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Über dieses Buch:

Verliebt, verlobt – getrennt. Wer ein bisschen Nachhilfe dabei braucht, sich charmant aus der Affäre zu ziehen, dem hilft Jasmin mit ihrer ungewöhnlichen Trennungsagentur gern aus. Ihr neuer Auftrag stellt sie jedoch vor ein Dilemma: Jasmin soll die Traumhochzeit des Hotelerben Severin Rosenstock und seiner Zukünftigen um jeden Preis verhindern. Aber wer steckt hinter dem Auftrag? Weiß er, dass es ausgerechnet Severin war, der Jasmin vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat? Fest entschlossen, dem ganzen auf den Grund zu gehen, reist sie zum Grand Hotel an der Ostsee – und stellt schnell fest, dass die Hochzeitsgäste eine Menge Geheimnisse zu verbergen haben. Allen voran Severins bester Freund Falk, der Jasmin unbedingt beweisen will, dass sie eins nicht in ihre Pläne mit einberechnet hat: die Liebe …

Über die Autorin:

Christine Lehmann, geboren 1958 in Genf, wuchs in Stuttgart auf. Heute pendelt sie zwischen ihrer Heimatstadt und Wangen im Allgäu. Christine Lehmann ist Nachrichtenredakteurin beim SWR und schreibt seit vielen Jahren erfolgreich in den verschiedensten Genres – von Krimis und historischen Romanen über Jugendbücher bis zu romantischen Liebesgeschichten. Außerdem arbeitet Sie an verschiedenen Sachbüchern und Hörspielen.

Mehr Informationen über Christine Lehmann finden sich auf ihrer Website: www.christine-lehmann.blogspot.de

Christine Lehmann veröffentlichte bei dotbooks auch den Hundekrimi »Eiskalte Fährte« sowie ihre Romane:
»Die Inselträumerin«
»Der Zauber einer Inselnacht«
»Die Liebesträumerin«
»Die Strandträumerin«
»Der Winterwanderer«
»Das Rabenhaus«

Unter ihrem Pseudonym Madeleine Harstall erscheinen bei dotbooks ihre Romane »Die Töchter der Heidevilla« und »Die Brückenbauerin«.

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Juni 2020

Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel »Die Liebesdiebin« 2005 bei Knaur und 2014 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2005 Knaur Taschenbuch, München

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Thorsten Bock / Pavel_Kostenko / Zapylaiev Kostiantyn / Olha Rohulya / superbank stock / Butterfly Hunter

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-049-0

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Christine Lehmann

Das Grand Hotel an der Ostsee

Roman

dotbooks.

Für meine Schwester Maria
und ihre Töchter Samira und Rebecca

Kapitel 1

Falk bog um die Ecke des Roten Rathauses und summte Wagners Hochzeitsmarsch vor sich hin: »Dam daaa da-dammm, dam-di da-dammm …« Glücklicherweise war er nicht der Bräutigam.

Die Sonne schien, die rote Klinkerfassade glühte. Links und rechts des Portals wartete die Hochzeitsgesellschaft, in zwei Gruppen gespalten. Der Brautvater rauchte, ein Einzelhändler aus Kreuzberg. Die Brautmutter zupfte an der Braut herum.

»Wie du wieder aussiehst, Kind!«

Falk trat zur Familie des Bräutigams, schlug seinem alten Freund Achim auf die Schulter und begrüßte dessen Vater und Mutter. Die Familie der Braut war von Anfang an das Problem gewesen. Sie passte nicht zum distinguierten Hamburger Kaffeeimporteur Hansen, der nervös auf die Uhr blickte, zum alten Geld und dem über Generationen trainierten guten Benehmen. Achim hatte seine Xandra auf dem Papier ausgesucht und dann beim teuren Essen im Le Provincial im Nikolaiviertel kennen gelernt, mit roter Rose als Erkennungszeichen. Die Würfel der Liebe waren gefallen, ungeachtet falscher sozialer Hintergründe. Achim war ein Romantiker, und das hatte er mit Falks Mutter gemein, die das Eheanbahnungsinstitut Goldene Rose leitete und die Verbindung eingefädelt hatte.

Falk fand durchaus, dass Frauen wie Xandra, solange sie jung und schön waren, ihre Herkunft vergessen machen konnten. Wenn allerdings nach ein paar Jahren die ersten Konflikte auftauchten, dann kreischte sie wie ein Obsthändlerweib aus Kreuzberg, und Achim schwieg mit steifer Oberlippe wie ein echter Hanseat. Auch das weiße Brautkleid ließ das vornehme Understatement vermissen, das der alte Hansen so schätzte. Es machte Xandra blass und drall und ließ sie ziemlich heiratsgierig aussehen. Die Scheidung würde Achim teuer zu stehen kommen. Aber diese Erfahrung musste er offenbar selbst machen.

»Auf wen warten wir denn noch?«, fragte Falk, sich munter die Hände reibend. »Sollten wir nicht allmählich raufgehen?«

»Hast du dir keine Krawatte umbinden können?«, raunte ihm Achim zu. »Bist immerhin mein Trauzeuge. Und du weißt doch, wie Papa ist.«

Falk rückte grinsend die rosa Rose am Revers seines hellen Leinensakkos zurecht. »Ist ja nicht mein Papa«, bemerkte er vergnügt. Unter dem Sakko trug er nicht einmal ein Hemd, sondern ein dunkelgraues T-Shirt. Und seine Füße steckten auch nicht in schwarzem Leder, sondern in sportlich gestreiften Edelsneakers. Falk war ein nicht besonders großer, aber muskulöser Typ Anfang dreißig. Bislang war es ihm erspart geblieben, sich der Kleiderordnung eines Geschäftslebens zu unterwerfen. Und so konnte er sich den Luxus leisten zu meinen, im Anzug mit Schlips und Kragen sähe er aus wie ein Konfirmand, er mit seinem renitenten schwarzen Haarschopf und seinem insgesamt etwas ungebügelten Gesicht. »Tut mir Leid, Achim«, fügte er jedoch artig hinzu, »aber das einzige weiße Hemd, das ich nach Berlin mitgebracht habe, hast du gestern Abend beim Herrenbesäufnis mit Rotwein versaut. Und jetzt auf in die Schlacht.« Er schnappte sich die Braut, um sie bei Achim unterzuhaken. »Wo müssen wir denn hin?«

»In den Louise-Schröder-Saal«, antwortete Achim. »Dritter Stock.«

Die Familien formierten sich auf dem Weg zum Portal. Doch die Braut drehte sich auf den Stufen noch einmal um. Auch Falk bemerkte den jungen Mann, der vom Parkplatz her angelaufen kam. Er war so außer Atem, dass er sich gegen den Pfeiler am Rathausportal lehnen musste. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Einer trauert immer am Hochzeitstag, dachte Falk, ehe er sich ins Treppenhaus wandte.

