Das Buch

Elena ist außer sich vor Freude, als sie plötzlich Post aus den USA bekommt. Brenda Murray, die ihr Berittpferd Quintano gekauft hat, lädt sie für die Sommerferien auf die Oaktree-Farm in Massachusetts ein – zusammen mit ihrer besten Freundin Melike! Auf den ersten Blick ist die Farm ein richtiges Pferdeparadies. Elena ist begeistert, denn nun kann sie das Westernreiten ausprobieren und darf sogar an einem Reining-Turnier teilnehmen. Doch als ein wertvolles Pferd schwer verletzt wird, kommt sie einem dunklen Geheimnis auf die Spur …

Die Autorin

© Felix Bruegemann

Nele Neuhaus, geboren in Münster/Westfalen, lebt heute im Taunus. Sie reitet seit ihrer Kindheit und schreibt bereits ebenso lange. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie zunächst in einer Werbeagentur, bevor sie begann, Erwachsenenkrimis zu schreiben. Mit diesen schaffte sie es auf die Bestsellerlisten und verbindet nun ihre zwei größten Leidenschaften: Schreiben und Pferde. Ihre eigenen Pferde Fritzi und Won Da Pie standen dabei Pate für die gleichnamigen vierbeinigen Romanfiguren.

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Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Claudia, Steffi, Marina und alle Cowgirls aus Wildsachsen.

Danke für die schöne Zeit mit Euch!

1. Kapitel

»Elena, bleib bitte noch einen Moment da«, sagte unsere Klassenlehrerin Frau Wernke zu mir, als der Gong zum Ende der vierten Stunde ertönte. Meine Klassenkameraden verschwanden in die Pause und mir schwante beim Anblick von Frau Wernkes Miene nichts Gutes. Zu Beginn der Stunde hatte sie uns die Deutscharbeiten zurückgegeben. Ich hatte eine Vier geschrieben, obwohl Deutsch eigentlich mein bestes Fach war! Mit einem unguten Gefühl im Bauch ging ich zu ihr ans Pult.

»In den letzten Monaten lassen deine Leistungen mehr als zu wünschen übrig.« Frau Wernke musterte mich ernst. »Eine Fünf in Mathe, eine Fünf in Englisch und jetzt auch noch eine Vier in Deutsch, die eigentlich auch eher eine Fünf war! Wenn du nicht sofort einen Endspurt einlegst, dann wirst du die Klasse wiederholen müssen.«

Die Klasse wiederholen? Oh Gott, bloß nicht! Das würde bedeuten, dass ich noch ein Jahr länger in der Schule herumsitzen musste!

»Was ist los mit dir, Elena? Hast du Probleme?«

»N… nein. Ich … ich … weiß auch nicht, was los ist«, stammelte ich verlegen.

Das stimmte nicht ganz, denn ich wusste ziemlich gut, weshalb ich so schlechte Arbeiten geschrieben hatte. Kurz vor Weihnachten im letzten Jahr hatte Tim mit mir Schluss gemacht. Das hatte mich völlig durcheinandergebracht und danach war dauernd irgendetwas passiert, was mich vom Lernen abgehalten hatte: die Entdeckung, was für ein falsches Spiel meine angebliche Freundin Kiki hinter meinem Rücken trieb, Kaderlehrgänge und Turniere, außerdem ritt ich jeden Tag meine beiden Berittpferde Lenzi und Skyfall und oft auch noch Fritzi, mein eigenes Pferd. Aber das waren alles keine Argumente, die Frau Wernke gelten lassen würde – und meine Eltern erst recht nicht. Papa und Mama waren nie sonderlich streng gewesen, was die Schule betraf, aber wahrscheinlich nur deshalb, weil weder mein älterer Bruder Christian noch ich jemals Probleme mit Noten oder gar der Versetzung gehabt hatten.

»Ich weiß, dass du nicht dumm bist, Elena.« Frau Wernke stand auf und ergriff ihre Tasche. »Ich fürchte, du machst einfach zu wenig für die Schule.«

Ich fühlte mich ertappt und senkte den Kopf. Meistens kam ich erst um vier Uhr nachmittags aus der Schule und dann blieb nicht viel Zeit, um alles auf die Reihe zu kriegen. Und statt am Schreibtisch zu sitzen und für die Klassenarbeiten zu lernen, war ich lieber mit Melike, Nick und Tim im Stall.

»Frau Vollandt hat mir gesagt, dass die letzte Englischarbeit allgemein sehr schlecht ausgefallen ist und sie deshalb wiederholt wird. Ich rate dir, nutze diese Chance und gib Gas in den letzten Wochen. Sonst sieht’s für dich nicht gut aus.«

»Werden Sie das meinen Eltern sagen?«, fragte ich zaghaft.

»Das muss ich, leider. Du bist akut versetzungsgefährdet.«

Sie ging hinaus. Ich folgte ihr und trottete niedergeschlagen den Flur entlang und die Treppe hinunter.

Irgendwie hatte ich meine schlechten Noten total verdrängt und das lag an den dramatischen Ereignissen der vergangenen Wochen. Am Abend vor dem Jugendturnier in Alsfeld waren die Scheune und Papas großer Lkw mitsamt dem Wohnwagen abgebrannt und ich war zuerst fest davon überzeugt gewesen, dass Kiki den Brand gelegt hatte. Auf dem Turnier war ich dann mit Lenzi, der eigentlich Lancelot hieß, und Skyfall mein erstes S-Springen geritten und auf Anhieb mit beiden Pferden platziert worden. Tim hatte mit Rolanda, der Stute meines Bruders, die schwerste Prüfung des Turniers gewonnen, ganz knapp vor Niklas Schütze, Melikes Freund. Kikis Bruder Fabian hatte auf dem Turnier Ariane entführt, aber wir hatten sie finden und befreien können, und die Polizei hatte schnell herausgefunden, wer unsere Scheune angezündet hatte. Zwar hatten Kiki und Fabian Denninger nichts damit zu tun gehabt, aber nach den ganzen Vorfällen hatten sie ihre Pferde in einen anderen Stall gestellt und ich war heilfroh, dass ich ihnen auf dem Amselhof nicht mehr begegnen würde. Bei dem Brand war nicht nur die Scheune mit den Stroh- und Heuvorräten, sondern auch das Sattelzeug im Lkw Opfer der Flammen geworden, doch glücklicherweise würde die Versicherung alle Schäden bezahlen. Ja, irgendwie hatten alle Begebenheiten der letzten Wochen und Monate ein gutes Ende gefunden, alles hätte wunderbar sein können – bis auf meine miesen Noten in der Schule!

