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Ewald Arenz

 

Die Erfindung

des Gustav Lichtenberg

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage 2004)

© 2004 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Sabine Cramer

Umschlaggestaltung: Philippa Walz

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-326-3

 

Für Bärbel

 

Teil I

 

1

Es war das romantischste aller Jahrhunderte, in das Lichtenberg geboren wurde, wo auch immer. Es muß ja so sein, daß ein Ende schon abzusehen ist, damit man eine Zeit verklären kann. Es muß so sein, daß man schneller und intensiver zu leben versucht, weil man weiß, hier neigt sich etwas dem Ende zu, hier geht etwas für immer verloren. Und während die einen, die Dichter und Sänger, schon mit vorauseilender Wehmut und immer größerer Süße vom verlorenen Blau sprachen und sich nach Japan sehnten oder nach Amerika, da konnten die anderen es nicht erwarten, bis das Neue entstand.

Die Welt wird aufhören, still zu sein, muß Lichtenberg gedacht haben, der tagsüber lachende Junge aus irgendeiner kleinen Stadt, in der es nachts finster und das Schweigen schwer war und alle Ängste eines kleinen Jungen erst mit dem Sonnenaufgang verflogen. Die Welt wird anfangen zu singen, muß der junge Lichtenberg gedacht haben, als er auf seiner Reise, noch zu Fuß und zu Pferde, an den Eisenhütten am Rhein vorbeikam und die Hämmer auf dem Stahl hörte. Sie wird singen und klingen, muß er gedacht haben und versucht haben mitzupfeifen, als er das erste Mal ein Dampfsignal schrillen hörte. Die Welt wird leuchten, muß er gedacht und sein Herz wild geklopft haben, als er das erste Mal abends auf einem Hügel stand, mitten auf einem ungepflasterten Weg zwischen Feldern und Wiesen, und auf Berlin sah, das schon Gaslicht hatte. Und ich mache sie singen, mache sie hell und bewege sie. Und er dachte den wilden, halb verhohlenen Gedanken, daß er ein Werkzeug Gottes sein könnte, auserwählt, die Menschheit zum Licht zu führen. Alle denken das einmal, wenn sie jung sind, in freudigem Erschrecken. Auch Gustav Lichtenberg.

Es war ein romantisches Jahrhundert. Die Maschinen bekamen Namen wie »Rocket« und »Adler«, und die Opfer der Jungfernfahrten waren Helden, die für den Fortschritt starben, auch wenn sie, wie jener britische Abgeordnete, nur zu dumm waren, um rechtzeitig die Gleise zu überqueren. Ein Husar werden oder ein Ulan im glänzenden Waffenrock? Ach, lachten die jungen Männer wie Lichtenberg, ein Gewehr abfeuern kann jeder. Aber wer schmiedet den Stahl dazu, zieht den Lauf? Solche wie Lichtenberg träumten nicht mehr davon, auf dem Pferd zu sitzen. Pferde – altmodisch. In Berlin, rechneten sie vor – gesetzt den Fall, Verkehr und Bevölkerung nähmen gleichbleibend zu –, werden die Straßen in zwanzig Jahren halbmeterhoch in Pferdemist stecken, man wird der Pferde nicht mehr Herr werden, der Hafer wird gänzlich für das Pferd draufgehen. Pferde! Aber – ein Dampfboot führen! Herr über fünfzig, siebzig Pferdestärken auf einmal! Im Rauch stehen und die Pfeife schrillen lassen. Wenn sechzig Mann ein Schiff flußauf treideln, an ihnen vorbeizugleiten, voller Kraft, und dabei Herr über eine Maschine, die noch zehnmal so stark ist. Was für ein Abenteuer!

So muß Lichtenberg damals den Weg in die Stadt Berlin genommen haben, den Kopf voller Träume und voller Maschinen. Er wird gesungen haben, vor lauter Lust an sich selbst, seinem Erfindergeist und seiner Jugend. Und vielleicht denkt er auch an seine kleine Stadt und an die Apothekerstochter Clara. Ihretwegen ist er hier, macht er sich vor, und doch weiß sie nichts von seiner Liebe.

 

2

Von Gustav Lichtenberg hatte Ludwig das erste Mal gehört, als er ein Buch über Erfindungen des neunzehnten Jahrhunderts las, das ihm der Amtschef zum Einstand geschenkt hatte. Obwohl dieses Jahrhundert doch das bürgerlichste war und dazu das ordentlichste, das Jahrhundert, in dem die ersten Lochkartensysteme verwendet wurden, um Einwohner zu zählen, das Jahrhundert der Schädelvermessung für Paßkontrollen und der erneuerten peniblen preußischen Verwaltung, gab es auch in diesem Jahrhundert Platz für so eine schillernde Gestalt wie Lichtenberg, von dem später keiner mehr mit Gewißheit sagen konnte, ob er auch wirklich gelebt hatte. War Lichtenberg überhaupt Lichtenberg gewesen? Als Revolution war, 1848, war er zum ersten Mal aufgetaucht. Keiner der Abgeordneten der Paulskirche natürlich, sondern ein junger Handwerksgeselle, fiebernd vor nationaler Erregung und voller Freiheitswillen, wie alle anderen, aber vor allem voller ungeheurer Ideen zu großartigen Erfindungen, bei denen die englische Dampfmaschine immer wieder eine wichtige Rolle spielte. Auf den Barrikaden in Berlin habe er in den Märzkämpfen gestanden, erzählten manche, andere behaupteten, er sei in Baden gewesen und habe sich Struve angeschlossen. Nur – ein Gustav Lichtenberg tauchte in keinem Polizeibericht auf, es gab keine Meldezettel und keine Pässe mit seinem Namen, kein Kirchenbuch, in dem seine Geburt vermerkt wäre. Ein Gustav Neumer aus Lichtenberge war für Berlin verbürgt, aber der starb auch dort. Lichtenberg aber soll nach 1849 in die Schweiz oder nach Amerika gegangen sein, wie so viele gescheiterte Revolutionäre. Aber auch in England, geben andere Quellen an, soll er gewesen sein, in den Kohlegruben Manchesters oder in London. Eines der Bücher über die Industrialisierung, das Ludwig gelesen hatte, nannte Lichtenberg als einen jener meist namenlosen Ingenieure, die durch zahllose kleine Verbesserungen die Maschinen des Kohlebergbaus immer weiterentwickelt hatten, der aber, wie tausend andere auch, in den Schatten Bessemers oder Bells oder Stephensons geraten war.

