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Martin Witte

Dämmerung

Ein Niedersachsen-Krimi


Für meinen Vater und Eva, die vor der Dämmerung gehen mußten.


BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Über den Autor

Martin Witte, 1973 in Solingen geboren, lebt nach vielen Jahren in Ostwestfalen seit 2007 im südlichen Osnabrücker Land. Erste Schreiberfahrungen sammelte er mit Kurzgeschichten und kleinen Gedichten.

Nach der Dämmerung erschien im Herbst 2015 sein zweiter Lokalkrimi Bluthügel 

Somit sind aktuell zwei Fälle mit dem Ermittlerduo Sellberg und Wasmuth erschienen, weitere sind in Planung.

Mehr Infos über den Autor unter www.martin-witte.com.

 

Martin Witte ist Mitglied der "Osnabrücker Ersttäter" (www.os-lokalkrimi.de)

Vorweg

Die Handlung in diesem Buch ist frei erfunden. Obwohl es gerade die Orte in Wirklichkeit gibt, sind die hier erwähnten Personen und Handlungen reine Fiktion. Ähnlichkeiten mit tatsächlich lebenden Personen oder Umständen wären zufällig und sind keinesfalls beabsichtigt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kurzbeschreibung

In einem Wald wird die in einem sargähnlichen Gebilde vergrabene Leiche einer Frau gefunden, die Merkmale einer Hinrichtung aufweist. Nur kurz darauf wird nicht weit entfernt eine enthauptete Frau gefunden, die in einem fast identischen Arrangement begraben wurde. Der Fallanalytiker Roman Sellberg und die Hauptkommissarin Maike Wasmuth geraten auf die Spur einer Gruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Wunsch ihrer todkranken Klienten nach Sterbehilfe auf eine spezielle Art zu erfüllen: Sie inszenieren den letzten Weg als eine Art Schauspiel. Als die gerade volljährig gewordene Tochter von Sellberg zwei Tage nicht nach Hause kommt und er entdeckt, dass sie sich nach ihrem Arztbesuch mit eben dieser Gruppe eingelassen hat, beginnt für ihn gleichermaßen ein Wettlauf und ein nie für möglich gehaltener Alptraum.

Prolog

Prolog

 

Festgeschnallt auf der Liege, unfähig sich noch nennenswert bewegen zu können, beobachtete sie die beiden Männer, die mit geübten Handgriffen schweigend ihre Arbeit verrichteten.

Sie hörte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Obwohl sie wusste nur noch wenige wache Minuten zu haben, verspürte sie keine Angst. Vielmehr gingen ihr wiederholt die Gedanken durch den Kopf, ob sich alles auch wirklich so abspielte, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Oft hatte sie diese Situation in den letzten Tagen und Wochen schon vor ihrem geistigen Auge durchlebt, wie es sein würde, wenn die Vorbereitungen begonnen hatten und es kein Zurück mehr gab, sie nicht mehr tun konnte, als sich der Situation zu fügen. Viel hatte sie über Leute gelesen, die so gestorben waren, wie sie sterben würde. Sie wusste um jedes Detail. Aber was ist schon ein Bericht gegen das reale Erleben? Was ihr widerfahren würde, konnte man nur einmal erleben. Sie würde sterben. Bald. Sehr bald. Daran zweifelte sie nicht.

Sie sah an den Männern vorbei und ließ ihren Blick durch den Raum wandern, der diese kalte, nüchterne Zweckmäßigkeit atmete. Kein Fenster ließ angenehmes Tageslicht herein. Alles war auf ihren Tod fixiert.

Sie wurde zurück in das Hier und Jetzt geholt, als sie das kühle, nasse Desinfektionsmittel auf ihrer linken Armbeuge spürte. Wenige Augenblicke später bahnte sich die lange Nadel ihren Weg in die Vene, wurde der Schlauch mit einem schmalen Streifen Pflaster auf ihrem Unterarm befestigt. Das Gleiche wiederholte sich an ihrem rechten Arm. Jetzt war es so weit.

Noch einmal kontrollierten die Männer die Riemen, die sie fest an die Liege drückten. Dann verließen sie wortlos den Raum. Kein freundschaftlicher Klaps, der ihr bedeutete, sie solle tapfer sein. Nichts. Keine Regung verriet Anteilnahme. Ihr Puls beschleunigte sich, raste beinahe. Ihr Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Die Spannung steigerte sich bis aufs Äußerste. Wie lange würde es noch dauern, ehe es begann?

