Wallmann-Blutrote_Rosen-631x100-300dpi

Über dieses Buch:

Die Psychologin Dr. Nora Jacobi berät die Polizei bei der Jagd nach einem gefährlichen Serienmörder. Ein Unbekannter verfolgt junge, attraktive Frauen, die er zunächst ausspioniert, um sie dann brutal zu ermorden. Ihnen gemeinsam ist: Sie alle waren früher schon einmal Stalking-Opfer! Während ihrer Ermittlungen wird Nora auf verstörende Weise mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Der Leiter der Sonderkommission ist ausgerechnet der Mann, der sie vor Jahren in einen Strudel der Leidenschaft riss. Nun gerät Nora erneut in den Sog ihrer erotischen Sehnsüchte, und auch die Angst holt sie wieder ein: Wer hinterlässt überall auf ihrem Weg blutrote Rosen und flüstert ihr nachts am Telefon mit gedämpfter Stimme Zärtlichkeiten ins Ohr? Für Nora beginnt ein Wettlauf mit der Zeit …

Gefährliche Leidenschaft – berauschend und inspirierend zugleich!

Über die Autorin:

Nach dem Germanistik- und Anglistikstudium arbeitete Ria Wallmann zunächst im Medien-, Kunst- und Marketingbereich. Seit fast 20 Jahren schreibt sie hauptberuflich, auch unter Pseudonym, Kurzgeschichten, Jugendbücher, Liebesromane und erotische Literatur.

***

eBook-Neuausgabe Februar 2015

Ein eBook des venusbooks Verlags. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2007 MIRA® TASCHENBÜCHER, Cora Verlag GmbH & Co. KG, Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Lizenzausgabe 2015 venusbooks GmbH, München

Copyright © der aktuellen eBook-Neuausgabe 2020 venusbooks Verlag. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © dmitry_tsvetkov – Fotolia.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95885-102-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@venusbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des venusbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Blutrote Rosen« an: lesetipp@venusbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.venusbooks.de

www.facebook.com/venusbooks

www.instagram.com/venusbooks

Ria Walmmann
Blutrote Rosen


Erotikthriller



venusbooks

FÜR MICHAEL

in Liebe

Ohne Dich würde Leonard wahrscheinlich ein völlig unmögliches Motorrad fahren, und ich hätte es beim Schreiben manchmal leichter, oft aber viel schwerer – Du weißt, warum.

Danke für alles!

PROLOG

Erst als sie in den Fahrstuhl trat, um hinauf in ihre kleine Wohnung im achten Stock zu fahren, bemerkte Nora, wie müde sie nach einem fast zehnstündigen Tag voller Vorlesungen, Seminare und Bibliotheksarbeit war. Ihr Rücken schmerzte, ihre Augen brannten, und sie fühlte über der Nasenwurzel jenen vertrauten Druck, der immer dann da war, wenn die Anspannung zu groß wurde.

Mit einem Seufzer lehnte sie sich gegen die rückwärtige Fahrstuhlwand und wartete, dass sich die Türen schlossen. Wie alles in dem heruntergekommenen Appartementkomplex, der hauptsächlich von Studenten bewohnt wurde, funktionierte der Aufzug nur an guten Tagen und vor allem niemals dann, wenn man mit schweren Einkäufen beladen nach Hause kam.

Fast war Nora erstaunt, als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte, auch wenn er dies unter Mitleid erregendem Knarren und Quietschen tat. Zwischen der fünften und sechsten Etage flackerte die Neonbeleuchtung an der Decke heftig, und das leichte Ruckeln wurde von hier an von Geräuschen begleitet, die an den Schleudergang einer Waschmaschine erinnerten.

Nora nahm sich vor, fortan die acht Stockwerke grundsätzlich zu Fuß zu überwinden, was schließlich auch ihrer Kondition zugutekommen würde. Und vergaß diesen Vorsatz wie immer in dem Moment, in dem sie wider Erwarten heil landete und sich sogar ohne weitere Verzögerung die Türen öffneten.

Sie atmete tief durch, hängte sich den Gurt ihrer prall mit Büchern und Aufzeichnungen gefüllten Leinentasche über die Schulter und trat hinaus auf den langen, schmalen Flur.

Das Klappern ihrer Absätze auf dem Fliesenboden erschien ihr an diesem trüben, regnerischen Abend, an dem es ungewöhnlich still hinter den Wohnungstüren war, unheimlich. In Nora stieg die Vorstellung auf, ganz allein in dem riesigen Gebäude zu sein. Allein bis auf einen einzigen Menschen, der ihre Schritte belauschte.

Energisch schüttelte sie den Kopf und trat bewusst fester auf. Wenn sie schon derart merkwürdige Gedanken hatte, war sie offensichtlich noch müder, als ihr bewusst war. Also würde sie sich zuerst einen starken Kaffee kochen und sich dann sofort an den Schreibtisch setzen, damit sie spätestens um Mitternacht mit ihrer Arbeit fertig war und ausreichend Schlaf bekam. Drei oder vier Stunden würde sie mindestens brauchen, um das Referat auszuarbeiten, das sie am nächsten Vormittag halten musste und das bisher nur in der Rohfassung existierte, weil sie sich bei den Vorbereitungen auf das heutige Double-Binding-Seminar verzettelt hatte.

Als sie mit den Schuhspitzen fast die Blüten berührte, bemerkte sie den Rosenstrauß auf der abgetretenen Fußmatte vor ihrer Wohnungstür. Blutrote Rosen, mindestens zwanzig Stück, leuchteten im schwachen Licht, das durch das ungeputzte Flurfenster fiel.

Sie zögerte einen Moment, bevor sie sich bückte und die Blumen aufhob, um nachzusehen, ob eine Karte zwischen den Blüten steckte. Obwohl sie natürlich wusste, wer den Strauß vor ihre Tür gelegt hatte.

Es gab keine Karte, was sie nicht weiter erstaunte. Leonard war ein Mann, der davon ausging, der Einzige für die Frau zu sein, der er sein Interesse schenkte. Sein Selbstbewusstsein hatte wenig mit Arroganz und viel mit Vertrauen zu tun. Vertrauen in sich und in sie.

Nora starrte in die dunkelroten Blüten wie in kleine Gesichter. Sie mochte Rosen nicht besonders, fand sie langweilig und beliebig. Dennoch ertappte sie sich dabei, wie sie ihr Gesicht in die Blüten tauchte wie in kühles, duftendes Wasser. Hastig riss sie den Kopf wieder hoch. Melodramatische Gesten, die an Filmstars der fünfziger Jahre erinnerten, waren eigentlich nicht ihr Ding.

Hastig schloss sie mit der freien Hand ihre Wohnungstür auf, während sie mit dem anderen Arm den dicken Strauß so weit wie möglich von ihrem Körper weghielt.

Leonard meldete sich schon nach dem ersten Klingeln an seinem Diensttelefon.

»Sie sind sehr schön, aber mich irritiert so was«, teilte sie ihm ohne jede Einleitung mit.