»Lichtenberg«, schrieb der Autor, »ist so vergessen wie der Erfinder des Kippschalters oder des Blinkers im Auto. Wahrscheinlich ist der Kettenantrieb an einem Förderband oder die Brechwalze an einer Grubenmaschine seine Idee gewesen, aber das Leben ein kleines Stück leichter gemacht zu haben, genügt eben nicht, um berühmt zu werden.«

Daran erinnerte sich Ludwig, als er nach Hause kam und die Papprolle, die er aus dem Archiv des Patentamtes mitgenommen hatte, auf den Tisch legte. Er hatte keinen Hunger, trank nur ein Glas Wasser und warf die Jacke über einen Stuhl, dann öffnete er die Papprolle und zog die Zeichnung heraus. Das war der spannendste Augenblick. Nicht das halb verbotene Kramen im Archiv und auch nicht der Moment, in dem er mit der Rolle unter dem Arm am Pförtner vorbeiging. Nein, es waren diese wenigen Sekunden, die er brauchte, um eine Zeichnung in einen Begriff zu übersetzen, die so spannend waren. Das war, wie als Kind nach Schätzen im Garten graben: der Augenblick zwischen dem Schurren der Schaufel auf Metall und dem Moment, in dem man entdeckte, daß es – natürlich – nur eine alte Stange war, auf die man gestoßen war. Trotzdem hatte er damals immer weiter nach Schätzen gegraben.

Er rollte die Zeichnung auf und legte sie auf den Dielenboden. Die Ecken beschwerte er mit Bleiklötzen, die noch aus dem physikalischen Institut stammten und als Buchstützen in seinen Regalen lagen. Und dann sah er den Namen in geschwungenem Sütterlin und schwarzer Tusche, links oben, umrahmt von einem genau gezogenen Rechteck neben der Nummer der Patentanmeldung und dem Jahr, 1899. Gustav Lichtenberg. Da mußte er über sechzig gewesen sein, rechnete Ludwig automatisch. Wenn es stimmte, daß er in den 1830er Jahren geboren worden war. »Gustav Lichtenberg«, sagte Ludwig laut und plötzlich aufgeregt. Irgendwo hinterläßt man immer eine Spur. Das war schon fast ein Schatz! Lichtenberg. Diesmal schurrte die Schaufel nicht nur auf Metall, diesmal glitzerte es auch verlockend in der Tiefe. Diesmal ließ die Spannung nicht nach, wie sonst immer, wenn er schon halb enttäuscht auf die Konstruktionszeichnung sah. Er blickte auf die Zeichnung und hielt für eine Sekunde den Atem an, dann holte er tief und scharf Luft. Er hatte schon viele Skizzen dieser Art vor sich gehabt, denn es war ja sein Beruf, sie auf ihre Patentfähigkeit zu prüfen. Aber eine Zeichnung wie diese, das wußte er, war noch nie durch seine Hände gegangen. Lichtenberg! dachte er und pfiff tonlos durch die Zähne. Er konnte die Schönheit der Maschine erkennen, noch bevor er wußte, was sie tat. Diese Zeichnung nämlich beschrieb eine Maschine wie eine Fuge. Aus dem Blatt, aus jeder mit der Zeichenfeder gezogenen Linie sprachen Klarheit und Präzision. Er kniete sich hin und folgte gespannt mit dem Finger den Verbindungen, las neugierig die Beschriftungen unter den altmodisch gefiederten Pfeilen, die auf bestimmte Teile wiesen. Draußen regnete es. Ludwig stand rasch vom Boden auf und schloß das Fenster, damit keine Tropfen vom Fensterbrett auf das Papier springen konnten. Dann kniete er sich wieder hin und betrachtete den Bauplan – diesmal mit einem kleinen Schauer, der nicht alleine von der Regenkühle kommen konnte. Es war wie das Erschrecken eines Kindes, das tatsächlich eine vergrabene Kiste gefunden hat, eine plötzliche Ehrfurcht: Was kam jetzt? Das hier war nicht einfach nur ein Kippschalter oder eine Flügelmutter, die den Alltag ein bißchen erleichterten. Dies hier war komplex und groß, aber offensichtlich bis ins kleinste durchdacht, soviel konnte er sehen. Lichtenberg hatte zum Beispiel bei der Kraftübertragung des Kolbens auf ein – aus welchen Gründen auch immer – elliptisches Rad geschickt eine völlig ungewöhnliche Lösung gewählt, um den Totpunkt zu vermeiden. Aber mehr? Mehr verstand er nicht. Die Schatzkiste war schwer. Aber verschlossen.

