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1913 - oder das Ende der Menschheit

Florian Giese

1913 - oder das Ende der Menschheit

Countdown in die Krise des 20. Jahrhunderts

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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ISBN: 978-3-95894-001-7

© Copyright: Omnino-Verlag, Berlin / 2013

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhalt

Einleitung

Neujahr 1913

25 Jahre Regentschaft Wilhelms II.

Der Kaiser und das Jahr 1912

Januar 1913

Februar 1913

März 1913

April 1913

Mai 1913

Juni 1913

Juli 1913

August 1913

September 1913

Oktober 1913

November 1913

Dezember 1913

Einleitung

Es gibt Jahre, die markieren so wichtige Einschnitte in der Geschichte, dass allein die Jahreszahl wie ein Fanal wirkt. Wer sie hört oder liest und sich nur ein wenig auskennt, der weiß sofort, worum es geht. Obwohl sich natürlich auch in diesen Jahren sehr viel mehr und auch sehr unterschiedliches ereignet hat, stehen sie heute nur noch für ein einziges, großes, alles andere überragendes Ereignis. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts kann mit einigen solcher Jahreszahlen aufwarten: 1914, 1918, 1933, 1939, 1945, 1949, 1961, 1968, 1989, 1990 – sie alle stehen für epochale Ereignisse und Veränderungen. Am Ende des Jahres waren Land und Leute nicht mehr so wie zu seinem Beginn.

Das Jahr 1913 gehört nicht dazu. Es steht erst einmal nur für sich selbst. Es begann, dann passierte dieses und jenes, und schließlich ging es wieder zu Ende. Kein alles überragendes Ereignis, kein Epochenschnitt, keine große Zäsur. Ein langweiliges Jahr, könnte man meinen. Aber das stimmt nicht. Es kann auch gar nicht stimmen, denn komplett langweilige Jahre gibt es nicht. Das Interessante findet sich immer. Und dass es sich gerade auch für das Jahr 1913 finden lässt, ist spätestens seit dem erfolgreichen und lesenswerten Buch von Florian Illies über just dieses Jahr bewiesen.

Illies Idee zu diesem Buch war in gewisser Weise ein kleiner Geniestreich, denn jedem neunmalklugen Kenner der Materie war natürlich völlig klar, dass es über das Jahr 1914 – dem Jahr des Beginns des Ersten Weltkriegs – furchtbar viel zu erzählen gäbe, und dass man sich, der Logik runder Jubiläen folgend, in den Verlagen und Fernsehredaktionen akribisch darauf vorbereitete, im Jahr 2014 das Jahr 1914 ausgiebig zu würdigen. Aber 1913? Das hatte niemand auf der Rechnung. Und wie sollte man dem sensationsverwöhnten Publikum auch ein Jahr nahebringen, in dessen Verlauf weder ein Krieg begonnen oder beendet noch ein Staat gegründet oder aufgelöst noch eine Mauer gebaut oder geöffnet wurde? Illies zeigte jedoch, dass das geht.

Warum dann aber gerade 1913? Warum nicht 1912 oder, sagen wir, 1903 oder 1877? Nun ließen sich gewiss auch über 1903 oder 1877 interessante Dinge schreiben oder über jedes andere beliebige Jahr, das nicht so weit zurückliegt, das wir schlicht und ergreifend nichts mehr darüber wissen. Aber eine kleine Besonderheit hat das Jahr 1913 dann eben doch aufzuweisen. Es liegt eben nicht irgendwo im Niemandsland einer gerade still vor sich hin dümpelnden und in sich ruhenden historischen Epoche, sondern geht, wie wir wissen, dem kommenden großen Knall unmittelbar voraus. Illies hat eben nicht mit der Schrotflinte irgendwo in die historische Pampas geschossen und dabei irgendein beliebiges Ziel getroffen. Er schoss haarscharf am eigentlichen Ziel der historischen Großwildjäger vorbei. Wie ein Schütze, der absichtlich ein paar Zentimeter daneben schießt und zeigt, dass dort auch etwas ist.

