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1 Ich habe Träume, von denen ich weiß, dass sie nie in Erfüllung gehen werden, weil sie nicht in Erfüllung gehen können, nicht mehr. Trotzdem bewahre ich sie mir. Nicht als traurige Erinnerung, sondern als vertraute Begleiter, die mir einen immer wiederkehrenden, wundervollen Blick gönnen auf das, was hätte sein können. Es ist lange kein wehmütiger, bereuender Blick mehr, sondern ein wissender, keiner, der der Vergangenheit verhaftet ist, sondern einer, der akzeptiert, was war und was nicht.

So geht es mir auch mit meinem Wunsch, Klara noch einmal zu treffen, diese blasse, unscheinbare Frau, die immer am Rand stand, fluchtbereit in der Nähe einer Tür, um ihren Mitmenschen den Rücken zu kehren, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Ich sehe sie noch vor mir mit ihrem ungeschminkten Gesicht, den fest zusammengebundenen Haaren und ihren düsteren Kleidern, die fernab jeder Modeströmung entstanden sein mussten. Klara hatte wahrhaft nichts Freundliches oder Gefälliges an sich, nichts, was mich auch nur im Entferntesten bewegt hätte, auf sie zuzugehen. Im Gegenteil, in ihr sah ich sämtliche meiner Vorurteile gegenüber kopflastigen Graustrümpfen Gestalt annehmen. Ihr unverblümter, forschender Blick durchbrach unaufgefordert die Barrieren natürlicher Zurückhaltung, sodass ich, wenn möglich, einen Bogen um sie machte, zumal sich Unterhaltungen mit ihr regelmäßig als unerfreulich gestalteten. Unfähig zu unterhaltsamer Konversation, stieß sie ihr Gegenüber schroff vor den Kopf, indem sie auf höfliche Annäherung mit unverhohlenem Desinteresse reagierte. Sie als nicht einfach zu beschreiben hätte die Grenzen schamloser Untertreibung weit unterlaufen. Als ich sie näher kennenlernte und mir wünschte, mit ihr reden zu können, war sie tot.

Klara war die Frau meines Onkels Ferdinand. Wenn es stimmt, dass Gegensätze sich anziehen, dann muss zwischen beiden ein unbezwingbarer Magnetismus bestanden haben. Mein Onkel war äußerst attraktiv, bis zum Umfallen charmant und voller Humor, der in allen Winkeln seines Gesichts zum Ausdruck kam. Er war einer jener Junggesellen, die das weibliche Geschlecht zu Hochtouren auflaufen lassen, in der Hoffnung auf den Platz des Lotsen, der das Schiff schließlich in den sicheren Hafen der Ehe steuert. Und die potenziellen Lotsinnen konnten sich sehen lassen. Bei Wettbewerben um Chic, Esprit und Sinnlichkeit hätten sie mühelos die ersten Plätze belegt. In jedem Fall genossen sie ausnahmslos und hin und wieder sogar gleichzeitig die Gunst von Onkel Ferdinand und die manchmal recht augenscheinliche Aufmerksamkeit seiner Brüder und Freunde.

Als er vor elf Jahren mit Klara auftauchte und freudestrahlend verkündete, dass er heiraten werde, im stolzen Alter von vierundsechzig Jahren, sah er sich auf breiter Front mit Unverständnis konfrontiert. Was seine Freude jedoch in keiner Weise trübte. Die Frau seiner gereiften Träume habe endlich Ja gesagt, sein Glück sei kaum in Worte zu fassen. Die Meinung der anderen hatte ihn früher nicht interessiert und tat es auch jetzt nicht.

Nun hätte man denken können, er sei allein dem Reiz einer mehr als zwanzig Jahre jüngeren Frau erlegen, jedoch waren seine früheren Auserwählten allesamt noch jünger gewesen, sodass dies nicht das Motiv sein konnte. Und bei Klara von Reizen zu sprechen wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Was fand er also an ihr? War es Reizüberflutung durch den nicht enden wollenden Strom hinreißender Schönheiten, die ihn in seinen reiferen Jahren nach einem Antimodell suchen ließ? Wobei ich Klara zu meiner Schande eher in die Reihe der Auslaufmodelle eingeordnet hätte. Dass ihn einfach Liebe bewegt haben könnte, auf die Idee kam ich nicht. In meinen Augen war sie eine graue Maus mit zugegebenermaßen hohem Intellekt, das typische späte Mädchen, dessen Augen nur glänzten, wenn Ferdi in der Nähe war.

Die beiden waren gerade vier Jahre verheiratet, als Onkel Ferdinand an einem bösartigen Hirntumor starb. Es hatte keinerlei Vorwarnungen gegeben, die sein Leben vielleicht hätten retten können. Er erlitt einen plötzlichen massiven Krampfanfall, fiel ins Koma und wachte nicht mehr daraus auf. Von meinem Vater erfuhr ich, dass Klara jede Minute seines langsamen Sterbens begleitet hatte und nicht von seiner Seite gewichen war. Auf seiner Beerdigung erlebte ich sie vollkommen versteinert. Sie musste sich auf den Arm meines Vaters stützen, um nicht zusammenzubrechen. In diesem Augenblick tat sie mir leid. Auch wenn mir nicht klar war, was Onkel Ferdinand bei ihr gesucht und offensichtlich auch gefunden hatte, so war ich mir sicher, dass mit ihm für kurze Zeit etwas Strahlendes und Unersetzliches den Weg in ihr Leben gefunden hatte. Jetzt würde sie allein weitergehen müssen, und dafür bedauerte ich sie. Während ich zusah, wie der Sarg in die Tiefe hinabgelassen wurde, stellte ich mir vor, wie es wäre, meinen eigenen Mann zu verlieren, ohne ihn leben zu müssen. Der Gedanke schreckte mich so sehr, dass ich ihn sogleich in die hinterste Ecke meines Bewusstseins zurückverbannte.

Klara brach kurz nach der Beerdigung ihre Zelte in München ab und zog auf eine der nordfriesischen Inseln, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Ich kannte Sylt, aber Pellworm? Der Einzige, der hin und wieder mit Klara telefonierte, war mein Vater, wie er mir erzählte. Er hatte einen für meine Mutter vollkommen unverständlichen Narren an ihr gefressen. Obwohl ich höchstens in jedem zweiten Schaltjahr einmal einer Meinung mit meiner Mutter bin, in dem Fall war ich es. Ich hatte Onkel Ferdinand nicht verstanden, und ich verstand meinen Vater nicht. Er hingegen nannte sie eine bemerkenswerte Person, die ihn sehr beeindruckt habe. Sie sei ein unerschütterlicher Menschenfreund und genieße seine ehrliche Hochachtung. Zum Glück sagte er das nicht in Gegenwart meiner Mutter, und so blieb uns zumindest einer ihrer Migräneanfälle erspart.