Sie lauschte in die Stille, um das Geräusch des ersten Zylinders zu hören, der mit todbringender Zuverlässigkeit die Luft aus dem Kolben in ihren Körper drücken würde. Doch das Einzige, was sie hörte, war ihre schnelle Atmung. Sie sah auf die beiden Schläuche. Sie würde den Tod nicht kommen sehen. Luft war unsichtbar. Das war anders als drüben. In den USA wurde eine Flüssigkeit injiziert. Aber hier war nicht Amerika. Sie war in Deutschland. Brandenburg.

In diesem Moment erfasste sie plötzlich Panik. Obwohl sie stark sein wollte, war ihr Überlebensinstinkt stärker. Sie zerrte an den Riemen, wollte es beenden. In einem lächerlich hilflosen Versuch wollte sie die Schläuche abschütteln. Sie bäumte sich gegen ihre Fesseln, als sie merkte, wie ihr die Kräfte schwanden. Tränen der Verzweiflung sammelten sich in ihren Augen. Ein letztes Mal bäumte sie sich auf, dann erfasste sie nur noch Mattheit. Die Konturen des Raumes wurden trübe, als sie hinüberglitt. Es dauerte wenige Minuten, ehe ihr Herz aufhörte zu schlagen. Nadine Wohlers war tot.

Kapitel 1

1

 

Roman Sellberg schimpfte leise vor sich hin. Nach dem ausgiebigen Frühstück mit seiner Frau Patricia hatte er es sich gerade erst auf dem Sofa gemütlich gemacht und das Buch in die Hand genommen.

Weniger um sich darin zu vertiefen, mehr um die Zeit zu überbrücken, die seine Frau noch brauchen würde, ehe auch sie so weit war. Beim Frühstück war ihnen der spontane Gedanke gekommen, eine Fahrt ins Grüne zu machen. Einfach so. Seine Frau hatte völlig zurecht angemerkt, dass sie derlei Ausflüge viel zu selten unternahmen.

Sie erwähnte dies ohne auch nur den kleinsten Vorwurf in der Stimme, aber er wusste, dass sie in der Tat nicht oft dazu kamen, etwas zusammen zu veranstalten. Und das tat ihm weh.

Das war aber die Einschränkung, die sein Beruf mit sich brachte. Sellberg war seit drei Jahren Leiter der Operativen Fallanalyse beim Landeskriminalamt Hannover. Ein Zweig der Polizeiarbeit, der in den letzten Jahren stetig ausgeweitet worden war. Sehr zu seinem Leidwesen waren auch die Wochenenden allzu oft mit Terminen oder Arbeit vollgefüllt.

 

Um auf keinen Fall den gerade geplanten Ausflug scheitern zu lassen, beschloss er, das nun schon einige Zeit dauernde, melodische Klingeln des Telefons zu ignorieren.

Aber es war zu hartnäckig. Er blickte abwechselnd in die Richtung des Telefons und der Türe, durch die seine Frau jeden Moment kommen musste, und rang mit sich, ob er den Anruf entgegennehmen sollte. Während er überlegte, verstummte das Telefon.

Seine Genugtuung, genau richtig entschieden zu haben, währte nicht lange. Denn nur kurze Zeit später klingelte es erneut.

Immer noch leise fluchend legte er das Buch schließlich weg und stand auf.

»Unterdrückte Nummer. Na toll.« Sellberg war noch mehr bedient. Wenn er etwas überhaupt nicht leiden konnte, dann die in seinen Augen wenig sinnige Erfindung der Rufnummernunterdrückung. Er nahm das Telefon und drückte die grüne Taste.

»Ja, Sellberg«, meldete er sich unwirsch, entschlossen, dem Anrufer seinen Unmut über die Störung am Sonntagmittag ohne Umschweife entgegenzuschleudern. Offensichtlich verfehlte sein Tonfall die Wirkung nicht.

»Entschuldige bitte, es tut mir leid, ich störe wirklich ungern«, begann Maike Wasmuth ohne Umschweife, »aber wir haben hier etwas, das solltest du dir unbedingt ansehen.«

Sie gebrauchte diesen Satz zwar oft, aber irgendwie merkte er an ihrer Tonlage, dass sie in diesem Fall Recht hatte.