Sie waren nicht die Einzigen. Jeden ersten Freitag im Monat war Großkampftag im Roten Rathaus. Eine weitere Hochzeitsgesellschaft kam, bereits abgefertigt, die Treppe herab, während sie den roten Läufer ins gelbe Treppenhaus mit dem weißen Gewölbe hinaufstiegen. Falsche italienische Renaissance aus dem 19. Jahrhundert. Links über ihnen Merkur, rechts die Allegorie der Schifffahrt mit Stechruder. Das passte immerhin zum Obsthandel und zum Kaffeeimport aus Übersee. Aber sonst passte nichts. Xandra stolperte an Achims Arm, als wäre sie auf einmal gar nicht mehr heiratsgierig.

So zogen sie in den grünlichen Saal ein, in dem nach der Wende der erste Runde Tisch getagt und sich der Westberliner Senat mit dem Ostberliner Magistrat zusammengesetzt hatte. Die Rolle als Trauzeuge führte Falk in die erste Reihe. Dabei waren Trauzeugen seit Jahren abgeschafft. Aber Hochzeiten bestanden ohnehin aus einem bunten Allerlei von sinnentleerten Bräuchen und Sitten, da kam es auf einen Irrtum mehr oder weniger nicht an. Falk verstand durchaus, dass Achim ihn einfach nur als alten Freund hatte auszeichnen wollen. Achim hatte den Schwenk ins bürgerliche Leben geschafft, hatte in Berlin eine exklusive Kaffeehandlung aufgebaut und stand nun an der Schwelle, eine Familie zu gründen.

»Sie haben schönes Wetter mitgebracht«, sagte die Standesbeamtin. An ihrem blauen Blazer blitzte eine Doppelreihe goldener Knöpfe. »Aber in Ihrer Ehe wird nicht immer die Sonne scheinen.« Die Braut wurde unter der Schilderung anstehender schlechter Tage immer kleiner auf ihrem Stuhl. Dann hieß es endlich aufstehen.

»Und nun frage ich Sie, Achim Hansen, wollen Sie die hier anwesende Xandra Schulze zur Frau nehmen?«

»Ja«, sagte Achim.

Die Standesbeamtin lächelte, als hätte sie befürchtet, der Herr werde es sich anders überlegen. »Dann«, fuhr sie fort, »richte ich jetzt an Sie, Xandra Schulze, die Frage: Wollen Sie den hier anwesenden Achim Hansen zum Mann nehmen …«

»Bis dass der Tod euch scheide«, murmelte Falk vor sich hin.

Eine unerwartete Stille im Saal ließ ihn aufblicken. Die Standesbeamtin lächelte besorgt.

»Nein«, flüsterte Xandra. »Nein«, wiederholte sie deutlich hörbar. »Ich kann nicht …« Sie drehte sich zum Saal um und rief gellend: »Georg!« Falk drehte sich ebenfalls um und sah gerade noch den verzweifelten jungen Mann vom Rathausportalpfeiler aus der Tür huschen, die krachend ins Schloss fiel.

»Xandra!«, schrie die Mutter der Braut. »Spinnst du?«

»Es tut mir Leid, Mama. Tut mir Leid, Achim, aber ich … ich kann nicht, jetzt nicht, ich muss …« Damit raffte sie die weißen Röcke und rannte los.

Fassungslosigkeit zeigte sich auf Achims Gesicht und eine völlig deplatzierte tiefe Befriedigung auf dem seines Vaters. »Phänomenal, wie die das hingekriegt …« Er unterbrach sich, denn seine Frau war wie üblich ganz dem Eindruck des Augenblicks verhaftet und entsetzt. »Ich meine, wirklich schade um das Essen im Le Provincial. Eigentlich sollte man hingehen, ich meine, Hunger hat man ja trotzdem.«

»Aber Hannes!«, sagte Frau Hansen.

Falk rannte zur Tür. In den Fluren vertrieb sich die nächste Hochzeitsgesellschaft die Zeit mit dem Betrachten der Bilder von Berliner Ehrenbürgern an den Wänden. Falk sprintete auf weichen Sohlen die Treppe hinunter. Draußen vor dem Roten Rathaus stand Xandra und ließ den Brautstrauß sinken. »Georg, wo bist du?« Ratlos blickte sie Falk an. »Eben war er doch noch hier?«

Falk sah sich um. Ein Taxi bog vorn um die Ecke und verschwand. Ein alter Mann ging grinsend an ihnen vorbei. »Nich traurich sein. Aller juten Dinge sind zwee.«

Eine junge Frau entfernte sich eiligen Schrittes Richtung Nikolaiviertel. Der immer unruhige Berliner Wind wehte halblange Locken über ihre Schultern. Sie waren von einem seltenen Rotblond, zart wie gebrannter Ton mit goldenen Funken. Zu gern hätte Falk das Gesicht dazu gesehen. Eine solche Haarfarbe verlangte aquamarinblaue Augen, helle Brauen und ein paar Sommersprossen. Aber er sah nur eine hellgrüne Sweatjacke und Jeans. Allerdings, einen hübschen Hintern hatte sie.

Falk griff nach seinem Handy. Nach dem fünften Klingeln meldete sich seine Mutter. »Es hat nicht geklappt«, verkündete er. »Die Braut hat Nein gesagt.«

»Was? Aber das verstehe ich nicht. Es war doch Liebe auf den ersten Blick, über alle sozialen Gräben hinweg. Ein richtiges Märchen von Aschenputtel und Prinz.«

»Anscheinend ist ein anderer dazwischengekommen. Ein gewisser Georg. Das ist jetzt das zweite Mal im letzten halben Jahr, dass dir eine Braut davonläuft. Wenn sich das herumspricht, dann kannst du deine wohlhabenden und hochwohlgeborenen Kunden vergessen, Mama.«

Kapitel 2

Jasmin legte die Mappe auf den Konferenztisch und schüttelte die rotblonden Haare nach hinten. In der Sonne, die durch die Fenster hereinfiel, schimmerten sie wie gebrannter Ton mit Goldflitter. Ihr Gesicht besaß genau den hellen Teint, die zarten Sommersprossen und die wasserblauen Augen, die zu dieser Haarfarbe gehörten.

Gloria Göran hatte die Kaffeekanne in der Hand und schenkte sich ein.

Sie war eine kleine energische Geschäftsfrau Mitte fünfzig mit dunklen Augen, rot gefärbtem Haar, glutroten Lippen, rot lackierten Fingernägeln und schwarzweißen Plastikohrklipps. Sie balancierte ihre randvolle Kaffeetasse ans Kopfende des Konferenztischs, setzte sich und wickelte einen Zuckerwürfel aus. Währenddessen trudelten auch die anderen ein. Angefangen hatte Gloria vor sieben Jahren. Aber so richtig brummte das Geschäft erst, seit Jasmin vor fast fünf Jahren dazugestoßen war. Inzwischen versammelten sich zur Freitagskonferenz in dem kleinen Büro am Nussbaum im Nikolaiviertel ein halbes Dutzend Mitarbeiter.

»Fangen wir an«, eröffnete Gloria. »Abschlüsse?«

»Soeben«, sagte Jasmin. »Der Fall Hansen.« Sie warf Rolf, der scheinbar versunken mit einem Kugelschreiber spielte, einen skeptischen Blick zu. »Der junge Achim Hansen wird es seiner Obsthändlerin aus Kreuzberg nicht verzeihen, dass sie ihn auf dem Standesamt hat stehen lassen, um unserem Romeo hinterherzurennen.«

»Hatten wir nicht beschlossen«, sagte Rolf, aus seiner vorgetäuschten Versunkenheit erwachend, »dass wir Trauungsrücktritte vermeiden? Wir wollen doch nicht Ermittlungen wegen fortgesetzter Störung der öffentlichen Ordnung auf uns ziehen.«

Die kleine dicke Lieselotte seufzte.