Vier Jahre später starb mein Vater an einem schweren Schlaganfall. Wie meinen Onkel, so ereilte auch ihn sein Schicksal ohne spürbare Vorwarnung oder die geringste Aussicht auf Heilung. Zwei Stunden nachdem er ins Krankenhaus gekommen war, saß ich auf der Intensivstation an seinem Bett und hielt seine Hand. Seine Augen waren geschlossen, und sein Körper lag bewegungslos inmitten all der Apparaturen, die mir mit ihren beängstigenden Tönen unruhige Lebenszeichen von ihm sendeten. Ich hielt seine Hand und betete um dieses Leben, für das die Ärzte uns keine Hoffnung mehr machten. Ich strich sanft über seinen Arm und erzählte ihm die Geschichten meiner Kindheit, von dem wundervollen Vater, der eine strahlende, wärmende Sonne, glitzernde, geheimnisvolle Sterne und einen beruhigenden, lächelnden Mond in mein kindliches Universum gebracht hatte. Ich legte meine Hände schützend um sein Gesicht und erzählte ihm von meiner Jugend, von dem fordernden Vater, der mir erklärte, was Mut ist und Zivilcourage, und der mich neugierig machte auf das belebende Gefühl, gegen den Strom zu schwimmen. Ich legte meine Hand auf sein Herz und erzählte ihm von meinem Heute, das so viel ärmer ohne ihn sein würde, ich flehte ihn an, mich nicht allein zu lassen. Meine Tränen tropften auf das sterile Laken und hinterließen dort das Bild meiner Angst. Ich hielt seine Hand so fest, als ränge ich mit dem Tod um sein Leben und als wäre es nur eine Frage der Kraft, die ich aufbringen musste, um ihn zu retten, ihn hinüberzuziehen an das Ufer des Hier und Jetzt. Ich wollte ihn beschützen, ihm einen Teil meiner Energie geben, um weiterzuleben. Er durfte nicht sterben mit diesem unerfüllten Traum.

Auf einem unserer ausgedehnten Spaziergänge hatte ich ihn danach gefragt. Es hatte ganze achtzehn Jahre gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, dass im Universum meiner Mutter nur ein einziger Mensch Platz hatte, nämlich sie selbst. Sie zelebrierte ihre Person mit einer solch unglaublichen Virtuosität, dass ich lange Zeit glaubte, was sie sagte. Dass sie aufopferungsvoll, selbstlos und aufrichtig allein das Glück ihrer Familie im Auge habe, ihre gelegentlichen gesundheitlichen Attacken ausschließlich ein Ausdruck ihrer Traurigkeit und tiefen Betroffenheit seien, wenn eines der Familienmitglieder einmal den von ihr so wohlbedacht vorgezeichneten Weg verließ und sich damit ihrer klugen Vorsehung entzog. Was nichts anderes hieß, als dass einer von uns anderer Meinung war als sie.

Meine Mutter war ein narzisstisches Biest in einer verblüffenden ätherischen Hülle, die Beschützerinstinkte aufkommen ließ, wo Fluchtreflexe oder aber ein undurchlässiger Schutzpanzer angebracht gewesen wären. Ich war immer wieder verblüfft, wie willig alle auf sie hereinfielen und sie als einen wahrhaft guten, arglosen Menschen priesen, der allein das Wohl der anderen im Sinn hatte. Meine beiden Schwestern hatten ihre narzisstische Ader mit den Genen aufgesogen und bildeten mit ihr zusammen ein Dreiergespann, das sich gegenseitig duldete und zu gegebenen Anlässen entsprechend beweihräucherte. Auch mein Vater war auf meine Mutter hereingefallen, anders konnte ich mir das Zusammenfinden der beiden nicht erklären. Er war das, was sie vorgab zu sein: ein guter, feinsinniger Mensch ohne Argwohn. Er war bereit zu glauben, was er sah und hörte. Als ich achtzehn war, stellte ich ihm die Frage, die mir auf der Zunge brannte.

»Warst du jemals glücklich mit ihr?«

Er sah mich lange und traurig an. »Eine Weile glaubte ich es zu sein, wieder eine Weile versuchte ich mir etwas vorzumachen, und die ganze lange Zeit, die darauf folgte, habe ich mich arrangiert, weil ihr drei da wart. Wenn ich ihr schon kein guter Ehemann sein konnte, so wollte ich wenigstens euch ein guter Vater sein.«

»Aber hier geht es nicht darum, dass du ein guter Ehemann sein sollst. Sie hat noch nicht an einem einzigen Tag in ihrem Leben versucht, dir eine gute Frau zu sein. Sie müsste etwas ändern, nicht du.« Er machte mich rebellisch mit seiner ungehinderten Bereitschaft, die Schuld für das emotionale Scheitern seiner Ehe auf die eigenen Schultern zu laden. »Hast du nie davon geträumt, glücklich zu sein?«, fragte ich ihn schwärmerisch in meinem jugendlichen Glauben an den Sieg der Gefühle.

»Doch«, antwortete er wehmütig lächelnd, »ich träume immer noch davon, und gleichzeitig hoffe ich, vielleicht doch noch einmal das Herz deiner Mutter zu erwärmen.«

So fing ich an, ihn vor ihr zu schützen, ihre verbalen Hiebe auf sein Selbstbewusstsein abzufangen, wann immer ich in der Nähe war, und von Auseinandersetzungen mit ihr Abstand zu nehmen. Mein Widerspruch hätte sie nur erneut auf ihm herumhacken lassen, und das wollte ich um jeden Preis vermeiden. Ich konnte das Haus jederzeit verlassen, mein Vater blieb ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, weil er nicht die Kraft fand, sich von der irrigen Hoffnung zu lösen, die Frau, für die er sich einmal entschieden hatte, könne doch noch den Spiegel aus der Hand legen und ihn ansehen.

An seinem Krankenbett löste sich diese Hoffnung in flüchtige Seifenblasen auf. Meine Mutter sah keinen Sinn darin, sich an sein Bett zu setzen und eine Hand zu halten, die – wie ihr die Ärzte prophezeit hätten – schon bald unter der Erde läge. Er sei bewusstlos, und sie sei aufs Höchste beunruhigt, was nun aus ihr werden solle, wie sie versorgt sei, er habe nie ein Wort darüber verloren. Sie habe schon mit der Bank gesprochen und mit den Versicherungen und sei inzwischen so geschwächt, dass sie erst einmal Ruhe brauche, sonst würden ihre drei Kinder nicht nur den Vater, sondern auch noch die Mutter verlieren. So laste eine zentnerschwere Verantwortung auf ihr, der sie sich mit all ihrer Kraft stellen müsse.