Umbrüche, Zäsuren, Epochenschnitte – das ist alles zweifellos interessant. Wir sehen dort scheinbar Festgefügtes einstürzen, Unbewegliches ins Wanken geraten und Menschen, die sich entweder hilfesuchend ducken oder mutig vorwärts ins Freie laufen. Das alles ist spannend. Aber wie ist es mit der Ruhe vor dem Sturm? Woraus zieht sie ihren Reiz? Einen Umbruch wirklich verstehen kann man nur, wenn man weiß, was vorher gewesen ist. Die Behauptung, eine alte Welt sei untergegangen und eine neue entstanden, ist sinnlos, wenn man nicht zumindest eine ungefähre Vorstellung davon hat, was in der alten Welt anders war als in der neuen. Und die Perspektive aus der historischen Rückschau ist dabei sehr bequem. Bequemer zumal als die der Zeitgenossen.

Wenn wir auf das Jahr 1913 blicken, sehen wir Menschen, die aus ihren unterschiedlichen Lebenssituationen heraus versuchen, ihren Alltag zu meistern, ihre Probleme zu lösen und ihren Weg zu gehen. Nicht anders als wir dies heute auch tun. Aber der Blick auf ihr Treiben bringt uns ihnen gegenüber in eine ungeheuer überlegene, privilegierte Position, denn wir wissen bereits, was sie noch nicht wissen, dass nämlich ihr friedliches Leben bald ein jähes Ende nehmen wird, dass ein langer Krieg vor der Tür steht, der in seiner Heftigkeit bis dahin unbekannte Ausmaße annehmen wird, und dass mit dem Ende dieses Krieges die bestehende Ordnung zusammenbrechen und durch eine neue, in vielerlei Hinsicht andersartige Ordnung ersetzt werden wird. Eine Ordnung, die sehr viel mehr Dynamik, aber auch sehr viel mehr Instabilität und Unsicherheit mit sich bringt. Schließlich wird all dies in die Katstrophe des Nationalsozialismus und eines zweiten, noch gewalttätigeren Krieges münden, an dessen Ende die Spaltung der Welt in Ost und West stehen wird. Kaum jemand wird von all diesen Umbrüchen unberührt bleiben. Das Leben ganz vieler wird sich dramatisch verändern. Viele werden gewaltsam ums Leben kommen, manche werden einen dramatischen Aufstieg und manche einen dramatischen Abstieg erleben, manche auch zuerst das eine und dann das andere. Und 1913 ist das letzte noch weitgehend „normale“ und friedvolle Jahr, bevor all diese Umbrüche beginnen.

Es stimmt, dass der Krieg 1914 nicht ganz überraschend kam. Dass es zwischen den Großmächten früher oder später zum Knall kommen würde, hatten viele vorausgesehen und manche sogar herbeigesehnt. Zu stark und unüberwindlich erschienen die Spannungen, zu gegensätzlich die unterschiedlichen Interessen und viel zu gering der Wille, zurückzustecken und sich friedlich zu einigen. Schon mehrfach hatte es in den vergangenen Jahren so ausgesehen, als könne es mit dem Krieg möglicherweise sehr schnell losgehen. Man könnte also sagen, der Krieg sei erwartet worden. Das stimmt in gewisser Weise, und doch stimmt es nicht. Ein Krieg war tatsächlich erwartet worden, aber nicht dieser Krieg. Erwartet worden war zumindest in Deutschland ein kurzer und vor allem siegreicher Krieg. Dass der Krieg vier Jahre dauern und mit einem politischen Zusammenbruch enden würde, ahnte man nicht. Nur wenige dürften die Hellsichtigkeit des britischen Außenministers Edward Grey besessen haben, der Anfang August 1914 seinen berühmten Satz gesagt haben soll „In ganz Europa gehen die Lampen aus, und wir werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen."

Der Krieg war kein Naturereignis. Er wurde von Menschen gemacht. Menschen, die in der Rückschau mitunter den Eindruck erwecken, als hätten sie geradezu vorsätzlich auf die kommende Katastrophe zugesteuert, hätten alles dafür getan, dass das grausige Massaker endlich beginnt. So lesen sich viele Ereignisse der deutschen Politik des Jahres 1913 so, als seien sie nur ein Präludium für 1914, seien quasi schon unmittelbare Kriegsvorbereitung oder Symptom einer aufkommenden Kriegsstimmung in der Bevölkerung. Ob es die Hochrüstung zur See ist, mit der man Großbritannien immer wieder düpierte, oder die Verdächtigungen gegen die Bevölkerung im Elsass, der man eine frankophile Gesinnung unterstellte – immer wieder finden wir Motive, die die Kriegskonstellation des nächsten Jahres in etwas anderer Gestalt schon vorwegzunehmen scheinen, und die nach Kriegsbeginn in gewandelter Form wieder auftauchen. Dennoch sollte man sich hüten, die Dinge allzu sehr von ihrem Ende her zu betrachten. Dass es 1914 tatsächlich zum Krieg kommen würde, wurde 1913 von einigen wichtigen Persönlichkeiten zwar schon gedacht oder vielleicht sogar geplant, war aber noch nicht entschieden. Noch gab es unterschiedliche Wege, die man beschreiten konnte, und auch eine friedliche Entwicklung war immer noch möglich. Neben denjenigen, die einen Krieg wollten oder es zumindest auf ihn ankommen ließen, gab es immer noch jene, die ihn nicht wollten und sich gegen ihn stellten, und ihr letztendliches Scheitern war keineswegs zwangsläufig.