»Was für eine Art Maschine ist das?« murmelte Ludwig fasziniert, während er mit immer größerer Lust am Rätsel die beigefügte Explosionszeichnung durchging und Teile entdeckte, die ihm völlig unbekannt waren, »wofür haben Sie diese Maschine gebaut, Herr Lichtenberg? Wofür?«

Er versuchte, dem Schema auf den Grund zu kommen, die Erfindung Lichtenbergs in einzelne Gedanken zu zerlegen und sie zurückzuverfolgen, bis er auf die Kernidee stieß, aber es war viel zu kompliziert. Von manchen Reglern wußte er nicht, wie sie funktionierten, manche der eigentlich primitiven Schaltkreise erschienen ihm sinnlos. Trotzdem konnte er das Ganze so weit beurteilen, daß er sah, hier war nichts ohne Zweck und bestimmtes Ziel. Er war kein Ingenieur, leider. Er war nur Physiker. Schließlich richtete er sich auf, saß in der Hocke auf den Fersen vor dem Plan und dachte nach. Er mußte die Beschreibung finden, dachte er, aus der Skizze allein ging nicht hervor, welche Funktion die Maschine hatte. Wahrscheinlich ist es etwas völlig Profanes, versuchte Ludwig sich gegen eine Enttäuschung zu wappnen, so etwas wie eine frühe Geschirrspülmaschine oder ein Aufzugmotor. Aber im stillen hoffte er doch, daß seine Ahnung und sein Gefühl für Maschinen ihn nicht trogen und daß diese Maschine etwas Besonderes war. Vielleicht hatte Lichtenberg nur keine Geldgeber auftreiben können. Er hatte die Prüfgebühr nicht bezahlt, sonst wäre die Zeichnung nicht in das Regal der ungeprüften, vergessenen Erfindungen geraten. Es kam ja eigentlich fast nie vor, aber manchmal geschah es eben doch, daß einer einen Schatz fand. So, wie es eigentlich im letzten Jahrhundert nicht vorgekommen war, daß einer aus den Kirchenbüchern und den Karteien der Meldestellen und Behörden verlorenging.

Um die Kiste zu öffnen, brauchte er die Beschreibung. Zu jeder Zeichnung im Patentamt gehörte eine Beschreibung. Natürlich war es nicht erlaubt, Pläne aus dem Patentamt mitzunehmen, aber diese Skizzen waren ohnehin für die Welt verloren. Ludwig hob die Zeichnung auf und spannte sie sorgfältig an der Wand auf. Dann machte er sich etwas zu essen, setzte sich an den Tisch und aß, während er den Plan an der Wand gegenüber betrachtete. Nach und nach glitt er, ohne es zu merken, in Erinnerungen und schließlich in einen leichten Schlaf, bis er, schon spät abends, vom Tisch hochschrak und verwirrt ins Bett ging.

 

3

Natürlich könnte es sein, daß Lichtenberg nicht sein richtiger Name gewesen ist. Man kann sich vorstellen, daß der junge Gustav durch die Straßen seines Heimatstädtchens geht, und da liegt im Schaufenster des einzigen Buchladens der Stadt ein Werk des Göttinger Professors, des geistvollen Physikers und Meisters der geschliffenen Aphorismen, es liegt aufgeschlagen hinter einer staubigen Scheibe auf dunkelblauem Samt, wie man damals eben Bücher präsentierte. Und die aufgeschlagene Seite zeigt wieder ein Buch, und daneben steht: »Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?« Und der sechzehnjährige Gustav braucht einen kleinen Augenblick, bis er den lakonischen Witz verstanden hat, aber dann lacht er los, kann gar nicht anders, lacht schallend laut, steht prustend und immer wieder aufs neue loslachend vor dem Buchladen und kichert noch auf dem Heimweg, er braucht bloß an das Wort Buch oder Kopf zu denken. Vielleicht weiß er gar nicht, daß es eine Verwandtschaft zwischen seinem Kopf und dem des anderen gibt, daß auch er die Fähigkeit hat, ungewöhnliche Verbindungen zu ziehen, anders zu denken als all die anderen. Aber sobald er das verstanden haben wird und seine Stadt vier Jahre später verläßt und das erste Mal in einer der ordentlichen hessischen oder thüringischen oder brandenburgischen Herbergen einkehrt und das Polizeibuch ausfüllen muß, vielleicht schreibt er da, ohne nachzudenken: Gustav Lichtenberg. Vielleicht muß er lachen dabei, über den gelungenen Betrug, über die Freude, plötzlich jemand anderer zu sein.

 

4

An dem Abend, als Ludwig den Plan fand, war er noch lange nach Feierabend an seinem Schreibtisch gesessen und hatte vorgegeben, noch arbeiten zu müssen, bis schließlich alle gegangen waren. Dann war er aufgestanden, hatte das Licht ausgedreht und war auf den Gang getreten. Er mochte es, allein im Amt zu bleiben und die langen Flure entlang ins Archiv zu gehen, an den dunklen Milchglasscheiben der Bürotüren vorbei. Das Linoleum auf dem Boden vor den Fenstern der Westseite spiegelte verschwommen das Aufleuchten der Wolken vor der untergehenden Sonne, und es war still. Es war vor allem diese Stille, die er liebte, wenn alle Geschäftigkeit des Tages erloschen war und das Gebäude wartete. Dann hoben sich die wenigen übriggebliebenen Geräusche an die Oberfläche, und man konnte sich vorstellen, die große Maschine Welt arbeiten zu hören.