Meine Schwestern hatten keine Zeit, tagelang um sein Bett herumzuschleichen und auf ein letztes Erkennen, auf einen bewussten Abschied zu hoffen. Das werde sowieso nicht geschehen, versuchte ich ihnen zu erklären. Es gehe nur darum, in seiner Nähe zu sein, ihn spüren zu lassen, dass wir da seien. Aber in seiner Bewusstlosigkeit sahen sie bereits einen totenähnlichen Zustand, der jede Annäherung überflüssig machte. Zu Hause würden ihre Kinder warten, lebendig und fordernd, sie als ihre Mütter hätten schließlich Pflichten zu erfüllen.

So blieben wir in trauter Zweisamkeit, um voneinander Abschied zu nehmen. Es hätte nicht mehr der Töne auf den Monitoren bedurft, um mir das nahende Ende zu signalisieren. Ich spürte die Unruhe meines Vaters wie ein letztes Aufbäumen. Ich hielt seine Hand an meine Wange und ließ ihn die Tränen spüren, die ich um ihn weinte. Ich erzählte ihm von dem Engel, der dort drüben auf ihn warte und mit sanfter Liebe alle Wunden schließen werde, die hier nicht hatten heilen können. Ich erzählte ihm von der tiefen Vertrautheit, die ihn mit diesem Engel verbinden würde, dass er mutig hinübergehen solle, weil dort sein Traum auf ihn warte. In diesem Augenblick war es, als würde noch ein letztes Zucken in seine tränenfeuchte Hand gelangen, der Hauch von einem Zeichen des Abschieds. Ich empfand noch die Freude darüber, als ein lang gezogener Ton in mein Bewusstsein drang und mich die Endgültigkeit spüren ließ. Eine der Krankenschwestern stellte den Monitor ab, strich mir übers Haar und ließ uns wieder allein. Die Zeit hatte ausgesetzt in diesen vier Wänden, und so schien es mir als ein ewiger Augenblick, in dem ich mir jede Einzelheit seines Gesichts einprägte.

Seine Trauerfeier durchlebte ich wie in Trance. Er hatte mir mit festen braunen Haaren, grauen Augen und dem hochgewachsenen Körper nicht nur mein Äußeres hinterlassen, mit ihm hatte ich meinen Seelenfreund verloren, dessen Güte und augenzwinkerndes Verständnis für mich unersetzbar blieben. Die Urnenbeisetzung war ein vergleichsweise prosaischer Akt, der seinem Wesen nicht gerecht wurde und den ich nur so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte. Klara war extra von ihrer Insel gekommen, um meinen Vater mit uns zusammen auf diesen letzten Metern zu begleiten. Es war der erste Moment, in dem ich mich ihr nahe fühlte. Sie sah mich mit Tränen in den Augen an, strich mit ihren dünnen Fingern zart über meine Wange und sagte: »Er wohnt jetzt in deinem Herzen, so wie du immer in seinem gewohnt hast.« Aber dieser Moment war schnell vorüber, und ich verlor mich in einer Trauer, die lange andauern sollte. Nach der Begegnung auf dem Friedhof brach die Verbindung zu Klara völlig ab. Meinen Vater vermisste ich unendlich, Klara dagegen hatte kaum eine Spur in meinen Gedanken hinterlassen. So nahm ich die Nachricht von ihrem Tod mit distanziertem Bedauern, fast gleichmütig hin. Sie war einundfünfzig Jahre alt geworden, hatte meinen Onkel nur um sechs Jahre und meinen Vater nicht einmal um zwei Jahre überlebt.

Ich wünschte mir heute, ihr Todestag hätte sich mir um ihretwillen eingeprägt, aber so war es nicht. Sie starb kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag, als ich mitten in den Vorbereitungen für mein Fest steckte. Es sollte etwas Prachtvolles, Unvergessliches werden, etwas, worüber man noch wochenlang reden würde. Ich zerbrach mir gerade den Kopf über die Tischordnung, als meine Mutter anrief und mir etwas von Sargausstattung, Trauerkränzen und Todesanzeige erzählte. Mit anderen Worten, sie drückte mir kurzerhand die Beerdigung von Klara aufs Auge.

»In zwei Wochen ist mein Geburtstag, und ich habe wirklich noch jede Menge zu tun«, sagte ich ziemlich genervt.

»Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, würde ich dich nicht fragen.« Ihr dezent beleidigter Grundton sprach Bände.

»Warum denn ausgerechnet ich? Kann nicht vielleicht Nora oder Emma …«

»Du weißt ganz genau, wie eingespannt die beiden sind«, unterbrach sie mich ungerührt. »Deine Schwestern haben schließlich Kinder. Vergiss das nicht, Nina!«

Ich kenne niemanden, der ein Ausrufezeichen so gekonnt mit einem Vorwurf ausstatten kann wie meine Mutter. Außerdem versteht sie sich auf Imperative.

»Wie sollte ich«, sagte ich schneidend. Mit der Zeit hatte ich begonnen, den wenig subtilen Hinweis auf meine so viel beschäftigten, weil fruchtbaren Schwestern zu hassen. Er erinnerte mich nicht nur immer wieder an meine eigene Kinderlosigkeit, er lud mir auch regelmäßig die undankbaren Aufgaben auf.

»Spar dir deinen Sarkasmus, und tu mir den Gefallen«, insistierte sie, vollkommen unbeeindruckt von meinem Einwurf. »Dein Vater hat sie, nun ja … geschätzt ist wohl das richtige Wort.«

Es musste ihr schwerfallen, diesen Ausdruck im Zusammenhang mit Klara zu benutzen, und ich konnte an ihrer Stimme hören, dass sie es ihm noch über seinen Tod hinaus verübelte.

»Er wäre sehr traurig, dich jetzt so zu hören«, sagte sie samtweich und mit leiser Drohung. »Ich verlasse mich auf dich, hörst du?«

»Ja, Mutter, ich habe verstanden.«

Die Erpressung mit meinem Vater war auch diesmal erfolgreich. Ich machte innerhalb einer Stunde eine meiner erprobten Checklisten, hakte einen Punkt nach dem anderen systematisch ab und organisierte im Schnelldurchlauf aus der Ferne die Beerdigung, perfekt und lieblos. Hätte ich Klara zu diesem Zeitpunkt schon gekannt, dann hätte ich an ihrem Abschied teilgenommen, aber es sollte eine Weile dauern, bis ich das nachholte und Blumen auf ihr Grab legte.

