „das Innen beobachten“. Naikan lädt dazu ein, den Blick nach innen zu richten, um sich selbst zu erkennen und besser zu verstehen.

Normalerweise richtet sich unser Blick nach außen, wir schauen in die Welt, auf die Menschen und Dinge, die uns umgeben. Wir schauen, was Partner oder Partnerin, Kinder, Nachbarn, Arbeitskollegen usw. tun und lassen, wie sie uns Probleme machen, wie schlecht es um die Dinge in der Umgebung und in der Welt steht. Seltener blicken wir auf das, was in unserem Umfeld und in der Welt reibungslos oder einfach läuft.

Ein Blickwechsel von außen nach innen ist wohltuend, man kommt wieder zu sich. Das Innehalten gibt Kraft. Durch die Naikan-Fragen erkennen Sie Ihr Handeln, den Umgang mit sich selbst und Ihren Mitmenschen klarer. Dadurch eröffnen sich neue Handlungsmöglichkeiten.

Das Beste dabei ist: Niemand anderer sagt Ihnen, was richtig und was falsch ist. Was sich durch Naikan zeigt, ist Ihre EIGENE Wirklichkeit.

Wieso dieses Buch?

Für nachhaltige Gesundheit ist es wichtig, Ruhe als wertvoll zu erleben und die Pflege des Innenlebens und der eigenen Kräfte als natürlichen, gesund machenden Bestandteil des Lebens anzuerkennen. Lernen Sie, Dinge bewusst zu erleben – die angenehmen und die unbequemen Dinge. Raus aus der Endlosschleife, rein in ein achtsames, zufriedeneres Leben.

Eine hervorragende und einfache Methode, um diese Qualitäten zu trainieren, ist Naikan – zur Ruhe kommen, innere Klarheit finden und den Blick auf sich selbst lenken. Naikan schult die Wahrnehmung für den Reichtum – im Innenleben und in der Außenwelt.

Wer die drei Naikan-Fragen im Alltag einsetzt, gewinnt mit nur wenigen Minuten Zeitaufwand mehr Ruhe, größere Klarheit, neue Perspektiven. Wer eine Naikan-Rückzugswoche besucht, gewinnt in nur einer Woche tiefe Einsichten in das eigene Sein.

Wenn dieses Buch dazu beiträgt, Sie zum Innehalten zu inspirieren, dann hat es seinen Zweck erfüllt.

Form und Aufbau

Jeder Punkt in den einzelnen Kapiteln ist kurz gehalten und kann als in sich geschlossene Einheit gelesen werden. Mein Anliegen war es, die Inhalte übersichtlich und überschaubar aufzubereiten.

Als Inspiration sind den einzelnen Punkten jeweils ein Bild und ein thematisch passender Spruch vorangestellt. Damit möchte ich zum Innehalten anregen.

Die deutsche Sprache bietet leider keine gute Lösung für eine leicht lesbare geschlechtsneutrale Ausdrucksweise. Ich bitte meine Leserinnen um Verständnis dafür, dass ich die männliche Schreibweise (z.B. Teilnehmer, Partner, Kollege …) verwende, auch wenn beide Geschlechter gemeint sind. Ich bitte meine Leser um Verständnis dafür, dass ich als Frau und Naikan-Leiterin durchgehend die weibliche Form für diese Berufsbezeichnung (Naikan-Leiterin) verwende, auch wenn beide Geschlechter gemeint sind.

Beobachtungen, meine eigenen Naikan-Erfahrungen und Erfahrungen mit über 300 Menschen, die ich bisher im Naikan begleiten durfte, fließen in dieses Buch ein. Nach 20 Jahren Beschäftigung mit der Methode habe ich immer noch den Eindruck, dass viel Wissen zu Theorie und Praxis von Naikan erst erschlossen werden muss. Dieses Leben ist eben eine faszinierende Entdeckungsreise.

Aus dem Stil des Buches können Sie ablesen, dass ich ein analytischer Geist bin, der Klarheit mag und es ganz genau wissen will. Doch jede Theorie muss in Verbindung mit Gefühl und Erfahrung gebracht werden – das hat mich Naikan gelehrt und mein Leben verändert. Vielleicht ist das die Botschaft von Naikan, die mich am meisten beeindruckt: Ich darf bleiben, wie ich bin, und kann mir zusätzliche Fertigkeiten aneignen. Oder richtiger gesagt: Ich darf immer mehr ich selbst sein.