Und dennoch: Wir sind befangen in unserer Sicht der Dinge und können uns nicht frei machen von unserem Wissen darüber, dass wir es hier im Jahre 1913 mit einer untergehenden Welt zu tun haben. Wenn auch das Jahr 1913 selbst noch keinen Umbruch bringt, so wissen wir doch, dass der Umbruch bald schon kommen wird, und wir blicken auf die Menschen von damals, die es nicht wissen. Das ist in mehrfacher Hinsicht interessant, zumal große Umbrüche zwar schnellen Wandel herbeiführen, Altes hinwegfegen und dem Neuen zum Durchbruch verhelfen. Aber oft ist das Neue, das zum Durchbruch gelangt, in der alten Gesellschaft bereits angelegt gewesen und hatte sich im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten schon bis zu einem gewissen Punkt entwickelt. Die Frage also, wie viel Moderne schon in der Vorkriegszeit steckt, ist spannend, und auch hier hat ja Florian Illies gerade für das Jahr 1913 eindrucksvoll demonstriert, dass dies durchaus mehr ist, als man gemeinhin denken mag. So bestechen die Exkursionen in das Jahr 1913 mitunter gerade dadurch, wie nahe uns doch so vieles von dem ist, von dem wir immerhin durch ein Jahrhundert, zwei Weltkriege und vier politische Umbrüche getrennt sind.

Das vorliegende Buch bietet keine geschlossene Darstellung. Die Darstellungsweise ist vielmehr episodenhaft und bietet Schlaglichter auf wichtige Ereignisse des Jahres 1913, wobei Vorgeschichte und Nachwirkung berücksichtigt werden, es also nicht bei einer sturen Betrachtung allein des Zeitraums von Januar bis Dezember 1913 bleibt. Der Auswahl haftet zweifellos immer etwas Subjektives an. Gewiss hätte man hier oder da auch anders auswählen, einen Teil hinzufügen oder einen anderen weglassen können. Gesucht habe ich immer einerseits nach dem Zeittypischen und andererseits nach dem, was über die Zeit hinausweist und für die weitere Entwicklung besonders relevant wurde. Insofern haben sicherlich auch hier schon bei der Auswahl und Darstellung der Themen die Perspektive aus der historischen Rückschau und das Wissen um die spätere Entwicklung hin zum Ersten Weltkrieg eine gewisse Rolle gespielt.

Der Schwerpunkt der Schilderung liegt dabei bewusst bei den politischen Ereignissen, konkret bei den Ereignissen in Deutschland, sodass in erster Linie eine politisch-historische Darstellung von Vorgängen im Kaiserreich im Jahr 1913 entsteht. Anderes wurde nicht gänzlich weggelassen, aber nur berücksichtigt, sofern es von besonderer politischer Bedeutung erschien, wie insbesondere die gewaltsamen Vorgänge auf dem Balkan, die die europäischen Großmächte damals in kaum lösbare Konflikte stürzten. Die deutsche Politik wird vor allem in Hinblick auf Wilhelm II. und die Reichsleitung unter Kanzler Bethmann Hollweg unter die Lupe genommen. Auch hier wird immer wieder die Frage in den Vordergrund rücken, inwieweit schon 1913 bestimmte Weichen gestellt wurden, die im Juli 1914 schließlich in den Abgrund führten. Wichtigste Grundlage hierfür bildete die hervorragende Biographie Wilhelms II. von John C. G. Röhl, die außerordentlich aufschlussreiche und interessante Einblicke in Strukturen und Denkweisen der Berliner Politik jener Zeit ermöglicht.