Kurze Denkpause am anderen Ende der Leitung, dann jenes tiefe, etwas atemlos klingende Lachen, das immer wieder auf geheimnisvolle Art ihre Bauchdecke in Schwingungen versetzte. »Wovon genau redest du? Von deinen Augen, deinen Beinen, deinen Brüsten? Hast du in den Spiegel gesehen? Es stimmt, das ist alles wunderschön. Was meinst du, wie sehr mich so was irritiert! Wie du mich irritierst!«

Nora fixierte mit zusammengekniffenen Augen einen Punkt an der Decke und bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen. »Hör auf damit! Ich meine das mit den Rosen ernst. Erstens will ich nicht, dass du meinetwegen Geld zum Fenster hinauswirfst, und zweitens – irgendwie erschreckt es mich.« Sie hasste es, derart unpräzise Aussagen zu machen, konnte aber beim besten Willen nicht beschreiben, warum die Rosen, die so unerwartet vor ihrer Tür gelegen hatten, ein unbehagliches Gefühl in ihr auslösten. Es war nun mal einfach so.

»Was für Rosen? Ich habe kein Geld für Rosen ausgegeben, obwohl ich es gerne tun würde, um dir eine Freude zu machen.«

»Ich werde sie auf meinen Schreibtisch stellen, wenn ich heute Abend arbeite.« Falls auf dem Schreibtisch genug Platz für diesen bombastischen Strauß und für ihre Bücher war. »Aber tu das trotzdem nicht wieder.«

»Ich war es nicht. Und deshalb stellt sich mir momentan die dringende Frage, ob ich eifersüchtig auf einen Rosenkavalier in deinem Leben sein sollte.« Er hatte seine Stimme zu einem eindringlichen, zärtlichen Raunen gesenkt, das prompt Erinnerungen in ihr weckte, die ihre Magenwände zum Vibrieren brachten.

»Leugnen ist zwecklos!« Der leichte Ton misslang ihr gründlich, in ihrer Stimme war nichts als Sehnsucht.

»Ich habe in einer halben Stunde Feierabend. Dann komme ich auf dem kürzesten Weg zu dir, und wir diskutieren ausführlich über Rosen und alles, was dir sonst noch auf der Seele brennt.«

Sie wusste nicht, ob ihre Seele brannte, aber sie spürte nur zu deutlich das Brennen ihrer Haut, die sich nach seiner sehnte. Hilfe suchend wanderte Noras Blick hinüber zu ihrem Schreibtisch am Fenster, wo noch vom Vorabend die Unterlagen für das Referat lagen.

Ihr Schweigen hatte eine Sekunde zu lange gedauert. Sachte klickte es im Hörer. Leonard hatte aufgelegt. Er würde in spätestens einer Dreiviertelstunde vor ihrer Tür stehen. Natürlich konnte sie ihn noch einmal anrufen, um ihm zu sagen, dass sie an diesem Abend keine Zeit für ihn hatte. Sie konnte aber auch warten, bis er kam. Konnte ihn sehen und riechen, ihn küssen und schmecken und ihm danach sagen, dass er wegen des wichtigen Referats schon bald wieder gehen musste.

Leonard hatte genau acht Minuten vom Kommissariat bis zu ihrer Wohnung gebraucht. Als es klingelte, stand Nora, noch feucht von ihrer eiligen Dusche, in ein Handtuch gehüllt vor dem Kleiderschrank. Hastig riss sie eine Bluse vom Bügel, warf sie aber nach kurzem Zögern auf den Hocker neben dem Bett, rückte das Badelaken über ihrer Brust zurecht und ging barfuß zur Tür.

»Ich habe noch nicht mit dir gerechnet.« Mit dem Handrücken schob sie sich das feuchte Haar aus dem Gesicht und streifte seinen Mund vorsichtshalber nur mit einem kurzen Blick, bevor sie einen Punkt dicht neben seinem linken Ohr fixierte. »Immer wieder vergesse ich, dass du Motorrad fährst und dich zwischen allen Autos hindurchschlängeln kannst.«

»Vielleicht solltest du doch einmal mitfahren. Dann würdest du dich an meine Moto Guzzi erinnern.« Wie immer lud er sie ohne jeden Vorwurf in der Stimme ein, sich ihm und seinem Motorrad anzuvertrauen. Und wie immer schüttelte sie mehr unschlüssig als entschieden den Kopf.

»Das hat Zeit. Eines Tages wirst du es tun.« Er machte einen Schritt auf sie zu und hüllte sie in seinen Duft nach Leder und Benzin ein.

Eine kleine, atemlose Ewigkeit lang stand er einfach nur vor ihr und sah sie an. Dann legte er die Spitze seines Zeigefingers sachte auf ihr Schlüsselbein und tupfte dort einen Wassertropfen auf, der aus ihren Haaren gefallen war.

Nora wollte zurückweichen und ihm vorsorglich erklären, dass sie nur wenig Zeit für ihn hatte, eigentlich gar keine. Dass sie vernünftig sein und arbeiten musste. Dass sie keine Frau war, die wegen eines Mannes andere Dinge, die ihr wichtig waren, vernachlässigte oder gar vergaß.

Aber ihr Körper bewegte sich nicht von ihm fort, sondern auf ihn zu, ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, ihr Mund suchte über dem lederduftenden Kragen der Jacke nach seiner Haut, die noch heißer war als ihre Lippen.

»Es ist gut, dass du Motorrad fährst ...«, flüsterte sie, weil die Worte für all die vernünftigen Dinge, die sie ihm hatte sagen wollen, aus ihrem Kopf verschwunden waren.

Mit einem Griff löste sie das Handtuch, ließ es zu Boden fallen und presste ihre feuchte Haut gegen das glatte, kühle Leder, durch das sie atemlos vor Erregung die Wärme seines Körpers spürte.

Als er seine Hände unter ihr langes, nasses Haar schob und ihren Nacken streichelte, verlor sie sich mit jeder sanften Bewegungen mehr und mehr in einem Meer aus Gefühlen. Sie spürte seine Zärtlichkeit nicht nur dort, wo er sie berührte, sondern als ein heftiges Prickeln, das über ihren ganzen Körper lief wie eine Ameisenarmee in Samtpantöffelchen. In ihren Kniekehlen spürte sie es und auf ihrem Bauch, an ihrem Rückgrat glitt es auf und ab – zitternd erwartete sie die nächste Welle der Erregung.

Ihr Kopf füllte sich mit rosigem Nebel. Für einen kurzen Moment versuchte sie den Gedanken festzuhalten, dass da etwas gewesen war, was sie ihm hatte sagen wollen, aber da lagen Leonards Lippen schon auf ihren, und sein Geschmack nach Pfefferminz und starkem Kaffee ließ sie endgültig ertrinken.

Ihr Mund war trocken, ihre Fingerspitzen kribbelten, ihre Haut brannte trotz der Kühle des Leders, gegen das sie sich immer enger presste und an dem sie sich nun rieb, erst sanft, dann heftiger.

