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Alfred Bekker

Alfred Bekker schrieb als Leslie Garber - Krähen: Thriller

Unheimlicher Roman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Krähen

Roman von Alfred Bekker

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 120 Taschenbuchseiten.

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

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1

"Nein", flüsterte die grauhaarige Frau mit den hellblauen Augen. Ihr Mund war halb geöffnet. Sie war starr vor Schrecken.

Vom Horizont her sah sie den dunklen Schwarm der Vögel herannahen. Wie düstere Gedanken schwebten sie am Himmel.

Es waren Krähen.

Ich habe sie gerufen!, wurde es ihr klar und diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Sie fühlte die Verzweiflung in sich aufsteigen. Es war ein düsterer, wolkenverhangener Tag. Dorothy Carson fröstelte. Ein eisiger Wind kam von der Küste her und blies über das grau wirkende Land. Ein krächzender Laut durchschnitt die Stille wie ein Messer. Die alte Dame wirbelte herum und sah zur Vorderfront des weiträumigen, herrschaftlich wirkenden Landhauses, das sie bewohnte. Auf dem Dach hatte ein halbes Dutzend Krähen Platz genommen, ohne dass Dorothy davon etwas bemerkt hätte. Und ein paar weitere kamen jetzt noch hinzu. Es war gespenstisch.

"Fort mit euch, ihr kleinen Bestien!", rief Dorothy mit heiserer, kraftlos klingender Stimme. Der Vogelschwarm vom Horizont kam indessen näher.

Unfassbar, dachte sie. Es sind meine Gedanken, die diese Wesen herbeirufen. Meine düsteren Gedanken und eine geheimnisvolle Kraft, die ihnen innezuwohnen scheint...

Aber warum verschwanden sie dann nicht wieder, wenn sie es wünschte? Warum hatte sie offenbar nicht auch die Macht, diese Vögel wieder zu verjagen?

Sie hörte das Krächzen und dieser Laut ging ihr durch Mark und Bein. Einen Moment lang war Dorothy Carson wie betäubt, dann strebte sie dem Hauptportal des Landhauses zu. Sie hatte Angst. Namenlose Angst, die ihr die Kehle zuschnürte und sie halb wahnsinnig zu machen drohte... Angst vor jenen dunklen Geschöpfen, die sie selbst herbeigerufen hatte, über die sie aber dennoch nicht vollends Herrin war. Die Vögel kamen näher. Dorothy Carson rannte jetzt. Es war ein großer Schwarm. Der wolkenverhangene Himmel begann sich zu schwärzen. Einige der Vögel flogen sehr tief. Und das grauenerregende Krächzen war nun allgegenwärtig. Dieser Laut ließ Dorothy frösteln. In ihrem Innern krampfte sich alles zusammen. Sie hörte sich selbst unverständliche Worte vor sich hinmurmeln.

Ich kann meine Kraft nicht kontrollieren!, ging es Dorothy siedend heiß durch den Kopf. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Sie war erfüllt von nichts weiter als nackter Furcht.

Dann stolperte sie, nur wenige Meter von dem Treppenaufgang des Portals entfernt. Dorothy schluchzte. Es war sinnlos, sich gegen die übermächtigen dunklen Mächte zu stellen, die sie selbst herbeigerufen hatte. Diese Kräfte waren zu stark. Sie konnte sie nicht bändigen, so sehr sich auch bemühte. Sie keuchte. Der Angstschweiß stand ihr kalt auf der Stirn, als sie sich herumdrehte und den Schwarm der Krähen auf sich zukommen sah. Sie flogen sehr tief. Und die tierischen Schreie ihrer heiseren Vogelstimmen klangen wie finstere Todesdrohungen. Dorothy schrie aus Leibeskräften und schloss dann die Augen. Sie drehte sich wieder herum, barg den Kopf in den Händen und lag da wie ein zusammengekrümmter Embryo. Dann spürte sie eine Berührung an der Schulter und ein Schauer ließ sie zittern.

Eine dunkle Männerstimme drang wie von Ferne an ihr Ohr.

"Mrs Carson! Mrs Carson, kommen Sie!"

Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie es wagte, die Augen zu öffnen, dann blickte sie in ein vertrautes, wenn auch sichtlich erschrockenes Gesicht. Es gehörte Charles, dem Butler. Charles war zwar noch um einiges älter als sie, aber sein Griff war kraftvoll und entschlossen. Der Butler zog Dorothy Carson hoch und stellte sie wieder auf die Beine. Sie zitterte und wimmerte leise vor sich hin, während der Schwarm der Krähen kreischend über sie beide hinwegflog. Gemeinsam gingen sie das Portal hinauf. Charles öffnete die Tür und dann, einen Augenblick später waren sie endlich in Sicherheit. Dorothy fasste sich langsam.