Kurze Zeit nach Antritt seiner Stellung hatte er in den Stunden, die ihm neben seiner Arbeit blieben, begonnen, das Archiv zu erkunden. Der große Saal, in dem zwischen alten, gußeisernen Säulen in hohen Regalen die Patentschriften aus zweihundert Jahren aufbewahrt wurden, in denen die technischen Zeichnungen tausender Erfindungen in Rollen lagerten und die zugehörigen Beschreibungen in gestochener Tuscheschrift zusammengelegt in schwarzen, harten Kartons, dieser große Saal erinnerte Ludwig an den alten Steinbruch vor dem Dorf, in dem er aufgewachsen war. Chronologisch und alphabetisch geordnet lagen die Erfindungen, nützliche und phantastisch sinnlose, nebeneinander, vergessene und millionenfach Wirklichkeit gewordene, übereinander. Rohrsysteme, Schaltkreise, Wasserdruckmotoren, gasbetriebene Pumpen, Flügelräder – Ludwig stellte sich manchmal die Zeichnungen all dieser Erfindungen an einer riesigen Wand ausgestellt vor, in einem Museum, das dem Willen der Menschen gewidmet war, dem Willen zur Weltveränderung.

An diesem Abend war er durch die Gänge geschlendert, an den Schiebeleitern vorbei, die an den Regalen lehnten. Ludwig war eine von ihnen hochgestiegen, hatte im Hochsteigen die Namen gelesen, die Jahreszahlen und die Patentnummern. Manchmal tat er das: holte eine der Papprollen hervor, zog den Bogen heraus und sah sich die Zeichnung an. Es gefiel ihm, in den Erfindungen zu stöbern wie in einer Bibliothek. Er versuchte, aus der Zeichnung zu erkennen, welche Funktion die Maschinen hatten. Manchmal kam es vor, daß diese technischen Darstellungen bestechend einfach waren. Ein paar Linien auf dem Papier, die ersten vier Buchstaben des Alphabets reichten aus, um eine grundlegende Neuerung zu beschreiben, etwas Selbstverständliches, woran nur noch niemand gedacht hatte. Das war, als ob die Welt ein Muster hätte, das man nur zu erkennen brauchte, und er wollte verstehen, wie man das Muster der Welt sichtbar macht.

Deshalb war er Physiker geworden, dachte er, als er von der Leiter stieg. Deshalb hatte er das Dorf verlassen. Die Physik war die Lehre von den unsichtbaren Gesetzen, nach denen die Welt geordnet war. An manchen Maschinen, den besonderen, konnte man die Gesetze ablesen wie aus einem Buch. Und wer die Gesetze kannte, der konnte sie für sich benutzen. Manche Maschinen waren eine überraschende Auslegung dieser Gesetze wie das Rotorschiff oder die Natronlokomotive. Und manche Maschinen sahen aus, als würden sie die Gesetze überlisten. Wie das Perpetuum mobile. Es hatte ihn, wie immer bei diesen Wanderungen durch das Archiv, zu seinem Lieblingsregal in der westlichen Ecke des Raumes gezogen. Ludwig war ein ernster Mensch, aber der Gedanke, daß diese schlampige Ecke erst abends richtig hell wurde, ließ ihn lächeln. Hier wurde nie etwas geholt, hier wurde immer nur abgelegt, hier sammelte sich der Schutt des Patentamtes. Die Patentanmeldungen, die nicht geprüft worden waren, weil dem Erfinder das Geld für die vorgeschriebene Prüfung gefehlt hatte oder weil er gestorben war oder weil er schon wieder eine neue Erfindung gemacht hatte, diesmal die wirklich revolutionäre, die eine Maschine, die das Leben der Menschen verändern und den Erfinder reich und berühmt machen würde.

Diesen Ort hatte Ludwig entdeckt, nachdem er die neue Stellung als Patentprüfer nur widerwillig angenommen hatte, weil er nach dem Studium nichts Besseres mit sich anzufangen gewußt hatte und ihm der Gedanke, in einem Großbetrieb arbeiten zu müssen, zuwider war. Das war der Ort, der Ludwig in seiner Stellung hielt. Hier stand er oft vor den unordentlich gestapelten Kartons, griff aufs Geratewohl nach diesem oder jenem Jahr, las die Patentbeschreibung und sah sich die Zeichnungen an, staunte manchmal über die Naivität der Erfinder, war manchmal heiter berührt, wenn er längst überholte Gerätschaften entdeckte wie die Bürstenwalze, eingereicht 1907. Sie ließ sich an Kutschen montieren, um die Pferdeäpfel aufzunehmen, angetrieben von den Hinterrädern und mit einer Kurbel versehen, damit der Kutscher sie während der Fahrt hinunterlassen konnte. Er lächelte zurückhaltend über Dinge, die sicher nie jemand hatte brauchen können – oder wollen: einen Kupferring mit eingelassenen Magneten, eingereicht 1922, von Damen um den Kopf zu legen, damit der Hut – ebenfalls mit Magneten versehen – am Kopf bliebe und die Verletzungsgefahr durch Hutnadeln in der Straßenbahn gebannt würde. Eine erwünschte Nebenwirkung sei die Linderung von Migräne, erwähnte der Autor. Eine automatische Dampfschreibmaschine, eingereicht 1897, ein monströses Gerät, dessen Tasten mit eigenwillig modisch gemusterten Schläuchen versehen waren, die zu einem etwas unhandlichen Hundertliterkessel neben dem Kontortisch führten. »Die Explosionsgefahr«, las Ludwig lächelnd, »läßt sich durch fachmännische Handhabung durch zuvor sorgfältig eingewiesene Kontoristen auf ein Minimum reduzieren.«