Auf dem Schulhof hielt ich Ausschau nach Melike und fand meine beste Freundin auf einer Bank vor dem Eingang der Cafeteria. Sie tippte konzentriert auf ihrem Smartphone herum, wahrscheinlich schrieb sie sich Nachrichten mit Niklas.

»Hey!« Melike blickte auf und rückte ein Stück zur Seite, damit ich mich hinsetzen konnte. »Was machst du denn für ein Gesicht?«

Ich stieß einen Seufzer aus und erzählte ihr, was die Wernke mir eben gesagt hatte.

»Eine Vier in Deutsch und ein Fünf in Englisch?« Melike runzelte ungläubig die Stirn. »Wieso das denn?«

»Das war so eine blöde Grammatikarbeit.« Ich zuckte die Schultern. »Und in Deutsch hab ich vergessen, das Buch zu lesen.«

»Was lest ihr da gerade?«

»Ach, so was total Ödes von irgend so ’nem Typ, der unehelich war und dann umgebracht wurde, weil die geglaubt haben, er wäre Jude, dabei war er irgendwie eigentlich keiner.«

»Andorra von Max Frisch«, stellte meine Freundin nüchtern fest und erschreckte mich wieder einmal mit ihrem Wissen. »Das haben wir letztes Jahr auch gelesen und ich fand’s ziemlich cool. Es geht um Schuld und Vorurteile und … Mann, Elena!«

Melike rüttelte mich an der Schulter, ihre Augen blitzten. »Sitzen bleiben ist voll scheiße! Weißt du, mit wem du dann in einer Klasse wärst?«

»Ja, klar.« Ich ließ deprimiert den Kopf hängen. »Die Englischarbeit wird wiederholt. Vielleicht bin ich dann besser.«

»Von alleine sicher nicht. Da musst du schon was für tun.«

Das wusste ich selbst. Das Problem war, dass ich überhaupt keine Lust hatte, englische Grammatik zu büffeln, wenn das Wetter toll war und ich stattdessen zusammen mit meinen Freunden reiten konnte. Nächste Woche schrieben wir die letzte Mathearbeit und ich hatte leider überhaupt keinen Plan von Dreiecksberechnungen und Wurzelgleichungen.

»Hey«, sagte jemand und wir blickten hoch.

Vor uns stand Ariane Teichert und lächelte – ein bisschen unsicher, wie ich fand und ohne ihre treuen Anhängerinnen Tessa und Ricky, die ihr normalerweise auf Schritt und Tritt folgten.

»Hi Ariane«, antwortete Melike. »Wie geht’s deinem Vater?«

»Ganz okay.« Ariane machte die typische Kopfbewegung, mit der sie früher ihre lange blonde Mähne zurückgeworfen hatte, aber die Mähne gab es nicht mehr. Stattdessen war ihr Haar jetzt raspelkurz. »Meine Mutter holt ihn heute nach Hause.«

Noch vor gar nicht langer Zeit war Ariane alles andere als eine Freundin von uns gewesen, ja, sie hatte Melike sogar ziemlich übel beleidigt, aber seitdem war viel passiert. Fabian, ihr Exfreund, hatte sie auf dem Turnier entführt und darüber hatte sich ihr Vater derart aufgeregt, dass er zusammengeklappt und im Krankenhaus gelandet war. Ihre neue Frisur verdankte Ariane ebenfalls Fabian und seiner Schwester Kiki. Die beiden hatten ihr auf der Abi-Party vor ein paar Wochen eine Droge verabreicht, weil sie kompromittierende Fotos von ihr machen und ins Internet stellen wollten. Ariane hatte das Bewusstsein verloren und Kiki hatte ihr daraufhin die schönen langen Haare abgeschnitten, als Rache dafür, dass Ariane sie immer total mies behandelt hatte.

»Was wollte die Wernke denn noch von dir?«, erkundigte sich Ariane nun bei mir.

Es war für mich ungewohnt, sie plötzlich so freundlich zu erleben, nachdem sie sich mir gegenüber jahrelang feindselig oder herablassend verhalten hatte, deshalb zögerte ich mit einer Antwort.

»Sie hat mir gesagt, dass ich sitzen bleibe, wenn ich mich jetzt nicht anstrenge«, antwortete ich schließlich widerstrebend.

»Oh!«, machte Ariane nur. Im Gegensatz zu mir war sie ziemlich gut in der Schule, denn sie war nicht nur beim Reiten ehrgeizig.

»Also, Englisch kann ich mit dir lernen«, sagte Melike neben mir. »In Grammatik bin ich gut. Aber was Mathe betrifft, muss ich leider passen.«

»Englisch geht ja noch«, entgegnete ich düster. »Viel schlimmer ist Mathe. Ich schreibe nächste Woche ganz sicher wieder ’ne Fünf.«

»Ich kann dir helfen«, bot Ariane an und wirkte verlegen, als sie meinen überraschten Blick sah. »Also, nur wenn du willst, meine ich.«

Ariane war die Klassenbeste in Mathe, besser als alle Jungs.

»Äh, ich … das … das wäre cool«, stotterte ich. »Hast du denn Zeit dafür?«

»Na ja.« Sie zuckte die Achseln und grinste schief. »Einen Freund hab ich ja nun nicht mehr.«

Mein Handy piepste und ich warf einen Blick darauf. Tim hatte mir eine WhatsApp geschrieben.

Bin heut gegen 3 im Stall. Gehen wir ne Runde ins Gelände? Kuss! T.

Der Gong ertönte und Melike sprang von der Bank.

»Damit ist ja alles geklärt«, sagte sie. »Mit mir lernst du Englisch, mit Ariane Mathe. Einverstanden?«

Ich hatte alles andere als Lust auf blöde Grammatik und noch blödere Matheformeln, aber noch weniger Lust hatte ich auf Krach mit meinen Eltern und ein Jahr länger Schule.