Einige Wochen nach ihrem Tod erhielt ich ein Schreiben ihres Hamburger Anwalts Dr. Carstens. Klara habe die Nichten und Neffen ihres verstorbenen Mannes in ihrem Testament bedacht, hieß es darin. Wir sollten möglichst alle zur Verlesung in Hamburg erscheinen, was – welch Wunder – sogar meine beiden überlasteten Schwestern schafften. Wir flogen gemeinsam von Frankfurt nach Hamburg und trafen unsere Cousine und ihre drei Brüder direkt in der Kanzlei am Neuen Wall. Ich war überrascht, dass Klara sich einen so jungen Anwalt ausgesucht hatte, der in seiner geschliffenen, offenen Art gar nicht zu ihr gepasst haben konnte. Eigentlich hatte ich eher ein verstaubtes Hinterzimmer mit einem ältlichen, verhärmten Advokaten erwartet. Aber Klara hatte offensichtlich auch hier den Gegensatz im anderen Extrem gesucht.

Dr. Carstens begrüßte uns kurz und ging gleich zur Testamentseröffnung über. Wie sich herausstellte, war Klara sehr wohlhabend gewesen. Neben einem beträchtlichen Kapitalvermögen hinterließ sie das Haus auf Pellworm, in dem sie die Jahre nach Onkel Ferdinands Tod verbracht hatte. Man wird es verkaufen müssen, überlegte ich, was sollen wir mit einem Ferienhaus auf einer Insel, die niemand kennt. Wie sich herausstellte, waren meine Gedanken jedoch etwas zu voreilig gewesen. Dr. Carstens musste meine imaginären Streifzüge bemerkt haben, denn er bat mich höflich, aber sehr bestimmt, zuzuhören. Es sei wichtig, dass wir ganz genau verstünden, was Klara Wilander verfügt habe. Da wir ihre Erben waren, hatte ich angenommen, die Summen würden einfach durch sieben geteilt, aber das Geld sollte nicht angerührt und das Haus nicht verkauft werden.

»Ich hinterlasse meinen gesamten Besitz den Nichten und Neffen meines verstorbenen Mannes Ferdinand Wilander, und zwar stellvertretend für die gesamte Familie. Das Geld geht in einen Treuhandfonds ein, der von meinem Anwalt gewinnbringend verwaltet wird. Diesem Fonds dürfen Gelder nur zum Erhalt des Hauses und zum Unterhalt seiner jeweiligen Bewohner entzogen werden. Das Haus wird ein Zufluchtsort sein für Euch, Eure Familien und Freunde. Es wird kein Ferienhaus sein, jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Dieses Haus steht Euch zur Verfügung, wenn Ihr nicht mehr weiterwisst oder nicht mehr weiterkönnt. Wann immer das der Fall ist, geht zu Dr. Carstens, er hat den Schlüssel.«

Als Dr. Carstens Klaras Letzten Willen zu Ende vorgelesen hatte, sah er uns der Reihe nach an und forderte uns auf, Fragen zu stellen, falls noch etwas unklar sei.

»Mir ist nur nicht klar«, rutschte es mir heraus, »warum wir für diesen Unsinn extra hierherkommen mussten. Das hätte man auch auf dem Postweg erledigen können.«

»Erstens, Frau Tilden«, wies er mich geduldig, aber unmissverständlich zurecht, »gibt es bestimmte Formen, die bei Testamentseröffnungen zu wahren sind. Und zweitens«, betonte er, »hoffe ich für Sie, dass Sie nie in eine Situation geraten, in der sich dieser Unsinn, wie Sie es nennen, für Sie als Rettung erweist.«

»Darauf können Sie wetten«, sagte ich gereizt. Was bildete der sich überhaupt ein?

Meine Schwestern sahen mich entsetzt an und entschuldigten sich bei Dr. Carstens geflissentlich für meinen ebenso ungewohnten wie unüberlegten Ausbruch.

Dr. Carstens nickte verständnisvoll und gab jedem von uns eine Abschrift des Testaments. Meine wanderte, als ich zurück in Frankfurt war, direkt in die Dokumentenschublade. Dafür waren wir extra nach Hamburg geflogen, was sollte das? Aber das passte zu dieser merkwürdigen Person mit dem undefinierbaren Blick. Mich würden jedenfalls keine zehn Pferde auf diese Insel bekommen, geschweige denn in Klaras Haus. Wenn es den düsteren Geschmack seiner ehemaligen Bewohnerin widerspiegelte, musste es eher einem Verlies ähneln als einem Zufluchtsort. Und überhaupt – wozu brauchten wir einen Zufluchtsort?

2 Fast auf den Tag genau ein Jahr später betrat ich an einem ungemütlichen Apriltag zum zweiten Mal die Kanzlei von Dr. Carstens. Ich war schon sehr früh in Frankfurt aufgebrochen und kam nach der sechsstündigen Fahrt und mehreren Staus missgelaunt an meinem Zwischenziel an. Nach langem Hin und Her hatte mir seine Sekretärin kurzfristig einen Termin gegeben. Und das auch nur, weil ich hoch und heilig versprochen hatte, dass ich höchstens zwei Minuten der kostbaren Zeit ihres Chefs in Anspruch nehmen würde. Ich wollte den Schlüssel zu Klaras Haus abholen. Als ich Dr. Carstens endlich gegenübersaß, versuchte ich ihm zu erklären, warum ich nun doch auf die Insel fahren wollte. Vor einem Jahr hatte ich nicht gerade einen Hehl daraus gemacht, was ich von dem Testament hielt, aber er ließ mich gar nicht ausreden.

»Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig, Frau Tilden. Als Frau Wilander ihr Testament aufsetzte«, sagte er sachlich, »hat sie immer wieder betont, dass sie in subjektiv empfundener Not helfen wolle. Sie lehnte Beurteilungen jedweder Art als absolut anmaßend ab. Und ich respektiere ihre Wünsche.«

Umso besser, dachte ich, schließlich geht es ihn auch wirklich nichts an. Er gab mir den Schlüssel, die notwendigen Unterlagen, um über ein Konto auf der Insel verfügen zu können, und einen Grundriss des Hauses. Ich verstaute alles in meiner Tasche.

»Wie lange kann ich dort bleiben?«, fragte ich ihn beim Hinausgehen.

»So lange Sie wollen, Frau Tilden. Lassen Sie sich Zeit. Das ist der Sinn des Testaments.«

Irrte ich mich, oder hatte sich da ein seelsorgerischer Unterton in seine Stimme verirrt?

»Ich bin mir sicher«, fuhr er in gleicher Weise fort, »dass es Ihnen dort gefallen wird. Wenn Sie den Schlüssel nicht mehr brauchen, geben Sie ihn einfach hier wieder ab. Alles Gute und gute Fahrt.« Er streckte mir seine Hand entgegen und sah mich aufmunternd an.

O Gott, was dachte er denn, warum ich hier war? Ich hätte doch besser klarstellen sollen, dass ich weder auf der Flucht war noch mitten in einer Lebenskrise steckte. Aber was sollte es, ich hatte den Schlüssel, und das war die Hauptsache. Ich hatte mir Sachen für eine Woche eingepackt, mehr Zeit würde ich nicht brauchen. Bis dahin würde mein Mann seine Lektion gelernt haben.