»Manchmal geht es halt nicht anders, Rolf«, verteidigte sich Jasmin. »Xandra war ein harter Brocken, und wir hatten nur zwei Wochen Zeit. Leider ist es den Vätern nicht beizubringen, dass sie etwas früher zu uns kommen, nicht erst wenn bereits Tischkärtchen gemalt werden. Mir wäre es auch lieber gewesen, wir hätten auf den Einsatz eines Romeos verzichten können. Doch von dir kam ja nichts Brauchbares.«

»Das kann man so nicht sagen«, erwiderte Rolf mit gespielter Ruhe. »Aber Xandras Schulscheitern wegen Schulschwänzens war dir ja nicht gut genug. Außerdem …«

»Das hätte bestenfalls Achims Vater beeindruckt – und den mussten wir nicht mehr überzeugen –, nicht aber Achim. Der war doch ganz hin und weg von seiner kuhäugigen Xandra.«

Rolf verzog gequält die Miene wie immer, wenn Jasmin ihn unterbrach, und machte sich breit. »Wir hätten natürlich auch das Gerücht streuen können, Achim habe voriges Jahr einen Unfall mit Todesfolge gebaut und Fahrerflucht begangen. Wir hatten einen Unfall auf der Strecke Hamburg-Berlin, der dafür tauglich gewesen wäre. Das hätte Xandra vermutlich doch ins Grübeln gebracht.«

Jasmin holte Luft. »Dann darf ich dich daran erinnern, Rolf, dass wir keine strafrechtlich relevanten Gerüchte mehr in die Welt setzen wollten, wenn die Zielperson eine Position hat, die sie in Gefahr bringt, von der Presse beachtet zu werden.«

»Kinder!«, rief Gloria. »Vertragt euch. Zwei Wochen sind wirklich knapp, auch für Rolf, eine glaubhafte üble Nachrede zu konstruieren. Trotzdem müssen wir künftig verstärkt darauf achten, dass wir spektakuläre Trauungsrücktritte auf dem Standesamt vermeiden, genauso übrigens wie üble Nachrede, die einen Staatsanwalt auf den Plan rufen könnte.«

Gloria zog unter ihrer Mappe den Anzeigenteil einer Zeitung hervor. Auch Jasmin hatte bereits die jüngste Annonce gesehen, die Gloria in diversen überregionalen Zeitungen geschaltet hatte.

»Ihre Tochter wirft sich an den falschen Mann weg.

Ihr Sohn will eine Frau heiraten,

die es auf Ihr Familienvermögen abgesehen hat.

Wir kümmern uns darum.

Professionell und diskret. E-Mail …«

»Der Bedarf ist groß«, fuhr Gloria fort. »Die Leute, die uns brauchen, finden uns. Aber wer uns nicht finden soll, sind Journalisten, die uns als Liebesdiebinnen in einem Lifestyle-Magazin groß rausbringen wollen. Denkt daran: Sobald eines unserer Gesichter in einer Zeitschrift erscheint, können wir dichtmachen.« Zunächst einmal trennt sich Gloria von der betreffenden Person, dachte Jasmin. Ihre Chefin neigte zur Dramatik.

»Darum werde ich nicht müde zu sagen: Haltet euch fern vom Zielobjekt. Ihr werdet nicht dafür bezahlt, dass ihr auf dem Hochzeitsvideo erscheint und jemand sich fragt, wer das ist.«

Jasmin senkte den Blick auf ihre Mappe. Erst heute Vormittag hatte sie gegen dieses Gebot verstoßen, zumindest halb. Aber anders war es nicht zu machen gewesen. Vor dem Eingang zum Roten Rathaus hatte ein Taxi mit laufendem Motor stehen müssen, damit der Romeo von der Bildfläche verschwinden konnte, ehe die genarrte Braut und ergrimmte Brüder und Freunde erschienen. Doch dass Xandra oder der sportliche Typ, der kurz darauf aus dem Rathaus gestürzt war, sie mit dem Geschehen in Verbindung brachte oder sich an sie erinnerte, war höchst unwahrscheinlich. Außerdem würde sie diese Leute in ihrem Leben nie wiedersehen.

»Bevor wir uns den neuen Fällen zuwenden«, nahm Gloria den Faden erneut auf, »schließen wir die Sache Hansen ab.«

»Der Romeo sitzt im Zug nach Freiburg und zählt sein Geld«, ergriff Jasmin rasch das Wort. »Er hat den Wolf gespielt mit der verwilderten Männlichkeit eines Waschbrettbauchs und den Rastalocken eines Surfers, der den Winter in Südafrika beim Wellenreiten verbracht hat. Natürlich hat er jede Menge falscher Fährten gelegt, für den Fall, dass Xandra ihn suchen geht – falsche Urlaubsziele, falsche Lieblingsrestaurants, falsche Musikgruppen und so weiter.«

Gloria schmunzelte. »Gut. Dann kann ich Herrn Hansen also die Rechnung schicken.«

»Eine ziemlich teure Autoreparatur«, bemerkte Lieselotte.

»Ein regelrechter Totalschaden«, murmelte Rolf.

Die Runde lachte. Gloria pflegte ihre Rechnungen mit Briefköpfen zu kaschieren, die auch einer misstrauischen Ehefrau, einem in Vaters Rechnungen stöbernden Sohn oder einem Buchprüfer nicht auffielen. Und nur Gloria kannte die genaue Höhe einer solchen Rechnung.

»Kommen wir zu den neuen Fällen.« Gloria schlug die dicke Mappe auf, die vor ihr lag. »Wenn das so weitergeht, müssen wir in Hamburg, Frankfurt und München Büros aufmachen. Obschon das Dienstreisenmodell den Vorteil hat, dass wir immer gleich wieder aus der Stadt verschwunden sind. Andererseits könnten wir in Büros vor Ort auch kleine Fälle annehmen.« Gloria überflog ihre Notizen. »Zum Beispiel hat sich in Hamburg auf unsere Annonce ein türkischer Vater gemeldet, der seinen Sohn vor einer Ungläubigen schützen möchte.«

»Darum könnte ich mich kümmern«, erbot sich Vanessa. Sie war erst seit einem halben Jahr dabei. »Ich habe in Hamburg eine ehemalige türkische Schulfreundin. Sie könnte mit Kopftuch und allem Drum und Dran eine türkische Ehefrau spielen, die dem fraglichen Mädchen in glühenden Farben das Leben in einer moslemischen Familie schildert. Vielleicht springt sie dann von selber ab.«

Gloria blickte Vanessa nachdenklich an.

»Es würde wie eine Zufallsbekanntschaft aussehen«, fuhr Vanessa eifrig fort. »Und den kleinen Zuverdienst könnte meine Freundin gut brauchen.«

»Und dann prahlt sie auf der nächsten Fete damit herum, dass sie im Auftrag einer Berliner Agentur Beziehungen auseinander bringt«, bemerkte Lieselotte.