»Einverstanden«, erwiderte ich also und rang mir ein Lächeln ab. Melike grinste, Ariane und ich machten uns auf den Weg zum Chemiesaal.

»Wenn du willst, können wir gleich nach der achten Stunde anfangen«, schlug Ariane eifrig vor. »Oder musst du nach Hause?«

Das Ausreden-Teufelchen in meinem Inneren flüsterte: Das Wetter ist toll, die Sonne scheint – es reicht doch, wenn du morgen anfängst, oder übermorgen! Tim kommt um drei und ihr könnt einen herrlichen Ausritt durch die Wiesen, die Rapsfelder und den Wald machen.

Ich zögerte und öffnete schon den Mund zu einer Ausrede, aber da fing ich Melikes warnenden Blick auf und seufzte.

»Nee. Wäre super, wenn wir gleich loslegen könnten«, sagte ich deshalb zu Ariane und schrieb Tim eine kurze Antwort.

Sorry, muss Mathe lernen. Vielleicht sehen wir uns später noch. Auch Kuss! E.

2. Kapitel

Der Regen in den ersten beiden Maiwochen und das gute Wetter der letzten Tage hatten die Natur geradezu explodieren lassen. Überall grünte, blühte und duftete es, und das Gras auf den Wiesen war schon so hoch, dass man bald an die Heuernte denken musste. Ich radelte von der Bushaltestelle am Rathaus hinaus zum Amselhof und dachte über Ariane und ihre plötzliche Verwandlung nach. Vor ein paar Jahren, als wir noch zusammen in Steinau zur Grundschule gegangen waren, waren Ariane und ich dicke Freundinnen gewesen. Sie hatte bei Opa auf dem Amselhof reiten gelernt, dann hatten ihre Eltern ihr Domino, ein Fuchspony, gekauft und wir waren jeden Tag zusammen geritten. Aber von einem Tag auf den anderen hatte sich alles geändert. Teicherts waren aus ihrem kleinen Häuschen in Steinau in eine protzige Villa nach Königshofen gezogen und Ariane hatte neue Freundinnen gefunden. Ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern, wie weh es mir getan hatte, als sie mich nicht mehr zu ihrem Geburtstag eingeladen und mich in der Schule kaum noch beachtet hatte. Sie hatte Glücksfee bekommen, ein richtiges Pferd, während ich noch immer auf meinem Pony Sirius herumreiten musste, und ihr Vater hatte zwei talentierte junge Pferde gekauft, die Papa ausgebildet und auf Turnieren vorgestellt hatte. Doch dann hatte Arianes Vater Papa die Pferde weggenommen und ausgerechnet auf den Sonnenhof von Richard Jungblut, Papas ärgstem Feind, gestellt. Allerdings war er uns die Boxenmiete und das Berittgeld für ein paar Monate schuldig geblieben. Ariane hatte sich in Tim verguckt und als sie gemerkt hatte, dass sie bei ihm nicht landen konnte, war sie richtig bösartig zu mir geworden, hatte eine Hetzkampagne über Schüler VZ gegen mich gestartet und übel über den Amselhof gelästert. Dank Melike und Tim war dieser Schuss für sie nach hinten losgegangen, aber es hatte keinen Zweifel gegeben, dass sie meine erklärte Feindin war. Umso seltsamer war es nun für mich gewesen, mit ihr eine Stunde lang im Aufenthaltsraum in der Schule zu sitzen und Mathe zu lernen. Ihre Freundlichkeit machte mich misstrauisch, denn ich wusste aus Erfahrung, dass Ariane nichts einfach nur so tat. Warum gab sie mir Nachhilfe? Was versprach sie sich davon? Nach unserer Befreiungsaktion auf dem Turnier in Alsfeld hätte es völlig ausgereicht, wenn sie aufgehört hätte, dummes Zeug zu quatschen; sie musste nicht aus lauter Dankbarkeit mit mir Mathe üben. Glaubte sie etwa, ich würde all das, was sie in den letzten Jahren gesagt und getan hatte, einfach vergessen können?

Ich kurvte durch das Tor des Amselhofs, sparte mir aber den Besuch bei Fritzi, denn ich hatte Hunger. Mein Blick streifte im Vorbeifahren die ausgebrannten Überreste der Scheune. Twix, mein braun-weiß gefleckter Jack-Russell-Terrier, lag auf den Treppenstufen vor Omas Gaststätte in der Sonne und sprang freudig bellend auf, als er mich erblickte. In ein paar Sekunden war er bei mir, hüpfte wild kläffend um mich herum und schnappte fast über vor Glück.

»Ist ja gut!«, beruhigte ich ihn. »Du hast mir auch gefehlt, Twixi.«

Mamas Auto war nicht da, deshalb stellte ich mein Fahrrad vor der »Pferdetränke« ab und betrat die Gaststätte, die noch geschlossen war, durch den Hintereingang. Oma kochte jeden Mittag für unsere Familie und alle Mitarbeiter des Amselhofs. Sie wurde richtig sauer, wenn nicht alle pünktlich um 13 Uhr am Tisch saßen, aber sie hatte sich daran gewöhnen müssen, dass Christian und ich oft erst am Nachmittag aus der Schule kamen. Zwar hob sie uns immer Essen auf, schimpfte aber jedes Mal voller Empörung darüber, wie man Kindern solche Stundenpläne zumuten könnte.

»Hallo, Oma«, sagte ich, als ich die große Küche betrat.

»Wieso kommst du erst jetzt?« Oma war verstimmt. »Du hast doch montags nach der achten Stunde aus!«

»Ich hab Mama geschrieben, dass ich später komme«, erwiderte ich.

»Hat sie mir nichts von gesagt«, brummte Oma und nahm einen Teller aus dem Schrank. Mir lief das Wasser im Mund zusammen als ich sah, wie sie Salzkartoffeln, Spargel und ein Schnitzel auf den Teller legte und reichlich Sauce Hollandaise darübergoss, so, wie ich es mochte, und das Essen kurz in die Mikrowelle stellte. Steinau lag mitten in einer Spargelgegend, von Ende April bis Ende Juni gab es das Gemüse täglich in allen möglichen Variationen, bis es einem zum Hals heraushing und man ein Jahr lang keinen Spargel mehr sehen konnte.