Die verschiedenen deutschen Parteien des Jahres 1913 werden uns demgegenüber hier allenfalls am Rande begegnen. Insbesondere die SPD tritt gelegentlich auf den Plan, bildete sie doch seit den Wahlen vom Januar 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag und avancierte damit nun endgültig zu einem Gegenspieler, den die Reichsleitung ernst nehmen musste, auch wenn das überkommene politische System, das eine parlamentarische Regierungsweise nicht vorsah, dafür sorgte, dass es den Sozialdemokraten nicht möglich wurde, ihre neue Stärke im Reichstag in entsprechenden politischen Einfluss umzumünzen. Gerade über die SPD im Jahr 1913 ließe sich vieles hinzufügen, zumal ihr langjähriger Vorsitzender August Bebel am 13. August starb und die Wahl seines Nachfolgers Friedrich Ebert im September 1913 einen Generationswechsel an der Parteispitze bedeutete, der zugleich einen wichtigen Eckpunkt in der Geschichte der SPD markiert. Die mir zur Verfügung stehende Zeit hat es aber leider nicht erlaubt, den thematischen Rahmen des Buches noch weiter zu stecken, sodass ich darauf verzichtet habe, mich mit den Parteien der damaligen Zeit im Einzelnen zu beschäftigen.

Noch ein Wort zum Konzept dieses Buches. Es ist chronologisch nach Monaten gegliedert und stellt in diesem Rahmen verschiedene Ereignisse des Jahres 1913 episodenhaft dar. Dieses Konzept ist nicht neu. Es folgt ganz dem Konzept des bereits erwähnten Buchs von Florian Illies über das Jahr 1913, nur durchbrochen durch drei ein wenig anders strukturierte Kapitel am Anfang. Man könnte ihm also nicht ganz zu Unrecht vorwerfen, eine Nachahmung zu sein. Ein solcher Vorwurf wäre kaum zu bestreiten. Was also habe ich zu meiner Verteidigung vorzubringen? Zunächst einmal, dass nur nachgeahmt wird, was offenbar gut war, und dass in der Nachahmung insofern vor allem auch die Anerkennung liegt, dass hier jemand eine Idee gehabt hat, die es wert ist, nachgeahmt zu werden, da die Nachahmung trotz der Wiederholung, die zwangsläufig in ihr liegt, offenbar besser erscheint als eine schlechtere Neukonzeption. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, ob dieses Argument als Rechtfertigung für Nachahmungen taugt, zumal für Nachahmungen ausgesprochener Erfolgsbücher. Besser erscheint mir jedoch – zumindest aus meiner eigenen, ganz persönlichen Perspektive – mein zweites Argument, denn bekanntlich ist es bei einer Missetat immer gut, wenn man jemanden hat, den man als den eigentlich Schuldigen ausmachen kann. Und den habe ich. Die Idee zu diesem Buch ist nämlich ursprünglich nicht von mir, sondern vom Verleger des Vergangenheitsverlages, Herrn Alexander Schug, ausgegangen, der sie freundlicherweise an mich herangetragen hat. Ihm allein also gebühren das Verdienst und die Ehre, den Impuls zu diesem Buch gegeben zu haben, ohne den es zweifellos nicht geschrieben worden wäre. Und ihm allein gebührt insofern auch die Schmach, bei Florian Illies in Hinblick auf das Grundkonzept des Buches gnadenlos abgekupfert zu haben oder mich zumindest dazu angestiftet zu haben. Ich selbst wasche meine Hände natürlich in Unschuld.

