Inhalt

Vorwort

Über die Reihe

Kindheit

Der erste Schultag

Der alte Jensch

Bei der Heuernte

Beim Kühe hüten

Der Liebesbote

Glatzenschneider Henke

Deutschland wird Weltmeister

Im dunklen Keller

Konfirmation mit Hindernissen

Jugendzeit

Ach, Blümlein blau

Die erste Tanzstunde

Freundinnen auf großer Fahrt

Erwachsenenalter

Der Heiratsantrag

Der Führerschein

Der neue Fußball

Die Urlaubsüberraschung

Der achtzigste Geburtstag

Liebe Verlesende liebe Zuhörer,

mein Name ist Annette Weber. Seit fast 30 Jahren bin ich als Autorin tätig, schreibe Bücher, Geschichten und Theaterstücke für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Die Geschichten, die ich hier erzähle, habe ich mir ausgedacht, und doch enthalten die meisten von ihnen einen wahren Kern. Viele Menschen haben mir, als ich mit der Arbeit zu diesem Buch begann, Situationen aus ihrem Leben erzählt, die in die Geschichten eingeflossen sind. Ihnen möchte ich hiermit noch einmal ganz herzlich danken.

Mein besonderer Dank gilt meinem Vater und meiner Tante Hanna. Sie haben mich oft beraten, die Geschichten gelesen und mir wichtige Rückmeldungen gegeben. Ebenfalls danken möchte ich dem Haus Ruhrgarten der evangelischen Altenhilfe aus Mülheim an der Ruhr. Auch hier wurden die Geschichten gelesen und besprochen und die Resonanz an den Verlag weitergegeben.

Das Arbeiten an dem Buch hat mir viel Spaß gemacht. Ich hoffe, Sie spüren das zwischen den Zeilen.

Ich wünsche Ihnen mit diesem Buch viel Freude, und hoffe, dass auch Sie sich beim Vorlesen oder Zuhören der Geschichten an viele verschiedene Stationen in Ihrem Leben erinnern.

Liebe Grüße

Annette Weber

Über die Reihe

Lesen ist eine der schönsten und zeitlosesten Freizeitbeschäftigungen für Jung und Alt. In Erzählungen abtauchen, sich in andere Personen hineinversetzen, via Fantasie Zeitreisen unternehmen … Lesen bietet die Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen und ihn gleichzeitig zu verarbeiten. Wem das Lesen jedoch Mühe bereitet, kann Lesevergnügen auch über das Vorlesen erleben.

Die Reihe „5-Minuten-Vorlesegeschichten für Menschen mit Demenz“ berücksichtigt die Einschränkungen von Demenzkranken mit kurzen, pointierten und einfachen Geschichten, die an das Alltagserleben anknüpfen. Mal humoristisch, mal nachdenklich oder auch religiös-besinnlich – je nach Anlass und Situation können Sie die passende Geschichte auswählen und die Zuhörer zum Gedankenaustausch anregen. Die entsprechenden Anschlussfragen zu jeder Geschichte bieten die dazu nötigen Anknüpfungspunkte – für ein abwechslungsreiches (Vor-)Lesevergnügen!

Der erste Schultag

Als ich klein war, spielte ich den ganzen Tag mit meiner Freundin Wilhelmine auf der Straße und kam erst abends schmutzig und hungrig nach Hause.

„Komm du erst mal in die Schule, Richard. Dann hast du keine Zeit mehr zum Spielen“, sagten meine Eltern immer.

Manchmal besuchte ich meinen Onkel. Dann sah ich meine Cousins am Küchentisch sitzen, wie sie Buchstaben und Zahlen auf ihre Tafeln schrieben. Ernst und müde sahen sie dabei aus.

„Komm du erst mal in die Schule, Richard. Dann musst du den ganzen Tag lernen“, sagten meine Cousins.

Und einmal besuchte ich meinen großen Freund Hermann. Der hatte ganz verweinte Augen. Er hatte eine schlechte Klassenarbeit mit nach Hause gebracht und eine kräftige Tracht Prügel von seinem Vater bekommen.

„Komm du erst mal in die Schule, Richard. Dann hast du nur noch Ärger“, murmelte Hermann.

Das hörte sich wirklich schrecklich an.

Nach den Osterfeiertagen sollte auch für mich die Schulzeit beginnen. Und ehrlich gesagt, hatte ich ziemlichen Respekt davor. Am liebsten wäre ich immer zu Hause geblieben, aber das ging nicht. Ich war schließlich sechs Jahre alt, und das war nun mal die Zeit, in der man eingeschult wurde.

