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Über dieses Buch:

Es fängt so harmlos an: Als Tamara nach Hause kommt, findet sie einen großen Umschlag in ihrem Briefkasten. Doch darin findet sich keine Rechnung oder Werbung, sondern das handgeschriebene Tagebuch einer Frau, die im 18. Jahrhundert lebte. Wer war diese geheimnisvolle Sophie Ashford – und wer hat ein Interesse daran, dass Tamara ihre Lebensgeschichte kennt? Die junge Frau beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. So lernt sie den mysteriösen Dorian Everheard kennen. Ein Blick aus seinen Augen, und sie ist hingerissen; ein Wort von seinen Lippen, und sie will in seinen Armen liegen. Aber die ungezügelte Leidenschaft bringt Tamara in größte Gefahr, denn Dorian gehört der Condannato-Loge an – einem mächtigen Vampirbund ...

Gestern, heute, morgen: Sandra Henke und Kerstin Dirks erzählen in der Condannato-Trilogie von unstillbarem Verlangen und lodernden Gefühlen, die Jahrhunderte überdauern. Die Trilogie umfasst die Bände »Die Condannato-Trilogie – Erster Band: Begierde des Blutes«, »Die Condannato-Trilogie – Zweiter Band: Zähmung des Blutes« und »Die Condannato-Trilogie – Dritter Band: Rebellion des Blutes«

Über die Autorinnen:

Sandra Henke, geboren 1973, gehört zu den Autorinnen, die sich nicht auf ein Genre beschränken, sondern ihre Leserinnen auf die unterschiedlichste Art begeistern – mit großen Liebesgeschichten, mit »Paranormal Romance« und erotischer Literatur. Unter dem Namen Laura Wulff veröffentlicht Sandra Henke außerdem erfolgreich Thriller. Sie lebt, glücklich verheiratet, in der Nähe von Köln. Mehr Informationen finden sich auf den Websites der Autorin (www.sandrahenke.de), auf Facebook (https://www.facebook.com/sandra.henke.autorin) und auf Instagram (www.instagram.com/sandra.henke.liebesromane).

Bei dotbooks veröffentlichte Sandra Henke die Hot-Romance-Romane »London Lovers – Geheime Verführung«, »Jenseits aller Tabus«, »Flammenzungen«, »Die Maske des Meisters«, »Opfer der Lust«, »Loge der Lust«, »Lotosblüte« und »Vampire's Kiss – Gebieter der Dunkelheit« und die Contemporary-Romance-Highlights »Wo mein Herz dich sucht«, »Wer mein Herz gefangen nimmt«, »Wenn mein Herz dich findet« und »Was mein Herz sich wirklich wünscht« sowie den Sammelband »Fürstenkuss«, der die romantischen Romane »Verbotene Küsse«, »Prinzessin unter falschem Namen« und »Obwohl ich dich nicht lieben wollte« vereint. Unter dem Namen Laura Wulff veröffentlichte Sandra Henke bei dotbooks die Thriller »Leiden sollst du«, »Nr.13« und »Opfere dich«.

Kerstin Dirks, 1977 in Berlin geboren, hat eine Ausbildung zur Bürokauffrau absolviert und Sozialarbeit studiert. Sie schreibt seit vielen Jahren erotische Romane, historische Liebesromane und Fantasy.

Bei dotbooks veröffentlichte Kerstin Dirks bereits die erotischen Romane »Wilde Sehnsucht« und »Eiszart«.

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Neuausgabe Januar 2015

Copyright © der Originalausgabe 2005 Plaisir d'Amour Verlag, Lautertal

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock / CURAphotography

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95824-078-0

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Sandra Henke & Kerstin Dirks

Begierde des Blutes

Erster Band der Condannato-Trilogie

dotbooks.

Prolog

Wer immer dieses Buch eines Tages in den Händen halten mag, wird die Geschichte einer alten Närrin lesen, die ihr Leben lang an die unsterbliche Liebe glaubte. Längst ist sie nicht mehr die, die sie einst war. Ihre Hände sind alt und runzelig, ihr Gesicht trägt Falten und ihr Rücken ist so krumm wie der einer Kräuterhexe. Er hingegen wird immer jung und schön sein, so lange wie Himmel und Erde bestehen.

Dies ist meine Geschichte. Ich widme sie dir, mein dunkler Engel, und unserer gemeinsamen Zeit. Ich wünschte, ich könnte dich noch einmal sehen, noch einmal deine kalte Elfenbeinhaut unter meinen Fingern spüren, bevor mich der Herrgott zu sich nimmt. Du bist ein Teil von mir geworden, obwohl uns so viele Jahre trennen. Irgendwo dort draußen bist du. Denkst du manchmal noch an mich?

Kapitel 1

Es war das Jahr 1783. England hatte die Unabhängigkeit der amerikanischen Staaten anerkannt, und es herrschte bereits seit sieben Jahren Frieden. Unter König George III. führten die Menschen ein ruhiges Leben. Obwohl London nach dem großen Brand vor über 100 Jahren fast vollständig zerstört worden war, hatte sich die Stadt zu einem der bedeutendsten Handelsorte der Welt entwickelt. Der Verkehr im Hafen war rege. Täglich legten Handelsschiffe an und genauso viele stachen in See, um englische Waren, vorzugsweise Tee, in die Welt zu exportieren.