Vanessa blickte regelrecht erschrocken drein. Fast ein wenig schuldbewusst, fand Jasmin.

»Die Grundidee ist gut«, griff Gloria schiedsrichterlich ein. »Aber, Vanessa, für deine türkische Freundin muss es so aussehen, als würde sie dir einen Freundschaftsdienst leisten. Geld wirst du ihr dafür nicht anbieten können.«

»Meine Freundin würde aber ohnehin gern bei uns mitmachen.«

»Wie bitte?«, fuhr Gloria auf. »Willst du damit sagen, dass du mit ihr bereits darüber gesprochen hast?«

Rolf hob die Hand, formte sie zu einer Pistole, zielte auf Vanessas Kopf, machte »Peng« und blies über die Mündung des Laufs, den sein Zeigefinger darstellte.

Vanessa wurde blass. »Ich dachte …«

»Darüber reden wir später«, unterbrach Gloria. »Komm nachher in mein Büro.«

Sie orientierte sich erneut in ihren Auftragsbogen.

»Was haben wir noch. Ach ja, hier: Eine Tochter in heller Aufregung, weil ihre verwitwete Mutter sich mit Heiratsplänen trägt. Villa im Grunewald, Aktienfonds, viel Geld. Das wäre doch was für dich, Rolf. Mach aus dem Anwärter einen Heiratsschwindler.«

»Wahrscheinlich ist er tatsächlich einer«, sagte Rolf und nahm den Auftragsfragebogen entgegen, den Gloria ihm über den Tisch zuschob.

»Nächster Fall: Besorgte Eltern … Waren beide persönlich hier, er Professor an der FU, sie Lehrerin. Der siebzehnjährige Sprössling droht in die Drogenszene abzugleiten. Er hat eine neunzehnjährige Freundin in Marzahn. Drogen … dein Fall, Lieselotte.«

Lieselotte griff nach dem Blatt. »Wenn es stimmt, dann sorge ich dafür, dass sie wegen BtM im Knast landet.«

»Lieselotte! Wie oft muss ich dir das noch erklären? Es spielt keine Rolle, ob es stimmt. Die Eltern zahlen, und wir sorgen dafür, dass die missliebige Freundin aus dem Leben des Söhnchens verschwindet. Klar?«

»Aber …«

»Kein Aber, Lieselotte. Wir können das nicht jedes Mal durchdiskutieren. Wenn dieser Professorensprössling und die Marzahntussi sich wirklich lieben, dann bringt sie nichts auseinander. Und wenn sie etwas auseinander bringt, dann wir! Wir finden in einer Beziehung die Sollbruchstelle, an der sie später ohnehin zerbricht. Verstanden?«

»Hm.«

»Gut. Du sorgst dafür, dass die Polizei das Mädchen wegen Drogenbesitzes vorübergehend aus dem Verkehr zieht. Dann schauen wir, ob wir für den Jungen eine Julia brauchen, die ihn ins bürgerliche Leben zurückführt. Klar?«

»Alles klar.«

Wahrscheinlich träumt Lieselotte insgeheim davon, in einem Eheanbahnungsinstitut tätig zu sein, dachte Jasmin wieder einmal. Lieselotte lebte in Pankow mit den Kindern zweier verschiedener Männer, aber nicht mit Männern.

»Weiter im Text. Eine Hamburger Senatorengattin wünscht einen Scheidungsgrund. Sie schlägt den Einsatz einer Julia vor, einschließlich fotografischer Dokumentation des Seitensprungs ihres Mannes durch einen Detektiv.«

»Eine unserer leichtesten Übungen«, bemerkte Rolf protzig und langte nach den Unterlagen.

Jasmin unterdrückte eine Bemerkung. Geiler Bock!

»Nächster Fall.« Gloria lächelte Jasmin zu. »Eine anonyme Zuschrift per E-Mail. Ein höchst interessanter Fall.« Sie las vor: »›Sehr geehrte Damen und Herren, Bezug nehmend auf Ihre Annonce in der Zeitung, möchte ich mich an Sie um Hilfe wenden. Severin Rosenstock soll Nicole Tiller heiraten. Aber sie ist eine kaltherzige und egoistische Schlampe, die es nur auf sein Geld abgesehen hat. Man muss ihn vor einem schweren Fehler bewahren, der ihn nur unglücklich machen wird.‹«

»Du meine Güte«, seufzte Lieselotte. »Immer diese Dramatik. Als ob man sich nicht wieder scheiden lassen könnte.«

»Klingt, als hätte ein Analphabet seinen Nachbarn gebeten, ein Schreiben aufzusetzen«, bemerkte Rolf.

»Oder nach einem Kind«, sagte Lieselotte verträumt.

»Ein Teenager würde nie schreiben: ›… möchte ich mich an Sie um Hilfe wenden‹«, widersprach Jasmin. »Dafür muss man mindestens vierzig Jahre alt sein.«

»Aber es klingt tatsächlich wenig weltgewandt«, sagte Gloria. »Zum Beispiel fehlten sämtliche Adressen, auch der Absender.«

»Ein Klacks, das herauszufinden«, sagte Rolf. »Dieser Severin Rosenstock, ist das nicht der Rosenstock?«

»Ja klar, Rosenstock-Küchen«, platzte Lieselotte erfreut heraus. »Ich habe auch eine Rosenstock-Küche daheim. Modell Tessin. Das sind gute Küchen und bezahlbar.«

»Im Kern ein Familienunternehmen«, bemerkte Rolf.

»Und diese … wie heißt sie? Nadja, Nadine …«, begann Lieselotte.

»Nicole Tiller«, korrigierte Gloria.

»… die ist dann das Aschenputtel, das dem Firmenpatriarchen und der Mutter des Sohnes gar nicht gefällt. Oder einer Tante. Oder einer verliebten Nachbarin.«

Einen Moment herrschte nachdenkliche Stille.

»Jasmin«, sagte Gloria, »was meinst du?«

»Nun ja, ein anonymer Auftrag … so nötig haben wir es doch nicht mehr, dass wir in Vorleistung gehen, um einen Auftraggeber zu kontaktieren, der womöglich keinen Cent besitzt.«

»Da fällt mir was ein«, sagte Rolf in dem aufsässigen Ton, den er gern annahm, wenn Jasmin eine unmissverständliche Meinung vertrat. »Erst kürzlich ist mir der Name Tiller irgendwo untergekommen. Richtig! Er stand in der Zeitung, und zwar im Zusammenhang mit einem Einbruch in eine Villa. Es sollen Kunstwerke im Millionenwert gestohlen worden sein. Ja, genau. Es war die Tiller-Villa auf dem Turmberg in Karlsruhe-Durlach. Karlheinz Tiller, Großunternehmer, Baumaschinen, Gleisumbauzüge.«

»Was bitte?«, rief Lieselotte.

»Gigantische Maschinenzüge, die auf Schienen fahren und eine Bahnstrecke erneuern. Vorne bauen sie alles ab, in der Mitte werden neue Schwellen und Gleise verlegt, hinten kommt die fertige Strecke raus.«

»Wer braucht denn so was?«, fragte Lieselotte.