»Das Schnitzel ist jetzt leider etwas trocken«, sagte Oma.

»Macht nichts. Danke.« Ich setzte mich an den großen Küchentisch und begann, das Essen in mich hineinzuschaufeln, gleichzeitig checkte ich mein Smartphone nach neuen Nachrichten. Bei uns zu Hause waren Handys am Tisch streng verboten, aber Oma war das wurscht, Hauptsache, man aß den Teller leer. In fünf Minuten hatte ich die Riesenportion weggeputzt, stellte meinen Teller in die Spülmaschine und wollte gerade hinüber in den Stall laufen, als Mama angefahren kam. Sie hielt neben mir und ließ das Fenster herunter. Kein gutes Zeichen.

»Hi!«, rief ich. »Ich wollte kurz rüber in den Stall und …«

»Das kannst du später machen«, unterbrach meine Mutter mich. »Ich möchte mit dir reden.«

Auf dem Springplatz ritten Tim und Niklas.

»Aber ich …«

»Kein ›Aber‹. Komm bitte mit ins Haus.« Ihr Blick ließ keinen Widerspruch zu, deshalb trottete ich hinter dem Auto her und half ihr, die Einkäufe in die Küche zu schleppen.

»Wann wolltest du mir eigentlich von deinen Supernoten erzählen?«, fragte Mama beiläufig, während sie Joghurt, Milch und Eier in den Kühlschrank packte. »Erst wenn du dein Zeugnis bekommst und sitzen geblieben bist?«

Na super! Hatte die Wernke nichts Besseres zu tun, als sofort nach Schulschluss ans Telefon zu zucken und ihren Schülern den Tag zu verderben?

»Ich … äh … ich dachte, ich … ich warte, bis ich wieder eine gute Arbeit geschrieben habe«, druckste ich herum.

»Na toll!« Mama stemmte die Arme in die Seiten. »Wie kann es sein, dass du plötzlich so schlecht in der Schule bist? Eine Fünf in Englisch! Eine Vier in Deutsch! Das ist doch pure Faulheit!«

Ich senkte den Kopf und biss mir auf die Lippen.

»Dein Vater und ich lassen Christian und dir viel Freiheit«, fuhr meine Mutter fort. »Wir vertrauen darauf, dass ihr euch in der Schule genug anstrengt, und wollen nicht dauernd hinter euch her sein. Aber bei dir scheint dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt zu sein – im Gegenteil!«

»Aber Mama, ich habe …«, begann ich kleinlaut, doch sie ließ mich nicht ausreden.

»Ich bin sehr enttäuscht von dir, Elena! Nicht nur wegen der miesen Noten, sondern weil du mir das einfach verschweigst. Die Schule ist wichtiger als die Reiterei! Und deshalb ist jetzt Schluss mit Turnieren, bis du dich wieder verbessert hast. Es ist ohnehin zu viel für eine Fünfzehnjährige, jeden Tag zwei oder drei Pferde zu reiten.«

Ich starrte meine Mutter ungläubig an. Das konnte ja wohl nicht wahr sein!

»Aber ich bin im Kader!«, begehrte ich auf. »Ich muss die Sichtungen für die Hessenmeisterschaften reiten!«

»Du musst vor allen Dingen so gut in der Schule sein, dass du nicht sitzen bleibst«, erwiderte sie kühl. »Wenn das der Fall ist, kannst du so viele Turniere reiten, wie du willst. Und damit ist das Thema beendet.«

Sie wandte sich wieder den Einkaufstüten zu und packte weiter aus.

»Ich muss heute noch reiten«, sagte ich.

»Kannst du ja. Wenn du mir deine Hausaufgaben vorgelegt hast.«

Zwar hatte ich mit einer Strafpredigt und ein bisschen Gemecker gerechnet, aber nicht mit etwas so Drastischem wie einem Turnierverbot! Ich öffnete schon den Mund, um Mama zu sagen, dass ich heute bereits meine erste Mathe-Nachhilfestunde gehabt hatte und morgen mit Melike englische Grammatik lernen würde, aber das hätte nichts genützt. Mama gab sich nie mit Versprechungen zufrieden, sie wollte Ergebnisse sehen.

»Ach, da ist übrigens ein Brief für dich gekommen«, sagte sie, ohne sich zu mir umzudrehen. »Aus Amerika.«

Ich schnappte meinen Rucksack und verließ die Küche. Auf dem Sideboard unter dem Garderobenspiegel lag die Post, ganz obenauf ein hellblauer Briefumschlag mit dem Aufdruck Air Mail. Mein Name und meine Adresse waren in einer eckigen Handschrift geschrieben. Neugierig drehte ich den Umschlag um und bekam große Augen, als ich den Absender las: Brenda Murray, Oaktree-Farm, Fall River, Massachusetts!

3. Kapitel

Brenda Murray, die amerikanische Springreiterin, hatte letztes Jahr an Weihnachten mein Berittpferd Quintano gekauft und mit nach Amerika genommen. Sie gehörte zu den besten Reiterinnen der USA, war schon oft und sehr erfolgreich in Nationenpreisen, bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen geritten. Es hatte mir sehr leidgetan, Quintano zu verlieren, aber ich hatte von Anfang an gewusst, dass dieser Tag kommen würde, denn das Pferd hatte Herrn Nötzli, dem Schweizer Pferdehändler, gehört, und der hatte es mir nur zum Reiten zur Verfügung gestellt. Mein einziger Trost war der gewesen, dass der braune Wallach bei Brenda in wirklich gute Hände kommen würde. Sie war eine großartige Reiterin, die ihre Pferde liebte. Damals hatte Brenda mir angeboten, ich solle Quintano doch mal besuchen kommen, aber ich war davon ausgegangen, sie hätte das nur so dahingesagt, wie Erwachsene eben manchmal Dinge sagen und dann wieder vergessen. Nun hielt ich den Brief in meinen Händen und konnte es kaum fassen: Brenda lud mich und eine Freundin für die Sommerferien auf ihre Farm nach Amerika ein! Ich las den Brief noch einmal um sicherzugehen, dass ich nichts falsch verstanden hatte, aber auch beim dritten Mal stand noch dasselbe da. Eilig kramte ich mein Handy aus dem Rucksack und wählte Melikes Nummer. Meine Freundin meldete sich schon nach dem zweiten Klingeln.