Einen auffallenden Unterschied zum Konzept von Florian Illies gibt es allerdings. Sein Buch setzt sich insbesondere mit kulturgeschichtlichen Episoden des Jahres 1913 auseinander. Im Gegensatz dazu wird es im hier vorliegenden Buch – wie schon gesagt – in erster Linie um politische Ereignisse gehen. Daraus könnte man nun einen fundamentalen Unterschied im theoretischen Grundansatz ableiten. Man könnte argumentieren, wie unzureichend ein rein kulturhistorischer Zugang zur Vergangenheit ist, und wie wichtig es demgegenüber ist, die politikgeschichtliche Komponente hochzuhalten und die Relevanz von politischen Entscheidungen für den Verlauf von Geschichte herauszustellen. All dies könnte man in der Tat tun. Ich will es aber nicht tun. Ich habe das Buch von Florian Illies mit Interesse und Gewinn gelesen. Vieles war mir durchaus neu und sehr lesenswert. Da es sich ja nicht an irgendeine Fachwelt, sondern an ein breites Publikum richtete, hat es durch seinen erstaunlichen Erfolg auch seine Mission durchaus mehr als erfüllt. Und dass es politische Ereignisse in seiner Darstellung weitestgehend außer Acht gelassen hat, bietet die willkommene Gelegenheit, hierzu etwas nachzuliefern. Wenn dabei zugleich auch die politische Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs ein Stück weit zur Geltung gebracht werden würde, wäre das ein sehr gewünschtes Ergebnis. Doch auch dieses Buch richtet sich nicht an eine Fachwelt, und neben der Darbietung interessanter Analyse und Information soll es zugleich – und das nicht zuletzt – auch etwas anderes bieten, und das ist eine möglichst gute Unterhaltung.

Ich widme dieses Buch meiner Mutter, die sehr krank war, als ich es schrieb. Oft saß ich neben ihr und schrieb – zunächst, als es ihr noch ganz gut ging, und dann, als es schlechter wurde. Die Texte in diesem Buch erinnern mich an diese Zeit. Als klar wurde, dass meine Mutter nur noch sehr kurze Zeit leben würde, beendete ich das Schreiben. Die Prioritäten waren nun andere geworden. Jetzt, wo das Manuskript erscheint, ist sie schon nicht mehr hier. Die Freude des Schreibens und die Trauer des Abschieds verbinden sich für mich in diesem Text.

Neujahr 1913

Am 1. Januar 1913 schrieb der bekannte liberale Politiker und Theologe Friedrich Naumann im Berliner Tageblatt: „Es rollt auch die Geschichte der Menschen weiter und fließt über einen Neujahrstag hinweg wie das Wasser über die runden kleinen Steine. Man schaut ein paar Augenblicke von der Arbeit auf, legt Werkzeug, Nadel oder Feder auf den Tisch und nickt sich zu: Glückliches neues Jahr! Prosit, prosit! Dann aber ist man sofort wieder im Getriebe, denn alle Menschen sind jetzt eilig. Sie wollen ihr Leben auskosten, wollen viel thun, verdienen und genießen. Das durchschnittliche Leben wird, wie uns die Statistik sagt, länger als es früher war, seine Verlängerung wird aber nicht in Ruhepausen angelegt. Es ist, als flögen wir davon.“

Das Europa der gekrönten Häupter, die vordemokratische Welt des Adels, der dynastischen Verbindungen, der höfischen Kultur, der Satisfaktion und des Duellierens, der standesgemäßen und unstandesgemäßen Verbindungen – kurz das, was man später das „alte Europa“ nennen sollte –, es existierte noch immer. Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, der Erste Weltkrieg, der all dies hinwegfegen würde, stand noch bevor. Die Moderne aber, die Zeit der Massengesellschaft, der Industriekultur, der Welt der Arbeiter und Angestellten, in der der einzelne wie ein Rädchen im Getriebe erschien und zugleich sein Leben auskosten, „verdienen und genießen“ wollte, wie Naumann schrieb, die Zeit, in der die Menschen mit der Uhr in der Hand durch die großen Städte eilten und im Massenverkehr von Termin zu Termin hetzten, diese Zeit hatte schon längst begonnen. Das Alte war noch nicht vergangen, das Neue aber schon da.

*

Einen Tag nach den Betrachtungen Naumanns berichtete das Berliner Tageblatt über den Neujahrstag in der Reichshauptstadt. „Nach alter Sitte wurde gestern die Neujahrsfeier im Schlosse begangen“, vermeldete es unter der Rubrik „Lokales und Vermischtes“. „Gegen 8 Uhr morgens wurden auf dem Königlichen Schlosse die Kaiserstandarte, die Königsstandarte und die brandenburgische Flagge gehißt. Das Trompetenkorps des 2. Garde-DragonerRegiments blies von der Galerie der Schloßkuppel den Choral ‚Lobe den Herrn‘.“

