Geiles Wiedersehen

George Clemens

„Iris? Iris Wagner?“

Ich wandte mich um. Erwartete schon halb einem meiner früheren Lehrer gegenüberzustehen. Mit ehemaligen Schulkameraden hatte ich bislang leider kein Glück gehabt.

Ich befand mich auf der 25-Jahre Feier meines ehemaligen Oberstufen-Gymnasiums, der Belfort-Bax-Schule im Westend unserer Stadt. Fast konnte ich es selbst nicht ganz fassen, dass es über 15 Jahre her war, als ich das letzte Mal durch diese Räume und Flure geschlendert war. Ich hatte in unserer örtlichen Ta­geszeitung von diesem Jubiläum gelesen, zu dem ausdrücklich auch alle Ex-Schüler eingeladen worden waren, und da ich an diesem Wochenende nichts anderes zu tun gehabt hatte, hatte ich einmal hier vorbeigeschaut. Wer weiß, dachte ich mir, welche alten Be­kannt­schaften ich hier wiedersehen würde? Und wie sich die Leute von damals wohl entwickelt hatten nach 15 Jahren? Ich hatte mir sogar längere Zeit überlegt, ob ich mich wohl modisch ein bisschen aufbrezeln sollte, um einen guten Eindruck zu erzeugen, eine schicke Blu­se vielleicht, hatte mich dann aber doch ganz lässig für Jeans und Jeansjacke entschieden, so wie damals in der guten alten Zeit.

Es wäre auch egal gewesen, stellte ich zu meiner Enttäuschung fest. Das Jubiliäum schien ohnehin nicht gerade überlaufen mit ehemaligen Schülern und aus meinem Jahrgang war offenbar überhaupt niemand erschienen. Insofern waren die einzigen Leute, die mich erkannten, diejenigen, zu denen wir uns damals in der Opposition befunden hatten: die Lehrer. Und selbst die hatten Probleme. Die nette Frau Kaiser, die mich da­mals in Französisch unterrichtet hatte, tat zwar freundlicherweise alles, um mich nicht zu sehr merken zu lassen, dass sie sich kein Stück an mich erinnerte, aber es war trotzdem fast ein bisschen schmerzhaft.

Allmählich kam ich mir vor wie Falschgeld, als ich so durch die Hallen schlenderte, die nicht mehr die meinen waren, oder wie der Geist eines Verstorbenen, der unsichtbar für alle noch Lebenden seine frühere Heimstätte aufsucht.

Bis ich eben plötzlich mit meinem Namen angesprochen wurde und mich umwandte. Es war kein Lehrer. Leider war es auch keiner der sportlichen, gut aussehenden Jungs, mit denen ich damals viel Spaß gehabt hatte. Ich erkannte ihn trotzdem sofort. Es war Carsten. Der gute alte, etwas naive Carsten, der mich damals in meinem anderen Leistungskurs, Deutsch bei Frau Lamp­recht, aus der Ferne immer ein wenig angehimmelt hatte und auch auf unserer Jahrgangsfahrt, während ich mit den wesentlich hübscheren Jungen Party gemacht hatte.

„Carsten!“, sagte ich. „Hi! Ich dachte schon fast, ich würde überhaupt niemanden mehr wiedersehen von da­mals! Wie geht es dir denn?“

Er sah gar nicht so viel anders aus als damals. Nicht ganz so mager, aber immer noch etwas schlaksig, im­mer noch nicht mit dem besten Geschmack für coole Klamotten ausgestattet, immer noch eher blass. Hätte mich nicht gewundert, wenn er inzwischen irgendeinen Bürojob ausübte, bei dem er die ganze Zeit vor dem Bildschirm saß. Das hätte zu ihm gepasst.

„G…gut“, sagte er, immer noch etwas unbeholfen und schluckte. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen, wie als ob es irgendeine Formulierung gäbe, die mich besonders beeindrucken würde, starrte mich aber stattdessen nur stumm an. So wie damals.

„Ich hab auch noch keinen gesehen, den ich kenne“, sagte er endlich. „Außer den Lehrern natürlich.“

„Wie lange bist du schon hier?“, fragte ich ihn.