Ruhe, Kraft und Lebensfreude wünscht Ihnen

Johanna Schuh

1. INNERE RUHE FINDEN UND SICH SELBST ENTDECKEN

Ruhe ist in unserer Kultur zur echten Mangelware geworden. Unsere Ohren sind ständig von Geräuschen überflutet: Gespräche, Radio, Fernsehen, Musik aus dem Kopfhörer, Handyklingeln, Verkehrslärm … Auch unsere Augen werden unaufhörlich mit Eindrücken überladen: Fernsehen, Werbung, Computer, Smartphone, dazu Bewegung auf den Straßen und in Einkaufszentren …

Wenn das Außen so laut, bewegt und fordernd ist, dann verwundert es nicht, dass es so schwierig geworden ist, innerlich zur Ruhe zu kommen. Menschen haben immer öfter das Gefühl, den Kontakt zu sich selbst verloren zu haben. Sie fühlen sich fremdbestimmt und können die berühmte innere Stimme nicht mehr wahrnehmen.

Die wichtigste Botschaft von Naikan ist: In Ruhe und Frieden zu leben ist möglich. Wenn Sie geübt haben, Ihren Blick immer wieder nach innen zu lenken, dann können Sie ruhig werden – egal, wie turbulent es im Außen zugeht. Die Naikan-Methode kann ein Werkzeug dafür sein.

Wie finde ich innere Ruhe?

Diese Frage gewinnt in unserer leistungsorientierten und schnelllebigen Zeit immer größere Bedeutung. Es scheint, dass unsere Kultur verlernt hat inne zu halten. Wir stolpern blind von einer Handlung in die nächste. Die Lösung von Problemen sehen wir oft darin, noch mehr zu tun und noch schneller zu sein.

Dabei liegt der Schlüssel zur Problemlösung häufig darin, sich zurück zu nehmen und die Situation in Ruhe zu betrachten. Die Naikan-Methode lädt genau dazu ein: Ziehen Sie sich für kurze Zeit aus dem Alltag zurück. Gönnen Sie sich eine Auszeit! Eine Woche in der Stille ist ideal dafür.

Sich selbst entdecken

Es ist modern, sich selbst zu optimieren. Der Grund für die Arbeit an sich selbst ist häufig, dass das, was ist, nicht zu dem passt, was erwünscht ist. Man will etwas nicht haben, man will etwas dagegen tun.

Naikan geht in die andere Richtung. Es geht darum, mit allem einen Umgang zu finden, was da ist, und möglichst viele Aspekte und Seiten des Lebens zu erkennen. Es ist eine Entdeckungsreise des eigenen Seins.

Innehalten mit Naikan

Atmen Sie tief durch. Am besten jetzt gleich.

Richten Sie Ihren Blick nach innen und achten Sie darauf, was sich Ihnen zeigen möchte. Fühlen Sie. Nehmen Sie einfach wahr, ob Sie Ruhe oder Bewegung spüren, welche Impulse auftauchen, welche Fragen Ihnen in den Sinn kommen, welche Wünsche sich melden. Lernen Sie, dass Sie auf die Eindrücke, Impulse, Wünsche nicht sofort reagieren müssen. Sofortiges Handeln ist in diesen ruhigen Minuten nicht angesagt. Versuchen Sie, einfach wahrzunehmen. Wahrnehmen was ist, in diesem Moment. Das ist alles.

Soeben habe ich Ihnen eine einfache Achtsamkeitsübung vorgestellt.

Naikan fügt diesem Innehalten eine einfache Fragetechnik hinzu:

1. Naikan-Frage: Wer hat etwas für mich gemacht? Was bekomme ich?

2. Naikan-Frage: Was mache ich selbst für den anderen? Was gebe ich?

3. Naikan-Frage: Was mache ich, womit ich Schwierigkeiten verursache?

Wahrnehmen was ist, in diesem Moment – und Klarheit mit einfachen drei Fragen finden. Was spielt sich gerade ab? Was kommt von außen? Was genau ist mein eigener Anteil?