»Ich hatte heute einen schweren Tag«, raunte Leonard unvermittelt in ihr Ohr.

Sie hob den Kopf und sah ihm verwirrt in die Augen. Wollte er jetzt etwa mit ihr über seinen Tag bei der Polizei sprechen? Sie wollte jetzt nicht reden, sie wollte fühlen, ihn fühlen!

»Verbrecherjagd?«, murmelte sie und ließ ihre Zunge über seine Kehle gleiten.

Er lachte leise und pustete dabei äußerst erregend in ihr Ohr. »Ich habe den ganzen Tag Akten gewälzt. Wie meistens. Das Schwierige war, dass ich dabei ununterbrochen daran denken musste, wie es ist, mit dir zu schlafen. Auf jeder Seite jeden Vernehmungsprotokolls stand so etwas wie Ich will dich, jetzt, sofort«

»Ich dich auch«, gelang es ihr mühsam hervorzustoßen, während ihre Hände sich ungeschickt an seiner Jacke zu schaffen machten. Sie wollte endlich seine Haut spüren!

Als er seine Hand zwischen ihre Schenkel schob, seine Fingerspitzen in ihre Feuchtigkeit tauchte und sie auf jene Art streichelte, die sie von Anfang an wahnsinnig gemacht hatte, stieß sie einen kleinen, hilflosen Schrei aus, den er mit heißen Lippen erstickte.

Plötzlich schienen seine Hände überall zu sein: auf ihrem Rücken, ihren Brüsten, den Innenseiten ihrer Arme und ihrer Schenkel, während sein Mund nun auf der weichen, empfindlichen Stelle unterhalb ihres Ohrs lag und ihr unverständliche Worte zuflüsterte, aus denen sie nur wieder und wieder hörte, wie sehr er sie wollte.

Sie verzehrte sich längst nach seinem Körper. All ihr Sein und Wollen kreiste um den einen Gedanken, mehr und immer mehr von ihm zu spüren. Ihr Mund glitt wie der einer Verdurstenden dorthin, wo im Schatten des Jackenkragens sein Duft noch intensiver war, wo sie mehr von ihm riechen und schmecken konnte.

Ihre Finger tasteten erneut nach dem Reißverschluss seiner Jacke, glitten ab, suchten vom unteren Bund aus den Weg zu seiner Haut.

»Lass mich das für dich machen«, flüsterte er und schob sie sanft von sich. Tief aus ihrer Kehle kam ein leiser, protestierender Ton, weil ihr Körper seinen schon in der Sekunde vermisste, in dem sie ihn nicht mehr spürte.

Das Geräusch, mit dem der Reißverschluss nach unten glitt, brachte auch die allerletzten Härchen auf ihrem Rücken dazu, sich aufzurichten.

Ihr Begehren schnürte ihr die Kehle zu, während sie mit hängenden Armen dastand und zusah, wie er sich die Jacke von den Schultern schob und sie achtlos neben das Handtuch auf den Boden fallen ließ. Mit einem entschlossenen Ruck zog er sich dann das schwarze T-Shirt über den Kopf. Nun trug er nur noch die enge schwarze Lederhose und die halbhohen Stiefel.

Noras Fingerspitzen brannten. Sie wollte seine Brust berühren, die sich heftig hob und senkte, wollte in die blonden Härchen pusten und ihre Lippen um die dunkelroten Brustwarzen schließen. Doch dann hatte sie keine Geduld mehr. Sie war nur noch wildes, grenzenloses Wollen und stürzte sich in seine Umarmung wie in ein tiefes Meer, atmete, fühlte und schmeckte ihn. Ihre Brust schmiegte sich an seine, und mit jedem Atemzug liefen winzige Stromstöße von den harten Spitzen ihrer Brüste bis in ihren Schoß.

Irgendwann nahm er ihre Hand und zog sie durch die offene Tür in ihr kleines Wohnzimmer.

Gleich darauf rieb sich die zarte Haut ihres Rückens am rauen Cordbezug der alten Couch, und sie blinzelte zu dem hohen, breitschultrigen Schatten hinauf, der zwischen ihr und dem schwindenden Tageslicht war, das gerade durchs Fenster fiel.

»Komm zu mir«, flehte sie. Er sollte sie mit seinem Körper bedecken, sie halten und ausfüllen, sollte sie lieben, bis das Feuer und die grenzenlose Gier, die sie in sich spürte, erloschen.

Leonard aber rührte sich nicht, stand nur da und sah auf sie herunter. »Du bist so schön«, flüsterte er rau.

Da spürte sie, wie unter seinem flackernden Blick die heiße Welle des Verlangens in ihrem Unterleib noch höher und wilder wurde. Heiße Flüssigkeit sickerte zwischen ihren zusammengepressten Schenkeln hindurch.

»Ich werde dich zudecken«, flüsterte Leonard, streckte den Arm aus und zog eine der Rosen aus der Vase, die sie mitten auf ihren Schreibtisch gestellt hatte.

Gebannt starrte sie ihm ins Gesicht, bewegungslos, obwohl alles in ihr danach schrie, ihn sofort zu sich herunterzuziehen.

Mit ernster, konzentrierter Miene hielt er die rote Blüte über ihren Körper. Für einen winzigen Moment sah sie eine silberne Perle in der Luft, dann zuckte sie unter dem Tropfen zusammen, der vom Rosenstiel knapp neben ihren Bauchnabel gefallen war.

Unter der Spur, die das Wasser auf ihre Haut zeichnete, zitterten sanft ihre Muskeln – und erstarrten, als da plötzlich auf ihrem Bauch eine andere Berührung war. Etwas, das kühl und samtweich war; etwas, das sie so leicht streifte, dass sie die Luft anhielt, um es besser wahrnehmen zu können. Etwas, dem ihr Körper sich instinktiv entgegenwölbte, weil sie mehr und mehr davon fühlen wollte. Es war die Rosenblüte, mit der Leonard sie streichelte.

Quälend langsam ließ er die Rose weiter an ihrem Körper hinabgleiten, zart über die feinen Härchen unter ihrem Bauch streichen und dann der Linie ihrer Schenkel bis zum Knie folgen.

Wie aus weiter Ferne hörte Nora sich stöhnen. Das kühle, samtweiche Gefühl war jetzt zwischen ihren Schamlippen und brachte sie zum Beben. Sie krallte die Nägel in den rauen Stoff der Lehne neben sich, wand sich unter der zarten und doch nachdrücklichen Berührung der weichen Blütenblätter, schob die Hüften zur Seite und folgte gleich darauf mit ihrem Körper gierig den Bewegungen der Rose.

Wieder und wieder strichen die kühlen Blätter über jenen pochenden Punkt, an dem sie so sehr die zarte, kitzelnde Kühle fühlen wollte.

Ihr Atem ging heftiger, ihr Stöhnen wurde lauter, als ihre Erregung plötzlich schwebend stockte. Die Rosenblüte war über ihr in der Luft und ließ sie nicht mehr fühlen, was sie so sehr fühlen wollte.