»Was machst du in den Sommerferien?«, fragte ich sie.

»Meine Eltern werden mich wohl wieder zwingen, ins Land meiner Ahnen zu reisen«, erwiderte sie. »Das weißt du doch. Wieso fragst du?«

»Stell dir vor, ich habe einen Brief von Brenda Murray bekommen!« Ich warf mich auf mein Bett. »Sie lädt mich und eine Freundin für sechs Wochen auf ihre Farm ein!«

»Nee!«

»Doch! Ist das nicht genial?«

»Das ist der totale Hammer!« Ich hörte ihre Schritte, dann klappte eine Tür. »Wo ist die Farm? Ich guck mir das mal bei Google Maps an.«

»Äh, warte mal …« Ich drehte den Briefumschlag um. »Fall River, Massachusetts.«

Melikes Finger klapperten auf einer Tastatur.

»Hey, cool!«, rief sie nur Sekunden später. »Das ist gar nicht weit von Boston entfernt. Wie heißt die Farm?«

»Oaktree-Farm«, erwiderte ich und verspürte ein aufgeregtes Kribbeln in meinem Bauch.

Amerika! Ich war noch nie in meinem Leben geflogen, denn Urlaub, wie andere Leute ihn normalerweise machten, gab es bei uns nicht. Wenn meine Klassenkameraden im Sommer in Frankreich, Spanien, Italien, auf Mallorca, den Malediven oder an noch exotischeren Orten weilten, musste ich bei der Heu- und der Strohernte helfen oder war auf irgendeinem Reitturnier, das war eben so.

»Oh Mann, Elena!« Melikes Stimme vibrierte vor Begeisterung. »Das ist echt gar nicht so weit von Boston und Cape Cod weg! Wir könnten Niklas besuchen! Dann müsste ich nicht vor Sehnsucht nach ihm sterben!«

Ich grinste. Niklas ging auf eine Internationale Schule und bekam in der nächsten Woche schon Sommerferien – für unglaubliche drei Monate, wie es in Amerika üblich war! Davon verbrachte er wie jeden Sommer die letzten Wochen mit seiner Familie in den USA, denn Schützes besaßen ein Haus am Meer und eine Wohnung in der Stadt. Niklas’ älterer Bruder Theodor würde im Herbst sogar an einem College in der Nähe von Boston studieren.

»Wissen deine Eltern schon von der Einladung?«, wollte meine Freundin wissen. »Glaubst du, sie erlauben es dir?«

Ich dachte an Mamas schlechte Laune wegen meiner Noten.

»Tja«, sagte ich und setzte mich auf. »Im Moment hab ich wohl eher schlechte Karten. Die blöde Wernke hat doch echt schon bei meiner Mutter angerufen und ihr gesagt, dass ich sitzen bleibe, wenn ich mich nicht anstrenge.«

»Damit war zu rechnen«, entgegnete Melike nüchtern. »Aber du hast ja noch die Chance, das hinzukriegen. Ein Grund mehr, jetzt ordentlich ranzuklotzen.«

Wir beschlossen, meinen Eltern noch nichts von der Einladung zu sagen, bis sich die Situation wieder etwas entspannt hatte, um uns nicht mit einem kategorischen »Auf keinen Fall« die Chance zu verderben. Ich versteckte Brendas Brief also in einer Schreibtischschublade und packte meine Schulsachen aus, fest entschlossen, alles zu erledigen, was ich an Hausaufgaben zu machen hatte. Mathe konnte ich dank Ariane schon abhaken, blieben noch Deutsch und Englisch.

Vom Fenster aus konnte ich den Springplatz sehen, der im Schatten hoher Bäume lag. Tim und Niklas ritten im Schritt am langen Zügel nebeneinanderher, Papa war mit Cotopaxi gerade dazugekommen und der Aknefrosch trabte auf Intermezzo um die Hindernisse herum.

»To hide, hid, hidden«, murmelte ich und schrieb die Verbformen nebeneinander in mein Heft. »To tear, tore, torn. To rise, rose, risen. To fly, flew, flown …«

Fliegen!

Elena flies to America … Meine Gedanken schweiften ab und ich sah Melike und mich schon an Bord eines Flugzeugs gehen, das uns nach Amerika bringen würde. Während eines so langen Fluges gab es etwas zu essen und man konnte Filme gucken, das wusste ich aus den Erzählungen von Melike und Klassenkameraden, für die Flugreisen in ferne Länder so selbstverständlich waren wie für andere Leute das Busfahren.

Durch das schräg gestellte Fenster hörte ich Robbie, unseren Berner Sennenhund, bellen. Papa rief jemandem etwas zu, ein Pferd wieherte und der Motor eines Traktors brummte irgendwo in der Ferne. Meine Entschlossenheit, alle Aufgaben sofort zu erledigen, löste sich in Luft auf. Ich konnte mich kaum auf die unregelmäßigen Verben konzentrieren, zu gerne wäre ich jetzt auch im Stall gewesen! Vielleicht gelang es mir, ungesehen an Mamas Bürotür vorbeizuschleichen und ganz kurz rüberzugehen, nur um Tim von Brendas Einladung zu erzählen! Die Hausaufgaben liefen mir schließlich nicht weg. Mein Handy signalisierte mit einem Piepston, das eine WhatsApp-Nachricht eingegangen war. Neugierig warf ich einen Blick auf das Display. Franzi, unsere Klassensprecherin, hatte mir geschrieben! Wieso das denn? Ich öffnete ihre Nachricht und mich traf fast der Schlag: Hey, Elena! Wollte mit dir abstimmen, wie wir das morgen mit dem Referat machen – erst du oder erst ich? Meld dich doch mal kurz, LG Franzi.