Die Fahrt von Hamburg nach Nordstrand war kürzer, als ich gedacht hatte, die Autobahn war hier wenig befahren. So kam ich viel zu früh am Fähranleger an. Die Fähre nach Pellworm sollte erst in über einer Stunde ablegen. Ich parkte das Auto, nahm meinen Mantel und ging am Hafen spazieren. Es gab nicht viel zu sehen, nur ein paar Kutter an der Kaimauer und einen Seenotrettungskreuzer, der gerade einlief. Nachdem ich eine Weile zugeschaut hatte, spürte ich, wie mir Wind und Kälte in jede Pore drangen. Im Nu war ich total durchgefroren und überlegte, ob ich in das Hafenrestaurant oben auf dem Deich gehen sollte. Der rote Klinkerbau sah jedoch so wenig einladend aus, dass ich mich wieder ins Auto setzte und dort wartete. Warum war ich nicht einfach in ein Hotel gegangen? Welcher Teufel hatte mich geritten, hierher zu fahren? Aber na ja, dachte ich, wenn ich schon einmal hier bin, kann ein Blick in Klaras Haus nicht schaden. Bei diesem einen Mal würde es schließlich bleiben.

Inzwischen hatte die Fähre angelegt. Die Fußgänger, die vom Schiff strömten, begaben sich direkt zu dem Bus, der gerade angekommen war. Hinter ihnen fuhren zwei Lkws und eine Unmenge Autos von der Fähre. In dieser einsamen Gegend hatte ich nicht mit einem so großen Andrang gerechnet, höchstens mit ein oder zwei anderen außer mir, aber nicht mit diesem regen Verkehr am Ende der Welt.

In der letzten Stunde hatte sich hinter mir eine Autoschlange gebildet, die sich jetzt an mir vorbei auf die Fähre schob. Einer der Fährleute hatte mich nach meiner Anmeldung gefragt und dem Fahrer hinter mir bedeutet, loszufahren, als sich herausstellte, dass ich mich unangemeldet hierher gewagt hatte. Im Gegensatz zu mir blieb er vollkommen gelassen. Wenn der Platz nicht reiche, meinte er, müsse ich entweder auf mein Auto verzichten oder selbst hierbleiben und für den nächsten Morgen reservieren. Aber ich hatte Glück, als alle anderen verstaut waren, winkte er mich gebieterisch zu sich heran. Der Platz, der noch für mein Auto reichen sollte, sah jedoch nicht größer aus als ein Gebetsteppich, und ich musste geschlagene fünf Minuten hin und her rangieren, bis er sich endlich zufriedengab und mir ein Zeichen machte, dass ich den Motor abstellen konnte.

Die einstündige Überfahrt war hoffnungslos eintönig. Was hatte Klara nur hierher gezogen – von München in diese öde, flache Landschaft? Die einzigen Erhebungen in der Feme waren Deiche, Leuchttürme und Windrotoren. Welch abwechslungsreicher Anblick, dachte ich missmutig. Als ich auf Pellworm ankam, war meine Stimmung auf den Nullpunkt gesunken. Ich hatte zwar einen Plan von der Insel, da es aber inzwischen dämmerte und ich keine Lust hatte, lange herumzuirren, erkundigte ich mich gleich am Anleger nach dem Weg zu Klaras Haus. Die Antwort des erstbesten Einheimischen, auf den ich traf, war nicht nur einsilbig, sondern auch in einem unverständlichen Dialekt, der weit über simples Plattdeutsch hinausging. Hätte ich nicht auf seine Handzeichen geachtet, wäre ich nicht über die nächste Kreuzung hinausgelangt. So kam ich immerhin zwei Kilometer weit, dann musste ich wieder fragen. Nach dem dritten Mal fand ich endlich die Einfahrt zu der kleinen Straße, die zu Klaras Haus führte. Im Dämmerlicht konnte ich kaum was erkennen, nur so viel, dass mein Domizil für die nächste Woche wider Erwarten ganz ansehnlich wirkte. Vor mir erhob sich ein romantisch anmutendes weiß getünchtes Haus, das unter einem Reetdach ruhte. Ich fuhr langsam die Warft hinauf und stellte mein Auto hinter dem Haus ab, wo eine gute Seele ein Außenlicht hatte brennen lassen. Ich nahm meine Tasche und floh vor der unwirtlichen Witterung ins Haus.

Ich weiß nicht, was ich mir von Klaras Haus erwartet hatte, wahrscheinlich nur so viel, wie ich Klara selbst zugestanden hatte – unscheinbare Farblosigkeit mit einem Hang zum Düsteren, Schwermütigen. Was mich erwartete, war jedoch etwas völlig anderes, etwas überraschend Schönes. Dr. Carstens hatte mir einen Grundriss mitgegeben, den ich mir während der Überfahrt angesehen hatte. Daher wusste ich, dass sich im Erdgeschoss Küche, Esszimmer, Wohnzimmer und Bibliothek befanden, im ersten Stock Klaras Schlaf- und Arbeitszimmer sowie zwei Gästezimmer. Während ich staunend durch die unteren Räume mit ihren tiefen Decken wanderte, begleitete mich das Geräusch meiner Schritte auf dem alten Parkettfußboden aus Schiffsplanken, über die schon Generationen hinweggegangen sein mussten. Das Knarren war gewöhnungsbedürftig inmitten der Stille, die mich im Haus empfing.

Der Anwalt hatte mir versprochen, dass Klaras ehemalige Haushälterin Hanni Jensen regelmäßig vorbeischauen würde, um nach dem Rechten zu sehen. Sie war offensichtlich schon hier gewesen, denn aus allen Räumen strömte mir eine wohlige Wärme entgegen. Ich ging neugierig die alte Holztreppe hoch, die in ihrer Geräuschkulisse den Holzbohlen in nichts nachstand. Heimlich anschleichen kann sich hier niemand, dachte ich beruhigt in Anbetracht der Tatsache, dass es um mich herum doch sehr einsam war. Der Blick in eines der Gästezimmer ließ meine Laune um weitere Nuancen steigen. Das Bett war bezogen, und die aufgeschlagene Decke sah so einladend aus, dass ich nicht widerstehen konnte. Auf einmal merkte ich, wie müde ich nach der langen Fahrt war. Ein paar Minuten Ruhe würden mir guttun, ich konnte auch noch später unten etwas essen.