Wer indische Kleider und Stoffe, exotische Gewürze und antike Tonkrüge suchte, der fand sie hier, in der Stadt an der Themse.

Ich war ein junges Mädchen von 18 Jahren, halb Kind, halb Frau. Unschuldig und voller Träume. Ich wartete auf einen Prinzen in strahlender Rüstung, der mein Herz im Sturm eroberte. Wie sollte ich ahnen, dass ich ihm in jener schicksalhaften Novembernacht tatsächlich begegnen sollte?

Die untergehende Sonne färbte den Himmel blutrot, als ich das westliche Stadttor in Richtung Westminster passierte. Fest presste ich die kleine Holzschüssel mit der Paste aus Johanniskraut und Baldrian an meine Brust. Ich atmete die beruhigend wirkenden Dämpfe ein, die Elisa in den Schlaf wiegen würden.

Der Heilkundler Phillip Collins war ein Freund der Familie. Selbst zu später Stunde durften wir ihn in seinem kleinen Haus in der Nähe der Saint Paul's Cathedral aufsuchen, wenn wir seine Hilfe brauchten. Collins hatte mir seine »Wundersalbe«, wie er sie selbst nannte, mitgegeben, ohne eine Bezahlung zu verlangen! »Behalte deine Münzen, Kind, und kauf dir ein schönes Plissee mit Pelzeinsatz, der Winter wird kalt.«

Mein Atem hinterließ Spuren in der abendlichen Luft, die nach und nach immer mehr abkühlte. Collins hatte recht, ein kalter Winter stand uns bevor. Dichter Nebel überzog die Wiesen und Felder. Wolkenlos stand der Mond am Himmel. Ich legte einen Schritt zu. In dieser Wildnis fühlte ich mich wie ein Reh, dem die vereinzelten Birkenwäldchen keinen Schutz vor Wölfen boten.

Ich keuchte. Martha hatte mir den Schnürleib viel zu eng gezogen. Schmerzhaft schnürte sich das Korsett in meine Taille und raubte mir die Luft. Doch Rücksicht auf meine gepeinigten Lungen durfte ich nicht nehmen. Elisa verließ sich auf mich. Sie brauchte meine Hilfe!

Erleichtert atmete ich auf, als ich endlich die beiden Haupttürme von Westminster Abbey in der Ferne erkannte. Jetzt war es nicht mehr weit. Die Qual würde ein Ende haben.

Am Waldrand saßen zwei Landstreicher auf einem umgekippten Baumstamm, nur hundert Schritt vom Stadttor entfernt. Ein Lagerfeuer brannte in ihrer Mitte. Während sich der eine in eine Wolldecke hüllte, wärmte der andere seine Hände über den rotzüngelnden Flammen. Vorsichtig näherte ich mich den Gestalten, die mir auf den ersten Blick nicht ganz geheuer waren.

»Verflucht, das wird eine verdammt kalte Nacht«, hörte ich den Mann mit den breiten Schultern sagen. Zischend zog er seine Hand zurück. Ein Funke hatte sich in seine Haut gesengt.

»Recht hast du, Jack. Recht hast du«, sagte das Geiergesicht neben ihm. Die Nase des dürren Wichts war krumm und erinnerte an den Schnabel eines Habichts. Ich entschied mich, einen Bogen um die sonderbaren Gesellen zu machen. Genau in diesem Moment entdeckten sie mich.

»He, Mädchen! Bleib doch mal stehen«, rief der breitschultrige Goliath und erhob sich eilig. Ich drehte mich um und spürte einen kalten Schauer meinen Rücken herunterlaufen. Er war wahrhaftig ein Riese. Ich reichte ihm nicht einmal bis zur Brust, als er in seiner vollen Größe vor mir stand. Goliath stank nach Alkohol und Schweiß. Eine Kombination, die Übelkeit in mir hervorrief. Dennoch machte ich gute Miene zum bösen Spiel, was blieb mir auch anderes übrig? Ich wollte die Männer nicht reizen.

»Mylady, meinem Freund Mortimer und mir ist es eine große Freude, Euch in dieser herrlichen, sternenklaren Nacht zu begegnen. Wir haben viel zu selten das Vergnügen, Bekanntschaft mit der holden Weiblichkeit zu machen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Dürfen wir Euch an unser Lager bitten? Schlagt uns den Wunsch nicht ab, Mylady«, rief das Geiergesicht und machte eine einladende Handbewegung in Richtung Baumstamm. Sein Grinsen war dreckig. Ich schätzte, dass ihm die Hälfte seiner Zähne fehlte.

»Tut mir sehr leid, meine Herren, aber meine Schwester erwartet meine Rückkehr. So gern ich Euch auch Gesellschaft leisten würde.«

Eilig machte ich einen Schritt nach vorn. Ich wollte nur fort, so schnell wie möglich. Von den beiden Männern ging etwas Unheimliches aus. Sie waren läufig wie wilde Hunde. Die Gier in den Augen des Riesen war nicht zu übersehen. Er zog mich förmlich mit seinen Blicken aus.

Schon spürte ich eine kräftige Hand auf meiner Schulter, die mich nicht nur am Weitergehen hinderte, sondern sogar ein Stück in den Boden drückte. Ich hielt den Atem an.

»Aber, aber. Mylady, wo bleiben denn Eure Manieren? Ihr könnt unsere freundliche Einladung doch nicht einfach ablehnen.«

Der Geier erhob sich und schlich um mich herum wie ein Raubtier, das seine Beute umkreist. Ich spürte jeden seiner prüfenden Blicke. Seine Augen klebten an meinen Brüsten.