»Oh, Mist!«, stöhnte ich. Wie hatte ich das bloß so völlig vergessen können? Seit acht Wochen wusste ich, dass ich dieses Geschi-Referat über den Imperialismus in England zu machen hatte, aber ich hatte es immer vor mir hergeschoben und irgendwann komplett verdrängt. Was nun? Meine Geschichtslehrerin war mir nicht sonderlich wohlgesonnen und wenn ich morgen ohne das Referat dastand, war mir die nächste Fünf gewiss. Einfach irgendetwas aus dem Internet abschreiben konnte ich auch nicht, zumindest musste ich es umformulieren, denn sonst merkte die Theissen das sofort und dann gab’s ’ne Sechs. Schnell vervollständigte ich die Liste mit den unregelmäßigen Verben und dachte mir zehn Sätze aus, in denen jeweils eines der Verben vorkam, dann kramte ich mein Geschichtsbuch heraus und fand die richtige Seite, denn dort hatte ich den Zettel mit dem Thema des Referats hineingelegt. Ich schaltete meinen Computer ein, widerstand der Versuchung, bei Facebook reinzuschauen und suchte stattdessen nach Informationen über die imperialistische Politik Englands im 19. Jahrhundert. Zwischendurch rief Tim an und erkundigte sich, ob ich krank sei. Ich erzählte ihm von den Sanktionen, die meine Mutter wegen meiner schlechten Noten verhängt hatte, und dem Referat, das ich bis morgen zu schreiben hatte.

»Ich ruf dich dann später an«, versprach ich ihm. »Okay?«

»Klar«, erwiderte er ein wenig belustigt. »Hau rein!«

Seitdem Tim auf der Hessenmeisterschaft im letzten Sommer meinen Bruder Christian davor bewahrt hatte, von einem Lkw überrollt zu werden, verstanden sich die beiden gut und Tim war jeden Tag auf dem Amselhof. Vor ein paar Wochen hatte er sogar seine Pferde zu uns gestellt und Papa trainierte ihn und Niklas. Früher, als wir uns nur heimlich treffen konnten, wäre ich untröstlich gewesen, ihn nicht zu sehen, doch jetzt war alles anders. Wir konnten uns in der Schule und im Stall treffen und miteinander telefonieren, ohne dass sich jemand daran gestört hätte. Und plötzlich bemerkte ich, wie einfach doch alles geworden war. Ich musste nicht befürchten, dass Tim aus meinem Leben verschwand, nur weil ich nicht in den Stall gehen konnte. Wer, wenn nicht er, hatte Verständnis dafür, dass lernen für mich jetzt gerade wichtiger war als reiten? Tim war der wohl disziplinierteste und pflichtbewussteste Mensch, den ich kannte. Schon früh hatte er neben der Schule auf der Reitanlage seines Vaters schuften müssen wie ein Erwachsener, deswegen hatte er immer nur sehr wenig Freizeit und so gut wie keine Freunde gehabt. Es wäre für ihn einfacher gewesen, die Schule nach der 10. Klasse zu verlassen, so wie sein schrecklicher Vater das von ihm verlangt hatte, aber Tim hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Abitur zu machen und zu studieren.

Ich konzentrierte mich auf die britische Kolonialpolitik, die Handelsstützpunkte an der afrikanischen Küste und die Konflikte zwischen den Kolonialmächten und verfasste ein dreiseitiges Referat in meiner ordentlichsten Handschrift. Dann schrieb ich Franzi eine Antwort. Es klopfte an meiner Zimmertür und Mama kam herein. Sie schien überrascht, mich am Schreibtisch zu sehen.

»Ich dachte, du würdest schlafen«, sagte sie und warf einen argwöhnischen Blick zu meinem Bett hinüber. »Ich habe keinen Mucks von dir gehört.«

»Ich hab noch das Geschi-Referat für morgen fertig gemacht«, erwiderte ich, als sei es das Normalste der Welt, dass ich drei Stunden lang freiwillig am Schreibtisch hockte. »Willst du es mal lesen?«

»Ja, gerne.« Sie nickte, leicht verwundert. Ihr Ärger über mich hatte sich offensichtlich etwas gemildert.

»Englisch und Mathe habe ich auch fertig. Melike und Ariane geben mir übrigens Nachhilfe.«

»Ariane gibt dir Nachhilfe?«, fragte Mama nach. »Wieso das denn?«

»Keine Ahnung. Sie hat’s mir angeboten.« Ich zuckte die Schultern. »Und wir haben heute schon in der neunten Stunde zusammen gelernt.«

»Ach!«

»Ich will nicht sitzen bleiben, Mama«, sagte ich und reichte ihr das Mathe- und das Englischheft. »Und ich versprech dir, ich gebe jetzt noch mal richtig Gas.«

Mama lächelte und strich mir übers Haar.

»Na, dann mach mal eine Pause. Ich habe schon den Grill angeworfen. In einer Viertelstunde gibt’s Abendessen.«

4. Kapitel

Dank Arianes Mathe-Nachhilfe schrieb ich in der letzten Arbeit des Schuljahres eine glatte Zwei. Auch die Lernerei mit Melike war von Erfolg gekrönt, in der Englischarbeit, die wiederholt wurde, bekam ich ebenfalls eine Zwei. Für mein Geschichtsreferat hatte mir Frau Theissen sogar eine Eins Minus gegeben.

»Sehr gut!« Melike war hochzufrieden, als ich ihr meine Englischarbeit unter die Nase hielt. »Damit solltest du auf keinen Fall mehr sitzen bleiben und Phase 3 unseres Plans kann beginnen.«

Sie hatte eine Strategie entwickelt, die meinen Eltern keine Chance lassen sollte, mir die Reise nach Amerika nicht zu gestatten. Melike hatte ihren Eltern von der Einladung erzählt und diese zu absolutem Stillschweigen verpflichtet, genauso hatten wir es mit Tim und Niklas gemacht.