»Leonard«, flüsterte sie und wölbte ihm, längst ohne jede Scham, ihren Körper entgegen.

»Nora, ich liebe dich, Nora.« Er beugte sich vor, presste die Lippen fest auf ihren Mund und küsste sie so tief, dass sie die Welle schon erneut nahen fühlte. Doch er richtete sich wieder auf und zupfte mit einer ruhigen Bewegung ein rotes Blatt aus der Blüte.

»Schließe bitte die Augen, Nora.« Seine Stimme streichelte sie.

Nach kurzem Zögern tat sie, was er sich wünschte, blinzelte aber unter ihren Wimpern hindurch und sah ihn immer noch als Schatten über sich. Bis sie die samtige Kühle auf ihrem rechten Lid spürte und dort nur noch dunkles Rot wahrnahm. Sekunden später hatte er auch ihr anderes Auge mit einem Rosenblatt verschlossen. Mit zwei Blättern bedeckte er ihren Mund. Ein Blatt pflanzte er zärtlich in die kleine Kuhle, wo ihre Schlüsselbeinknochen zusammenstießen. Dann verlor sie den Überblick. Samtweich fühlte sie es auf ihren Brüsten, auf Bauch und Schenkeln. Ein- oder zweimal traf sie ein Tropfen von einem der Stiele. Und zwischendurch war immer wieder sein Mund auf ihrer Haut, heiß und feucht, ganz anders als die Blütenblätter und mindestens ebenso erregend.

Unter den duftigen Pflastern, die ihr Mund und Augen verschlossen, war Nora ihren Empfindungen noch stärker ausgeliefert als zuvor, ahnungslos wo und wie sie im nächsten Moment berührt werden würde.

Zart pustete Leonards Atem durch ihr Schamhaar, sachte strichen seine Fingerkuppen über ihre Schenkel, platzierten ein Blatt auf ihrem rechten Knie, bevor seine Lippen einen Kuss darüber hauchten. Dann war sein Mund auf ihrem Bauch, strich nach unten und wieder nach oben, umkreiste ihren Nabel, glitt abwärts, noch tiefer dieses Mal.

Seine Zunge war heißer als seine Lippen. Als sie sie fühlte, stieß Nora die Luft so heftig aus, dass eines der Blütenblätter von ihrem Mund in die Luft flog und sanft auf ihrer Brust landete. Sie aber spürte nur sich und den Mann, der sie so sehr in Erregung versetzte.

Mit langen, festen Strichen ließ Leonard seine Zunge zwischen ihren Schamlippen hindurch gleiten und schob sie dann sanft und zärtlich in sie hinein. Wieder und wieder, bis Nora spürte, wie alles in ihr weich und warm und weit wurde, wie es prickelte und strömte, wie sie sich in der einen Sekunde verlor und in der nächsten wiederfand, wie sie eins mit sich und eins mit allem um sich herum wurde, eins mit diesem Mann.

Sie wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis sie wieder den rauen Stoff unter sich spürte und sich selber darauf, bis ihre Augen, von denen er zärtlich die Blütenblätter gepflückt hatte, wieder klar das Gesicht über sich erkennen konnten. Sie streckte die Arme nach Leonard aus, zog ihn zu sich herunter und küsste ihn lange.

Seinen Mund noch auf ihren Lippen hob er sie von der Couch hoch in eine enge Umarmung und presste seinen Körper warm und fest an ihren. Durch die lederne Motorradhose spürte sie seine Erregung, und sofort stieg auch in ihr wieder die Welle hoch.

Nun war sie es, die ihn mit sich zog. Nach nebenan in ihr kleines Schlafzimmer, wo sie sich neben dem Bett vor ihm niederkniete, um den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen und ihn ihre Hände und ihren Mund, ihre Zärtlichkeit und ihr Verlangen spüren zu lassen.

»Du musst jetzt gehen«, sagte Nora zwei Stunden später. Sie lag auf dem Rücken in ihrem Bett, das eigentlich viel zu schmal für zwei war, und fühlte sich gleichzeitig erschöpft und voller Energie. Ihre Arme und Beine waren mit Leonards verschlungen, ihr Schweiß mischte sich auf ihrer Haut mit seinem, und tief in sich meinte sie ihn immer noch zu spüren.

Er hob den Kopf und sah sie von der Seite an. »Weißt du, dass wir in den drei Monaten, die wir jetzt zusammen sind, niemals eine ganze Nacht miteinander verbracht haben?«

»Ich muss noch arbeiten.« Wie ertappt biss sie sich auf die Unterlippe und drehte den Kopf ein winziges Stückchen zur Seite.

»Wovor hast du Angst?« Seine Fingerspitzen legten sich mit leichtem Druck auf den zarten Knochen ihres Schlüsselbeins.

»Vor einer schlechten Bewertung zum Beispiel?« Trotzig sah sie ihm in die Augen. »Ich muss morgen früh ein Referat halten.«

Der Gedanke, wie viel sie noch an ihrem Vortrag hatte tun wollen, machte sie unglücklich. Mittlerweile war es fast Mitternacht, und ihr Kopf fühlte sich leer und seltsam schwebend an wie ein mit Helium gefüllter Ballon.

Entschlossen nahm sie seine Hand von ihrem Körper. »Bitte, geh jetzt!«

Vom Bett aus sah sie ihm beim Anziehen zu. Seine Bewegungen waren knapp und sicher, und wenn er erneut zu ihr gekommen wäre, hätte sie ihm vielleicht ein weiteres Mal nicht widerstehen können. Doch er vermied es, auch nur in ihre Richtung zu schauen.

Zum Abschied beugte er sich nur kurz über sie, sah ihr prüfend in die Augen, legte für einen Moment die Fingerspitzen auf ihren Mund und ging dann wortlos aus dem Zimmer. Die Tür ließ er hinter sich offen.

Hungrig folgte Noras Blick ihm quer durch das kleine Wohnzimmer. Vor ihrem Schreibtisch blieb er stehen und betrachtete nachdenklich die wenigen Rosen, die noch übrig geblieben waren. Dann zog er sie aus der Vase und nahm sie mit.

Am nächsten Morgen, als Nora auf dem Weg in die Uni ihren Müll in den Container warf, sah sie zwischen all den grauen Müllbeuteln ein paar leuchtend rote Blütenblätter.

Sie verstand nicht, warum er ihr die wenigen Blumen, die von seinem Geschenk übrig geblieben waren, nicht gelassen hatte, aber es blieb ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie war eigentlich schon zu spät dran, wenn sie sich vor ihrem Referat noch ein paar Minuten konzentrieren wollte.

16. Mai 1996

Seit Wochen habe ich keinen Tagebucheintrag gemacht. Zu viel Arbeit, zu wenig Ruhe, vielleicht auch zu viele Gefühle, für die es keine Worte gab. Es ist höchste Zeit, wieder klar zu denken und zu fühlen, nicht nur angesichts meiner bevorstehenden Diplomprüfung! Dennoch war die Entscheidung, mich von Leonard zu trennen, eine der schwersten meines Lebens, obwohl sie unumgänglich war.