»Du bist ja eine Süße!«, sagte er und streckte seine spindeldürren Finger nach mir aus. Sekundenlang konnte ich mich nicht regen. Ich war wie erstarrt. Seine Hand streichelte sanft über den Leinenstoff meiner Chemise, folgte den Wölbungen und packte plötzlich ohne Vorwarnung fest zu. Tief bohrte er seine Finger in mein Fleisch und lachte abscheulich.

»Sieh nur, Jack. Das gefällt der kleinen Metze. Ihre Knospe wird ganz steif.«

»Lasst mich los, ihr verdammten Mistkerle! Ihr widerliches Pack.«

Ich versuchte nach dem Geier zu schlagen, doch Goliath riss meine Arme nach hinten, so dass mir die Holzschale aus der Hand fiel und drückte meinen Oberkörper in horizontaler Lage nach unten. Mein Kopf schwebte in unangenehmer Nähe vor der ausgebeulten Hose des Geiers.

Mortimer packte mein Kinn und riss es ein Stück hoch, so dass ich gezwungen war, ihm in die Augen zu sehen. Gott, diese ekelhafte Gier ließ mich würgen.

»Ich habe langsam das Gefühl, wir sind dir nicht gut genug, Schätzchen. Hältst dich wohl für etwas Besseres. Aber eine feine Dame bist du auch nicht! Glaube mir, wir können's dir richtig besorgen. Schneller und härter als jeder andere Kerl in der Gegend. Du wirst vor Lust schreien!«

Panik stieg in mir hoch. Diese Schufte würden ihre Drohung doch hoffentlich nicht wahr machen. Ohne länger darüber nachzudenken, schrie ich so laut ich nur konnte um Hilfe. Mein eigener Schrei schmerzte in meinen Ohren.

»Halt der dummen Metze das Maul zu, sonst hört uns noch die Stadtwache«, keifte das Habichtgesicht, das sich offenbar von meiner Ablehnung persönlich beleidigt fühlte.

Mein Herz raste vor Angst, als sich die Hand des Riesen auf meinen Mund legte.

»Bringen wir sie in den Wald«, sagte Goliath, hob mich hoch und klemmte mich wie eine leblose Puppe unter seinen Arm.

Ich wusste, dass die beiden Männer in diesem Moment eine stumme Abmachung getroffen hatten. Sie verschleppten mich ins Unterholz. Äste peitschten mir ins Gesicht. Der Schmerz war unerträglich. Goliath rutschte auf dem feuchten Grund aus und stürzte. Dabei ließ er mich fallen. um sich mit beiden Händen abzufangen. Ich rollte gegen einen Baumstamm und blieb reglos am Boden liegen. Ich hörte nichts, außer meinem eigenem Atem. Schnell und unrhythmisch.

Ich konnte nicht die Kraft aufbringen, einfach aufzustehen und fortzulaufen. Meine Glieder waren wie gelähmt. Ich wusste, die Männer hätten mich mit Leichtigkeit wieder eingeholt. Nach dem langen Fußmarsch von London bis nach Westminster war ich viel zu erschöpft, um Gegenwehr zu leisten.

Zwei Gesichter beugten sich über mich. Ich sah das lüsterne Funkeln in ihren Augen und das schadenfrohe Grinsen auf den aufgesprungenen Lippen.

»Schreien hilft dir nicht, Goldlöckchen. Hier wird dich niemand finden«, krächzte das Geiergesicht und zog ein dreckiges Messer aus seinem Hosenbund. Er hielt es mir vor das Gesicht und drehte es quälend langsam hin und her. Die Metallspitze drückte er auf meine Wange, bis ein Tropfen Blut aus der Wunde quoll. Wollte er mich entstellen? Ich biss mir auf die Unterlippe und hielt die Luft an. Erst als er die Waffe lachend wegnahm, atmete ich erleichtert auf.

»Bitte, tut mir nichts ...« Meine Stimme klang heiser. Ich konnte sie selbst kaum hören. Die Landstreicher ignorierten mein Flehen.

»Du bist wirklich sehr schön.« Der Riese kniete sich zu mir und streichelte über meine schweißnasse Brust. Fast liebevoll fuhr er mit der Fingerspitze die Konturen meines Körpers entlang. Ich empfand nur Ekel. Angewidert biss ich die Zähne zusammen und warf den Kopf zur Seite. Ich wusste, was diese Mistkerle vorhatten. Instinktiv presste ich die Beine fest zusammen.

»Jetzt hab dich nicht so«, zischte das Vogelgesicht ungeduldig. »Mach sie auf!«

»Bitte, nicht!«

»Das hast du dir alles selbst zuzuschreiben. Wärst du nicht so ungezogen gewesen, müssten wir dich nicht bestrafen.«

Ehe ich auch nur reagieren konnte, beugte sich Goliath über mich. Mit der einen Hand umfasste et meinen Hals, um mich am Boden zu halten, mit der anderen drückte er meine Beine auseinander und griff in meinen Schritt. Seine Finger bahnten sich ihren Weg an den Stofflagen vorbei und gruben sich in meine Haare. Tränen stiegen mir in die Augen. Es tat so weh. Je mehr ich versuchte mich zu wehren, die Beine anzuziehen oder nach ihm zu treten, desto stärker wurde sein Griff um meinen Hals und das Reißen an meiner Scham.