Phase 1 von Melikes Plan war eine E-Mail an Brenda Murray gewesen, in der ich mich für die Einladung bedankt und ihr erklärt hatte, dass ich aufgrund schlechter Schulnoten meine Eltern gerade nicht um Erlaubnis für die Reise bitten konnte. Brenda hatte postwendend und äußerst verständnisvoll reagiert und geschrieben, es würde ihr völlig ausreichen, wenn ich ihr in ein paar Wochen Bescheid gäbe. Außerdem hatten Melike und ich im Bürgerbüro des Rathauses in Steinau ein Formular für die Ausstellung eines Reisepasses für mich geholt und wir hatten erfahren, dass man kein Visum für die Einreise in die USA brauchte, sondern eine Einreisegenehmigung, die man online beantragen konnte.

Phase 2 war die »Konsolidierung meiner schulischen Leistungen« gewesen, wie Melike meine Paukerei für die letzten Arbeiten des Schuljahres bezeichnete. Dafür musste ich jeden Tag die Hausaufgaben machen, bevor ich in den Stall zum Reiten ging, und zwar nicht nur die, die ich in der Schule bekam, sonderlich zusätzlich solche, die Melike sich für mich ausdachte. Darüber hinaus beinhaltete Phase 2 ein Gespräch mit meiner Klassenlehrerin, die mir – und vor allen Dingen meinen Eltern – bestätigen sollte, dass die akute Versetzungsgefahr gebannt war. All das war geschehen, deshalb war es nun allerhöchste Zeit für Phase 3.

In den letzten Wochen hatte es selten genug die Gelegenheit gegeben, meine Eltern ungestört gemeinsam am Tisch anzutreffen. Oft kam Papa erst spät aus dem Stall und wir hatten schon gegessen. Alle Boxen waren belegt, die Turniersaison in vollem Gange und Papa hatte mit dem Unterrichtgeben und Reiten viel zu tun.

Heute Abend aber war es endlich so weit und ich war richtig aufgeregt. Hoffentlich hatte Papa gute Laune! Denn wenn er Nein sagte, war meine Amerika-Reise gelaufen.

»Ich wollte euch etwas fragen«, wandte ich mich an meine Eltern, als wir auf der Terrasse am Tisch saßen und jeder ein gegrilltes Steak auf seinem Teller hatte. »Es geht um die Sommerferien.«

»Aha.« Papa schnitt ein Stück von seinem Steak ab. Mir entging nicht der rasche Blick, den er mit Mama wechselte, und ich hatte plötzlich ein schlechtes Gefühl.

»Ihr wisst ja, dass Quintano an Brenda Murray verkauft worden ist«, begann ich trotzdem meine wohleinstudierte und mehrfach vor dem Badezimmerspiegel geübte Überzeugungsrede. »Sie war ganz begeistert davon, wie ich reite, und sagte mir damals, sie würde mich gerne zu sich nach Amerika einladen.«

»Hm.«

»Na ja, und … und jetzt hat sie’s getan.«

»Wie? Was?«, fragte Christian kauend. »Sie hat dich nach Amerika eingeladen?«

»Ja. Schon vor ein paar Wochen. Da hat sie mir geschrieben.«

»Echt jetzt?« Mein Bruder war fassungslos. »Wieso hast du nichts davon erzählt? Das gibt’s doch nicht!«

»Tja, so ist deine Schwester.« Papa grinste. »Sie kann Geheimnisse bewahren.«

Es hatte meinen Vater tief beeindruckt, dass es mir damals gelungen war, meinen Hengst Fritzi eine sehr lange Zeit vor ihm zu verbergen, damit er nicht merkte, wie gut er springen konnte. Meine Eltern hatten zu dieser Zeit große Geldsorgen gehabt – beinahe wäre der Amselhof zwangsversteigert worden – und ich hatte befürchtet, Papa könne Fritzi verkaufen. Genauso wenig hatte ich meinen Eltern von Lajos erzählt, ihrem alten Freund, der im Forsthaus mitten im Wald gelebt hatte und den Melike und ich irrtümlicherweise für einen Pferdedieb gehalten hatten. Im Gegensatz zu meinem Bruder, der jede Neuigkeit sofort herausposaunen musste, konnte ich den Mund halten.

»Brenda hat Melike und mich für sechs Wochen auf ihre Farm eingeladen«, fuhr ich fort. »Und … und ich wollte fragen, ob ich … ob ich hinfliegen darf.«

Jetzt war es heraus und ich wartete gespannt auf eine Reaktion meiner Eltern, bereit, all die Argumente anzuführen, die Melike und ich gesammelt hatten.

»Ja«, sagte Papa zu meiner Überraschung, als ob es um einen Kinobesuch ginge und nicht um sechs Wochen Amerika.

»W… was?«, stotterte ich verblüfft.

»Ja, du darfst mit Melike nach Amerika fliegen«, erwiderte Papa und grinste breit. »Nicht nur du kannst Geheimnisse bewahren, sondern auch deine Mutter und ich. Brenda hat mich nämlich vor ein paar Wochen angerufen und mir von der Einladung und deiner E-Mail erzählt.«

Mir fielen Messer und Gabel aus der Hand, mein Mund klappte auf.

»Ihr … ihr habt das also die ganze Zeit gewusst?« Ich blickte ungläubig zwischen meinen Eltern hin und her.

»Ja, das haben wir«, bestätigte Mama. »Wir waren neugierig, wann du damit herausrücken würdest.«

»Und wir haben erfreut zur Kenntnis genommen, wie sehr du dich in der Schule angestrengt hast, um gute Noten zu bekommen«, ergänzte Papa. »Das hat uns sehr imponiert.«

Für einen Moment fehlten mir die Worte, dann sprang ich auf, umarmte erst Papa, dann Mama.

»Ist ja toll«, murrte Christian. »Alle wussten Bescheid – nur ich nicht!«

»Ich hätte es dir ja gesagt«, erklärte ich meinem Bruder. »Aber ich hatte Angst, dir würde vielleicht aus Versehen irgendwas rausrutschen.«

»Na, vielen Dank für dein Vertrauen!« Christian stopfte sich verärgert ein Stück Fleisch in den Mund. »Ich wette, Tim und Niklas habt ihr das sofort brühwarm erzählt.«

Er wirkte richtig gekränkt und so enttäuscht, dass es mir leidtat, ihn nicht auch eingeweiht zu haben. Aber meine Freude überwog. Christian würde sich schon wieder beruhigen. Er hatte einige charakterliche Mängel, aber nachtragend war er zum Glück nicht.