Aber das war nur die Unterhaltung, das Beiwerk. Er wußte nicht, was er suchte, ob er überhaupt suchte, wenn er hier unten stand und ein Patent nach dem anderen ansah. Ludwig war immer von Maschinen fasziniert gewesen. Neue Maschinen bedeuteten, daß jemand über das Alltägliche hinausgegriffen hatte, daß er weiter, anders und vor allem neuer gedacht hatte als die anderen. Aber dann hatte er die Sinnlosigkeit, hier unten zu stehen, gespürt, und seine Müdigkeit, die er eigentlich oben im Büro hatte lassen wollen, hatte ihn eingeholt. Es war ein dummes, absurdes Spiel, diese Zeichnungen zu stehlen, nur um sie zu Hause anzusehen und dann wieder zurückzubringen, immer aufs neue enttäuscht. Mit einem Ruck und plötzlich mürrisch über sich selbst hatte er sich umgedreht und hatte gehen wollen. Im Weggehen war er in der Dämmerung über eine Kante gestolpert, hatte nach einem Regal gegriffen und dabei die Rolle zu fassen gekriegt. Er hatte sie aus dem Regal gezogen, wie absichtslos. Und als er sie in der Hand hielt, da war er schon weitergegangen und hatte sie sich schließlich unter den Arm geklemmt. Er lächelte kurz. Es war eben doch so, als ob man sich selbst eine Kleinigkeit mitbrachte und das dunkle Gefühl der Leere für einen Augenblick vertrieb.

 

5

Nachdem es die Nacht hindurch geregnet hatte, war es ein sehr schöner Morgen, in den Ludwig allmählich aus dem Schlaf auftauchte. Die Balkontür des gegenüberliegenden Hauses spiegelte durch die Balkongitter ein Muster aus Sonnenlicht an seine Decke. Er lag noch eine Zeitlang im Bett, nachdem er aufgewacht war, und ließ seine Gedanken sich selber denken. Sie bewegten sich alle mehr oder weniger um den Entwurf der Maschine. Er konnte sich vage an einen Traum erinnern, der mit der Maschine zu tun hatte. Morgens war eine gute Zeit zum Denken. Er wachte gerne früh auf, das war schon immer so gewesen. Dann lag er mit halbgeschlossenen oder offenen Augen da, im Zimmer bewegte sich nichts außer dem langsamen, fast nicht wahrnehmbaren Wandern des Musters an der Decke, und seine Vorstellungen konnten in schneller Reihenfolge vor ihm auftauchen und wieder verblassen, schon von der nächsten Idee überlagert. Was treibt uns eigentlich, dachte er, wieso stehen wir auf, ziehen uns an, arbeiten und essen? Wieso tun wir das eine und nicht das andere, wieso sind wir so und nicht anders? Die Kraft ist doch immer dieselbe, dachte er. Es ist immer dieselbe Energie, nur die Bauart bestimmt, was wir tun. Bisher hatte er sich treiben lassen. Es war, dachte er, während er beobachtete, wie der unscharfe Schatten eines Gitterstabes allmählich über eine Unebenheit im Putz der Decke glitt, als wäre ich bisher im Bau gewesen. Man hat mich gemacht, geformt und ausgebildet; jede Schulstunde und jedes Buch ein Rädchen mehr in meinem Getriebe, jede Erfahrung und jedes Gefühl eine andere Leitung, ich bin wie eine ungeheuer komplexe Maschine.

In der Renaissance hatte man das auch gedacht, erinnerte er sich. Aber da war die Vorstellung viel simpler gewesen, mit der Entdeckung der Uhr war man auf den Gedanken gekommen, der Mensch sei wie eine große Uhr, Gott habe ihn aufgezogen, nun liefe er nach vorbestimmter Weise ab, und manchmal zerbräche auch etwas in ihm und dann stünde die Uhr eben still. Die Adern: Schläuche. Die Sehnen: Antriebsriemen. Die Gliedmaßen: Hebel. Das Herz: die Pumpe. Richtig, dachte Ludwig, aber das eigentliche hatten sie vergessen. Das wichtigste Bauteil, das dafür sorgt, daß man nicht einfach abschnurrt und dann stillsteht. Die Unruh. Daran hatten sie nicht gedacht. Und sie hatten sich auch nicht vorstellen können, daß es einmal Maschinen geben würde, die sich selbst veränderten, die so ungeheuer kompliziert in all ihren Wechselwirkungen waren, daß sie ein Eigenleben entwickelten, daß keine der anderen glich, sobald man sie eingeschaltet hatte.

So war er auch. So war jeder Mensch. Eine wunderbar gebaute Maschine, so unvorstellbar kompliziert, daß man sie niemals ganz verstehen würde. Allerdings, dachte Ludwig erstaunt über die Konsequenz dieses Gedankens, wußte man bei den meisten, wozu sie da waren. Ein Arzt heilte. U-Bahnführer beförderten Passagiere. Raumfahrer entdeckten den Mond. Wozu war er da? Es war, als ob er fertiggebaut, aber nicht eingeschaltet worden war. Der Gedanke durchströmte ihn mit einer Welle von Erregung. Die Lichtenbergmaschine war genauso. Vielleicht gehörten sie zusammen, dachte er, wenn ich weiß, was die Lichtenbergmaschine tut … Er öffnete die Augen ganz. So ein Unsinn, dachte er. Ich bin Physiker, und die Physik weiß von keinem Gesetz, das Mensch und Maschine verbindet.