»Zier dich nicht so, meine kleine Hure. Du willst es doch auch.«

»Natürlich will sie es, Jack. Alle Frauen wollen es. Hart und fest. Ohne Gnade.«

Plötzlich huschte ein dunkler Schatten durch das Labyrinth aus Bäumen. Laub wirbelte auf Einzelne Blätter segelten durch die Luft. Die Männer hielten inne. Irritiert blickten sie in die Dunkelheit. Stand dort jemand im Schatten der dicken Buchen, die ihre blätterlosen Kronen wie Arme in den Himmel reckten?

»Zwei Männer gegen eine Frau. Alle Achtung, meine Herren, ihr seid ganze Kerle.«

Augenblicklich zückte Mortimer sein Messer und hielt es drohend in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Habichtgesicht glänzte im Licht des Mondes.

»Wer, zum Henker, ist das?«, knurrte Jack und lockerte den Griff an meiner Kehle. Jetzt konnte auch ich die Gestalt im Dunkeln sehen. Schemenhaft. Ein Mann. Ja, zweifelsohne eine schlanke. große Gestalt. Der Nebel machte es mir schwer, sein Gesicht zu erkennen.

Schmatzend leckte der Geier mit der Zunge über die rostige Klinge. »Ich erledige das«, sagte er zu seinem Kumpanen und lief festen Schrittes auf den Fremden zu. Dabei spielte er mit dem Messer in seiner Hand und wirbelte es geschickt durch die Luft.

Ich wollte meinen Retter warnen. Ihm zurufen, dass Mortimer bewaffnet war. Doch Goliath wusste das zu verhindern. Mit brachialer Gewalt presste er mir seine Hand auf den Mund. Ich glaubte, der Druck, den er auf mich ausübte, würde meinen Schädel zum Zerbersten bringen. Außer einem gequälten Stöhnen brachte ich nichts heraus. Innerlich verabschiedete ich mich von meinem Leben. Die Chancen, dass mein Retter ebenfalls bewaffnet war und den Kampf auch noch gewann, waren schwindend klein. Und selbst, wenn es ihm gelang, das Geiergesicht zu überwältigen, so musste er noch gegen den Riesen antreten. Und Goliath war stärker und größer als ein normaler Mann. Sicherlich konnte er es mit drei ausgebildeten Kämpfern gleichzeitig aufnehmen.

Mortimer verschwand in der Nebelbank zwischen den Buchen.

»Wo ist dieser Feigling? Ich kann ihn nicht sehen. Zeig dich, du ...«

Ein gellender Schrei durchbrach die Stille der Nacht. Wenige Augenblicke später stürzte der Geier zu uns zurück. Schwer keuchend presste er die linke Hand auf seinen Hals. Dann sackte er plötzlich neben mir auf die Knie. Ich sah das Blut, das zwischen seinen Fingern hervorquoll. Sein Brustkorb hob und senkte sich in einem ungesunden Rhythmus.

»Verflucht noch eins«, schnaubte er.

Ich wagte nicht, mich zu regen. Noch immer lag die Pranke des Riesen auf meinem Mund. Ich konnte nur durch die Nase atmen.

»Oh mein Gott, Mortimer, was ist passiert?« Goliaths Stimme zitterte.

»Dieser Mistkerl hat mir fast den Hals zerrissen.« Als Mortimer die Hand von der Wunde nahm, konnte ich die Klauenspuren an seiner Kehle erkennen. Vier tiefe Striemen. Ich zuckte vor Schreck zusammen. Eine solche Verletzung hatte ich nie zuvor gesehen!

»Das ist ein Tier!«

Mortimer hatte Glück gehabt, dass sein Angreifer nicht die Halsschlagader getroffen hatte.

»Lass die Dirne nicht aus den Augen, ich werde mich um unseren Freund kümmern.« Goliath ließ von mir ab und schlug drohend die Faust in seine offene Hand.

»Nein! Lass uns gehen, Jack. Lass uns einfach gehen!«, flehte Mortimer. Als er aber sah, dass Jack nicht die Absicht hatte sich wie ein Feigling zu verkriechen, packte er mich an den Haaren. »Glaube nicht, dass du so einfach davonkommst«, zischte er und spuckte mir ohne Vorwarnung ins Gesicht.

Langsam glitt der Speichel über meine Wange. Was für ein widerliches Gefühl. Aber ich erduldete es und schwieg. Jeder Widerstand meinerseits hätte meine Situation verschlimmert. Die Nerven des Geiers schienen zum Zerreißen angespannt. Unruhig blickte er sich nach seinem Gefährten um. Doch der Nebel hatte ihn längst verschluckt.

»Jack, wo bist du nur? Wo steckst du?«

Ein animalisches Knurren war die Antwort, gefolgt von einem gequälten Stöhnen. Sämtliche Farbe wich aus Mortimers Gesicht. Geistesabwesend ließ er meine Haare los. Was für eine Befreiung. Dankbar rieb ich mir die schmerzende Kopfhaut.

»Jack?«, rief er verstört und rappelte sich auf. »Antworte doch!« Wieder raschelten Blätter.