»Wieso«, fragte er trotzdem, »was ist diesmal so besonders und wichtig?«

Längst war sein neugieriger Trieb geweckt, der schwerer wog als der drohende Verlust, den freien Tag mit seiner Frau zu verbringen. Aber er versuchte trotzdem, es sich nicht anmerken zu lassen.

»Na ja«. Wasmuth sprach mit merklichen Pausen. »Vielleicht weil ich so etwas noch nicht gesehen habe. Oder besser gesagt, wir alle noch nicht.«

 

Sellberg kannte Wasmuth schon viele Jahre. Bei einem seiner Einsätze hatte er sie kennen gelernt. Sie war zum damaligen Zeitpunkt im Polizeipräsidium Osnabrück Teil der Mordkommission, die den Mord an drei jungen Frauen im Osnabrücker Raum aufzuklären versuchte. Er, als schon recht erfahrener Fallanalytiker, wurde damals hinzugezogen, weil sie sich von ihm Aufschluss über den Täter versprachen. Sehr schnell erkannte er ihre unglaublich hohen analytischen Fähigkeiten und ließ keine Gelegenheit ungenutzt, diese an höherer Stelle herauszustellen. In den letzten Jahren hatte sie denn auch verdientermaßen Karriere gemacht und war jetzt im Präsidium Osnabrück als übergeordnete Stabsstelle zuständig für Sonderaufgaben wie die Koordination bei länderübergreifenden Ermittlungen. Obwohl sie damit hierarchisch zum Führungskreis gehörte, ließ sie es sich nicht nehmen, aktiv an der Basis mitzuarbeiten, wie sie es nannte. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, rückte sie mit zu Einsätzen des Dauerdienstes aus. Auch, um den Kontakt zu den Kollegen nicht zu verlieren. Zudem war es für sie wichtig, frühzeitig an den Ermittlungen beteiligt zu sein und nicht nur die trockenen Akten zu lesen.

Nur zu gerne hätte er sie zu sich ans LKA nach Hannover geholt, aber nicht zuletzt wegen ihrer starken familiären Bande war sie seinem Werben nie gefolgt. Er mochte sie und arbeitete gerne mit ihr zusammen.

»Was habt ihr noch nicht gesehen?«, hakte er nach.

Er versuchte noch mehr von ihr zu erfahren, aber sie wich seinen Fragen aus.

»Es ist das ganze Szenario hier. Das ist alles so anders als sonst.«

»Geht es noch ein bisschen unpräziser?«

Aus den Augenwinkeln sah er seine Frau das Wohnzimmer betreten und erkannte in ihrem Blick, dass sie wusste, sich umsonst umgezogen zu haben.

Dieser Blick traf ihn ins Mark. So sehr er seine Arbeit liebte, so wichtig war ihm seine Frau. Sie würde ihm zwar nie seine Arbeit und die damit verbundene wenige Freizeit vorhalten, aber er wusste zu gut, dass er mit ihr in jeder Hinsicht einen Volltreffer gelandet hatte. Und deswegen tat es ihm immer weh, wenn er sie enttäuschen musste. Er war jetzt dreiundvierzig. Beinahe die Hälfte seines Lebens, genau einundzwanzig Jahre und drei Monate, hatte er mit Patricia verbracht. Davon vierzehn als Ehepaar. Und je länger ihre Ehe dauerte, desto mehr hatten die beruflichen Verpflichtungen stetig zugenommen. So sehr er es auch gewollt hätte, so wenig konnte er sich diesen verwehren. Mit der unausweichlichen Konsequenz, dass seine Frau immer öfter zu kurz kam.

»Ich kann und will nicht präziser werden. Nicht am Telefon. Es ist nur so, dass wir der Meinung sind, du solltest dir das auch ansehen. Hier vor Ort.«

»Wer ist wir?«

»Ich.«

»Also gut.« Sellberg ließ sich von ihr die Wegbeschreibung geben und legte auf.

Er ging zu seiner Frau und nahm sie in den Arm. Mit säuerlichem Lächeln, das ihre Enttäuschung nur schwer verbarg, sah sie ihn an:

»Sei Dir sicher, im nächsten Leben heirate ich keinen Polizisten.«

»Ich weiß.«

Er küsste sie sanft und machte sich auf den Weg.