»Jedes Bahnunternehmen«, antwortete Rolf. »Ich habe gelesen, dass Tiller nach der EU-Erweiterung mit seinen Gleisumbauzügen in Polen Millionen verdient.«

»Dann ist Nicole Tiller gar kein Aschenputtel«, stellte Lieselotte fest. »Geld heiratet Geld. Aber vielleicht ist ein Aschenputtel im Haus, das da was dagegen hat.«

Das Wort Geld glitzerte in Glorias Augen. »Es könnte sich lohnen, dass wir uns um den unbekannten Auftraggeber kümmern. Jasmin, das ist der Fall für dich.«

»Wer solch unbeholfene Briefe schreibt, hat vermutlich kein Geld«, erwiderte sie wenig begeistert.

»Was herauszufinden wäre«, sagte Rolf und langte nach dem Blatt, das Gloria noch in der Hand hielt. »Wo die E-Mail herkommt, das kriege ich raus, und wo diese Königshochzeit stattfindet, auch.«

Jasmin war sich sicher, dass niemand ihre innere Erregung bemerkt hatte.

Glorias Bürofenster wiesen zur Fischerstraße auf den Nußbaum, die legendäre Speisestätte von Heinrich Zille, Otto Nagel und Claire Waldoff. Unten an den Straßentischen hatten sich etliche Touristen niedergelassen. Im Büro legte sich Sonnenschein auf Glastisch und Ledersessel in der Sitzecke. Die Zimmerlinde war mit den Jahren etwas üppig geworden.

Da Jasmin inoffizielle Vizechefin der Agentur war, hatte Gloria sie zum Gespräch mit Vanessa dazugebeten.

»Wenn du mit einem tollen Beruf prahlen willst, dann musst du Fernsehansagerin werden. Aber solange du für mich arbeitest, bist du eine Sekretärin. Was die tut, will niemand wissen.« Gloria lächelte. »Wir sind hier alle nur Sekretärinnen.«

»Und Rolf?«

»Der ist Detektiv.«

»Das ist ungerecht!«

»Männer können eben keine Sekretäre sein. Doch wir Frauen leben davon, dass man uns unterschätzt. Wenn du damit nicht leben kannst, dann sollten wir uns trennen, je schneller, desto besser. Willst du das?«

Vanessa schüttelte den Kopf.

»Okay. Und wenn du das nächste Mal eine neue Mitarbeiterin für uns anwerben willst, dann komm zu mir, und wir überlegen zusammen, wie wir Kontakt aufnehmen.«

Vanessa nickte. Sie wirkte ziemlich geknickt, als sie ging.

Gloria holte eine Flasche Raki und zwei Schnapsgläser aus dem Schrank und schenkte ein. »Du siehst blass aus, Jasmin«, bemerkte sie, während sie ihr das Glas über den Tisch zuschob.

»War eine anstrengende Woche«, erwiderte Jasmin. Allein der Geruch von Anis machte sie schon besoffen. »Ich glaube, ich sollte vierzehn Tage Urlaub nehmen. Als ich heute Morgen aufstand, dachte ich, ich kriege einen Koller. Irgendwo da draußen wird es Frühling, und ich sitze hier zwischen Wänden und Bahnsteigen. Die Ostsee wäre schön.«

Gloria hob das Glas.

Kapitel 3

In Kreuzberg hatte sich in den letzten Jahren viel getan. Schickimicki mischte sich mit Subkultur. Falk schlenderte die Kottbusser Straße entlang. Unansehnliche Fassaden zwischen Neubauten aus Glas und buntem Metall. Aber die Türken gab es immer noch. Fast beruhigend, dass die wahnwitzige Unruhe, die Berlin beherrschte, manches Viertel nicht einholte. Immer noch die Secondhandläden, Minigalerien, Hinterhöfe, in denen alternative Kultureinrichtungen blühten. Basisdemokratisch selbstverwaltet.

Zwischen türkischen Läden die Auslagen eines Obsthändlers. Falk betrachtete die Ananas, Mangos und Kapstachelbeeren, die Weintrauben aus Südafrika und die Nispeln aus Spanien, füllte dann vier Äpfel in eine Plastiktüte und ging in den Laden. Xandras Mutter stand an der Kasse. Falk tat so, als hätte er sie noch nicht bemerkt, und betrachtete die Tomaten. An der Kiste mit Schnittlauch, Petersilie, Salbei und Koriander in großen grünen Büscheln sortierte Xandras Vater die welken Büschel und Stängel aus.

»Guten Tag, Herr Schulze«, sagte Falk, »wir kennen uns. Haben wir uns nicht letzten Freitag bei … bei der Hochzeit getroffen?«

Der Obsthändler musterte den eleganten Kunden. Schulze war ein kleiner runder Mann, der in grüner Schürze wesentlich besser aussah als im schwarzen Zweireiher.

»Wie geht es Ihrer Tochter Xandra?«

Schulze knurrte, entschloss sich dann aber doch zu vorwiegend einsilbigen Worten. »Ick sach nur: Frauen! Da steckt keener drin. Wie soll’s ihr schon jehn? Mann weg, Heirat jeplatzt, Freund weg. Dat heulende Elend.« Er blickte zur Käsetheke hinüber. Dort stand das heulende Elend, die großen blauen Augen ins Leere gerichtet, und knabberte an einem Fingernagel. »Und zahlen muss sie trotzdem diese Heiratsagentur. War ja ‘ne erfolgreiche Vermittlung jewesen, nich? Die Strauchtomaten sind übrigens sehr aromatisch.«

Falk tütete Strauchtomaten ein, nickte dem Vater zu und begab sich zur Käsetheke. Es roch türkisch im ganzen Laden, nach Schafskäse in der Lake, eingelegten Oliven und einer undefinierbaren Mischung aus Gewürzen.

Xandra erkannte ihn sofort. »Hallo«, sagte sie verlegen. Ihre Augen schwammen in Röte. »Sie sind das. Wie … wie geht es Achim?«

»Bescheiden. Er versteht nicht, warum Sie ihm das angetan haben.«

»Das tut mir ja auch schrecklich Leid. Ich hätte es ihm vorher sagen müssen. Ich hätte mit ihm reden müssen. Er war so verzweifelt, Georg, meine ich. Ich kannte ihn doch erst zwei Wochen. Aber ich wollte Achim heiraten, ehrlich. Dann dachte ich wieder, er bringt sich um, Georg, meine ich. Ich muss mich entscheiden, hat er gesagt.«

»Na«, entgegnete Falk ungewollt streng, »Sie haben sich ja dann auch entschieden. Für Georg.«

Auf einmal quollen Tränen aus Xandras Augen und tropften auf ihre runden Wangen hinab. »Er weiß es doch gar nicht. Er hat es doch gar nicht mitgekriegt. Er denkt, ich sei mit Achim verheiratet und in den Flitterwochen.«

»Dann rufen Sie ihn an. Das kann doch nicht so schwierig sein.«

»Wie denn? Ich weiß doch gar nicht, wo er ist. Und bei seinem Handy ist immer nur die Mobilbox dran, oder es meldet sich ganz wer anders.«

»Oh!«, machte Falk. »Das ist aber merkwürdig.«

»Er ist tot, ich weiß es. Er hat sich etwas angetan.«

Falk lachte unwillkürlich laut auf. »Wenn er Sie liebt, dann bringt er sich nicht um, sondern kommt wieder. Andernfalls taugt er nichts.«

Das schien Xandra nicht zu trösten.