Irgendetwas beobachtete uns. Es umkreiste uns wie ein hungriger Wolf seine Beute. Bereit, jeden Augenblick gnadenlos zuzuschlagen. Und plötzlich stand es hinter Mortimer. Wie aus dem Nichts war es aufgetaucht, als hätten die Schatten der Bäume es einfach ausgespuckt. Mein Herz blieb vor Schreck fast stehen, als ich die langen Eckzähne und die spitzen Nägel an den Fingern der Kreatur sah. Dieses Wesen erinnerte tatsächlich mehr an ein Tier als an einen Menschen. Selbst wilde Hunde hatten keine solchen Reißzähne! Der Anblick der Fänge rief alte Erinnerungen in mir wach. Mein Gott! Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Dieses Wesen war kein Tier. Es war ein Vampir!

Der Geier fuhr herum und blickte direkt in die gefährlich funkelnden Augen des Untoten. Erschrocken taumelte er einige Schritte zurück. Dann rannte er, so schnell seine Füße ihn trugen, in den Wald. Tiefer und tiefer hinein, bis er, genauso wie Jack zuvor, hinter einer dichten Nebelwand verschwand. Die Kreatur machte keine Anstalten Mortimer zu folgen.

Oh Gott, dachte ich. Jetzt hat er es auf mich abgesehen! »Bitte, tut mir nichts«, flehte ich mit zitternder Stimme. Zur Antwort stieß der Vampir ein gefährliches Fauchen aus. Die dicken Adern an seinen Schläfen pochten wild, und der übergroße Kiefer erinnerte an das Gebiss eines Raubtiers. Ich wusste, er konnte das Blut, das heiß durch meinen Körper schoss, förmlich riechen. Nein, ein besseres Opfer als mich gab es nicht. Hilflos lag ich am Boden wie auf einem Silbertablett serviert. Unfähig mich zu wehren. Der schwarze Umhang flatterte durch die kalte Nachtluft, als sich der Vampir mir zuwandte. Wollte er mich töten? Instinktiv rollte ich mich zusammen, verbarg das Gesicht hinter meinen Händen und zog die Beine ganz nah an meinen Körper heran. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle und zitterte am ganzen Leib. Oh bitte, lieber Gott, ich will noch nicht sterben!

Jeden Augenblick würde er seine Reißzähne in meinen Hals bohren und mich meines Blutes berauben! Ich würde sterben! Oder selbst ein Vampir werden. Doch zu meiner Überraschung geschah nichts dergleichen. Stattdessen spürte ich eine Berührung. Sanft, vorsichtig, als fürchtete er, mir wehzutun.

»Du bist in Sicherheit«, hauchte er mit engelsgleicher Stimme, die mir auf unheimliche Weise vertraut war. »Gehe heim, bevor diese Bastarde zurückkommen.«

Ich traute meinen Ohren kaum. Es gab keinen Zweifel, ich kannte diese Stimme tatsächlich!

Einen solchen Zufall konnte es doch gar nicht geben! Ich nahm all meinen Mut zusammen und sah zu ihm auf. Er hatte sich von mir abgewandt. Die langen blonden Haare tanzten durch die Luft, als besäßen sie ein Eigenleben. Die Gestalt war groß und schlank und in einen schwarzen Umhang gehüllt. Ich konnte ihn nur von hinten sehen. Trotzdem war ich mir plötzlich sicher. Mein Gefühl konnte mich nicht derart täuschen! Ich richtete mich auf, doch sogleich bemächtigte sich meiner ein unnachgiebiger Schwindel. Fest stemmte ich die Hände in den Waldboden, um Halt zu finden. Meine Finger bohrten sich in den kalten Sand.

»Warte, Jeremy!«, hörte ich mich plötzlich selbst rufen.

Der Mann im Dunkeln blieb abrupt stehen. Regungslos verharrte er an dieser Stelle. Nur das Heben und Senken seiner Schultern verriet, wie schnell sein Atem ging. Ich hatte mich also nicht geirrt.

»Jeremy, ich bin es. Sophie Ashford. Erinnerst du dich nicht?« Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hatte diesen Vampir seit acht Jahren nicht mehr gesehen. War er noch immer derselbe? Konnte ich ihm vertrauen?

Langsam drehte er sich zu mir um. Das Mondlicht fiel auf sein bleiches Gesicht, das wieder menschliche Züge angenommen hatte. Seine Klauen und Zähne hatten sich zurückgebildet.

»Sophie?« Er kam näher. Ungläubig musterte er mich, doch seine Stimme klang so wunderbar sanft und vertraut. »Du hast dich sehr verändert.«

Ich versuchte zu lächeln, aber der Schock saß mir noch immer in den Gliedern. Hätte das Schicksal uns nicht zusammengeführt, hätten mich diese lüsternen Kerle womöglich geschändet. Oder schlimmer, auch noch ermordet!

Ekel befiel mich bei dem Gedanken. Ich spürte, wie er mir die Kraft raubte. Schützend hielt ich mir die Hände vor das Gesicht und schluchzte leise. Jeremy, mein alter Freund, sollte mich nicht so sehen. Aber die Gefühle übermannten mich. Ich konnte nichts dagegen tun. Er nahm mich in die Arme. Die unmenschliche Kälte, die von seinem Körper ausging, drang selbst durch sein Leinenhemd.

Obwohl ich Jeremy eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, kam es mir ganz natürlich vor, von ihm getröstet zu werden. Als wäre er nie fortgewesen, dachte ich. Er sah noch immer genauso aus wie damals, als Mutter und Vater ihm Einlass in unser Haus gewehrt hatten. Die aristokratischen Züge, die hellblauen Augen, die wie ein Sternenmeer funkelten und die bleiche Haut, auf der ein übernatürlicher Schimmer lag.