Weiter wusste das Blatt zu berichten: „Der Kaiser und die Kaiserin waren um 8½ Uhr im Automobil vom Neuen Palais abgefahren und trafen gegen 9½ Uhr im Berliner Schloß ein.“ Dort fand nun die Neujahrszeremonie statt: „Der Kaiser und die Kaiserin traten vor die Stufen des Thrones, dessen zwei Sessel von Leibpagen flankiert wurden, die Prinzen traten rechts, die Prinzessinnen links neben den Thronhimmel, und während Märsche und Polonaisen ertönten und die Leibbatterie des 1. Gardefeldartillerieregiments im Lustgarten einen Salut von 101 Schuß abfeuerten, begann die Gratulationsdefiliercour. Dem Reichskanzler reichte der Kaiser dabei die Hand, ebenso dem Reichstagspräsidenten Kaempf, dem Herrenhauspräsidenten v. Wedel und dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses Grafen Schwerin-Löwitz.“

Später wurde die Zeremonie auf der anderen Seite der Linden fortgesetzt: „Um 12½ Uhr ging der Kaiser, der das Band des Schwarzen Adlerordens über dem Mantel trug, gefolgt von seinen sechs Söhnen und den Herren des Hauptquartiers, zu Fuß nach dem Zeughaus hinüber. Das Zeppelinluftschiff ‚Hansa‘ überflog den Lustgarten.“ Es folgten – allerdings erst zur Mittagszeit – eine Frühstückstafel und schließlich ein Treffen des Kaisers mit den Botschaftern. Die monarchische Welt war hier noch in Ordnung. Alles war noch so wie in der guten alten Zeit. Zumindest gab man sich diesen Anschein. Nur das Auto, mit dem der Kaiser von Potsdam nach Berlin herangerauscht war, hatten seine Vorfahren natürlich noch nicht gehabt. Und erst recht kein Zeppelinluftschiff „Hansa“. Wilhelm II. war ein Traditionalist, aber die moderne Technik faszinierte ihn.

Darüber hinaus forderte der Wandel der Zeiten nur hier und da seinen Tribut. Dass der König von Preußen zum Neujahrstag einen Parlamentspräsidenten empfing, hätte es unter Friedrich dem Großen und auch noch unter Friedrich Wilhelm IV., der die Vertreter der Nationalversammlung von 1848 zwar empfangen, ihr Ansinnen aber, ihn zu einem demokratisch gewählten „Kaiser der Deutschen“ zu machen, strikt abgelehnt hatte, natürlich nicht gegeben. In der alten Zeit gab es keine Parlamente, und das war auch gut so, wie der Kaiser meinte, denn eine solche demokratische Quasselbude, wie es sie nun mit dem Reichstag gab, war eigentlich ganz unnötig. Das preußische Abgeordnetenhaus immerhin war nicht ganz so demokratisch, denn es wurde nach Dreiklassenwahlrecht gewählt. Auch daran aber wurde von den demokratischen Parteien seit Jahren, ja eigentlich schon seit Jahrzehnten, herumgemäkelt. Dabei sollten sie doch zufrieden sein, immerhin hatte es bis 1848 überhaupt kein preußisches Abgeordnetenhaus gegeben. Die alten Zeiten waren eben doch besser gewesen!

25 Jahre Regentschaft Wilhelms II.

Der Kaiser verband das Jahr 1913 mit einem Datum, das für ihn persönlich sehr wichtig war. Es war das Jahr seines fünfundzwanzigjährigen Thronjubiläums. Ein Vierteljahrhundert war es nun her, dass zuerst sein Großvater Wilhelm I. und kurz darauf auch sein Vater Friedrich III., der nur ganze 99 Tage und schon schwer vom Kehlkopfkrebs gezeichnet auf dem Thron gesessen hatte, gestorben waren. Erst 29 Jahre alt war Wilhelm gewesen, als er beiden gefolgt und Deutscher Kaiser und König von Preußen geworden war. Nun stand er kurz vor seinem 54. Geburtstag. Damals, als er den Thron bestiegen hatte, war noch der alte Bismarck im Amt gewesen, der schon in Wilhelms Kindertagen preußischer Ministerpräsident gewesen war – zu einer Zeit, in der Deutschland noch in unzählige Kleinstaaten zerteilt und zerfasert war.