Die Tatsache, dass ich eine schwache Leistung in meinem Referat in Statistik abgeliefert habe, weil ich am Abend vorher entgegen all meinen Vorsätzen Sex mit ihm hatte, der mich wie immer völlig durcheinanderbrachte, war nur der Auslöser, nicht der Grund für meine Entscheidung. Ich kann und will nicht mit einem Mann zusammen sein, dessen bloße Existenz mir mein Leben entgleiten lässt.

Als ich es ihm sagte, wollte er mich nicht verstehen. Alles, was er erwiderte, war, er könne mich nach all dem, was zwischen uns gewesen sei und noch sein könne, in seinem Herzen nicht loslassen. Heute nicht, morgen nicht, vielleicht niemals. Ein Gedanke, der mir Angst macht, weil auch er sich viel zu sehr von Gefühlen beherrschen lässt.

Schon in der Tür, drehte er sich noch einmal um und sagte etwas, was ich wohl nie vergessen werde (wofür ich ihn gern hassen würde, wenn ich nur könnte): »Wenn wir wirklich nie mehr in diesem Leben zusammenfinden, was ich einfach nicht glauben will und nicht glauben kann, werde ich noch mit 80, wenn ich auf einer Bank sitzen und in den Sonnenuntergang schauen werde, an das gemeinsame Leben denken, das wir nicht hatten.«

Die Rosen, die ich am nächsten und am übernächsten Tag vor meiner Tür fand, habe ich weggeworfen. Sein Atmen und sein Schweigen am Telefon ertrage ich immer nur für wenige Sekunden und lege dann auf Ich habe Angst, dass das niemals aufhört!

1. KAPITEL

Dr. Nora Jacobi starrte ungeduldig auf das Förderband, auf dem nur noch einige wenige Koffer ihre Runden drehten. Die meisten Fluggäste der Maschine aus München hatten bereits mit ihrem Hab und Gut die Ankunftshalle verlassen.

Als ein neues Gepäckstück durch die von Kunststoffstreifen verhängte Öffnung auf das Band glitt, hob Nora aufmerksam den Kopf, um sofort darauf die Luft gleichzeitig durch Mund und Nase auszustoßen und die Fingerspitzen der rechten Hand gegen ihre Nasenwurzel zu pressen, wo es nachdrücklich zu pochen begonnen hatte. Wenn sie nicht innerhalb der nächsten Stunde eine Tasse starken Kaffee bekam, würde sich das Pochen zu einer handfesten Migräne auswachsen. Außerdem musste sie ihre Füße dringend aus den todschicken und sündhaft teuren, aber sehr unbequemen Pumps befreien, die sie sich extra für die Tagung geleistet hatte.

»Gehören Sie auch zu den Fluggästen, deren Koffer aus unerfindlichen Gründen immer als Allerletzter auf dem Band auftaucht?«

Als sie die tiefe Stimme direkt neben sich hörte, zuckte Nora zusammen. Dann erkannte sie den Mann, der aus einer imposanten Höhe von mindestens einen Meter neunzig auf sie heruntersah, und rang sich ein Lächeln ab. »Falls mein Gepäck überhaupt auftaucht. Ich fürchte jedes Mal das Schlimmste, und manchmal tritt es ein.«

»Dann haben wir ja noch etwas gemeinsam.«

Nora verkniff sich die Frage, was genau sie und Professor Cord Andersen außer ihrem Berufsfeld und einer unglücklichen Beziehung zu Koffern gemeinsam haben sollten. Immerhin war er eine international anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der Schizophrenie-Forschung, während sie allenfalls in jenen Kreisen bekannt war, die mit sich mit dem erst vor kurzem ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit gerückten Phänomen des Stalkings beschäftigten. Der Kongress in München, auf dem sie einen Vortrag über ihre Erfahrungen mit der Behandlung von Tätern und Opfern gehalten hatte, war ihr erster Auftritt vor bedeutenden Wissenschaftlern gewesen, wenn man den einen oder anderen Aufsatz, den sie in Fachzeitschriften hatte veröffentlichen können, außer Acht ließ.

»Ich habe gar nicht bemerkt, dass Sie auch in der Maschine waren.« Nervös ließ sie ihren Blick hinüber zum Band und wieder zurück zu Andersen huschen.

»Ich bin praktisch in letzter Minute an Bord gegangen. Schade, dass wir uns nicht beim Boarding getroffen haben, ich hätte mich auf dem Flug gern mit Ihnen über Ihren interessanten Vortrag unterhalten.« Sein Lächeln erreichte seine grauen Augen nicht.

»Danke.« Auch Nora zog nun mehr aus Höflichkeit denn aus Überzeugung die Mundwinkel hoch. Wieder tauchte ein dunkles Gepäckstück auf, und wieder war es nicht ihres.

»Ehrlich gesagt, wusste ich schon, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, dass Ihnen eine große Zukunft bevorsteht. Es ist immer wieder wunderbar zu erleben, wenn ehemalige Studenten und Studentinnen erfolgreich sind.« Nun leuchteten seine Augen doch.

»Sie erinnern sich noch an das Seminar über Double Binding und Schizophrenie, das Sie damals als Lehrstuhlvertretung abgehalten haben? Das ist über zehn Jahre her! Sie haben nach dem einen Semester hier in Bielefeld den Ruf nach Göttingen bekommen.« Verblüfft starrte Nora den schmalschultrigen Mann mit dem dichten sandfarbenen Haar an.

»Ich sagte doch, es ist eine der schönsten Seiten meines Berufes, talentierten jungen Menschen zu begegnen. Nicht, dass das allzu häufig vorkäme. Gerade deshalb erinnere ich mich natürlich sehr deutlich an Sie.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Vielen Dank.« Erstaunt spürte Nora die Verlegenheit, die die Worte des Professors bei ihr auslösten. Was vielleicht daran lag, dass sie sich unvermittelt in ihre Studienzeit zurückversetzt fühlte. Damals war sie sehr ehrgeizig, aber immer auch ein wenig unsicher gewesen. Nie hatten ihre Arbeiten ihren eigenen Ansprüchen genügt und guten Bewertungen hatte sie grundsätzlich misstraut. Heute, mit 36 Jahren und nach fast acht Jahren als Therapeutin, sah das ein wenig anders aus. Dennoch brauchte es offenbar nur eine zufällige Begegnung und ein paar Worte, um die Vergangenheit und die Gefühle von damals wieder aufleben zu lassen.

»Es gibt keinen Grund, sich bei mir zu bedanken.« Andersens Lächeln war warm und freundlich. Er legte für einen kurzen Moment die Hand auf Noras Oberarm und zog sie sofort wieder zurück.

»Da ist er ja endlich!« Nora atmete erleichtert auf und zeigte auf den dunkelblauen Trolley, der gerade seine erste Runde auf dem Laufband begonnen hatte.