„Nun fängt der Ernst des Lebens an“, meinte mein Vater.

Aber das wusste ich ja schon.

Dann war er da, mein erster Schultag. Um mir den Schulbeginn zu versüßen, überreichten mir meine Eltern am Morgen eine Zuckertüte. Zur Schule konnten mich meine Eltern nicht begleiten, denn die Arbeit auf dem Hof erledigte sich schließlich auch nicht von alleine.

„Richard, geh mit Wilhelmine zur Schule. Die weiß Bescheid“, sagte meine Mutter zu mir.

Obwohl ich ein Junge war, war Wilhelmine meine allerbeste Freundin. Sie war wie ich ein i-Männchen. Wilhelmine kannte die Schule schon aus den vielen Erzählungen ihrer großen Geschwister. Sie hatte von ihnen schon schreckliche Geschichten über die Schule gehört. Und so hatte auch Wilhelmine große Angst.

Wir gingen beide ängstlich neben ihrem großen Bruder Heinrich her und hielten uns fest an den Händen. Heinrich brachte uns zu einer Lehrerin, die auf dem Pausenhof wartete.

„Das ist meine kleine Schwester Wilhelmine, und der andere ist ihr Freund Richard“, erklärte Heinrich der Lehrerin. Die nickte uns freundlich zu.

Ich war froh, dass wir so eine freundliche Lehrerin hatten. Sie trug ein schwarzes, langes Kleid mit einem Stehkragen. Ihre Haare waren am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Aber sie lächelte und schrieb sich unsere Namen auf.

Einige Kinder schauten zu Wilhelmine und mir herüber.

„Liebespaar, küsst euch mal!“, rief ein Junge.

Wilhelmine und ich achteten nicht auf ihn.

Wir hielten uns weiter fest an den Händen.

Schließlich hatten sich alle Kinder auf dem Schulhof versammelt. Wir waren eine große Gruppe.

Ein Junge lief über den Schulhof und läutete mit einer Glocke. Die Schule begann.

Wilhelmines Hand umklammerte meine noch fester. Jetzt ging es also los. Nun begann das, was alle immer den „Ernst des Lebens“ nannten.

Die Lehrerin machte uns ein Zeichen, und dann gingen wir in das Schulgebäude hinein. Eine Tür wurde geöffnet, und wir betraten den Klassenraum. Ehrfürchtig standen wir an der Wand und starrten auf die Tische und Bänke.

Die Lehrerin begann, einen nach dem anderen an einen Platz zu führen.

„Wo möchtest du sitzen?“, fragte sie mich.

„Ich möchte neben Wilhelmine sitzen“, sagte ich.

Wilhelmine nickte. „Und ich neben Richard“, sagte sie tapfer und umklammerte meine Hand immer noch.

Da lachten alle ganz laut. Warum nur? Das verstand ich überhaupt nicht.

Auch die Lehrerin lachte.

„Aber Richard, das geht doch nicht“, sagte sie.

„Die Mädchen sitzen links, die Jungen rechts.“

Ich bekam einen furchtbaren Schreck. Das war mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen.

„Aber ich will neben Wilhelmine sitzen“, flüsterte ich leise.

„In der Klasse sitzen Jungen immer neben Jungen und Mädchen neben Mädchen“, erklärte die Lehrerin geduldig.

Da ließ mich Wilhelmine los. Ich merkte erst jetzt, wie verschwitzt meine Hand war.

„Magst du vielleicht neben Ernst sitzen?“, fragte mich die Lehrerin dann.

Ich kannte niemanden, der Ernst hieß. Ich kannte sowieso niemanden außer Wilhelmine. Aber ich nickte tapfer.

„Na gut“, sagte ich dann.

Die Lehrerin führte mich zu einem Jungen, der ziemlich weit hinten saß. Er war auch allein. Jetzt lächelte er mir zu und rückte ein Stück zur Seite, damit ich mich neben ihn setzen konnte. Später kamen noch zwei andere Jungen in unsere Bank. Sie waren nett, und ich fühlte mich nicht mehr ganz so alleine.

An dem Tag durften wir schon auf unsere Tafeln schreiben. Wir lernten das große H, und es sah aus wie eine Turnstange.

Mittags ging ich dann mit Wilhelmine nach Hause. Natürlich gingen wir wieder Hand in Hand wie immer. Da war es egal, dass die anderen „Liebespaar, küsst euch mal!“ riefen. Denn nachmittags konnte ich spielen, mit wem ich wollte. Das ließ ich mir von niemandem vorschreiben!