"Es ist so schrecklich, Charles", schluchzte sie. "So furchtbar... Die Vögel..."

"Was ist mit ihnen?", fragte der Butler.

"Oh, Charles, ich war es, der sie gerufen hat! Meine Gedanken haben sie angezogen, aber ich kann nichts dagegen tun! Ich kann sie rufen und manchmal geschieht es sogar ohne meine Absicht, aber ich kann sie nicht kontrollieren!"

"Mrs Carson...", versuchte der Butler die Herrin des Landhauses zu beruhigen, aber er bekam gar nicht die Gelegenheit, etwas zu sagen.

"Ich beschwöre Sie, Charles, gehen Sie auch fort von hier!"

"Aber, Mrs Carson, ich würde Sie nie allein hier zurücklassen!", erklärte der Butler mit fester Stimme.

"Diese Bestien - haben Sie nicht gehört, was mit Lowells Kalb passiert ist? Ein ganzer Schwarm hat sich auf das Tier gestürzt..."

"Es ist nicht mit letzter Sicherheit bewiesen, dass das die Krähen waren", erklärte Charles sachlich.

Aber Dorothy hatte dafür keine Ohren.

"Sie gingen ganz planmäßig vor, haben dem Tier zuerst die Augen ausgepickt. Dann war es hilflos und sie konnten es töten, obwohl soviel größer und kräftiger war... Ich bin dafür verantwortlich, Charles! Ich, niemand sonst! Die Kraft meiner Gedanken ist es, die diese harmlosen Vögel zu Bestien werden lässt..."

"Hören Sie auf, Mrs Carson!", forderte der Butler verzweifelt.

Die Geräusche schlagender Flügel drangen selbst durch die Tür an ihrer beider Ohren. Dorothy Carson musste unwillkürlich schlucken. Ich muss dagegen ankämpfen, sagte sie sich. Und dabei presste sie die Fingerkuppen gegen die Schläfen, hinter denen es auf einmal schmerzhaft pulsierte. Ich muss es schaffen!, hämmerte es in ihr. Ich muss... Sonst würde die unheimliche Kraft, die in ihr schlummerte, weiter Tod und Verderben bringen...



2

Sally Rogers arbeitete schon gut drei Jahre in dem angesehenen Antiquariat Jackson & Graves in Southampton. Die Arbeit machte ihr Freude und in der Zeit, in der sie jetzt schon hier war, hatte sie sich nach und nach bei ihrem etwas bärbeißigen Chef Clayton Jackson durch ihre Sachkenntnis Respekt erworben. Und Sachkenntnis war das A und O, wenn es darum ging, den Wert von Antiquitäten, alten Büchern oder Möbeln, richtig einzuschätzen. Davon hing nicht zuletzt der Erfolg des des Geschäfts ab. Und da es um Clayton Jacksons Gesundheit in letzter Zeit nicht besonders gut bestellt war und Graves, der zweite Partner des Unternehmens, sich vornehmlich um die finanziellen Belange kümmerte, hatte Sally inzwischen eine ziemlich wichtige Funktion bei Jackson & Graves inne. Und das, obwohl sie dafür noch recht jung war. An diesem Morgen führte eine der Verkäuferinnen einen dunkelhaarigen jungen Mann in ihr Büro.

"Das ist Mister Carson", stellte die Verkäuferin den jungen Mann vor. Sally schätzte, dass er ungefähr ihr Alter hatte. In seinem leicht gebräunten Gesicht stand ein sympathisches Lächeln, das sie unwillkürlich erwiderte. "Mister Carson wollte Sie unbedingt sprechen..."

"Ja, das ist schon in Ordnung", erwiderte Sally. "Mister Carson und ich hatten telefoniert..." Sie erinnerte sich.

David Carson aus der Geschäftsleitung von Carson Industries.

Carson reichte ihr die Hand, während die Verkäuferin wieder verschwand. "Dann sind Sie Miss Rogers."

"Ja."

"Ich freue mich, Sie kennenzulernen."

"Bitte, nehmen Sie Platz, Mister Carson", sagte Sally, während ihr Blick dem seinen begegnete. Sie bemerkte, dass er graugrüne Augen hatte.

Die Tatsache, dass er sie einen Moment länger ansah, als das eigentlich nötig gewesen wäre, verwirrte sie für den Bruchteil eines Augenblicks.

David Carson setzte sich.

"Es geht um eine wertvolle Bibliothek, die veräußert werden und dafür zuvor katalogisiert sowie in ihrem Wert einschätzt werden soll..."

"Nun, solche Gutachten erstellen wir durchaus", erwiderte Sally. "Und gegebenenfalls übernehmen wir auch die gesamte Abwicklung eines Verkaufs. Allerdings nur, falls es sich bei den zur Debatte stehenden Dingen nicht um..."