»Ich bin keine zehn Jahre mehr«, sagte ich leise. Das Blut schoss in meine Wangen.

Mir war in dem Alter gar nicht bewusst gewesen, wie attraktiv Jeremy war. Als Kind war er mir ein guter Freund. Plötzlich erkannte ich in ihm den Mann, der er war. Verführerisch, mächtig, geheimnisvoll ...

»Du bist eine wunderschöne Frau geworden.« Frau? Nie hatte jemand in mir eine Frau gesehen. Ein Mädchen – ja, aber keine erwachsene Frau.

Gemeinsam gingen wir den Weg zurück. Ich hob die Holzschüssel auf und stellte erleichtert fest, dass die »Wundersalbe« nur ein wenig Schmutz abbekommen hatte.

Zärtlich legte er den Arm um mich und führte mich nach Westminster, dem politischen Herzen Englands. Als der Wachmann in unsere Sichtweite kam, blieb ich irritiert stehen.

»Willst du dich nicht verbergen?«, fragte ich verwundert. Ich erinnerte mich, dass wir Jeremy in unserem Keller versteckt hatten, um ihn vor der Sonne und vor neugierigen Blicken zu schützen. Vater hatte ihm sogar einen Sarg gebaut, in dem er tagsüber schlief. Niemand hatte von seiner Existenz wissen dürfen. Doch nun bewegte er sich völlig frei, als wäre er wie jeder andere – ein Mensch.

Jeremy lachte heiser. »Ich lebe heutzutage sogar unter den Menschen. Sie erkennen mich nicht als das, was ich bin. Zumindest, solange ich mich nicht auf einen von ihnen stürze und das Blut aus dem Hals sauge. Früher war das anders. Ich hatte mein Vampir-Sein noch nicht begriffen und fürchtete mich vor der Welt dort draußen.«

Jeremy lebte unter den Menschen? Wieso hatte er uns nie besucht? Wir hatten ihm jahrelang ein Zuhause gegeben. Hatte er uns denn gar nicht vermisst?

Der Wachmann hob die Hand und nickte uns freundlich zu. Ich war verblüfft, wie selbstverständlich Jeremy zurückgrüßte, ohne eine Spur von Angst erkannt zu werden. Als wir in Kingsway einbogen, blieb Jeremy stehen und legte mir beide Hände auf die Schultern. Sein Blick war voller Zuneigung. Und trotzdem blieb er auf Distanz.

»Es hat mich sehr gefreut, dich wiederzusehen. Aber nun solltest du nach Hause gehen. Versprich mir, dass du besser auf dich aufpasst. Ich bin nicht immer da, um dich zu beschützen.«

»Soll das ein Abschied sein?«

Er sagte nichts.

Wütend biss ich mir auf die Unterlippe. Ich bin nicht immer da, um dich zu beschützen, wiederholte ich seine Worte in Gedanken. Oh ja, das konnte man wohl sagen. Um genau zu sein, war er die letzten 8 Jahre nicht da gewesen! Eines Nachts war er einfach verschwunden. Nur einen Abschiedsbrief hatte er hinterlassen. Jeremy hat eine neue Aufgabe gefunden, hallten Mutters Worte in meinen Ohren. Wusste er überhaupt, wie sehr wir Kinder ihn vermisst hatten?

Jeremy hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Seine Lippen fühlten sich feucht und kalt an. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren wandte er sich von mir ab und verschwand mit wehendem Umhang in der Great Queen Street in Covent Garden. Fassungslos sah ich ihm nach. Das war es also? Ein kurzes Wiedersehen, mehr nicht? Nein, das wollte ich nicht wahrhaben. Ich war wie besessen von der Idee, dass uns das Schicksal aus einem bestimmten Grund wieder zusammengeführt hatte. So durfte es nicht enden! Ich beschloss, ihm zu folgen. Es gab einfach noch zu viele offene Fragen. Seit wann lebte er in Covent Garden? Wieso waren wir uns nicht früher über den Weg gelaufen? Was hatte er in den letzten Jahren gemacht? Und warum streifte er ausgerechnet nachts durch die Wälder? Hatte das vielleicht etwas mit dieser ominösen Aufgabe zu tun, von der Mutter gesprochen hatte? Mutter ... Jeremy wusste vermutlich nicht einmal, dass sie zwei Jahre nach seinem Verschwinden an einer schweren Lungenentzündung gestorben war.

Geschickt folgte ich ihm durch die Straßen. Ich hielt mich bewusst im Schatten der Häuser und hatte Glück. Er drehte sich nicht einmal nach mir um.

Jeremy verschwand in einem Herrschaftshaus in der Limpin Charlie Lane. Woher nahm er das nötige Geld, um in ein vornehmes Wohngebiet zu ziehen? Neue Fragen taten sich auf. Jeremys Haus, das an eine italienische Piazza erinnerte, faszinierte mich nicht nur wegen seiner Lage. In seinem Vorgarten befand sich eine Allee mit steinernen Dämonen und geflügelten Löwen, die links und rechts entlang des Sandweges aufgereiht waren. Den krönenden Abschluss bildeten zwei prachtvolle Erlen, welche die Fabelwesen teilweise verdeckten und nur erahnen ließen, wie kunstvoll sie gefertigt waren.