Kapitel 2

2

 

Sellberg fuhr mit seinem Audi an der Anschlussstelle Hilter von der Autobahn ab. Von Wasmuth hatte er eine gute Anfahrtsbeschreibung bekommen, so dass er schon wenige Minuten später vor der Polizeiabsperrung stand. Verwundert war er darüber, wie weit diese reichte. Nichts war vom eigentlichen Einsatzort zu sehen. Bis auf den Streifenwagen und die beiden Beamten nahm er weit und breit keine Polizei wahr. Und diese beiden Beamten verstanden es auch noch perfekt, unbeteiligt und unaufgeregt am Fahrzeug zu lehnen. Nichts deutete hier auf ein Verbrechen hin, welches seine Anwesenheit erforderte.

Gut so, dachte er bei sich. Ihm waren Einsatzorte zuwider, wo es von Gaffern nur so wimmelte.

Er parkte am Rande des Weges, stellte den Motor ab und stieg aus. Er grüßte die Beamten freundlich und zeigte seinen Ausweis. Die Polizisten warfen einen eher flüchtigen Blick darauf und erwiderten seinen Gruß. Der jüngere von ihnen hob das Absperrband etwas höher, um ihm den Durchgang zu erleichtern.

Er ging auf einem nicht sehr breiten und mit dünnem Gras bewachsenen Feldweg in Richtung Wald. Das Rauschen der knapp zweihundert Meter entfernten Autobahn war deutlich zu hören. Kaum im Wald angekommen, sah er hinter der ersten leichten Kurve dann den erwarteten, für einen derartigen Einsatz entsprechenden Auflauf. Aber dennoch war so vieles anders.

Er sah Polizisten, die in kleinen Gruppen zusammenstanden, sich unterhielten und Notizen austauschten. Die Leute vom  Rettungsdienst, die mit ihren leuchtend roten Jacken sofort auffielen, standen gleichfalls in Gruppen zusammen. Einige lehnten sich an Bäume oder saßen auf Baumstümpfen und umgelegten Stämmen.

Beamte der Spurensicherung trugen weiße Einweg-Overalls und gingen vorsichtig in leicht vornüber geneigter Haltung umher. Das Szenario war völlig untypisch für einen Einsatz. Was auch immer es hier gab, die Gelassenheit, die alle Beteiligten ausstrahlten, wirkte auf ihn sehr befremdlich.

 

Maike Wasmuth sah ihn aus einiger Entfernung und kam auf ihn zu.

»Keine Entschuldigungen«, sagte Sellberg mit gespielter Empörung, als sie ihn erreichte, und hob beide Hände. »Das ist nicht wieder gutzumachen. Was ist hier überhaupt los?«

Er deutete mit dem Kopf auf die unbeteiligt herumstehenden Kräfte. »Haben die alle nix zu tun? Was soll das hier?«

Sellberg hatte die rund einstündige Autofahrt dazu genutzt, den verpassten Ausflug mit seiner Frau zu vergessen, aber er wollte versuchen, ihr auf diese Weise wenigstens noch ein schlechtes Gewissen zu verursachen. Es gelang ihm offensichtlich, denn Maike schlug für einen kurzen Moment den Blick nach unten. Besser, sie spielte mit.

»Du kannst dir sicher sein, dass ich dich nicht wegen irgendwas Banalem angerufen hätte.«

»Ich bin mir sicher. Also, was gibt es?«

»Weibliche Person. Etwa Mitte 30, Näheres ist noch nicht bekannt. Keine Papiere oder dergleichen. Überhaupt nichts.« Sie sprach wie immer: knapp und alles Unnötige weglassend.

»Und?«

Er wusste, dass da noch eine entscheidende Information fehlte. Deswegen sollte er nicht extra aus Hannover kommen.

»Komm mit!«

Wasmuth ging einen Schritt voraus und berichtete ihm im Gehen, was sie bisher wusste.

»Wir bekamen einen Anruf vom hier zuständigen Förster. Er habe eine Entdeckung gemacht. Was genau ließ er offen. Druckste wohl ziemlich herum. Er sagte nur, dass sein Hund sich auffällig merkwürdig verhalten habe. Die Kollegen fuhren raus und fanden dieses hier. Zuerst dachten sie, es seien nur ein paar Holzbretter, doch da irrten sie sich.«

Sie trat einen Schritt zur Seite und Sellberg verstand, warum sie ihn angerufen hatte.