Naikan bedeutet innehalten und den Blick auf sich selbst lenken.

Ist das schwierig?

Nein. Die Technik ist einfach. Das Schwierige dabei ist, dass wir Zeit und Übung brauchen, um Gewohnheiten zu ändern.

Geht das auf Knopfdruck?

An dieser Stelle sei vor einem beliebten Missverständnis gewarnt: Es ist damit nicht gemeint, dass es innerlich ganz plötzlich wie auf Knopfdruck still und friedlich wird. So einfach funktioniert das leider nicht. Manchmal macht eine ruhige Minute erst recht deutlich, wie turbulent es im Innenleben gerade zugeht.

Es geht nicht darum, den Ist-Zustand sofort zu verändern, sondern es geht zuerst einmal darum, den Ist-Zustand überhaupt wahrzunehmen. Wenn es innerlich turbulent ist, dann ist es eben turbulent. Wenn Sie sich niemals Zeit und Ruhe gönnen und sich selbst Aufmerksamkeit schenken, dann bemerken Sie gar nicht, was in Ihrem Innenleben überhaupt los ist. Die logische Folge daraus ist, dass sich vieles unbewusst abspielt. Man fühlt sich den Dingen ausgeliefert.

Das ist übrigens einer der Gründe dafür, warum manche Menschen ein wenig Angst davor haben, sich Zeit und Ruhe und Rückzug zu gönnen: Sie sind es nicht gewöhnt, sich selbst Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn man zu lange nicht mehr beachtet hat, was in einem selbst vorgeht, dann fragt man sich etwas bange: Wer weiß, was da alles hoch kommt? Die Antwort ist einfach: Es zeigt sich das, was Aufmerksamkeit haben möchte. Und wenn es schließlich Aufmerksamkeit bekommt, dann kann man es endlich verarbeiten und einen guten Umgang damit finden.

Wahrnehmen. Annehmen. Erst dann damit handeln.

Akzeptieren Sie den Ist-Zustand. Nehmen Sie es so an, wie es ist. Es ist weder gut noch schlecht, es ist einfach Teil von Ihnen.

Leider überspringen wir im Alltag die ersten beiden Schritte häufig. Wir handeln sofort, wir wollen sofort etwas verändern. Und dann wundern wir uns, wenn es nicht gelingt. Wir haben ja schon sooo viel getan!

Wir verhalten uns wie ein Koch, der eine Speise würzt und dabei gar nicht wahrnimmt, ob es sich bei der Speise um eine Gemüsepfanne oder um einen Obstsalat handelt. Wenn wir nicht wahrnehmen, was eigentlich Sache ist – wie soll Veränderung da überhaupt gelingen? Da regiert hauptsächlich der Zufall.

Oder wir verhalten uns wie ein Koch, der eine Speise würzt und sieht, dass es sich um einen Obstsalat handelt, aber er will das nicht akzeptieren, denn schließlich stand vor einer Minute noch die Gemüsepfanne an diesem Platz. Wenn wir nicht anerkennen, was Sache ist – wie kann unser Handeln dann der Situation angemessen sein? Wie oft agieren wir nach dem Motto: Jetzt erst recht! Einfach weil wir nicht annehmen wollen, was unsere Wahrnehmung klar gezeigt hat.

Innere Ruhe wächst, wenn wir wahrnehmen und annehmen, was ist.

Annehmen und akzeptieren heißt übrigens nicht, alles wundervoll und super zu finden und jegliche Kritik zu vergessen. Es bedeutet auch nicht, zu resignieren und alles tatenlos hinzunehmen. Akzeptieren heißt, die Tatsachen zu sehen. Das, was ist, das ist in Ordnung. Und gleichzeitig gibt es Dinge, die man verändern kann, und Ziele, die man erreichen möchte.

Altes Wissen neu entdecken

Das Wissen um die Heilkraft der Ruhe auf Körper, Geist und Seele existiert bereits seit Jahrtausenden. Jede Kultur, jede Religion, jeder Weg der geistigen Schulung kennt Methoden des Rückzugs und der inneren Einkehr. Dabei gibt es immer zwei Wirkungsfelder:

• Methoden der regelmäßigen oder täglichen Übung und

• Methoden des Rückzugs aus dem Alltag über einen längeren Zeitraum.