Nach der Reichsgründung von 1871 war Bismarck Reichskanzler geworden und hatte unter Wilhelms Großvater, der nun nicht mehr nur König von Preußen, sondern auch Deutscher Kaiser war, eine solche Machtfülle erreicht, dass nicht der Kaiser, sondern der Kanzler der eigentliche Herr im neuen Reich zu sein schien. So sehr Wilhelm II. seinen verstorbenen Großvater auch verehrte, er nannte ihn „Wilhelm den Großen“, und so gut er auch selbst in seiner Kronprinzenzeit mit Bismarck zusammengearbeitet hatte – mit dieser verkehrten Welt hatte er nach seiner Thronbesteigung Schluss gemacht. Immerhin noch fast zwei Jahre hatte er Bismarcks Selbstherrlichkeit und Überheblichkeit mitangesehen, dann hatte er ihn entlassen und die Zügel selbst in die Hand genommen. Von nun an hatte er keinen Zweifel mehr daran aufkommen lassen, dass er, der Kaiser, den Ton im Reich angab, und nicht irgendwelche Politiker. Bismarcks Nachfolger Caprivi hatte denn auch nicht einmal annähernd die Machtfülle seines Vorgängers erhalten und war auch nur ganze vier Jahre im Amt geblieben. Das persönliche Regiment Kaiser Wilhelms II. hatte begonnen. Schließlich hatten auch die Ahnen des Kaisers, der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große, die starken Preußenkönige des 19. Jahrhunderts, die Fäden der Macht stets selbst in der Hand behalten. Und an der Stellung des Monarchen an der Spitze des Staates hatte sich seitdem nichts Grundlegendes geändert.

So sah es jedenfalls Wilhelm, und er hielt an dieser Ansicht fest, obwohl er dafür nicht gerade übermäßig viel Beifall erhielt. Ganz im Gegenteil. Immer wieder musste er sich in der Öffentlichkeit vorhalten lassen, seine Auffassungen seien überholt und nicht mehr zeitgemäß. In einer modernen Monarchie kämen dem Monarchen vor allem repräsentative Aufgaben zu, während er sich aus der Tagespolitik besser heraushalten solle. Wilhelm sah das ganz anders. Als Deutscher Kaiser, als derjenige, den die Vorsehung Gottes an die Spitze des deutschen Volkes gestellt hatte, hatte er sich natürlich mit voller Kraft um die Politik des Reiches zu kümmern – wer sollte ihm dies auch verwehren? Und natürlich äußerte er sich auch öffentlich darüber, wie er die politischen Fragen der Zeit beurteilte, wie er sie sah, einschätzte und bewertete. Das war doch klar.

In der Vergangenheit hatte ihm dieser Anspruch schon sehr viel Ärger eingebracht. Vor gut vier Jahren, Ende Oktober 1908, war es darüber sogar zu einer schweren politischen Krise im Reich gekommen. In einem Interview mit dem Daily Telegraph hatte sich Wilhelm gegenüber Großbritannien so anbiedernd und zugleich so prahlerisch und überheblich geäußert, dass es der deutschen Öffentlichkeit unendlich unangenehm und peinlich gewesen war. Er sei ein Freund Englands, obwohl er damit zu einer Minderheit in Deutschland gehöre, hatte der Kaiser erklärt. Immer wieder habe er die Engländer seiner Freundschaft versichert, sie aber benähmen sich wir irre und hielten an ihrem Misstrauen fest. Das stelle seine Geduld auf eine harte Probe, und er empfinde dies als persönliche Kränkung. Die Wende im Burenkrieg im Jahr 1900, so hatte er im Interview mehr als nur angedeutet, hatten die Briten eigentlich nur ihm und seiner heimlichen Unterstützung zu verdanken. Sogar die siegreiche britische Kriegsführung sei offenbar auf einen von ihm persönlich entwickelten Schlachtplan zurückzuführen, den er seiner geliebten Großmutter, der britischen Königin Viktoria, heimlich zugesandt habe. Russland und Frankreich dagegen, die sich offiziell als Bündnispartner Englands gaben, hatten hinter dem Rücken der Briten versucht, ihn für eine gemeinsame Politik gegen London zu gewinnen. Sie hatten die Buren unterstützen und England in den Staub demütigen wollen. Auf so etwas aber hatte sich der Deutsche Kaiser natürlich nicht eingelassen, sondern London sofort über den Vorgang informiert. Und über die Aufrüstung der deutschen Flotte, die man in London als so bedrohlich empfand, würden die Briten eines Tages vielleicht sogar froh sein, wenn sie möglicherweise einmal zusammen mit den Deutschen gegen Japan oder China vorgehen würden.