Er blickte in ein Erdloch, was ihn sofort an ein ausgehobenes Grab erinnerte. In dem Loch befand sich eine Holzkiste aus schlichtem hellen Holz, etwa zwei Meter lang und fünfzig Zentimeter breit und hoch. Der dazugehörige Deckel war abgehoben und daneben gelegt worden. In der Kiste lag eine junge Frau, deren nackter Körper komplett mit durchsichtiger Folie umwickelt war. Den Kopf hatte der Rettungsdienst freigelegt, wenngleich jedem klar war, dass die Frau nicht mehr leben konnte.

»Die Kiste war zu?«, sagte er zu Maike gewandt, wobei ihm die Frage im gleichen Augenblick unsinnig vorkam.

Maike nickte. »Sie war vernagelt.«

Sie hielt ihm die Digitalkamera hin. Nur kurz blätterte er durch das Archiv und gab sie ihr dann wortlos zurück. Sellberg beugte sich über die Kiste und ließ seinen Blick über den Körper wandern. Die Folie schlug keinerlei Falten, fiel ihm auf. Sie war derart eng gewickelt, dass sich der Körper der Frau unter ihr deutlich abzeichnete.

Dieses Procedere musste lange gedauert haben. Hier hatte sich offensichtlich jemand sehr viel Zeit genommen, sie so herzurichten.

Er erhob sich und Maike gab der Spurensicherung ein Zeichen, dass sie jetzt mit ihrer eigentlichen Arbeit beginnen konnten. Sofort setzte reges Treiben ein. Aus dem eher unorganisiert scheinenden Haufen wurden schlagartig emsige Arbeiter.

»Ich denke, du verstehst, warum ich dich das hier vor Ort sehen lassen wollte«, sagte sie zu ihm, als sie sich einige Schritte von der Grube entfernten.

Roman nickte. »Absolut. Nichts ist besser als der Eindruck vor Ort. Selbst noch so gute Fotos sind nur ein ungenügender Ersatz. Ihr habt nichts verändert?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben alles so gelassen. Als die Kollegen die Kiste mit Gewalt öffneten, verständigten sie nur den Rettungsdienst und uns. Es war mir wichtig, dass du das Ganze so vorfindest wie wir. Und? Ist das was für dich?«

»Doch, ja. Mal was anderes. Du erwähntest den Förster. Ist der auch noch hier?«

»Der steht da drüben.«

Sie deutete mit dem Kopf nach links. Er folgte ihrer Geste und erblickte einen Mann, der an einem weißen Geländewagen lehnte. Er schätzte ihn auf Mitte fünfzig.

»Hat er gesehen, was in der Kiste ist?«

»Klar.«

»Und? Wie hat er reagiert?«

»Soweit ich weiß, keine Reaktion.«

»Ach ja?« Sellberg war hörbar erstaunt. »Findet er also ständig solche Kisten bei sich im Wald, oder was?«

»Was hätte er tun sollen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich? Vielleicht einen Schock kriegen oder so was? Ich meine, wie oft findet man denn eine tote Frau in einer Kiste? Da wäre es doch nur normal, wenn man irgendeine Reaktion zeigt.«

Der ironische Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Aber na ja. Ist ja auch egal. Hat er telefoniert oder so was?«

Wieder verneinte sie. »Die Kollegen haben ein Auge auf ihn.«

»Recht so. Und die Presse?«

Sie lachte kurz. »Wir sind hier nicht in Hannover. Hier gibt es nur eine einzige Zeitung weit und breit und die hat noch nix mitbekommen.«

»Sehr gut. Und was ist mit den Geiern?«

Wasmuth wusste, wen er meinte. Die Boulevard-Blätter, die mittlerweile sogar ihren Lesern Geld boten, wenn diese Fotos von wichtigen und unwichtigen Ereignissen einschickten.

»Auch nix. Sie haben auch keine Chance. Durch den dichten Wald können die mit noch so schwerem Gerät anrücken, die kriegen nix mit. Außerdem haben wir alle Zufahrten und Wege dichtgemacht. So viele sind es ja nicht.«

Jetzt nickte Sellberg zufrieden und wandte sich wieder der Toten zu.

Er sah, wie die Beamten der Spurensicherung ihrer Arbeit intensiver nachgingen und sich mit dem Fundort beschäftigten. Sie fotografierten und brachten die üblichen Markierungen an.