Ich atmete tief durch. Wir werden uns wiedersehen, Jeremy, versprach ich mir selbst. Er war mim die Antworten schuldig! Ich würde sie bekommen! Nun hatte aber erst einmal Elisa Vorrang. Ich hatte sie lange genug warten lassen.

***

Ich wusste nicht, wieso Jeremy Wellingham ein Haus in Covent Garden bezogen, noch wo er sich die letzten Jahre aufgehalten hatte. Er war mir fremd und vertraut zugleich, und das faszinierte mich. Mein kindliches Herz schlug schnell, wenn ich nur an ihn dachte. Als sich die Green Acres Road vor mir auftat, kreisten meine Gedanken noch immer um ihn. Nie hatte ich einen attraktiveren Mann gesehen! Ich fürchtete weder seine scharfen Reißzähne, noch seine Klauen, die wie aus dem Nichts zu wachsen schienen, wenn er wütend wurde. Im Gegenteil. Die Tatsache, dass er mit übernatürlichen Waffen ausgestattet war, verstärkte die Anziehungskraft nur noch mehr!

Das schreckliche Erlebnis im Wald versuchte ich, so gut es ging, zu verdrängen. Ich wollte weder Vater noch Elisa Kummer bereiten. Meine Schwester hatte ohnehin schon genug durchgemacht.

Aus dem Ashford's Pub, den wir seit Mutters Tod gemeinsam führten, drangen laute Stimmen. Als ich den Schankraum betrat, schlug mir Tabakrauch entgegen. Die Tische waren bis zum letzten Stuhl besetzt. Vater stand an der Bar, während Martha, beladen mit zwei Schüsseln Eintopf, die Herren an den Tischen zu meiner Linken bediente.

Unsere fürsorgliche Schankmagd kam sofort auf mich zu. Mit einem Tuch wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.

»Heute ist viel los«, stellte ich fest. Das Geschäft lief gut. Wir konnten uns wahrhaftig nicht beklagen.

»Wem sagst du das, Kind. Dein Vater und ich haben alle Hände voll zu tun. Wie ich sehe, hat dir der gute Collins die Medizin gemischt?«

»Richtig. Wie geht es Elisa?«

»Sie ist eingeschlafen.«

Ich atmete auf. Wenigstens hatte sie sich beruhigt. Wenn es unten im Schankraum voll wurde, schickte Vater sie immer auf ihr Zimmer. »Zu ihrem Schutz«, wie er jedes Mal betonte.

Martha deutete mit dem Daumen hinter sich zur Küchentür. »Ich könnte deine Hilfe brauchen. Brot mit Aufschnitt wurde bestellt.«

Ich nickte. »Du kannst dich auf mich verlassen. Ich bringe nur schnell die Salbe nach oben.«

Als ich wieder zurückkam, lief ich an der Bar vorbei, grüßte beiläufig Vater und schnappte mir eine Leinenschürze vom Haken. Aus der Vorratskammer, die mit unserer Küche durch eine Luke verbunden war, holte ich ein selbstgebackenes Weißbrot, frischen, hausgemachten Schafskäse und getrocknete Salami. Zufrieden brachte ich das Bauern-Abendbrot in den Schankraum. Martha nahm es mir mit einem dankbaren Lächeln ab und stellte es auf den Tisch in der hinteren Sitzecke. In diesem Moment betrat ein charismatischer Mann das Gästehaus, der meine Aufmerksamkeit ungewollt fesselte. Er war groß, hatte kräftige Schultern und trug einen Schlapphut, den er tief im Gesicht zog. An seinem blanken Hals entdeckte ich eine merkwürdige Tätowierung. Ein Kreis, darin ein Kreuz und ein kleines, schwebendes Auge. An seine Seite trat ein Mann mit rundlichem Gesicht und verschwitzten, schwarzen Haaren, die förmlich an seiner Kopfhaut klebten. Die zwei Taschen, die er bei sich trug, waren ihm offensichtlich zu schwer. Schnaufend stellte er sie ab und klopfte sich auf die Brust, als bekäme er nicht genügend Luft.

Mein Vater ging auf den Fremden mit dem Schlapphut zu und reichte ihm die Hand.

»Guten Abend, die Herren. Mein Name ist William Ashford. Was kann ich für Euch tun?«

»Wir möchten uns für einige Tage einmieten, falls Ihr noch zwei Zimmer zur Verfügung habt, guter Mann.«

Der Fremde hatte einen merkwürdigen Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Fest stand nur, dass er kein Engländer war. Mein Blick glitt erneut zu seinem kleinen Begleiter, der gerade dabei war, die Taschen wieder aufzuheben. Jetzt erst bemerkte ich den Beutel, den er zusätzlich über der Schulter trug. Was waren das nur für merkwürdige Utensilien, die aus dem Lederverschluss herausragten? Spitz zugefeilte Hölzer? Eine Art Armbrust?

»Zwei Zimmer. Sehr gern. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet?«

»Selbstverständlich.«

Vater lief die knarrende Treppe hinauf, der schwer beladene Jüngling folgte ihm. Nur der Mann mit dem Schlapphut blieb einen Augenblick an dem Geländer stehen und musterte mich. Erschrocken wich ich seinem feurigen Blick aus.

Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Wer waren diese Männer? Was wollten sie hier? Als ich wieder aufsah, war der Fremde verschwunden.