Es war mitten in der Nacht, als ich aus einem bleiernen Schlaf aufschreckte. Ich stand etwas benommen auf, machte die Lichter im Haus aus und schlief sofort wieder ein. Um neun Uhr morgens wachte ich das nächste Mal auf, nachdem ich mehr als zwölf Stunden geschlafen hatte. Ich blieb noch eine Weile im Bett liegen und sah mich in dem Zimmer um. Am Fenster stand ein kleiner Schreibtisch, der genau zu dem alten Weichholzschrank passte, der gegenüber von meinem Bett stand. Ich rekelte mich genüsslich in dem herrlich breiten Bauernbett und strich mit den Fingern über die blau-weiß karierte Bettwäsche. Hätte ich nicht gewusst, dass dies Klaras Haus war, wäre ich nie auf die Idee gekommen. Wer auch immer dieses Zimmer eingerichtet hatte, wollte, dass sich die Gäste hier wohlfühlten. Nun, das werde ich, dachte ich zufrieden. Als Erstes brauchte ich aber ein Telefon, um meinem Mann zu sagen, wo ich war, und vor allem, warum. Ich duschte schnell, zog mich an und ging die Treppe hinunter. Aus der Küche hörte ich eine kräftige weibliche Stimme.

»Guten Morgen, Frau Tilden, hoffentlich hab ich Sie nicht geweckt«, rief sie. »Dr. Carstens hat gesagt, dass Sie kommen, und er hat mich gebeten, mich ein bisschen um den Haushalt zu kümmern, natürlich nur, wenn’s Ihnen recht ist.«

Ich war froh, dass sie mir den starken nordfriesischen Dialekt ersparte, das würde die Verständigung mit ihr um einiges erleichtern. Sie war mir aus der Küche entgegengekommen und sah mich wohlwollend an. Ihre Stimme hatte jünger geklungen, als sie tatsächlich aussah, sechs Jahrzehnte konnte sie durchaus schon hinter sich haben. Mein Blick verfing sich in den tiefen Furchen, die sich durch ihr Gesicht zogen, und ich fragte mich, wie man an einem Ort leben konnte, wo die Witterung solche Spuren auf der Haut hinterließ. Ihre Figur nahm ich an den Stellen als ausladend wahr, wo eine gewisse Zurückhaltung wünschenswert gewesen wäre.

»Guten Tag, Sie müssen Frau Jensen sein«, begrüßte ich sie. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Natürlich ist es schön, wenn Sie hier ein wenig nach dem Rechten sehen. Allerdings bleibe ich höchstens eine Woche. Sie werden also nicht viel Arbeit mit mir haben.«

Sie schaute mich interessiert und ohne jegliche Hemmungen forschend an. Nicht von oben nach unten und wieder hinauf, wie nur eine Frau eine andere so unverwechselbar mit ihren Blicken abtasten kann. Sie sah mich an, als wäre ich ein krankes Kind, dessen Krankheit sie erst noch näher ergründen müsste, um dann das richtige Hausmittel einzusetzen.

»Sie sind die Erste hier seit Frau Wilanders Tod«, stellte sie seelenruhig fest. »Sie hat mir erzählt, was sie mit dem Haus vorhat.«

»Ja, richtig, der Zufluchtsort.« Ich dachte an die Worte in Klaras Testament und schüttelte belustigt den Kopf. »Nun, das ist im Moment nicht unbedingt das, was ich suche. Ich habe bloß ein paar kleine Unstimmigkeiten zu klären, dann fahre ich sofort wieder nach Hause.« Sie sollte nur nicht auf falsche Gedanken kommen und wie Dr. Carstens ein seelsorgerisches Notstandsgebiet in mir vermuten.

»Ich müsste mal telefonieren«, wechselte ich kurzerhand das Thema. »Gibt es ein Telefon im Haus?«

»Nein, hier haben wir keines. Am besten fahren Sie zur Post, die ist gleich beim Hafen«, schlug sie hilfsbereit vor.

»Gut, aber erst muss ich frühstücken, ich habe gestern Abend das Essen verschlafen und sterbe langsam vor Hunger.« Mein knurrender Magen war kaum noch zu überhören.

»Ihr Frühstück steht schon im Esszimmer. Ich hab Ihnen Kaffee gemacht, aber Sie können auch Tee haben, wenn Sie wollen.« Sie sah mich erwartungsvoll an.

»Nein danke, Frau Jensen, Kaffee ist sehr gut«, sagte ich.

»Wenn Sie doch noch was brauchen, rufen Sie einfach, ich bin im Garten.«

Sie zog eine grobe erdfarbene Strickjacke an und band sich ein Kopftuch mit undefinierbarem Muster um die wirren grauen Haare. Jetzt fehlen nur noch die Gummistiefel, und die Vogelscheuche ist komplett, dachte ich und schämte mich im selben Moment dafür, da sie wirklich freundlich zu mir war. Trotzdem war ich froh, dass sie keine Anstalten machte, mir Gesellschaft zu leisten. Ich musste mir noch in Ruhe überlegen, was ich Carl sagen würde. Während ich mich über all die leckeren Sachen hermachte, die Frau Jensen aufgetischt hatte, stellte ich mir sein Gesicht vor, wenn ich ihm von dem Brief erzählte, den ich gefunden hatte. Er würde sicher eine überzeugende Erklärung parat haben, er war nicht umsonst Anwalt.

Eine erschreckende Mehrheit meiner Freundinnen hatte mir immer wieder zu verstehen gegeben, dass solche Eskapaden ganz normal für Männer im gewissen Alter seien und deshalb auch mir diese Erfahrung nicht erspart bleibe. Aber obwohl mein Mann die Mitte der vierzig bereits überschritten hatte und damit – laut eingeweihten Kreisen – in die Gefahrenzone geraten war, leistete ich mir den Luxus eines gegenteiligen Anspruchs. Altersbedingte Triebsteuerung als einzig wahre Begründung für die Pirsch in fremden Gefilden ließ ich nicht gelten. Ich würde es Carl nicht leicht machen, sollte er ruhig schmoren. Nach dem, was ich bisher gesehen hatte, konnte ich hier ein paar schöne Tage verbringen.

Das Haus wirkte nicht so, als hätte seine Besitzerin es vor mehr als einem Jahr verlassen, eher so, als wäre sie gerade auf Reisen und würde bald zurückkommen. So unscheinbar Klara gewesen war, dieses Haus war genau das Gegenteil und setzte damit die Reihe von Gegensätzen fort, die Klaras Leben augenscheinlich geprägt hatten. Esszimmer, Wohnzimmer und Bibliothek gingen übereck ineinander über, getrennt nur durch Schiebetüren mit kleinen quadratischen Glasscheiben. Die alten Bauernmöbel bildeten einen schönen Kontrast zu den modernen Sesseln und Stühlen, denen man schon von Weitem ansah, dass sie bequem waren. Die Wände hatte Klara sehr sparsam, aber wirkungsvoll mit Bildern geschmückt. Trotz der niedrigen Decken wirkte alles so licht hier, und das lag nicht nur an den vielen Fenstern. Wie hatte sie das geschafft? Draußen war es düster und verregnet, und drinnen erinnerte alles an Sonne und Wärme. Klara hatte sicher einen Innenarchitekten damit beauftragt. Ich durfte nicht vergessen, Frau Jensen danach zu fragen. Aber eines nach dem anderen, ermahnte ich mich. Carl musste inzwischen von seiner Geschäftsreise aus München zurück sein. Um diese Zeit konnte ich ihn sicher schon in seiner Anwaltskanzlei erreichen.