 

6

Selbst in einem Jahrhundert, in dem man leichter reiste als in unserem, in dem es nicht denkbar war, einen Beruf zu erlernen, ohne dazu im Ausland gewesen zu sein, könnte es Lichtenberg trotzdem schwergefallen sein, die Heimatstadt zu verlassen. Vielleicht brauchte es einen Anlaß, selbst für jemanden wie den jungen Gustav Lichtenberg, der anders dachte als die anderen. Lag es an seiner Mutter, daß er anders dachte? Irgendwann verbietet der Vater – ein königlich preußischer Beamter – der Mutter, aus dem Haus zu gehen. Ihr Benehmen wird immer eigenartiger. Sie spricht auf der Straße Bekannte an, erklärt, fremde Sprachen verstehen zu können, ohne sie gelernt zu haben, sogar das Japanische, denn aus den Zeichen sei doch klar zu erkennen, was das Wort bedeute. Gustav kennt es nicht anders. Sie ist ja seine Mutter. Sie ist es, die sich fast ausschließlich mit ihm beschäftigt, ihm die schwierigsten Bücher vorliest, mit ihm spielt, endlose Spaziergänge unternimmt und ihn unterrichtet. Als er alt genug ist, um zu verstehen, daß es für die Mutter nicht nur ein Spiel ist, wenn sie sich vor den Schwarzen verstecken müssen, die er nicht sehen kann, spielt er doch der Mutter zuliebe immer noch mit. Der Vater darf nichts davon wissen. Manchmal betet die Mutter hastig ein Vaterunser nach dem anderen, ißt und schläft tagelang nicht. Der Vater schämt sich ihrer, aber zu den Empfängen muß er sie doch mitnehmen, zumindest ein Mal im Jahr.

Einmal erklärt sie dem Kronprinzen, ohne ihm vorgestellt worden zu sein, daß der Vorsteher der Behörde ein französischer Spion sei und die Großherzogin Kopf der ultramontanen Verschwörung, die es ausgerechnet auf sie abgesehen habe. Der Kronprinz ist ein galanter Mann und macht einen Scherz daraus, die peinlich berührte Gesellschaft lacht befreit, aber von nun an darf Gustavs Mutter das Haus nicht mehr verlassen. Eine Witwe aus der Nachbarschaft kommt jetzt häufig, um sich des Hauses anzunehmen. Die Mutter wird immer schmaler, weil sie nicht ißt und nicht schläft, weinend umarmt sie Gustav immer wieder, der – obwohl ein großer Junge – oft mitweinen muß. Ärzte kommen und gehen. Keiner kann so recht helfen. Hier wird Opiumtinktur verschrieben, da werden niederschlagende Tränke hergestellt. Phasen, in denen sie geheilt scheint, wechseln mit schlimmeren Anfällen. Gustav fragt die Ärzte aus, läßt sich Bücher mitbringen und medizinische Hauspostillen, durchsucht die väterliche Bibliothek.

Endlich stößt er auf eine Theorie, die plötzlich alles geraderückt, die alles zu erklären scheint. Atemlos und voller Hoffnung liest er vom tierischen Magnetismus, vom Fluidum, das Sterne und Menschen und alle Materie verbindet, dem vollkommen beweglichen Stoff, feiner als alle bekannte Materie. Er liest von den medizinischen Experimenten Brentanos mit dem Mesmerismus, von Galvanis Entdeckung der Muskelreizung durch elektrischen Strom und Mesmers zahlreichen Heilungen mit Hilfe des Bacquet, der großen Elektrisiermaschine. Magnetismus und Elektrizität sind die beiden Gesichter der elementaren Kraft, und alle Krankheit, so liest Gustav, komme von einer Störung des Gleichgewichts dieser Kräfte im Körper.

Beim nächsten Besuch des Arztes fängt Gustav ihn im Hinausgehen ab, fragt aufgeregt, erklärt wild und etwas unzusammenhängend, gestikuliert, bis der Arzt, der Mitleid mit dem Jungen hat, ihn versteht. »Mesmer …«, lächelt er dann müde, weil er schon weiß, daß er dem Jungen nicht sagen können wird, daß es der Mutter immer schlechter geht, »Gustav, der Mesmerismus, das war so eine romantische Idee, auf die Kinder und Frauen schon immer gerne hereingefallen sind. Ein paar Hysterikerinnen hat Mesmer schon auch heilen können, aber deine Mutter ist keine. Und Mesmer hat es am Schluß auch eingesehen, glaube ich. Nein, Junge«, sagt der Arzt und schüttelt den Kopf, dem halbwüchsigen Jungen über die Haare zu streichen traut er sich nicht mehr, »mit Magnetismus ist da nichts zu machen. Wir verlassen uns lieber auf die Wissenschaft, was? Es gibt keine geheime, magnetische Verbindung zwischen Menschen und Sternen.« Und nickt aufmunternd. Gustav nickt auch, enttäuscht, zögernd, pflichtbewußt.

Drei Jahre später läßt der Vater die Mutter ins Tollhaus bringen. »Es geht nicht mehr«, erklärt er dem Sohn erschöpft, »ich kann nicht mehr. Und für sie wird es das Beste sein, glaub mir!« Aber jetzt sieht Gustav den Vater nur an. Er sagt gar nichts, gar nichts, und verläßt einen Tag später das Haus für immer. Es ist ein romantisches Jahrhundert, voll der großen Gesten.

So könnte es gewesen sein.