Diese Anmaßungen und Indiskretionen waren dem deutschen Publikum so sehr auf den Magen geschlagen, dass zwischenzeitlich sogar die Tage von Wilhelms Herrschaft gezählt zu sein schienen. In einem einzigen Interview hatte der Kaiser nicht nur Großbritannien, sondern zugleich auch Frankreich, Russland, Japan und China düpiert. Der Schaden für die deutsche Außenpolitik war kaum zu überschätzen. Im Reichstag waren die Parteien daraufhin allesamt über ihren Souverän regelrecht hergefallen. Sogar Reichskanzler von Bülow hatte sich öffentlich von ihm distanziert. Dabei hatte Wilhelm doch – ganz wie es die Verfassung verlangte – das Interview vor der Veröffentlichung an den Reichskanzler geschickt, und der hatte es für unbedenklich gehalten und an Wilhelm zurückgesandt, so dass dieser es freigegeben hatte. Im Nachhinein hatte sich indes herausgestellt, dass von Bülow, wie er nun zumindest behauptete, den Text gar nicht gelesen, sondern ihn nur – entgegen der ausdrücklichen Anweisung des Kaisers – an das Auswärtige Amt weitergeleitet hatte, wo man lediglich oberflächlich drübergesehen und nichts Wesentliches zu beanstanden gehabt hatte. Nun tat der Kanzler so, als habe er mit dem ganzen Desaster nichts zu tun. Und nicht nur das. In einem quälenden Gespräch mit dem Kaiser zählte er jetzt dessen zahlreiche Verfehlungen und missglückten Äußerungen in den vorangegangenen Jahren auf und deutete mehr oder weniger verklausuliert an, dass Majestät gegenüber der Presse doch künftig am besten den Mund halten mögen.

Für Wilhelm war all das schwer zu ertragen gewesen. Er hatte es doch nur gut gemeint, hatte die deutsch-britischen Beziehungen ernsthaft verbessern wollen, an denen ihm doch ehrlich und aufrichtig gelegen war. Dann aber hatte er wie ein abgemeierter Schuljunge dagestanden, als ein unberechenbarer und peinlicher Faktor der deutschen Außenpolitik, ja sogar als Sicherheitsrisiko. Die Parteipolitiker im Reichstag, diese Hundskerle und Affen, hatten ihre Tiraden gegen ihn losgelassen. Und die Journalisten, diese Tintenkleckser, hatten ihn in der Presse runtergeschrieben. Am schlimmsten an all dem aber war vielleicht, dass er vor seinem Volk, das ihn doch aufrichtig liebte und verehrte, der Lächerlichkeit preisgegeben worden war. Von diesem Schlag hatte er sich lange nicht erholen können. Er war in Depressionen verfallen, hatte sich tagelang zurückgezogen, ins Bett gelegt, Baldrian geschluckt und niemanden mehr sehen wollen. Und er hatte ganz ernsthaft über Abdankung nachgedacht und schon mit seinem ältesten Sohn, dem Kronprinzen Wilhelm, darüber gesprochen, der ihm dann auf den Thron gefolgt wäre. Eine furchtbare Zeit war das!

All das lag nun schon wieder vier Jahre zurück. Die Zeit war darüber hinweggegangen, die Wogen hatten sich geglättet, und er war auf dem Thron geblieben. Dem Reichskanzler aber hatte er sein Verhalten in der Affäre nicht vergessen. Ausgerechnet von Bülow, der ehedem so treue Diener Seiner Majestät, sein Bülowchen, hatte ihm diesen Verrat angetan! Als von Bülow im Juni 1909 – ein halbes Jahr nach der Daily-Telegraph-Affäre – mit seiner Reichsfinanzreform im Reichstag gescheitert war, war dies die willkommene Gelegenheit, den unverschämten und treuelosen Kerl endlich loszuwerden. Nur einen geeigneten Nachfolger hatte Wilhelm noch finden müssen. Das allerdings war nicht gerade einfach gewesen. Die Suche hatte sich hingezogen. Etliche Aspiranten waren in Betracht gezogen und dann wieder fallengelassen worden. Einer kam aus diesem, ein anderer aus jenem Grund nicht infrage. Mehrere Kandidaten hatten abgesagt. Und so ging es weiter. Schließlich kam Wilhelm auf einen Vorschlag zurück, den der entlassene von Bülow selbst gemacht hatte: sein Stellvertreter, der Staatsekretär des Innern Theobald von Bethmann Hollweg sollte neuer Reichskanzler werden!