»Willst du mit ihm sprechen?«, fragte Maike schließlich.

»Hm?«

»Der Förster. Ob du mit ihm sprechen willst?«

Roman verneinte. »Uninteressant. Außerdem ist das euer Job.«

Er blickte sich um, erkannte aber nur Wald. »Gibt es hier in dieser Einöde irgendwo eine Möglichkeit, einen Kaffee zu bekommen?«

Maike überlegte einen Augenblick. »Schwierig. Sonntags haben die Cafés hier auf dem Land noch geschlossen. Aber im Nachbarort gibt es wohl einen neuen Laden, soweit ich weiß.«

»Na dann los!«

»Los?«

»Ja, los. Du wirst hier doch auch nicht mehr gebraucht, oder? Also fahren wir jetzt Kaffee trinken. Ein erstes Fachsimpeln sozusagen. Und außerdem für dich eine gute Gelegenheit, mir den entgangenen Ausflug mit Patricia zu ersetzen.«

Maike lachte. »Du nun wieder. Ich meld mich nur kurz ab. Kurt ist vorhin eingetroffen und kann gerne übernehmen.«

Roman ließ derweil noch einmal die ganze Szenerie auf sich wirken und ging dann langsam in Richtung seines Wagens.

Kapitel 3

3

 

Zwei Tage waren seit dem Fund der Leiche vergangen. In Osnabrück war eine Lagebesprechung angesetzt, zu der Roman Sellberg eingeladen war.

Sein erster Weg führte ihn wie immer zu Maikes Büro, wo er sie aber zu seinem Leidwesen nicht angetroffen hatte. War er doch fest davon ausgegangen, bei ihr einen Kaffee zu bekommen. Sicherlich würde es bei der Besprechung Kaffee in rauen Mengen geben, aber ihm war nach der Autofahrt jetzt schon danach. Obwohl sein Konsum weit oberhalb dessen war, was man noch als gesund bezeichnen konnte, fiel es ihm schwer, diesen einzuschränken.

 

So stand er jetzt ein wenig ratlos in der Kaffeeküche des Polizeipräsidiums. Auf der Suche nach einer Tasse oder einem Becher hatte er mittlerweile alle Schränke auf- und wieder zugemacht.

Die Kaffeemaschine verriet mit leisem Geräusch, dass die letzen Reste Wasser durchliefen und die Thermoskanne so gut wie voll war. Er ging etwas näher und genoss den herrlichen Duft, den nur frisch gebrühter Kaffee versprühte.

Auf dem Flur hörte er Schritte näher kommen. Im nächsten Augenblick betrat ein junger Polizeibeamter die Küche.

»Guten Morgen«, grüßte Sellberg freundlich.

»Hallo«, kam es zurück.

»Sagen Sie«, sprach er ihn an, »gibt es hier irgendwo auch Tassen?«

Der andere schaute ihn verdutzt an. »Ja wie, hast du etwa keine?«

Wenn Roman etwas überhaupt nicht leiden konnte, dann war es so freizügig geduzt zu werden. Dennoch ließ er sich nichts anmerken und streckte nur seine Hände seitwärts von sich weg.

»Bin ich Copperfield? Kann ich Tassen verschwinden lassen? Ich habe alle Schränke durch und nirgends ist etwas, das auch nur im Entferntesten wie eine Tasse aussieht.«

»Das kannst du vergessen.« Der andere zeigte auf die Schränke. »Hier gibt es schon lange keine mehr. Hier hat jeder seine eigene. Ist wohl zu viel weggekommen.«

Beim letzten Satz hob er leicht die Schultern, wie wenn er sich für diese Aussage entschuldigen müsste. Er beschäftigte sich mit der Kaffeemaschine und Sellberg war ein wenig verärgert, für seinen Geschmack zu wenig beachtet zu werden.

»Aber ich kann dir gerne eine bringen, bei uns im Büro stehen noch welche«, sagte er gut gelaunt zu ihm, als er die Kanne von der Maschine genommen hatte und in der Hand hielt. Sellberg nickte. »Danke. Schwarz bitte, wenn das möglich ist?«

»Aber klar. Kleinen Augenblick.«

Der andere verschwand mit der Kanne und Sellberg trat aus der Küche in den Flur. Irgendeine Melodie leise vor sich hin pfeifend, betrachtete er die Bilder, die dort hingen. Er verstand bei Weitem nicht viel von Kunst, aber er erkannte auch so, billige Kunstdrucke aus irgendeinem Möbelhaus vor sich zu haben.