 

7

Ludwig beeilte sich, ins Patentamt zu kommen, den Morgen hindurch hatte er im Halbdunkel die Umrisse des Plans an der Wand gesehen und war schließlich gespannt aus dem Haus gegangen. Er freute sich darauf, die Beschreibung zu Lichtenbergs Erfindung zu lesen. Er hatte ein genaues Bild vor Augen, er kannte ja nun Lichtenbergs Schrift, ein Bild von einem Blatt, in engen Zeilen in der leicht geneigten Handschrift Lichtenbergs beschrieben. Vielleicht würde er Schwierigkeiten mit dem Sütterlin haben, würde die Buchstaben noch einmal nachschlagen müssen, aber das Wichtigste würde er erkennen können. So kam er ins Amt und begann seine Arbeit, mit Schwung und gutgelaunt.

Aber die Begutachtung der technischen Zeichnungen, die ihm zur Prüfung vorlagen, fiel ihm heute schwer, die Linien der Lichtenbergmaschine, die er vor Augen hatte, schoben sich dazwischen. Er machte Fehler, mußte sich zusammenreißen und von vorne anfangen. Unvorhergesehene Probleme tauchten auf, ein Kollege war krank, nichts funktionierte. Ludwigs Schwung war gebrochen, der Tag wurde mühsam, und er wurde zunehmend mißgestimmt, weil er absehen konnte, daß er tagsüber keine Zeit finden würde, um ins Archiv zu gehen und dort die Kartons nach Lichtenbergs Beschreibung zu durchsuchen. Er hatte zwar nie gefragt, aber da er im Rahmen seiner Arbeit mit dem Archiv nur wenig zu tun hatte, war er sicher, daß es ein Versehen war, daß sein Schlüssel für die Tür des großen Saals dort unten paßte. Und da er sich diese Stunden im Archiv nicht nehmen lassen wollte, sah er zu, daß niemand dabei war, wenn er ins Archiv ging. Während sich sonst häufiger Gelegenheiten boten, schien es heute besonders schwierig. Schließlich gab er auf, beschloß, nichts übers Knie zu brechen, und wartete, bis der Dienst zu Ende war. Selbst dann mußte er vorgeben, etwas vergessen zu haben, um noch einmal zurück ins Amt zu gehen. »Warte nicht auf mich«, sagte er zu dem Kollegen, »es dauert ein Weile.« Dann war er endlich allein.

Es war ein bißchen, dachte er, wie der kleine gespannte Moment, wenn man den Motor des alten Traktors zu Hause anwarf – man drehte die Kurbel mit Gewalt gegen den weichen Widerstand des Kolbens, riß sie herum, zog schnell die Hand weg, daß ein möglicher Rückschlag einem nicht die Knochen brach, und wartete auf das Anlaufen. Wie stolz man war, wenn der Traktor zitterte und langsam, stockend zu tuckern begann. Oder, dachte er, als er die Treppen hinunterstieg, die ihn immer ein wenig an die Schule erinnerten, und wurde rot bei der Erinnerung, oder wie der gespannte Augenblick, in dem man einen Brief unter der Bank weitergeben ließ, zur großen Liebe eines Viertkläßlers. Aber dann preßte er plötzlich die Lippen zusammen und merkte, wie sein Gesicht heiß wurde. Keine gute Erinnerung, in der ein unbeholfener Brief in der Pause den anderen Mädchen vorgelesen wurde und alle lachten. An diesem Tag und an den nächsten – die ganze Woche.

Aber, als er die Treppe hinter sich gelassen hatte und die Tür aufschloß, den Saal betrat und den Geruch von altem Papier und Holz atmete, da ließ die Spannung nach, und die besondere Lust am Alleinsein kehrte wieder, als er durch den hohen Raum in die Ecke der vergessenen Erfindungen ging, in der er am Freitag den Plan der Lichtenbergmaschine entdeckt hatte. Die Leiter rollte in einer Schiene oben an den Regalen, Ludwig schob sie an das Ende der Schiene und stieg hinauf. Die Kartons lagerten, nach Jahren und nach ihren Anmeldenummern geordnet, je fünf übereinander im Regal. Ludwig hatte sich die Nummer aufgeschrieben und suchte nach dem Karton. Aber da hier nur selten etwas geholt wurde, hatten sich die Boten meistens nicht die Mühe gemacht, die Kartons beim Zurückbringen wieder dort einzuordnen, wo sie hingehörten, sondern einfach hingestellt, wo gerade Platz war. Es war eine mühsame Suche. Die Nummern waren völlig durcheinander, die Folge der Jahreszahlen stimmte nicht, und Ludwig entschloß sich schließlich, einfach Karton für Karton durchzugehen.

Eine dreiviertel Stunde später stand er ganz oben auf der Leiter, holte tief Luft und biß die Zähne zusammen. Nein. Das konnte einfach nicht sein. Er hatte eine Nummer übersehen. Oder verwechselt. Vielleicht war einer der Kartons hinter die anderen gerutscht. Für einen Augenblick schloß er die Augen und sah sich selbst zu. Lächerlich, dachte er, was liegt an dieser Beschreibung? Was liegt an der Maschine? Eine Spinnerei. Natürlich. Es war nur eine Spinnerei. Für alle anderen. Doch wer versteht die Verliebtheit der anderen? Man lächelt milde, aber verstehen … Er begann noch einmal von vorne und ließ keinen Karton aus. Manchmal öffnete er die schwarzen Klappen mit den kleinen Metallecken und sah in die Schublade, um sicherzugehen, daß auch die entsprechende Beschreibung darin war, daß keine Verwechslung passiert war. Aber das konnte er unmöglich bei ein paar hundert Kisten machen, und bei den Stichproben, die er zog, stimmte alles. »Ich finde diese Beschreibung«, murmelte Ludwig verbissen. Es war ein klarer Tag gewesen, und die Dämmerung hatte lang angehalten, doch jetzt nahm das Licht ab, es wurde spät. Die gußeisernen Säulen traten schwarz und massig gegen die Fenster hervor. Die Nummern wurden schwerer zu entziffern. Ludwig zwang sich zur Genauigkeit, bevor es zu dunkel wurde. Er konnte ja kein Licht anmachen, das von außen zu sehen gewesen wäre. Schließlich war er zum zweiten Mal fertig.