Ich zog meinen Mantel über und begab mich nach draußen, um Frau Jensen zu suchen. Der Garten war riesig und ging fast um das ganze Haus herum. An drei Seiten verliefen in einiger Entfernung Wassergräben, gesäumt von großen alten Bäumen. Sie schienen der einzige Schutz gegen den Wind zu sein, der immer noch unablässig blies und dem sie sich mit den Jahren gebeugt hatten. Im hinteren Teil des Gartens zwischen Blumenbeeten und Obstbäumen war ein Gewächshaus und ein Stück weiter ein alter verwitterter Holzschuppen. Dort fand ich Frau Jensen. Sie stand bis zu den Knien inmitten von undefinierbarem Grünzeug, das sie mit einem Spaten bearbeitete und ziemlich wortreich, aber für mich unverständlich beschimpfte. Den Rat, mit Pflanzen zu reden, musste sie gründlich missverstanden haben.

»Dieser verdammte Giersch!«, fluchte sie lautstark. »Kaum hab ich das Zeug an der einen Ecke rausgegraben, kommt es an der anderen schon wieder hoch.« Sie sah missbilligend auf die endlose grüne Fläche, die sich vor ihr ausbreitete.

»Versuchen Sie es doch mal mit Unkrautvernichter«, sagte ich, »da sparen Sie sich eine Menge Arbeit.«

Sie sah mich an, als hätte ich ihr vorgeschlagen, den Garten Eden mit DDT auszurotten.

»Davon hielt Frau Wilander überhaupt nichts«, entgegnete sie unverhohlen empört. »Sie sagte immer: ›Hanni, wir kämpfen hier entweder mit fairen Mitteln oder überhaupt nicht.‹ Und daran halte ich mich.«

»Klara ist tot, Frau Jensen, da …«

»Ja, sie ist tot«, fiel sie mir aufgebracht ins Wort, »aber ihre Seele wird immer hierbleiben, hier in diesem Garten und in diesem Haus. Und solange ich lebe, werde ich dafür sorgen, dass sie’s schön hier hat.« Damit drehte sie sich um und stieß den Spaten mit aller Kraft in den Boden.

So viel zu fairen Mitteln, dachte ich amüsiert, aber ich wollte mich nicht weiter auf diese ganz eigene Philosophie von Fairness einlassen und ging nicht näher auf das Thema ein. »Frau Jensen, ich fahre kurz zur Post. Vielleicht können wir heute Mittag zusammen essen, und Sie erzählen mir ein wenig über die Insel«, sagte ich betont munter, denn ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war ein Versöhnungsversuch angebracht.

»Jo«, kam ihre knappe Antwort.

Sie betrachtete das Unkraut und ließ mich links liegen. Entweder war sie so vertieft in ihre Arbeit, oder ich hatte sie ernsthaft verletzt. Selbst wenn es so war, hatte ich jetzt anderes im Kopf, als mich um eine spatenstechende Mimose zu kümmern. Das hatte auch noch bis nachher Zeit.

»Also, bis später!«, rief ich ihr zu und ging ums Haus zu meinem Auto.

Den Weg zum Hafen und zur Post fand ich, ohne mich zu verfahren. Bei Tageslicht konnte man sich hier überhaupt nicht verirren, man kam immer wieder auf die Hauptstraße, die die Insel wie ein Ring durchzieht. Bei gutem Wetter muss man leicht von einem Ende zum anderen sehen können, dachte ich.

Die beiden Telefonkabinen im Postamt waren besetzt, als ich ankam, aber eine wurde kurz darauf frei. Während ich Carls Nummer im Büro wählte, stiegen Zweifel in mir auf, ob ich nicht besser meinen Mund halten und diesen dummen Brief einfach ignorieren sollte. Möglicherweise hatte ich Simones Zeilen falsch interpretiert, und dann würde sich meine ganze Aktion als vollkommen kindisch herausstellen. Schließlich hatte ich nur vom Rauch gelesen und auf ein Feuer geschlossen, wo vielleicht gar keines war. Läge ich falsch, würde ich Carl bloß wieder ein Beispiel meiner latenten Eifersucht bieten und ihn verärgern. Ach was, dachte ich rebellisch, sollte er doch verärgert sein, ich war mehr als das. Er hatte mir wehgetan und meine Hoffnung zerstört, dass uns solche Situationen erspart blieben.

»Tilden«, sagte er in seiner gewohnt knappen Art.

»Hallo, Carl, ich bin’s. Ich wollte mich nur kurz melden und dich wissen lassen, dass ich für ein paar Tage verreist bin«, begann ich.

»Nina«, hörte ich ihn aufatmen, »was soll denn das? Wo bist du überhaupt? Ich habe mir Sorgen gemacht, als du die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen bist und dich auch nicht gemeldet hast. Du hättest mir doch wenigstens einen Zettel hinlegen können, dass du wegfährst. Wenn ich nicht irgendwann festgestellt hätte, dass das halbe Badezimmer leer geräumt ist, hätte ich eine Vermisstenmeldung rausgegeben«, beendete er seine ungewohnte Wortkanonade.

»Ich dachte, du fliegst erst heute Morgen zurück und gehst dann direkt ins Büro. Hattest du das nicht gesagt?«, setzte ich zu meiner Verteidigung an, was mich im selben Moment ärgerte. Sein vorwurfsvoller Ton würde ihm noch vergehen, wenn ich den Spieß umdrehte.

»Ja, aber mein Termin gestern Nachmittag wurde abgesagt, und so bin ich schon abends zurückgeflogen. Wo bist du überhaupt?«

»Ich bin auf Pellworm in dem Haus von Klara. Ich möchte mal ein paar Tage allein sein«, erklärte ich fest.

»Das kannst du doch zu Hause von morgens bis abends.«

Ich hörte, wie er in seinen Unterlagen blätterte, und begriff, dass er mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders war. Er wusste jetzt, wo ich war, und damit war der Fall für ihn erledigt.

»Ich habe den Brief von Simone gefunden.« Ich hatte diesen Satz ganz ruhig und gelassen gesagt. In der darauf folgenden Pause hörte ich, wie das Rascheln der Unterlagen jäh stoppte.