Es dauerte keine zwei Minuten, ehe der andere mit einer Tasse den Flur entlang auf ihn zu kam. Sellberg ging ihm einige Schritte entgegen und nahm ihm die Tasse ab.

»Besten Dank!«, meinte er artig.

»Dafür nicht. Sag mal, bist du eigentlich neu hier? Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

»Können Sie auch nicht. Ich bin nur selten hier.«

Er holte seinen Ausweis aus der Innentasche seines Jacketts und hielt ihn dem anderen hin.

»Roman Sellberg. Ich bin vom LKA Hannover und hier mit jemandem verabredet.«

»Ach so. Pascal Schütz. Dann mal vielleicht bis später.«

Er hob die Hand, drehte sich um und ging wieder in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.

Roman sah ihm noch eine Weile hinterher und fragte sich, wie er das wohl gemeint haben könnte. Ob er überhaupt etwas damit gemeint hatte. Er nippte an seiner Tasse und nahm einen vorsichtigen Schluck. Augenblicklich verzog er die Miene.

Der angenehme Geruch von vorhin stand in krassem Gegensatz zum Geschmack. Der Kaffee war regelrecht bitter.

Gerade als er den Blick umherschweifen ließ, auf der Suche nach einem Blumenkübel, in dem er den Kaffee verschwinden lassen konnte, öffnete sich eine Türe und Maike Wasmuth kam mit einer Aktenmappe in der Hand heraus. Den Mund noch voller Kaffee, nickte er ihr zu. Sie sah seinen Gesichtsausdruck, der eine Mischung aus Ekel und Schmerz, hervorgerufen durch heißen Kaffee, war, und begrüßte ihn grinsend: »Na, alles gut?«

»Ganz und gar nicht. Wer ist denn bei euch für den Kaffee zuständig?«, fragte er, als er den Mund wieder leer hatte. Er hielt ihr vorwurfsvoll seine Tasse hin.

»Der schmeckt ja wie …«

Angestrengt suchte er nach einem passenden Vergleich.

»Kaum hier, schon am Meckern«, nutzte sie seine Pause und schnitt ihm das Wort ab. »Ist ja typisch. Wieso bringst du dir nicht eine Thermoskanne von zu Hause mit?«

»Weil ich ja nicht ahnen konnte, dass es hier in Osnabrück nur getrübtes Wasser gibt.«

»Wir haben seit längerem eine neue Marke. Gezwungenermaßen. Der da ist wohl billiger. Du kennst das doch. An allem wird gespart. Warst du so lange schon nicht mehr bei uns? Den benutzen wir bestimmt schon ein viertel Jahr. Aber ich kann dich beruhigen, bei uns im Büro haben wir einen anderen. Den da kannste echt nicht trinken. Der ist nur für Besuch.«

Sellberg verzichtete auf einen weiteren Kommentar und steuerte stattdessen mit ihr eine Sitzecke an.

Die nette und angenehme Möglichkeit, mit ihr einen Augenblick ungestört zu sein, machte den schlechten Kaffee mehr als wett. Der allgemeine Plausch währte nur kurz, dann kamen sie auf das Thema, weswegen er hier war.

»So wenig hatten wir schon lange nicht mehr«, begann sie kopfschüttelnd. »Weit und breit keine Papiere und von Hamburg bis Köln keinerlei vermisste Person, auf die unsere Tote passt.«

»Ich habe noch nichts in der Presse gefunden, zumindest nicht online«, meinte Sellberg. »Habt ihr es echt geschafft, nichts rauszulassen?«

»Kein Sterbenswörtchen.«

»Sehr gut.«

»Oder auch nicht. Wir werden wohl kaum umhin kommen, die Öffentlichkeit um Mithilfe zu bitten. Irgendeinen Anhaltspunkt brauchen wir schließlich. Wenn es nach Herzig geht, hätten wir schon gestern ein Bild in der Zeitung gehabt.«

»Herzig ist ja auch ein Depp.«

Wasmuth lächelte gequält.