Sie stürzte auf ihren Koffer zu, als müsste sie befürchten, er würde sich im nächsten Augenblick vor ihren Augen in Luft auflösen. In ihrem Rücken meinte sie Andersens Blick zu spüren.

Nachdem sie den Trolley vom Band gezerrt hatte, kehrte sie zu Andersen zurück, um sich zu verabschieden.

»Ich fürchte, es sieht nicht aus, als käme ich von einer dreitägigen Konferenz, sondern als wollte ich nach Neuseeland auswandern.« Sie zog die Schultern hoch, deutete auf ihren großen Koffer und wusste im selben Moment, dass sie aus Unsicherheit zu viel redete.

»Irgendwo muss man ja all die Unterlagen verstauen, nicht wahr?« Andersen lächelte verständnisvoll. Immerhin verstand er, dass sie nicht etwa für jeden Tag drei Kleider zum Wechseln mit sich herumschleppte.

»Ja – dann hoffe ich, dass Ihr Gepäck auch noch auftaucht.« Nora hielt ihm die Hand hin, die er seltsam hastig ergriff und ein wenig zu fest drückte.

»Und ich hoffe, dass wir uns bald einmal ausführlicher fachlich austauschen können. Sie wissen, dass ich seit Semesterbeginn hier am Ort lehre?«

Nora nickte, obwohl sie keine Ahnung gehabt hatte, dass Andersen die altehrwürdige Göttinger Fakultät zugunsten der viel jüngeren hiesigen Universität verlassen hatte. »Vielen Dank. Auch für Ihren äußerst interessanten Vortrag. Ich habe eine Menge gelernt.« Ihre Worte waren ehrlich gemeint, aber Nora war unter dem forschenden Blick sehr unbehaglich zumute.

Als sie mit ihrem Trolley die Halle durchquerte, wusste sie nicht recht, ob sie sich wegen der lobenden Worte des Professors geschmeichelt fühlen sollte oder ob ihr die Begegnung mit Andersen eher unangenehm gewesen war. Womöglich würde sie ihr ganzes Leben lang das vage Unbehagen nicht loswerden, das sie seit der Grundschulzeit in Gegenwart ihrer Lehrer gespürt hatte. Seit jenem Moment kurz nach ihrer Einschulung, als ihre Klassenlehrerin Frau Bück sie lange gemustert und dann mit ihrer klaren, hohen Stimme gesagt hatte: »Sieh mich nicht so frech an! Das werde ich dir noch abgewöhnen.«

Noch heute sah Nora Frau Bücks wasserblaue Augen vor sich, in die sie erschrocken gestarrt hatte. Damals hatte sie nicht begriffen, dass es klüger gewesen wäre, das zu tun, was fast alle anderen Kinder in dieser Situation taten: den Blick zu senken. Und als sie es viel später verstanden hatte, hatte sie es nicht über sich gebracht. Manchmal sah sie weg, aber sie sah niemals zu Boden.

Natürlich war sie heute als Therapeutin mit der Wirkung von Blicken vertraut, aber außerhalb ihrer Praxis vergaß sie manchmal, wie entscheidend es sein konnte, in bestimmten Momenten nicht zu direkt hinzusehen. Sie vergaß es, weil sie hinsehen wollte, auch wenn es manchmal schmerzte.

Aus einem Impuls heraus blieb Nora stehen und wandte sich noch einmal um. Professor Andersen war gerade dabei, einen mittelgroßen schwarzen Koffer vom Rollband zu heben. Nora war sich ziemlich sicher, dass dieser Koffer schon seit geraumer Zeit seine Runden gedreht hatte.

Das Pochen hinter ihrer Stirn war schmerzhafter geworden, doch sie beschloss, es einfach zu ignorieren, während sie hastig ihren Weg in Richtung Ausgang fortsetzte.

Sie konnte vom Taxi aus bereits die Fenster ihrer Wohnung sehen, als ihr einfiel, dass sie Stefan für den Abend ihrer Rückkehr ein Essen zu zweit versprochen hatte. Diese Einladung sollte eine kleine Entschädigung für ihn sein, weil er so enttäuscht gewesen war, als sie ihn wieder einmal aus beruflichen Gründen nicht zu einer Einladung im Bekanntenkreis hatte begleiten können.

Da es sich eher um seine als um ihre Bekannten handelte, tat ihr das Versäumnis, wäre es nicht um Stefan gegangen, nicht sonderlich leid. Nora hatte nicht viel Zeit, Freundschaften zu pflegen, und manchmal war es ihr schlicht zu viel, außerhalb ihrer Praxis mit Menschen umzugehen, ihnen zuzuhören und ihnen Interesse zu schenken oder zumindest so zu tun, als würde sie sich für sie interessieren. Als Stefan ihr einmal vorgeworfen hatte, Menschen ohne Knacks, wie er es nannte, seien ihr einfach zu langweilig, hatte sie ihm energisch widersprochen. Wenn sie aber sich selbst gegenüber ehrlich war, musste sie zugeben, dass viele Menschen sie tatsächlich langweilten.

Sie wies den Fahrer an, sie statt vor ihrer Haustür vor dem nächstgelegenen Supermarkt abzusetzen, und stellte beim Betreten des Geschäfts fest, dass es keine besonders glückliche Idee gewesen war, mitsamt ihrem Gepäck einkaufen zu gehen. Da sie ihren Trolley nicht unbeaufsichtigt im Eingangsbereich des Ladens stehen lassen wollte, zerrte sie ihn hinter sich her durch die Gänge, während sie mit der anderen Hand den Einkaufswagen schob.

Mit angestrengt gerunzelter Stirn musterte sie das Angebot in den Regalen. Natürlich hatte sie nicht die geringste Idee, was sie kochen sollte. Was nicht weiter schlimm war, da ihr überhaupt nicht genug Zeit zum Kochen blieb. Es würde also etwas Kaltes geben.

Erst nachdem sie an der Käsetheke bereits drei Sorten Schnittkäse ausgewählt hatte, fiel ihr ein, dass Stefan Käse nicht besonders mochte. Also schwenkte sie um auf Aufschnitt, suchte dazu einige Salate aus und kaufte anschließend noch Brot, Butter und ein wenig Obst.

Als Nora mitsamt Trolley, prall gefüllter Einkaufstüte und Schultertasche den Supermarkt verließ, stand die Sonne bereits tief am Himmel. Selbst wenn sie nur die kalten Speisen ein wenig nett anrichten wollte, würde sie sich beeilen müssen.

Obwohl sie nur zwei Querstraßen weit gehen musste, rann ihr unter der dunklen Kostümjacke der Schweiß den Rücken hinunter, als sie sich ihrem Haus näherte. Die vergangenen Tage waren für Mitte April außergewöhnlich warm gewesen.

»Endlich! Ich dachte schon, Sie würden heute überhaupt nicht mehr kommen!« Jonas Thiemann stand so plötzlich vor ihr, als wäre er aus dem Boden gewachsen.