»Von dem Schafskäse hätte ich gern zweihundert Gramm«, sagte Falk.

Sie stocherte mit dem Messer eine Scheibe vom Schafskäse herunter, der in der Lake lag. Falk konnte jetzt schon sagen, dass es zu wenig war. Außerdem zerbrach ihr die Scheibe, während sie sie auf das Papier hob, um sie abzuwiegen.

»Plötzlich stand er vor mir, Georg, meine ich. So wie Sie. Er wollte auch Schafskäse. Und Oliven. Schwarze Oliven. Die ganze Zeit hat er mich angeschaut. ›Was schaust du so?‹, habe ich ihn gefragt. ›Du hast so wunderschöne blaue Augen‹, hat er geantwortet. Er hat gefragt, ob ich mit ihm essen gehe. Ich habe gesagt, ich heirate in vierzehn Tagen. ›Nein‹, hat er gesagt, ›du heiratest nicht oder mich.‹ Einfach so. Er war nur zu Besuch in Berlin. Den restaurierten Pergamon-Fries anschauen. Ich weiß nicht mal seinen Nachnamen. Es war Wahnsinn.«

Armer Achim, dachte Falk. Da war ein Mann wohlerzogen, gesittet und höflich und schwerreich, und dann kam irgendein frecher Wolf und entführte ihm die kuhäugige Braut vor der Nase. Fast als wäre es gewollt gewesen. Hatte Achim Feinde?

Xandra krümelte eine zweite dünne Scheibe Feta auf die erste. Nun zeigte die Waage dreihundertzweiundvierzig Gramm.

»Ist recht so«, sagte Falk nachsichtig. Schließlich ging es ihm nicht um den Käse. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Xandra.«

»Wie denn?« In ihren Augen glitzerten Trotz und Hoffnung.

»Wenn Sie mir Georgs Handynummer geben …«

»Aber ich sagte doch, da meldet sich niemand.«

»Man kann Handynummern zurückverfolgen.«

»Sind Sie bei der Polizei?«

Falk zog die Brauen hoch. »Seh ich so aus?« Er meinte die Frage durchaus ernst. Er war entschieden zu gut angezogen für einen Bullen. Wenn Xandra das nicht sah, dann taugte sie ohnehin nicht zur Gattin eines Kaffeeimporteurs Junior namens Achim Hansen. »Aber mit Geld bekommt man alles raus.«

Fünf Minuten später marschierte Falk mit einer Tüte Tomaten, einer Tüte Äpfeln, dreihundertzweiundvierzig Gramm Schafskäse und einer Handynummer auf einem Zettel auf die Kottbusser Straße hinaus.’ Nachdem er Xandras Geschichte einer Blitzverführung gehört hatte, war er sich sicher: Es konnte kein Zufall sein, dass zum zweiten Mal im letzten halben Jahr eine Hochzeit platzte, die seine Mutter als Heiratsvermittlerin angebahnt hatte. Zwar dürfte es dem alten Hansen ganz recht gewesen sein, dass aus der Ehe mit Xandra nichts geworden war, aber wenn es sich in den besseren Kreisen herumsprach, dass die Bräute der Goldenen Rose zickig waren, dann konnte seine Mutter ihr Haus am Wannsee dichtmachen. Nicht dass sie auf diesen Verdienst angewiesen wäre, aber ausgebootet zu werden war auch dann nicht schön, wenn einem Geld gleichgültig sein konnte. Sie führte das Heiratsinstitut seit über dreißig Jahren, und immer war es für sie so eine Art existenzielle Rückversicherung gewesen. »Wenn dein Vater mich aus dem Haus ärgert, dann habe ich immer noch das Institut«, pflegte sie zu sagen. Aber wer wollte der Goldenen Rose übel? Die Konkurrenz? Davon gab es zwei Dutzend in Berlin.

Kaum in seinem Auto, tippte Falk die Nummer des Handys ein und erfuhr, dass eine Verbindung derzeit nicht hergestellt werden könne.

Kapitel 4

Jasmin schloss die Reisetasche und nahm die Einladungskarte vom Tisch. Außen waren zwei Ringe aufgedruckt. Wenn man sie aufschlug, ertönte pfeifend Mendelssohns Hochzeitsmarsch, »dadadadiii düüü dü düttt di diiii da düüüüü…«, und man las in Schnörkelschrift: »Nicole Tiller und Severin Rosenstock wollen den Bund fürs Leben schließen.«

Die Post hatte ihr diese Karte schon vor einiger Zeit zugespielt. Nicoles letzter und vollständiger Triumph. Sicherlich rechnete sie nicht damit, dass Jasmin wirklich zur Hochzeit kommen würde. Erstaunlich, dass Nicole überhaupt ihre Adresse in Berlin wusste. Jasmin stand nicht im Telefonbuch. Und bei ihren Eltern hatte Nicole nicht nachgefragt, danach hatte Jasmin sich erkundigt.

Sie hätte Gloria unbedingt sofort sagen müssen, dass sie Nicole Tiller und Severin Rosenstock kannte. Doch dann hätte Gloria vermutlich eine Regel formuliert, für die es bislang noch keinen Anlass gegeben hatte und die lauten musste: »Niemals in eigener Sache!« Man hätte Vanessa schicken können. Irgendwann musste sie ihren ersten eigenen Fall bekommen. Das wäre eine Gelegenheit gewesen. Allerdings war Gloria gerade sauer auf Vanessa, und wenn jemand Severin noch kurz vor der Hochzeit auf Abwege bringen konnte, dann war es sie, Jasmin, die er einst geliebt hatte, bevor Nicole ihn ihr wegschnappte.

Am Dienstag hatte Rolf bereits gewusst, woher die anonyme E-Mail stammte. »Von einem ISDN-Anschluss in einer Ferienpension namens Hus Achtern Boom in Kühlungsborn, einem Badeort in Mecklenburg-Vorpommern. Die Rosenstocks besitzen dort in der Gegend ein Anwesen.«

Haus Peerhagen, wie Jasmin bereits der Hochzeitseinladung entnommen hatte, aber für sich behielt.

»Das trifft sich gut, Jasmin!«, rief Gloria aus. »Wolltest du nicht an der Ostsee Urlaub machen? Wie wär’s mit Kühlungsborn? Du recherchierst ein bisschen. Und dann entscheiden wir, was wir machen und wen wir schicken. Vielleicht willst du es dann ja auch selber machen. Den Aufwand stellst du mir in Rechnung, dein Hotel zahlt die Firma. Ist das ein Angebot?«

Eigentlich hatte Jasmin es nicht nötig, sich ihren Urlaub von Gloria finanzieren zu lassen. Sie verdiente mehr, als sie ausgeben konnte. Und gerade diese Sache musste ihre Privatsache bleiben.