Rüdiger Herzig war seit kurzem stellvertretender Standortleiter und hatte sich bei seinem kometenhaften Aufstieg nicht allzu beliebt gemacht. So gut er auch als Kriminalist war, so wenig war er nach einhelliger Meinung vieler Kollegen menschlich für irgendeine Führungsaufgabe geeignet. Sie fragte sich nicht selten, ob seine arrogante, unnahbare Art eine fehlende Kinderstube oder ein bewusst eingesetztes Verhaltensmuster war.

»Mag sein. Er ist ein guter Ermittler. Das kann man nun wirklich nicht anders sagen«, sagte sie zu ihm.

Sellberg lächelte fast schon verächtlich.

»Bei ihm muss ich immer an diese eine Stelle bei Action Jackson denken. Du weißt schon. Die, wo Carl Weathers zu seinem Kollegen sagt, dass es Scharfblick sei, einen Mörder zu überführen, der mit einem Messer in der Hand schreit `,Ich war’s!’´ Was verspricht er sich davon?«

»Wovon?«

»Na, ein Bild der Toten in die Zeitung zu setzen. Vielleicht bekommen wir so den Namen des armen Mädchens. Aber die Chance, dass wir damit auch den aufscheuchen, der sie verbuddelt hat, ist eher eine Gefahr. Gejagte Menschen werden gefährlich, das brauche ich dir wohl nicht zu erklären.«

»Wir wissen ja nicht mal, ob sie hier aus der Gegend kommt«, fügte sie hinzu.

»Jep«, bestätigte er. »Also sollten wir damit noch warten.«

»Was schlägst du stattdessen vor? Wir brauchen schließlich einen Ansatz.«

»Keine Ahnung. Wir sollten abwarten, was die hohen Herren meinen.« Er sah auf die Uhr. »Komm, wir müssen los.«

 

Sie erreichten das Sitzungszimmer, wo er ihr den Vortritt ließ. Außer ihnen war noch niemand da. Im Zimmer war es angenehm hell. Eine große Fensterfront gestattete nicht nur einen herrlichen Blick über die Innenstadt, sie ließ auch die Morgensonne den Raum durchfluten. An dem runden Holztisch fanden acht Personen Platz.

»Guten Morgen!«

Mit gewohnt kräftiger Stimme betrat Kurt Laser, Leiter der Abteilung Kapitaldelikte, den Raum. In seinem Schlepptau waren vier weitere Leute, von denen Sellberg nur zwei kannte: Patrick Bonhof, einen Kollegen von Wasmuth, und Herzig.

Kapitel 4

4

 

Der rote Mazda war nur einer von unzähligen Fahrzeugen, die in der Schlange vor der Ampel standen. Leise Musik schallte aus den Lautsprechern. Zweimal durchsuchte er den kompletten Frequenzbereich seines Autoradios, um sich dann für eine CD zu entscheiden. Pe Werner sang gerade von einem Kribbeln im Bauch. Ruhige, unaufgeregte Musik, danach war ihm jetzt. Die Texte waren für seinen Geschmack zwar etwas zu anspruchsvoll für seine augenblickliche Gemütslage, aber er hörte sowieso nicht richtig hin. Auch die Baustellenampel, die ihn unerwartet lange in der Schlange warten ließ, machte ihm nicht wirklich etwas aus. Zu weit weg war er mit seinen Gedanken, als sein Telefon klingelte.

Er zog es aus seiner Tasche und fragte sich einen kurzen Augenblick, ob im Stau auch das Telefonieren verboten war. Zur Sicherheit vergewisserte er sich mit einem Blick in den Rückspiegel, keine Polizei hinter sich zu haben.

»Ja, bitte?«

»Ich bin es. Kommst du nachher?«

»Ich denk schon. Was hatten wir gesagt, um acht?«

»Ja.«

»Kommt noch wer?«

»Nur wir vier, soviel ich weiß.«

»Alles klar. Bis nachher dann.«

Er drückte den roten Knopf und legte sein Telefon auf den Beifahrersitz. Wieder blickte er in den Rückspiegel und sah die Frau im Wagen hinter sich einen langen Moment an. Sie wirkte genervt und er konnte förmlich spüren, wie das Kind auf ihrem Rücksitz darunter zu leiden hatte.

Langsam setzte sich der Wagen vor ihm in Bewegung. Er startete den Motor und tat es ihm gleich. Langsam passierte er die Baustelle und beschleunigte seinen Wagen. Pe Werner begleitete ihn.