Naikan ist eine Methode, die sowohl als Werkzeug im Alltag als auch in Form einer Auszeit genutzt werden kann.

Naikan ist keine Religion, obwohl es aus dem buddhistischen Weltbild in Japan entstanden ist. Ishin Yoshimoto, der Begründer von Naikan, wollte eine Praxis der Innenschau schaffen, die für jeden Menschen zugänglich und umsetzbar ist – unabhängig von seiner Weltanschauung, unabhängig von seinem Platz in der Gesellschaft, unabhängig von seiner körperlichen Fitness, unabhängig von seinen persönlichen Themenstellungen.

Naikan bietet weder Weisheitslehrer noch Ideologie. Die Methode ist darauf ausgerichtet, dass Sie Erkenntnisse aus eigenem Erleben und selbstbestimmt herausfinden. Eigenkompetenz und Eigenverantwortung stehen im Vordergrund.

Aus eigenem Wissen schöpfen

Wie oft befragen Sie sich selbst, wenn Sie Antworten suchen? Können Sie die Antworten hören, die sich in Ihnen melden? Wie gehen Sie mit dem um, was Sie im Inneren wissen und fühlen?

Allzu oft fragen wir lieber andere Menschen, wenn wir Antworten suchen. Aber kann uns ein anderer wirklich sagen, was für uns selbst der richtige Weg ist? Wenn wir Antworten immer im Außen suchen, dann ist das eine ständige Quelle der Unruhe. Letztendlich helfen nur die Antworten, die aus uns selbst kommen. Naikan schult die Fähigkeit in inneren Dialog mit sich selbst zu gehen.

Wenn Sie in sich hinein hören, um Antworten auf Ihre Fragen zu erhalten, dann kommen oft ziemlich widersprüchliche Signale aus dem Inneren. Vielleicht reagieren Sie darauf enttäuscht oder Sie gehen innerlich in Streit mit sich selbst. Auch das ist eine Quelle der Unruhe. Der gesunde Weg mit Widersprüchlichkeiten umzugehen ist, sie einfach wahrzunehmen und in eine Entscheidung miteinzubeziehen.1 Naikan schult die Fähigkeit, mit der manchmal gegensätzlichen Vielfalt des Erlebens umzugehen und Klarheit zu finden.

Der Fels in der Brandung

Ruhe und Bewegung sind ein ständiges Wechselspiel. Das gilt für das Innenleben genauso wie für die Welt, die uns umgibt. Um mit diesem bewegten Wechselspiel umgehen zu können, sehnen wir uns nach Ruhe und Gelassenheit, nach einem Fels in der Brandung.

Wir suchen gerne Halt und Orientierung im Außen. Doch dort werden wir nicht fündig. Schließlich sehen wir ein: Es geht um Halt und Orientierung in unserem Inneren.

Immer wieder kommen Menschen zum Naikan, um ihre eigene Mitte, ihren inneren Ruhepol zu finden. Eine Teilnehmerin kam auch mit diesem Wunsch und erkannte am sechsten Tag ihrer Naikan-Woche zutiefst: „Ich kann mein eigener Fels in der Brandung sein.“

Willkommen in der Welt der Innenschau.

Klassisches Naikan: die Naikan-Woche

Als die Naikan-Methode in den 1980er Jahren nach Europa kam, war lange Zeit klar, dass „Naikan“ eine Rückzugswoche bedeutet. Mit der Zeit wuchs die Vielfalt von Naikan-Formen, was sehr erfreulich ist.

Heute allerdings ist nicht mehr klar, ob von der Naikan-Woche die Rede ist, wenn jemand sagt: „Ich habe Naikan gemacht.“ War es eine Woche, ein Wochenende oder ein kurzes Kennenlernen der Methode im Rahmen eines Seminars? War es Klassisches Naikan, Kodo-Naikan, Naikan-Coaching? War es Naikan pur oder in der Kombination mit einer anderen Methode?

Um eine Begriffsklärung zu schaffen, wurde der „Verband für klassisches Naikan“ im Jahr 2010 gegründet. Anliegen des Vereins ist es, die klassische Naikan-Woche zu vertreten, zu pflegen und nach außen klar sichtbar darzustellen.