Andererseits hätte Gloria es nicht verstanden, wenn sie eine Reise an die Ostsee auf Kosten der Firma ablehnte. Es war ein großzügiges Angebot, denn die Recherche würde sie höchstens ein paar Tage kosten. Das konnte sie nicht ablehnen. Denn wer unverhoffte Gratisangebote nicht annahm, hatte was zu verheimlichen, pflegte Gloria zu behaupten.

Jasmin steckte die Einladungskarte in die Seitenklappe der Reisetasche. Es war ein schöner Morgen Mitte Mai, als sie zum Lehrter Bahnhof aufbrach. Die Sonne funkelte schräg in die Stadt hinein. Der Fernsehturm glitzerte wie eine Discokugel, und der magere Kirschbaum an der Ecke verbreitete einen nahezu betäubenden Duft.

Der Regionalexpress fuhr zuerst gen Westen über Spandau aus der Stadt hinaus, dann nordöstlich nach Oranienburg, ehe er freie Fahrt gen Norden gewann. Jasmin hatte ihre Reisetasche unter den Sitz geschoben und auf den Knien die Mappe mit den Unterlagen, die Rolf in den letzten Tagen zusammengetragen hatte, und zwar mit einem Eifer, als hätte er gespürt, dass Jasmin dieser Auftrag in eine Zwickmühle brachte.

Warum hatte sie es nicht geschafft, Gloria zu erzählen, dass sie Nicole und Severin kannte? Mit Gleichgültigkeit in der Stimme. »Die hat mir damals den Mann weggeschnappt. Wegen ihr habe ich mein Studium abgebrochen und bin nach Berlin geflüchtet. Wenn du willst, dann wird es mir ein Vergnügen sein, ihr die Hochzeit zu versalzen.« Sie hatte es nicht gesagt, weil sie es nicht gleichgültig sagen konnte. Ihre Stimme hätte gezittert. Auch nach fünf Jahren noch stiegen in ihr Scham und Zorn hoch, wenn sie zurückdachte.

Severin, der sanfte, langgliedrige Bursche, der einst in einer BWL-Vorlesung neben ihr saß und sich den kybernetischen Regelkreis und die ökonomischen Steuerungskonzepte erklären ließ. »Mein Vater will halt, dass ich Betriebswirtschaft studiere. Ich soll mal den Betrieb übernehmen«, hatte er seine geistige Trägheit gerechtfertigt. Ohne sie hätte er die Prüfungen nicht bestanden. Ihm fehlte jeglicher Ehrgeiz. Seine charmante Nachlässigkeit und die Gelassenheit des Reichtums hatten Jasmin gegen ihren Willen fasziniert. Dieser junge Mann hatte es immer leicht gehabt und seufzte darunter. »Du wärst viel besser geeignet, die Firma zu führen. Wir sollten heiraten«, hatte er gesagt. Sie hatte gelacht,, ihn aber ernst genommen. Was für eine Zukunft hatte sie auf einmal gehabt. Sie, die kleine Jasmin Kandel, Tochter eines Karlsruher Pfandleihers für Autos.

Ihre Kindheit hatte sie zwischen Autos verbracht. Sogar einen Rolls-Royce hatten sie einmal auf dem Hof stehen gehabt. Aber meistens waren es kleine Leute, die ihre Schrottmühlen brachten. Steifbeinig gingen sie vom Hof, zählten die Scheine nach, die ihr Vater ihnen ausgehändigt hatte, steckten sie in die Jackeninnentaschen oder die Portemonnaies in der Gesäßtasche einer Kaufhausjeans oder einer Kunststoffhose. Kleine Leute mit ganz großen Geschichten über plötzlich erkrankte Tanten oder Ehefrauen und die Erwartung einer größeren Geldzahlung in allernächster Zeit. In Wahrheit mochte der eine sein Geld versoffen haben, der andere verspielt. Ihr Vater hinterfragte die Geschichten nicht. Es war ihm gleichgültig, aus welchen Gründen sie ihre Autos brachten. Sie finanzierten die Kandel’sche Vierzimmerwohnung in einer Plattenbausiedlung am Rand von Karlsruhe-Beiertheim mit Eichenschrankwand, Fernseher, Videorekorder und Rosenstock-Küche. Den kleinbürgerlichen Wohlstand, in dem Jasmin aufgewachsen war, verdankten sie der Not anderer Leute.

Es war Jasmin immer peinlich gewesen, wenn sie in der Schule den Beruf ihres Vaters angeben musste – Autohändler, Gebrauchtwagenhändler, Pfandleiher, eines war so schlimm wie das andere gewesen. »Es ist ein ehrlicher Beruf«, hatte ihre Mutter jedes Mal betont und dabei geklungen, als würde sie genau das ihrem Mann seit Anbeginn der Ehe vorwerfen. Dabei war sie auch nur die Tochter eines Metzgers. Auch wenn der Metzger nach dem Krieg in dem Dorf nahe Karlsruhe den ersten großen Mercedes fuhr, damals in den Zeiten, da das Eis noch vom Eismann gebracht wurde.

»Eigentlich wollte ich Schauspielerin werden«, hatte ihre Mutter ganz früher erzählt. »Aber da hätte ich reiten und fechten lernen müssen. Und wie hätte das gehen sollen? Man war froh, wenn man nach dem Krieg überhaupt was zu essen hatte.« Als Jasmin alt genug war, um nachzufragen, wie es denn sein konnte, dass die Metzger auf dem Dorf in den fünfziger Jahren nichts zu essen gehabt hatten, sprach sie nicht mehr darüber. Auch Jasmins Zukunft verlor die Farbe, die sie ganz früher noch gehabt hatte, und solche Sätze wie: »Du mit deinem Haar … mit deinem Gesichtchen wie Mia Farrow. Eines Tages wirst du ein großer Star. Du wirst mit Königen speisen«, fielen nicht mehr. Ihre Mutter hatte sich in einen Wattebausch verwandelt. Es wurde überhaupt nicht mehr viel geredet. Vater saß abends vor dem Fernseher, die Fernbedienung in der einen Hand und eine Flasche Rothaus in der anderen. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Großvater Kandel hatte mit Schrott gehandelt. Man wusste, wo was zu holen war, man war fleißig und realistisch. Und ein Quäntchen Glück belohnte den Schlauen. Die Kinder konnten studieren. Der Sohn würde Rechtsanwalt werden oder Staatsanwalt. Und Jasmin saß im Hörsaal der Uni Heidelberg neben dem Erben des Rosenstock-Küchenimperiums und stand vor einer großen Karriere als Ehefrau. Vom Hörsaal direkt in die Chefetage eines Konzerns. Ein bisschen schwummrig war ihr bei dem Gedanken schon geworden, aber warum denn nicht? Doch die Illusion zerplatzte wie einst Mutters manische Visionen von Glanz und Reichtum. Genau ein Semester dauerte Jasmins Traum. Dann kam Nicole aus den USA zurück.