Bis die letzten Gäste das Pub verließen, half ich Martha in der Küche aus. Danach schleppte ich mich die Treppe in den ersten Stock hinauf, öffnete die Tür und schlich mich auf leisen Sohlen ins Zimmer. Elisa saß mit angewinkelten Beinen in ihrem Bett und summte leise ein Lied.

»Ich dachte, du schläfst schon längst, meine Kleine.«

Es war merkwürdig, so mit ihr zu reden. Elisa war die Ältere von uns beiden. Bisweilen verhielt sie sich jedoch wie ein Kind.

Sie schüttelte nur den Kopf. Ich griff nach der Holzschüssel mit Collins Wundersalbe und setzte mich behutsam zu ihr auf die Bettkante.

»Hattest du wieder einen bösen Traum?«

»Ja.«

Ich streichelte ihren roten Schopf. Unter einer Haarsträhne verbarg sich die Narbe, die sie sich durch ihren Unfall zugezogen hatte. Ein unglücklicher Treppensturz, angeblich! Das hatte zumindest Calvin, Elisas Ehemann, behauptet. »Sieh nur, was ich dir mitgebracht habe. Komm, mach dich frei.«

Artig hob Elisa ihre Chemise hoch, so dass ich ihre prallen Brüste sehen konnte. Brüste, die ein Kind hätten stillen sollen, wenn es den Sturz überlebt hätte. Vorsichtig tunkte ich meine Finger in die Salbe und verteilte sie auf Elisas Oberkörper. Meine Schwester stöhnte leise, während sie die Dämpfe begierig einatmete.

Ich massierte sie, bis die Salbe ganz in ihre Haut eingezogen war.

»Schlaf gut«, hauchte ich, deckte sie zu und küsste sie auf die Stirn. Dann zog ich mich aus, ließ nur mein Leinenhemd an und legte mich in mein Bett. Was Jeremy wohl jetzt gerade machte? Ging er auf die Jagd? Wie vertrieb man sich die Nacht, wenn man am Tage schlief?

***

Die morgendlichen Sonnenstrahlen fluteten unser Zimmer. Der Tag versprach trotz der regnerischen Jahreszeit schön zu werden. Verschlafen rieb ich mir die Augen und stellte verwundert fest, dass Elisa bereits aufgestanden war. Ich musste wie eine Tote geschlafen haben! Meine Verwunderung wurde größer, als ich schließlich angekleidet und frisiert in den Schankraum herunterkam und Elisa am Tisch der beiden Herrschaften von gestern Abend sitzen sah. Selten hatte ich meine Schwester so aufgeregt gesehen. Normalerweise interessierte sie sich nicht sonderlich für ihre Umgebung. Der Herr mit dem Schlapphut und sein untersetzter Begleiter hatten es ihr aber offenbar angetan.

Schlaftrunken wankte ich zu meinem Vater herüber, der die hinteren Tische mit einem nassen Lappen abwischte.

»Guten Morgen, Sophie«, grüßte er mich und strahlte von einem Ohr zum anderen. Mein Vater gehörte zu den Menschen, die immer fröhlich waren. Selbst wenn er schlechte Laune hatte, fand sich ein Lächeln auf seinen Lippen. Nur in Ausnahmefällen verlor er die Beherrschung. Mutter hatte immer gesagt, dass Vater nur deshalb so ein umgänglicher Mensch war, weil er der einzige Mann unter Frauen in unserer Familie war.

»Wer sind denn unsere beiden neuen Gäste?«

Ich konnte es nicht leugnen, der Fremde mit dem Schlapphut hatte eine anziehende, gleichzeitig geradezu gefährliche Ausstrahlung.

»Ach, du meinst Mister Ignatius und seinen Begleiter Dango Perres?«

Die beiden waren die einzigen Gäste, die sich um diese Uhrzeit im Schankraum befanden. Zurzeit hatten wir keine anderen Zimmer vermietet.

»Sie sind nicht von hier?«

Vater zuckte nur die Schultern. Es war ihm egal, woher seine Gäste kamen, wenn sie nur zahlten.

»Würdest du den Herren das Frühstück servieren?« Vater deutete in Richtung Küche. »Martha hat schon alles vorbereitet.«

Ich nickte nur und lief an der Bar vorbei durch die kleine Hintertür und stieß fast mit Martha zusammen. Die gute Seele des Hauses, die uns seit dem Tod meiner Mutter unter die Arme griff, drückte mir lachend einen Brotkorb in die Hand.

»Für Mister Ignatius und ...«

»Ich weiß, ich weiß.«

Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, als ich mich dem Tisch der Herrschaften näherte.

»Ihr seid sehr lustig, Samuel«, kicherte Elisa wie ein aufgeregtes Küken.

»Und Ihr seid bezaubernd, meine Werteste.«

Ignatius hauchte ihr galant einen Kuss auf die Hand. Ich blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen. Was sich hier vor meinen Augen abspielte konnte nur ein böser Traum sein. Elisa war sicher keine hässliche Frau. Aber welcher Mann interessierte sich für eine 20-Jährige, die sich wie ein kleines Mädchen verhielt?

Als Ignatius zu mir sah, setzte ich ein gespieltes Lächeln auf und stellte den Brotkorb auf seinen Tisch.

»Guten Appetit.«

»Vielen Dank.«

»Sophie, Sophie! Samuel erzählt mir ganz tolle Geschichten!«, rief Elisa vergnügt und hob dabei beide Arme in die Höhe.