Was ist klassisches Naikan?

Definition von „Klassisches Naikan“ im Sinne des Verbands für klassisches Naikan, zitiert von http://www.naikan-verband.net:

Naikan-Innenschau dient der Selbsterfahrung und persönlichen Weiterentwicklung im ganzheitlichen Sinne. Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis sind die Basis für das Anerkennen, Verstehen, Begreifen, Erfahren, Entwickeln, Annehmen der eigenen Wesensart in allen Bereichen des Menschseins: auf geistiger, seelischer, emotionaler, spiritueller, körperlicher Ebene.

Klassisches Naikan ist eine Woche des Rückzugs in die Stille und der Selbstbeobachtung. Methodisches Werkzeug sind die 3 Naikan-Fragen:

1. Naikan-Frage: Was hat [Person X] für mich gemacht?

2. Naikan-Frage: Was habe ich für [Person X] gemacht?

3. Naikan-Frage: Welche Schwierigkeiten habe ich [Person X] bereitet?

Die Naikan-TeilnehmerInnen werden während der Naikan-Woche von einem/r ausgebildeten Naikan-LeiterIn oder einem Naikan-LeiterInnen-Team begleitet. Die Naikan-Begleitung erfolgt in individueller Einzelarbeit (keine Gruppenarbeit).

Rahmenbedingungen:

• Dauer einer Naikan-Woche: min. 6 ganze Übungstage (von morgens bis abends durchgehend) inkl. 7 Übernachtungen (z.B. Sonntag Abend bis Sonntag Morgen)

• Tagesstruktur: min. 14 Stunden Naikan-Übung pro Tag ab Tagesbeginn (Wecken) bis Tagesende (Nachtruhe)

• Wochenstruktur: Am Beginn der Woche gibt der/die Naikan-LeiterIn den Naikan-TeilnehmerInnen eine Einführung (Organisatorisches sowie inhaltliche Information). Nach der Einführung Beginn der Naikan-Übung, Rückzug auf den Übungsplatz und Schweigen bis zum Ende der Naikan-Übung. Die Selbstreflexion wird unterstützt durch Naikan-Einzelgespräche mit der/dem Naikan-LeiterIn. Am letzten Tag sorgt der/die Naikan-LeiterIn für einen guten Abschluss der Naikan-Woche in dem Sinne, dass der/die Naikan-TeilnehmerIn möglichst gut auf den Alltag vorbereitet wird.

• Jede/r Naikan-TeilnehmerIn erhält während der Naikan-Woche einen sichtgeschützten Übungsplatz für die individuelle Selbstarbeit. Dies dient dem Rückzug und der Konzentration auf sich selbst.

• Ab Beginn der Naikan-Übung am ersten Tag bis zum Ende der Naikan-Übung am letzten Tag gilt durchgängiges Schweigen zwischen den Naikan-Übenden und zur Außenwelt als vereinbart (keine Gespräche und Kontaktaufnahme, kein Telefon, kein Computer), außerdem keine Ablenkungen (kein Fernsehen, kein Radio, kein Lesen). Ansprechpartner während der Naikan-Woche sind ausschließlich die Naikan-Begleiterinnen.

• Die Naikan-LeiterInnen kommen täglich mehrmals zu den Naikan-TeilnehmerInnen, um ein Naikan-Einzelgespräch zu führen. Pro Tag sind es mindestens 7 Einzelgespräche im Abstand von 60 bis 120 Minuten.

• Naikan wird als kontinuierliche Übung verstanden, ohne Unterbrechung (z.B. Schweigen auch während des Essens) und in eigenständiger Selbstreflexion (d.h. die Hauptarbeit erfolgt von den Naikan-TeilnehmerInnen selbst in eigenem Tempo auf dem Übungsplatz, möglichst ohne Störung von außen).