»Ich muss sofort Melike anrufen und ihr das erzählen!«, rief ich aufgeregt. »Darf ich?«

»Natürlich.« Mama lächelte. »Wie mir scheint, hat sie einen nicht unerheblichen Anteil an deinen guten Noten.«

Ich schoss wie ein Blitz aus der Küche, jagte die Treppe hoch in mein Zimmer und grapschte mein Handy, das auf meinem Schreibtisch lag. Melike meldete sich nach drei Sekunden.

»Und?«, rief sie.

»Ich darf! Ich darf! Ich darf!«, schrie ich und warf mich auf mein Bett. »Yippie! Melike, wir fahren nach Amerika!«

5. Kapitel

Am Abend vor unserem Abflug nach New York hätte ich am liebsten die ganze Reise abgesagt. Meine Eltern veranstalteten eine Abschiedsparty für Melike und mich und dazu hatte Mama die Terrasse mit amerikanischen Fähnchen dekoriert. Heinrich und Stani hatten Biertische und Bänke aus dem Schuppen am Reitplatz herbeigeschleppt und den großen Schwenkgrill aufgebaut, auf dem Spareribs, Hamburger und Steaks gegrillt wurden. Niklas’ Eltern hatten amerikanisches Bier und für die Jugendlichen eine Palette mit Root Beer mitgebracht, einem alkoholfreien Softdrink, der eigentümlich schmeckte. Oma und Mama hatten Salate gemacht, Papa und Lajos wechselten sich am Grill ab. Es war ein wunderbarer lauer Abend, die Luft war weich wie Samt und je später es wurde, desto intensiver verströmte der nahe Wald seinen würzigen Duft. Im Teich am Reitplatz quakten die Frösche, auf der Wiese am Waldrand ästen ein paar Rehe und störten sich nicht an unserem Gelächter. Melike fragte Niklas’ Eltern und Lajos, der ja eine ganze Weile in den USA gelebt hatte, neugierig über New York, Boston und die Ostküste aus, wollte alles über Gepflogenheiten, Sitten und Gebräuche der Amerikaner wissen. Sie war begeistert und speicherte die Tipps, was wir tun und lassen und was wir uns unbedingt ansehen sollten, in ihrem Smartphone.

Ich lauschte nur mit einem Ohr und spürte, wie mich der Mut von Minute zu Minute mehr verließ. Die Reise nach Amerika erschien mir auf einmal nicht mehr wie ein aufregendes Abenteuer, sondern irgendwie – bedrohlich. Ich konnte zwar ganz gut Englisch, aber was würde ich tun, wenn ich die Leute dort nicht verstand, wenn ich das Essen nicht vertrug, krank wurde oder Heimweh bekam? In den fünfzehn Jahren meines Lebens war ich noch nie von zu Hause weg gewesen, mal abgesehen von der einen oder anderen Klassenfahrt, auf der ich aber regelmäßig schreckliche Sehnsucht nach dem Amselhof und meiner Familie bekommen hatte. Ich sah sie lachen, essen, trinken und reden – Melike und ihre Eltern, Tim, seine Mom und seine kleine Schwester, Niklas und seine Eltern, Lajos, den Aknefrosch, Heinrich und Stani, Opa und Oma, Tims Großeltern, Christian und Ariane – und fühlte mich auf einmal wie eine Ausgestoßene. Die Gespräche von Tim, Niklas, Christian, Ariane und dem Aknefrosch drehten sich um die Hessenmeisterschaften, die nächste Woche in Pfungstadt stattfinden würden, und über die Deutschen Meisterschaften in Verden Mitte Juli und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht mit auf diese wichtigen Turniere fahren würde. Das mochte albern sein, schließlich durfte ich bei einer der besten Springreiterinnen der Welt trainieren, aber sechs Wochen waren eine wahnsinnig lange Zeit! Ich würde Twix vermissen und meine Pferde, den Amselhof, Opa und Oma und meine Eltern, aber vor allen Dingen – Tim! Auch wenn wir uns WhatsApps und E-Mails schreiben konnten, so würde ich doch schrecklich weit von ihm weg sein, wenn er mit Christian, dem Aknefrosch und Papa auf Turniere fuhr. Vor allen Dingen störte es mich, wie selbstverständlich Ariane mit meiner Familie und meinen Freunden am Tisch saß, ganz so, als seien die letzten Jahre nie gewesen. Christian hatte sie eingeladen, wahrscheinlich um mich zu ärgern, denn er nahm es mir tatsächlich noch immer übel, dass ich ihm nichts über Brendas Einladung gesagt hatte. Melike meinte, Ariane sei durch die dramatischen Ereignisse auf dem Turnier in Alsfeld geläutert worden, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich ein Mensch von heute auf morgen so vollkommen verändern konnte. Zweifellos hatte ich ihrer Nachhilfe meine gute Note in Mathe zu verdanken und sie war seit Alsfeld wirklich wie verwandelt, trotzdem war da ein Rest von Misstrauen tief in meinem Innern, gegen den ich nichts tun konnte. Ich war fest davon überzeugt, dass Ariane mit ihrem Verhalten irgendetwas bezweckte, denn sie hatte noch nie etwas ohne Grund getan, seitdem ich sie kannte. In einem Winkel meines Herzens flammte meine alte Eifersucht auf, als ich sie da so zwischen Tim und meinem Bruder sitzen und mit ihnen scherzen sah.

Der Abend neigte sich allmählich dem Ende zu. Am nächsten Morgen mussten wir früh aufstehen, denn unser Flug ging bereits um 8:50 Uhr und wir sollten zwei Stunden vorher da sein, obwohl Mama uns bereits online eingecheckt hatte. Koyupinars verabschiedeten sich, auch Schützes brachen auf und nahmen Ariane mit nach Königshofen. Niklas und Tim würden uns zum Flughafen begleiten, deshalb fuhren auch Tim, seine Mutter und seine kleine Schwester los. Lajos umarmte mich und wünschte mir viel Spaß, dann ging er in den Stall, um noch einmal nach zwei neuen Pferdepatienten zu schauen, bevor er nach Hause ins Forsthaus fuhr.