Er sah sich um, obwohl er wußte, daß er nichts übersehen hatte. Es konnte nicht sein, daß er nichts fand. Es war, als hätte man ihn betrogen, als sei wieder ein Versprechen nicht eingelöst worden. Kalte und klare Wut stieg in ihm hoch. Es hatte schon immer lange gedauert, bis er wütend wurde, und schon als er noch ein Kind war, hatten die anderen diese Wut gefürchtet. Es war keine hitzige, schnell kommende und gehende Wut, sondern eine schleichende, überlegte, zerstörerische Leidenschaft. Er wußte, daß er sich verletzen würde, aber er holte aus und schlug mit der Faust auf die Kartons ein. Er legte alle Kraft in die Schläge, die harten, dicken Kartons brachen, er zog die Schubladen heraus und kehrte sie um, Papier stob und flatterte, er griff nach den Blättern, zerriß sie, fegte Kartons aus den Regalen, trat mit Wucht gegen die Rollen, in denen die Zeichnungen aufbewahrt wurden, und zerknickte sie. Er sagte kein Wort, er schrie nicht, aber er hieb mit ungeheurer Kraft auf die Kartons, bis sie nachgaben, bis sie zerstört waren, bis er schließlich erschöpft und keuchend abließ und teilnahmslos die aufgeschürften Knöchel seiner Hand anstarrte. Blut sammelte sich langsam daran und tropfte auf die Fetzen der Beschreibungen von Maschinen, die alle Träume geblieben waren. Sein Traum war nicht dabei. Minuten stand er so, atmend, das Blut rauschte ihm in den Ohren, bis schließlich mit der zunehmenden Schwäche auch die Vernunft zurückkehrte und er sich daran machte, die Verwüstung so gut wie möglich zu vertuschen. Ihm war klar, daß diese Zerstörung nicht unentdeckt bleiben konnte, aber er hoffte darauf, daß es eine ganze Zeitlang dauern würde, bis jemand diese Ecke wieder genauer betrachtete. Inzwischen raffte er zerrissene Blätter zusammen und stopfte sie in halbwegs wieder in Form gebrachte Pappschubladen und diese zurück in die Bibliothekskartons.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Gut, dachte er, es ist nichts verloren. Ich habe den Plan. Ein anderer Gedanke kam ihm und erfüllte ihn plötzlich ganz. Vielleicht sollte es so sein. Vielleicht war es gerade gut, daß es zu Lichtenbergs Erfindung keine Erklärung mehr gab. Außer ihm kannte keiner die Maschine. Und schließlich gab es eine andere Möglichkeit, die Funktion der Maschine zu entdecken. Er würde sie bauen. Er mußte sie einfach bauen, nach dem Plan, der zu Hause an der Wand hing.

Plötzlich hatte er Angst, daß in seiner Wohnung irgend etwas geschehen war, das den Plan zerstört hatte. Feuer vielleicht – hatte er den Herd ausgedreht? Vielleicht hatte er ein Fenster vergessen und der Wind hatte … Der Hausmeister hatte einen Schlüssel. Wenn er unerlaubterweise ins Archiv ging, vielleicht ging dann der Hausmeister in seine Wohnung, wenn er nicht da war. Ludwig beseitigte hastig die letzten Spuren, soweit er noch etwas erkennen konnte, und beeilte sich, aus dem Amt zu kommen. Fast rannte er durch die Straßen nach Hause, stürmte die Treppen hoch und schloß die Tür seiner Wohnung auf, hastete in sein Zimmer und drehte das Licht an. Dann atmete er tief aus. Der Plan war, wo er sein sollte, nichts hatte sich geändert, und die Linien waren klar und schön.

Den Rest des Abends verbrachte Ludwig damit, den Plan durchzupausen und zu überlegen, wo er die Kopie sicher verwahren konnte. Als er endlich eingeschlafen war, träumte er davon, die Maschine zu bauen, zu Hause auf dem Dorf, in der Scheune vom Furtner. Die Lichtenbergmaschine war gleichzeitig der Dampfdrescher – groß, leise und voller Kraft, wie er ihn als Kind gesehen hatte.

 

8

»Gußeisen?« fragte der Werkmeister ungläubig »Gußeisen? Sie wissen schon, daß Aluminium bereits entdeckt ist, oder? Gußeisen können wir hier gar nicht herstellen!«

Ludwig stand in der Werkstatt des physikalischen Instituts und hielt einen Stoß Blätter in der Hand. »Die Gehäuse für die Vakuumpumpen sind auch gegossen«, sagte er etwas unsicher, froh, daß er diese Reaktion vorausgesehen hatte.

»Ja«, sagte der Werkmeister sichtlich verärgert, »aber das ist Grauguß. Was Sie wollen, ist Temperguß. Sie wissen ja wohl, was der Unterschied ist, oder? Wozu brauchen Sie die Teile überhaupt? Ich hab so was noch nie gesehen!«