»Welchen Brief?«, fragte er, jetzt wieder ganz aufmerksam.

»Den Brief, den sie dir nach eurem Wochenende in Salzburg geschrieben hat. Wenn ich es recht verstehe, war das das Wochenende, an dem ihr in München diese stundenlangen Meetings mit dem besonders schwierigen Mandanten hattet, der dir so auf die Nerven ging. Simone beschreibt das Wochenende allerdings etwas weniger strapaziös, dafür umso amüsanter.« Einen leicht bissigen Unterton konnte und wollte ich mir nicht verkneifen. Er sollte nur nicht denken, er hätte leichtes Spiel mit mir.

»Nina«, begann er zögernd, »ich wollte schon lange mit dir darüber reden, aber bisher hat sich noch keine Gelegenheit dazu ergeben. Ich hatte fest vor, das in den nächsten Tagen zu tun.«

Klang da tatsächlich sein schlechtes Gewissen durch? Fast war ich ein wenig enttäuscht. Irgendwie hatte ich etwas Einfallsreicheres von ihm erwartet. Nicht gerade, dass alles ein großer Irrtum sei, aber auch nicht ein so schnelles Nachgeben und Einlenken.

»Ich weiß nicht, was es über derartige Affären überhaupt viel zu reden gibt«, sagte ich, um einen sachlichen Ton bemüht, »außer dass es mich sehr verletzt und ich es für geschmacklos halte, dass es ausgerechnet eine meiner Freundinnen sein musste. Vielleicht kannst du nachempfinden, dass das in meinen Augen nicht gerade die Wunschbesetzung für diese Rolle ist, wenn sie denn überhaupt vergeben werden musste. Aber«, versuchte ich es möglichst locker klingen zu lassen, »das Ganze unterlag ja auch kaum meiner Regie.«

»Nina …«

»Nein, lass mich bitte ausreden«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Ich will wirklich keine Staatsaffäre daraus machen, ich möchte dich nur bitten, die Sache, falls sie überhaupt noch läuft, zu beenden. Ich werde eine Woche hierbleiben, die Zeit sollte ja sicher reichen.« So, jetzt war es heraus, ich hatte es geschafft.

»Nina, Simone ist schwanger«, sagte er leise.

»Schwanger?«, fragte ich ungläubig. »Und du solltest sie sicher trösten.« Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Da hat sie dir aber einen schönen Bären aufgebunden. Vielleicht ist das jetzt ihre neueste Masche«, überlegte ich laut, »und das ausgerechnet dir. Entschuldige, Carl, wenn ich lache.« Fast tat er mir schon leid. Wie war Simone nur auf die Idee verfallen? »Wer soll denn überhaupt der Vater sein?«

»Ich bin der Vater.«

»Wie bitte?«, fragte ich immer noch erheitert. Ich hatte den Satz gehört, aber er war noch nicht in die Tiefen meines Bewusstseins gedrungen.

»Ich bin der Vater, Nina«, sagte er mit Nachdruck.

Es war kein Irrtum und auch kein übler Scherz, ich hatte mich nicht verhört. Als ich das begriff, begann ein Wirbel von Fragen in meinem Kopf zu hämmern, doch ich brachte keine einzige davon heraus. Er sprach so leise, dass ich seine Stimme kaum hören konnte. Das Hämmern in meinem Kopf wurde immer schlimmer. Was hatte er gesagt? Ich lehnte mich gegen die Wand der Telefonkabine, um meinen Halt nicht zu verlieren.

»Nina, hast du mich verstanden?«, fragte er unsicher.

Die Hoffnung auf ein erlösendes Missverständnis ließ mich nicht los.

»Es fällt mir nicht leicht, dir das zu sagen«, fuhr er fort, »es kam auch für mich alles sehr überraschend, das kannst du mir glauben. Ich …«

»Was hat Simone jetzt vor?«, unterbrach ich ihn. Mein Mund war ganz trocken und ließ die Worte hölzern klingen.

»Was meinst du damit, was soll sie vorhaben?« Er hatte mich genau verstanden.

»Sie wird ja wohl kaum Freudensprünge machen, wenn sie – ich drücke es einmal vorsichtig aus – als karrierebewusste Anwältin von ihrem verheirateten Chef, der gleichzeitig auch der Mann ihrer Freundin ist, ein Kind bekommt. Das scheint mir selbst für Simone ein ziemlicher Brocken zu sein.« Meine Stimme war immer schriller geworden und hatte sich fast überschlagen. Ich wunderte mich, dass ich die Worte zusammenhängend hatte herausbringen können.

»Sie freut sich auf das Kind, Nina.« Er schwieg einen Moment. Als ich nichts sagte, fuhr er zögernd fort. »Es gibt eine ganze Menge, worüber wir beide unbedingt reden müssen, und deshalb macht es keinen Sinn, wenn du noch länger dort oben bleibst. Komm bitte nach Hause, und lass uns versuchen, eine vernünftige Lösung zu finden.«

»Und du?« Als sich die Worte aus meinem Mund herausgeschält hatten, ahnte ich die Antwort bereits.

»Wie bitte?«, fragte Carl. Er war jetzt auf der Hut und kehrte den Anwalt hervor.

»Und du, was ist mit dir? Was denkst du darüber, dass sie ein …«, ich musste schlucken, »… Kind kriegt?«

»Nina, lass uns das bitte nicht am Telefon besprechen. Komm nach Frankfurt, und dann reden wir.« Er war mir ausgewichen.

»Du freust dich auch, ist es das?« Ich schloss die Augen und betete, dass er Nein sagen würde. Wer auch immer da oben sitzt und lenkt, flehte ich in Gedanken, lass es nicht zu, zerstöre nicht diesen letzten winzigen Funken von Hoffnung.

»Ja, Nina, ich freue mich auch.« Ganz leise sagte er das, ganz präzise.

Ich musste an eine geräuscharme Präzisionsmaschine denken, die mich fein säuberlich in Stücke zerlegte. In meinem Kopf drehte sich alles, ich musste sofort hier raus.

»Carl, ich will mir wenigstens noch die Insel anschauen, wenn ich schon mal hier bin.« Die aufkeimende Panik setzte mir immer mehr zu. »Ich werde also sicher noch ein paar Tage bleiben. Wir können darüber reden, wenn ich zurück bin.«

Ich hörte meine eigene Stimme wie durch Watte und legte mechanisch den Hörer auf, ohne seine Antwort abzuwarten. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, heil zurück zu Klaras Haus zu kommen, ich erinnere mich nicht. Vielleicht ist tief drinnen in mir eine Art Autopilot, der die Kontrolle übernimmt, wenn ich selbst dazu nicht mehr imstande bin.

3 Ich spürte nichts mehr, nichts außer einer Betäubung,