Bis heute begriff es Jasmin nicht. Sie hatte Severin sogleich zum Essen eingeladen, um ihn ihrer besten Freundin vorzustellen. »Doch ja, ein netter Kerl«, hatte Nicole geurteilt. »Ein bisschen zu soft für meinen Geschmack. Aber dir muss er ja gefallen, gell?« Sie hatten gekichert wie in alten Zeiten. Nicole hatte sie herzlich umarmt und ihr Glück gewünscht. »So wie es aussieht, wirst du deinen Millionär heiraten, bevor ich meinen habe.«

Keine drei Tage später erwischte Jasmin die beiden in ihrer WG zusammen in Nicoles Bett. Noch am selben Abend flüchtete Jasmin aus Heidelberg zu ihren Eltern nach Karlsruhe. »Und was ist mit deinem Studienabschluss?«, fragte ihr Vater nach drei Wochen. »Dann such dir halt einen Job«, sagte ihre Mutter nach sechs Wochen. »Wir können dich nicht ewig durchfüttern.« Nach einer weiteren Woche bat ihr Vater sie nach der Tagesschau ins Wohnzimmer und bot ihr bei sich in der Pfandleihe einen Posten als Buchhalterin an. »Allerdings, Lohn gibt’s nur für eine Ungelernte. Bist ja auch nichts anderes.«

Den Rest ihres Lebens im verglasten Flachbau zwischen Autos sitzen und den Lebenslügen in Not geratener Menschen ins Auge schauen? Zwei Monate zuvor hatte sie sich noch in der Chefetage der Firma Rosenstock gesehen. Aber ihr Vater war unerbittlich in seiner Sorge, sie könne völlig den Halt verlieren. »Ab nächstem Ersten wirst du monatlich eine gewisse Summe für Kost und Logis an deine Mutter abführen.«

Innerlich tot und zu Tode erschreckt, hatte Jasmin sich einen Job in der Stadt gesucht. Den Winter über arbeitete sie als Verkäuferin in einem Drogeriemarkt. Wie ein Automat brach sie morgens bei Dunkelheit auf und kehrte abends bei Dunkelheit zurück. Das Wochenende verbrachte sie im Bett. Im Fernsehen war die Werbung das Einzige, was zuweilen in ihre erstarrte Seele hineinblitzte. Ganz schrecklich die Liebesfilme. »Reiß dich zusammen, Kind!«, sagte ihre Mutter anfangs noch. »Unternimm was mit Freunden.« Doch sie verstummte mit der Zeit. Alles im Lot, das Kind ging ja arbeiten und lieferte Geld ab. Vermutlich wäre Jasmin verhungert und verdorrt, wäre nicht im Frühsommer ein Brief von Lieselotte gekommen, in dem sie von der Geburt ihrer zweiten Tochter erzählte.

Warum sie geschrieben hatte, konnte auch Lieselotte nie schlüssig erklären. Sie hatte nur drei Semester in Heidelberg studiert und war dann nach Berlin zurückgekehrt. Jasmin konnte sich nicht einmal genau an Lieselotte erinnern. Irgendeine Dicke mit Hang zu chaotischer Lebensführung, die einmal in einem Seminar neben ihr gesessen hatte. Doch sie hatte sofort ihren Koffer gepackt, war zu ihrer Mutter in die Küche gegangen und hatte ihr mitgeteilt: »Ich gehe nach Berlin.« Von ihrem Vater hatte sie sich nicht verabschiedet. Er war nicht zu Hause gewesen.

Ein halbes Jahr hatte sie bei Lieselotte und ihren zwei kleinen Kindern in Pankow gewohnt. Zu freundschaftlichen Gefühlen war Jasmin nicht fähig gewesen, aber sie hatte im Chaos der kleinen Familie ohne Väter eine gewisse Beruhigung empfinden. Lieselotte war ein Muttertier mit dünnen Haaren und etwas vorstehenden Augen, und solche waren keine Konkurrenz, schon gar nicht wenn man selbst bis auf die Knochen abgemagert war. Sie fütterte Lieselottes Töchter, konnte selbst aber kaum einen Bissen essen. Wie lange das so ging, erinnerte sie sich nicht, denn ihr war jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen. Hungern war Selbstvernichtung, man merkte es nur nicht, weil man so high war. Sterben machte high. Ihr Leben war zu Ende, eine Sackgasse ohne Wendeplatte. Aber nicht einmal das spürte sie. Man konnte so am Ende sein, deprimiert bis zur inneren Vereisung, dass es richtig angenehm war. Absolute Stille im Innern. Nichts und niemand fragte noch, warum.

Irgendwann drohte Lieselotte damit, sie ins Krankenhaus einliefern zu lassen. Wenn Jasmin heute zurückdachte, dann glaubte sie nicht, dass sie damals den Ernst der Lage begriffen hatte. Es war auch nicht Lieselottes massive Besorgnis gewesen, die sie irgendwie Schritt für Schritt wieder in ein Leben zurückgeschubst hatte, von dem man behaupten konnte, es sei normal. Vielmehr war es Lieselottes schlichte Anfrage gewesen: »Du sag mal, Jasmin, dein Bruder hat doch Jura studiert. Ist es eigentlich illegal, wenn man jemanden verführt, nur um die Hochzeit mit einem andern zu verhindern? Erfüllt das irgendeinen Straftatbestand wie Körperverletzung oder Freiheitsberaubung?«

»Eines weiß ich sicher«, hatte Jasmin erwidert, »deine Cannabis-Plantage auf dem Dachboden ist absolut illegal. Aber Verführung ist nicht einmal sittenwidrig. Wen willst du denn verführen?«

So hatte sie Glorias Firma kennen gelernt.

Zunächst hatte sie nur die chaotische Buchführung in Ordnung gebracht. Dann hatte sie angefangen, bei den Konferenzen mitzureden, und schließlich hatte sie Gelegenheit erhalten, ihr Meisterstück abzuliefern. Ein Mann wollte die Braut seines Freundes heiraten. In so einem Fall konnte man keinen Romeo einsetzen, um die Braut zu einem vorehelichen Seitensprung zu provozieren. Sie sollte sich ja in den Klienten verlieben. Und wenn man den Bräutigam vor der Hochzeit mithilfe einer Julia auf Abwege brachte, hieß das noch lange nicht, dass sich die betrogene Braut dem heiratswilligen Freund des Bräutigams zuwandte. Doch es war Jasmin gelungen, die Braut in eine scheinbar lebensgefährliche Situation zu bringen, damit der Klient als Lebensretter auftreten konnte.

»So jemanden wie dich brauche ich!«, hatte Gloria ausgerufen. »Hätte Lieselotte dich nicht angeschleppt, hätte ich dich erfinden müssen.«

Sie hatte eine eigene Wohnung in der Karl-Marx-Straße in Neukölln bezogen, blitzmodern und teuer mit Balkon nach hinten hinaus, Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer und Rosenstock-Einbauküche, Modell Barcelona mit blau-weiß gemusterten Sockelleisten.

Es hatte Jasmin nicht interessiert, was genau sie in Glorias Augen von anderen jungen Frauen unterschied. Die innere Vereisung, gepaart mit überraschender Anerkennung, machte ihren Kopf frei für selbstlos kühle strategische Berechnungen. Die Welt, die Jasmin seit knapp fünf Jahren durchkreuzte, war ein Schachbrett, auf dem sich Gefühle verschieben ließen. Nichts hatte wirklich Bestand, am wenigsten die Liebe, so oft man auch deren Ewigkeit beschwor.

Wer wird Millionär