• Die Naikan-Übung arbeitet mit den 3 Naikan-Fragen:

1. Naikan-Frage: Was hat [………..] für mich gemacht?

2. Naikan-Frage: Was habe ich für [………..] gemacht?

3. Naikan-Frage: Welche Schwierigkeiten habe ich [………..] bereitet?

• In erster Linie werden die Naikan-Fragen in Bezug auf Personen gestellt (z.B. Mutter, Vater, Großeltern, Geschwister, Partner…). Die Erinnerungen in Bezug auf eine Person werden chronologisch mit Hilfe der 3 Naikan-Fragen untersucht, und zwar ab dem ersten Kontakt bis heute oder bis zum letzten Kontakt. Dabei wird in Lebensabschnitte (ca. 4 bis 6 Lebensjahre) unterteilt. Für jeden Lebensabschnitt gibt es 60 bis 120 Minuten Reflexionszeit für den Naikan-Teilnehmer, die durch ein kurzes Naikan-Einzelgespräch mit dem/der Naikan-LeiterIn einen Abschluss finden. (Beispiel: Person Mutter, als ich 0-6 Jahre alt war, danach 6-10, 10-14, 14-18 usw. bis heute)

• Naikan-Einzelgespräche sind in der Regel kurz (ca. 10 Minuten). Dabei berichtet der/die Naikan-TeilnehmerIn einige Beispiele, die er oder sie zu den 3 Naikan-Fragen gefunden hat. Der/die Naikan-LeiterIn hört aufmerksam zu und bedankt sich. Unterstützung durch echtes Zuhören, Zurückhaltung und Nicht-Urteilen ist Hauptaufgabe der Naikan-LeiterInnen. Falls der/die Naikan-Übende Fragen oder ein Anliegen hat, kann er dies mit dem/der Naikan-LeiterIn besprechen. Falls erforderlich, gibt der/die Naikan-LeiterIn zusätzliche Hilfestellung.

• Kern der Naikan-Methode ist die Arbeit mit den 3 Naikan-Fragen. Im Normalfall braucht es keine zusätzlichen methodischen Ergänzungen. Falls erforderlich, kann der/die Naikan-LeiterIn den/die TeilnehmerIn mit weiteren Hilfsmitteln unterstützen.

• In der Regel beginnt die Naikan-Übung mit der Betrachtung der eigenen Lebensgeschichte in Bezug auf die Mutter (oder die Person, die die Mutterrolle eingenommen hat), danach in Bezug auf den Vater. In weiterer Folge wird individuell vereinbart, welche Personen oder Themen mit den Naikan-Fragen bearbeitet werden.

Naikan – lang oder kurz?

Wie viel Zeit soll man für Selbstreflexion aufbringen? Muss Naikan immer eine Woche lang sein? Was bringt es, nur einen oder zwei Tage Naikan zu machen? Und sind Innenschau und innere Ruhe im Alltag möglich?

Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Ja, die Idealform von Naikan ist eine ganze Woche.

Warum? Zwei bis drei Tage dauert es etwa, bis man sich an das Umfeld und die Ruhe wirklich gewöhnt hat, den Alltag hinter sich lassen kann. Dann dauert es nochmal etwa zwei Tage, bis die innere Ruhe so stabil wird, dass tiefere innere Bereiche des Selbst wahrnehmbar werden. Und ab dem fünften oder sechsten Übungstag gelingt es mehr und mehr, einfach nur wahrzunehmen, was sich zeigt. Probleme und Lösungen treten in den Hintergrund. Kernthemen werden langsam sichtbar und kommen klar ins Bewusstsein.

Es ist auch möglich, mehrere Wochen durchgehend Naikan zu üben. In aller Ruhe in die Tiefe gehen und erkennen – der meditative Charakter von Naikan kommt bei längerem Rückzug voll zur Entfaltung.

Die Dauer der Stille und der Übung entscheiden darüber, wie tief man in sich schauen kann.

Doch sind Kurzformen deswegen schlechter?

Ich sage: Nein. Viele Naikan-Übende lehrten mich, dass auch Naikan-Tage sehr gut genutzt werden können. Auch dann, wenn man vorher noch nie Naikan gemacht hat. Worauf es ankommt ist die Motivation. Wer sich mit sich selbst im Licht einer bestimmten Person (oder eines bestimmten Themas) wirklich befassen möchte, der kann von der Ruhe und der Naikan-Fragestellung auch an einem oder zwei Tagen sehr gut profitieren.

Man muss nur wollen, wie man so schön sagt. Das gilt auch für die Integration von Innenschau und Ruhe in den Alltag. Es ist möglich!