Nora atmete tief durch und sagte mit der Stimme, die sie für ihre Therapiesitzungen reserviert hatte und die ein wenig tiefer und nachdrücklicher klang als ihr Alltagston: »Wir haben für heute keinen Termin ausgemacht, Herr Thiemann.«

»Sie haben mir gesagt, wenn ich in Not sei, könne ich Sie jederzeit anrufen.« Trotz seiner siebenundzwanzig Jahre klang Thiemann wie ein nörgelnder Sechsjähriger.

»Ich sprach von einem Anruf, nicht davon, dass Sie jederzeit vor meiner Tür auftauchen können.« Nora bemühte sich nicht, ihren Unwillen zu verbergen. Es war absolut nötig, Menschen, die dazu neigten, den Willen anderer zu missachten, sehr deutliche Grenzen aufzuzeigen. »Wie haben Sie überhaupt meine Wohnung gefunden? Meine Privatadresse steht nicht im Telefonbuch.«

Thiemanns Lächeln glich einem Zähnefletschen. Seine beiden Zahnreihen waren bemerkenswert perfekt, strahlend weiß und ebenmäßig. »Sie sollten wissen, dass es für mich nicht besonders schwierig ist, herauszufinden, wo jemand wohnt. Als Lea sich die neue Wohnung gesucht hat, kannte ich schon lange vor dem Umzug ihre neue Adresse.«

Nora fröstelte. »Wir hatten besprochen, dass Sie sämtliche Aktivitäten in dieser Richtung einstellen sollten. Haben Sie mich etwa irgendwann während der vergangenen Wochen von der Praxis bis hierher verfolgt?«

Thiemann zuckte gelassen die Achseln. »Wir haben besprochen, dass ich meine Frau nicht mehr besuchen soll. Von Ihnen war nie die Rede.«

Mit einem unterdrückten Seufzer stellte Nora den Plastikbeutel, dessen Griff ihr schmerzhaft in die Finger schnitt, vor ihren Füßen ab. »Es handelt sich um Ihre Exfrau. Sie sind seit über einem halben Jahr geschieden, und Ihre Exfrau hat mittlerweile eine einstweilige Verfügung erwirkt, die Ihnen verbietet, sich ihr und ihrer Wohnung zu nähern.« Sie kam sich lächerlich vor, wenn sie Thiemann ausführlich das sagte, was er ohnehin sehr genau wusste. Aber es gehörte zur Therapie, ihm die Tatsachen immer wieder vor Augen zu halten.

»Deshalb hat sie am Freitagabend auch die Polizei gerufen. Ich hatte ziemlichen Ärger.«

Dieses Mal gab Nora sich keine Mühe, nicht aufzustöhnen. Dieser Klient war einer der schwierigsten seit der Eröffnung ihrer Praxis, was angesichts der Tatsache, dass sie sich auf Stalkingopfer, aber auch auf Täter spezialisiert hatte, wirklich etwas bedeuten wollte.

»Wundert es Sie, dass Sie Ärger bekommen haben? Schließlich sind Sie erst Anfang der vergangenen Woche von der Polizei verwarnt worden.«

»Ich will mich ja bessern, aber ich kann nicht. Ich liebe meine Frau.« Thiemanns Gesichtsausdruck wirkte eher fröhlich als bedrückt.

»Ihr Problem ist, dass Sie die Sache nicht ernst nehmen.«

»Wäre ich hier, wenn ich es nicht schrecklich ernst nehmen würde, dass Lea mich einfach so verlassen hat?« Schlagartig wurde Thiemanns Miene anklagend. »Ich kann und ich werde sie nicht vergessen. Sie hat mir ewige Liebe geschworen. Verstehen Sie – ewige Liebe? Da kann sie nicht plötzlich sagen, dass sie nicht mehr mit mir zusammen sein will. Ich weiß, dass sie mich noch liebt.«

Nora bückte sich und nahm ihren Plastikbeutel wieder vom Boden hoch. »Ich gebe Ihnen einen zusätzlichen Termin für morgen früh um acht Uhr. Dann können wir über alles sprechen.«

Acht Uhr bedeutete, dass sie spätestens um halb sieben aufstehen musste. Angesichts der Tatsache, dass Stefan erst gegen einundzwanzig Uhr kommen würde, nicht viel Zeit für einen romantischen Abend, wenn sie ihre üblichen sieben Stunden Schlaf haben wollte.

»Morgen ist zu spät!«, klagte Thiemann. »Was ist, wenn ich nachher wieder bei meiner Frau klingele? Sie sind meine Therapeutin, Sie müssen etwas tun!«

»Was soll ich tun? Ich kann Sie nicht einsperren.« Nora machte ein paar beherzte Schritte auf die Gartenpforte zu. Thiemann blieb ihr dicht auf den Fersen.

»Dann verschreiben Sie mir irgendwas!«

»Es gibt keine Tabletten, die dafür sorgen können, dass Sie Ihre Exfrau nicht belästigen.« Mit der Fußspitze stieß Nora die Pforte auf.

»Wie kann ich meine eigene Frau belästigen?«, jammerte Thiemann. »Wir lieben uns doch, auch wenn sie das gerade vergessen hat. Sie ist verwirrt, dieser Kerl hat sie völlig durcheinandergebracht. Wenn sie erst einmal die rosarote Brille abgesetzt hat, wird sie sich erinnern, wie sehr sie mich liebt.«

»Wir reden morgen früh darüber, Herr Thiemann. Um acht Uhr in meiner Praxis. Und bitte kommen Sie nie wieder hierher. Sie dringen in meine Privatsphäre ein. Das verbitte ich mir!« Nora zerrte den Trolley durch die Pforte und warf die niedrige Holztür hinter sich zu.

»Sie sind meine Therapeutin! Sie können nicht einfach die Tür vor meiner Nase zumachen, wie sie das tut.« Jetzt klang Thiemann drohend.

»Momentan bin ich nicht Ihre Therapeutin«, teilte Nora ihm mit klarer, lauter Stimme mit und sah ihm dabei ruhig ins Gesicht. »Morgen früh wieder, jetzt nicht.«

»Wenn ich es wieder tue und Ärger bekomme, werden Sie es bereuen. Weil es Ihre Schuld ist.« Thiemanns Stimme überschlug sich. Er hatte die Hände um die obere Kante der Pforte gelegt und rüttelte daran, obwohl er sie jederzeit mit einem Griff hätte öffnen können.

»Es ist nicht meine Schuld. Sie selbst tragen die Verantwortung für Ihr Leben und Ihre Handlungen. Auch darüber können wir morgen früh gern noch einmal reden, Herr Thiemann.« Energisch drehte Nora sich um und holperte mit ihrem Trolley den schmalen Plattenweg zur Haustür entlang. Sie brauchte ein oder zwei Minuten, bis sie in ihrer großen, wie immer bis zum Rand vollgestopften Schultertasche den Schlüssel fand und die Tür geöffnet hatte. Die ganze Zeit tat sie, als würde sie Thiemann, der abwechselnd drohte und jammerte, nicht hören. Wenigstens respektierte er die Tatsache, dass sie die Pforte geschlossen hatte, und blieb auf der anderen Seite, was vielleicht ein Fortschritt war, wenn sie bedachte, dass seine Exfrau seit Monaten vergeblich versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass er nicht nach Belieben in ihrer Wohnung ein- und ausgehen konnte.