"...Schrott handelt?", unterbrach David Carson sie und lächelte.

Sally lächelte zurück und hob die Augenbrauen.

"So drastisch hatte ich das nicht sagen wollen. Aber unser Haus handelt nur mit wirklich wertvollen Antiquitäten - nicht mit den Dingen, die man auf Flohmärkten erwerben kann."

"Deshalb bin ich ja auch zu Ihnen gekommen, Miss Rogers."

"Um was für eine Bibliothek handelt es sich denn?"

"Zunächst einmal: Es ist nicht meine Bibliothek, sondern die meiner Tante Dorothy. Ich bin sozusagen im Auftrag hier."

"Ich verstehe..."

"Genaues weiß ich nicht, nur soviel: Es sollen auch einige Folianten aus der Zeit von Heinrich dem Achten dabei sein. Dazu alte Chroniken, Bibelausgaben und so weiter. Ich schlage vor, Sie sehen sich das ganze einfach mal an. Von Southampton aus fahren Sie gut anderthalb Stunden bis zum Landsitz von Tante Dorothy."

"Scheint recht einsam zu liegen..."

"Ich habe Ihnen eine Wegbeschreibung mitgebracht. Werden Sie diejenige sein, die die Katalogisierung übernimmt?"

Sally sah ihn erstaunt an.

"Ja, warum?"

"Nun, Sie scheinen mir noch sehr jung dafür..."

"Aber Sie sind nicht etwa zu jung dafür, in der Geschäftsleitung eines großen Industriekonzerns zu sitzen?", versetzte Sally, leicht empört.

Eigentlich sollte ich langsam gelassener darauf reagieren!, schalt sie sich, denn schließlich war es nicht das erste Mal, dass man ihr mit diesem Vorurteil kam. Aber wenn es jetzt von jemandem gebracht wurde, der ihr auf keinen Fall mehr als fünf Jahre voraus sein konnte, dann brachte sie das auf die Palme. David Carsons Gesichtszüge blieben jedoch entspannt.

Ihre Erwiderung schien ihn nicht im Mindesten zu ärgern. Er beugte sich vor und sagte: "Wenn ich nicht der Neffe des kinderlos verstorbenen Firmengründers wäre, wäre ich sicherlich noch lange nicht so weit. Das ist mir wohl bewusst", erklärte er schulterzuckend. Seine Offenheit war entwaffnend.

"So war das nicht gemeint", nahm Sally etwas zurück.

"Es geht auch nicht darum, was ich denke, Miss Rogers, sondern um meine Tante. Ich habe nichts gegen Ihr Alter - aber wie ich meine Tante kenne, wird sie darauf recht skeptisch reagieren..."

"Nun, Mr Jackson ist derzeit gesundheitlich nicht in der Lage solche Aufträge durchzuführen", versetzte Sally kühl. "Sie werden sich dann wohl ein anderes Haus suchen müssen, dass diese Sache übernimmt."

Aber David Carson schüttelte nur den Kopf und machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Das werde ich schon hinbiegen, Sally. So war doch Ihr Vorname, nicht wahr?"

"Ja", sagte sie und hob die Augenbrauen dabei.

"Ich darf Sie doch so nennen, oder? Denn wenn Sie wirklich nach Carson Manor kommen, dann werden wir uns selbstverständlich öfter sehen. Nennen Sie mich David."

"Meinetwegen..."

"Übrigens ist für Ihre Unterbringung gesorgt, Sally. Sie können auf dem Landsitz meiner Tante so lange logieren, wie Sie für Ihre Arbeit brauchen..."

Sally nickte. "Gut, aber vor nächster Woche wird das nichts. Es liegt hier noch zuviel Arbeit..."

"Ich verstehe."

David erhob sich und nahm ihre Hand. Er hielt sie länger als notwendig. "Ich habe heute noch einiges in Southampton zu erledigen. Was halten Sie davon, wenn ich Sie heute Abend zum Essen einlade?"

Sally war überrascht.

Dieser Mann gefiel ihr und seine Anwesenheit versetzte sie in eine prickelnde Spannung. Er war sympathisch und offen und außerdem sehr attraktiv. Aber die Sache ging ihr dann doch etwas zu schnell und so entschied sie sich erst einmal dafür, auf die Bremse zu treten.

"Heute ist es schlecht", sagte sie. "Da habe ich leider schon etwas vor."

"Oh, und das lässt sich nicht aufschieben?"

Sein Gesicht drückte ehrliches Bedauern aus.

Sie schüttelte den Kopf.

"Nein."

"Schade. Aber wir werden es nachholen, okay?"

"Wer weiß? Sagen Sie Ihrer Tante, dass ich Montag nach Carson Manor komme."