Als Nora die Haustür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, atmete sie auf. Wieder zu Hause! Seit sie vor zwei Jahren in die obere Etage der kleinen Stadtvilla gezogen war, kannte sie zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie ein Heimatgefühl. Sie hatte sich in das weiße Haus in dem für den innenstadtnahen Bezirk erstaunlich weitläufigen Garten auf den ersten Blick verliebt und sich in Gegenwart ihrer Vermieterin vom ersten Moment an geborgen gefühlt. Mittlerweile war Adela so etwas wie die Mutter für sie geworden, die sie nie gehabt hatte.

Nora ließ ihren Koffer in der Diele stehen und trug als Erstes ihre Einkäufe nach oben. Als sie wieder herunterkam, um den Trolley zu holen, hörte sie laute Musik. Tschaikowsky, wie fast immer.

Lächelnd wandte sich Nora der Tür zu, die zu Adelas Räumen führte, um ihr zu sagen, dass sie aus München zurück war, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Wenn sie erst einmal mit ihrer Vermieterin ins Plaudern kam, was unweigerlich passierte, sobald sie mit der üblichen Tasse Tee in der Hand in Adelas Wintergarten saß, würde die Zeit noch knapper werden. Sie hatte bis zu Stefans Eintreffen ohnehin nur noch eine knappe Stunde Zeit.

Nora ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie viel lieber unter Adelas Palmen sitzen und die beruhigende Gegenwart der älteren Freundin genießen wollte, als sich in aller Eile zu duschen, umzuziehen, ein Essen zuzubereiten und dann den Abend mit Stefan zu verbringen.

Energisch schüttelte sie den Kopf, trug ihren Koffer nach oben und bereitete sich auf den Besuch ihres Freundes vor.

»Er hat noch fast eine halbe Stunde unten auf der Straße gestanden und zu meinen Fenstern hochgestarrt. Also weiß er sogar, dass ich im ersten Stock wohne. Zwischendurch hat zweimal das Telefon geklingelt, und als ich mich meldete, wurde aufgelegt. Ich bin sicher, das war auch er. Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht besser die Behandlung abgeben soll. Vielleicht hätte ein männlicher Kollege mehr Erfolg.« Nora griff nach der Weinflasche und schenkte sich ein weiteres Glas ein, obwohl sie sich schon leicht benommen fühlte. Immerhin nahm ihr der Wein den Druck über der Nasenwurzel, der im Laufe des Abends immer stärker geworden war.

»Du bist die Expertin.« Stefan, der Alkohol grundsätzlich nur in sehr geringen Mengen konsumierte, trank einen kleinen Schluck von seinem Mineralwasser. An seinen zusammengekniffenen Lippen konnte sie erkennen, dass er zwar seine üblichen Bedenken bezüglich ihrer Klienten ausnahmsweise nicht äußerte, aber natürlich daran dachte, wie oft er ihr schon gesagt hatte, dass es seiner Meinung nach gefährlich war, ausgerechnet Stalker zu therapieren.

Stefan war erfolgreich in der Computerbranche. Die Herausforderung, die es für Nora bedeutete, mit Menschen zu arbeiten, die Probleme mit sich und ihrem Leben hatten, konnte er jedoch nicht nachvollziehen.

Mit nachdenklich gerunzelter Stirn nippte Nora an dem kühlen Weißwein. »Ich gebe nicht gerne auf. Jonas Thiemann ist ein schwieriger Fall, doch ich halte ihn für zugänglich. Sonst hätte ich ihn gar nicht erst als Klienten akzeptiert. Allerdings werde ich ihm morgen früh sagen, dass ich die Behandlung nur fortsetze, wenn er meine Privatsphäre ab sofort ausnahmslos respektiert.«

In ihre letzten Worte hinein läutete das Telefon, das hinter ihr auf dem Sideboard lag. Sie konnte ein leichtes Zusammenzucken nicht verhindern. Stefans Lippen wurden noch schmaler. Beide saßen sie da und starrten das blinkende schwarze Mobilteil an.

»Soll ich rangehen?«, fragte Stefan schließlich.

»Nein.« Hastig griff Nora nach dem Telefon. Sie würde sich nicht hinter Stefan verstecken.

»Jacobi«, sagte sie in energischem Ton in die Muschel. Fast war sie erstaunt, eine Antwort zu bekommen.

»Clarissa Beck hier.« Als sie die demonstrativ freundliche Stimme ihrer Sekretärin hörte, entspannte Nora sich sofort. »Hoffentlich störe ich nicht, aber ich wusste nicht, wann Sie heute aus München zurückkommen. Ich wollte Bescheid sagen, dass ich morgen früh ein bisschen später in der Praxis sein werde. Ich habe um neun Uhr einen Zahnarzttermin. Es ließ sich nicht anders einrichten.«

Clarissa hatte oft Schwierigkeiten, ihre Pflichten und Termine so zu legen, dass sie nicht mit ihrer Arbeitszeit zusammenfielen, aber dies waren nicht die Zeit und der Ort, das zu besprechen.

Eigentlich hatte Nora ihre Sekretärin bitten wollen, ausnahmsweise schon um acht Uhr zu kommen, weil sie ungern mit Jonas Thiemann allein sein wollte, aber da sie wegen der Hektik des Abends ohnehin vergessen hatte, Clarissa anzurufen, war es nun auch egal.

»Ist in Ordnung«, sagte sie knapp, wobei sie nicht vergaß, einen leichten Tadel in ihre Stimme zu legen, und beendete nach wenigen Sätzen das Gespräch.

Während des kurzen Telefonats hatte Stefan, der ihr beim Essen gegenübergesessen hatte, sich fast verschämt auf den Stuhl links neben ihr geschoben.

»Ich habe dich vermisst«, sagte er, als sie das Telefon weglegte.

»Ich dich auch.« In dem Moment, in dem sie die Worte aussprach, war Nora bereits bewusst, wie mechanisch sie klangen.

»Ich meine, es wäre viel schöner gewesen, das Wochenende mit dir zu verbringen«, setzte sie hastig hinzu. »Obwohl die Konferenz interessant war.«

»Sonst hättest du sie nicht besucht«, sagte er sanft und lächelte sie an.

Seine Hand war in ihrem Haar. Sie wusste nicht genau, was er da machte. Es ziepte ein bisschen, wahrscheinlich wickelte er eine ihrer halblangen Strähnen etwas zu fest um seine Finger.

Ich weiß dein Verständnis zu schätzen, wollte sie sagen, verschluckte den Satz aber im letzten Moment, weil sie dieses Mal sogar schon hören konnte, wie kühl die Worte klangen, bevor sie sie überhaupt ausgesprochen hatte.