„Oh, seit …, seit etwa einer halben Stunde vielleicht. Naja, eher seit zwanzig Minuten.“

Vielleicht würde er mit der Zeit etwas zutraulicher wer­den, wenn ich seine Unsicherheit einfach überging. Carsten war nun wirklich nicht jemand, bei dem ich mich nach einem Wiedersehen gesehnt hätte, aber es war wenigstens irgendeiner aus meiner Jugendzeit, mit dem ich plaudern konnte. Und die nächste Stunde oder so ein bisschen angehimmelt zu werden, konnte mir viel­leicht auch ganz gut tun.

„Ich war bis jetzt erst hier im Erdgeschoss“, sagte ich. „Wollen wir uns die anderen Stockwerke vielleicht gemeinsam ansehen?“

Er nickte begeistert. „Ja, das wäre doch eine gute Idee. Wenn du magst?“

Ich mochte. Also zogen wir zusammen los, während ich voranschritt und Carsten hinter mir herdackelte wie ein Hündchen. Vielleicht genoss er ja wenigstens den Blick auf meinen Po.

So zogen wir also durch unsere ehemaligen Klassen­räume. In einem der Physikräume zeigte man uns verblüffende und optisch wirkungsvolle Experi­mente, bei denen zum Beispiel bunte Flammen entstanden, in ei­nem Raum für den Kunstunterricht präsentierte man von Schülern angefertigte Parodien auf bekannte Wer­bekampagnen, in einem anderen Raum hingen auf Stell­wänden Zeitungsartikel über die erstmals von un­serem Jahrgang angebahnte Schul­partnerschaft mit ei­ner Oberstufe aus Moskau aus. Mit der Zeit wurde Carsten mir gegenüber ein bisschen lockerer und war bald in der Lage einfache Antworten zu geben und manchmal auch von sich aus etwas zu sagen. Dieses Wie­dersehen mit einem ehemaligen Schwarm aus seiner Teenager-Zeit musste seine Gefühle wohl ganz schön aufwühlen.

Mittlerweile war es später Nachmittag, und allmählich leerte sich das Gebäude. Ich wollte mir aber gerne anschauen, ob im dritten Stock auch noch irgendetwas ausgestellt war, obwohl es nicht danach aussah. Viel­leicht lief auch nur gerade mein Nostalgie­empfinden Amok, und ich wollte in sämtliche Räume einen Blick werfen, quasi unsere gesamte Schule noch einmal für mich erobern. Carsten tapste mir natürlich brav hinterher.

Wie ich befürchtet hatte, herrschte oben jedoch tote Hose. Neugierig schlenderte ich trotzdem von einem der offenen Klassenräume zum anderen, bis wir schließlich an einem angekommen waren, der im hintersten Bereich lag. Von dem Fenster aus hatte man einen sehr schönen Blick über die Dächer der Stadt. Heute wie damals.

„Nett, oder?“, sagte ich.

„Ja“ erwiderte Carsten.

Ich zog mir einen Stuhl heran und legte meine lederbestiefelten Füße auf einen der Heizkörper am Fenster. „Jetzt erzähl mal“, sagte ich. „Was hast du denn so alles getrieben die letzten Jahre?“

Carsten berichtete. Von seinem Studium, seinem Einser-Examen, seinen Schwierigkeiten danach trotzdem einen Arbeitsplatz zu finden und wo er schließlich untergekommen war. Er war jetzt in der Verfahrenstechnik tätig, was im Klartext anscheinend bedeutete, dass er die Kühlelemente für irgendwelche Gefrierschränke entwarf. Von einer Partnerin oder überhaupt von Frauen erzählte er nichts. Ich berichtete da­nach ein wenig von meinem Leben und er hörte aufmerksam zu.

„Wollen wir gehen?“, fragte ich endlich. „Es ist schon spät.“

Er nickte. Das Bedauern war ihm anzumerken. Aber mir war es ganz recht, unser Wiedersehen damit gut sein zu lassen. Gemeinsam gingen wir zu der großen Glastür, die zum Treppenhaus führte.

Sie war abgeschlossen.

Uns war relativ schnell klar, dass der Hausmeister, vielleicht inzwischen etwas müde, vielleicht auch nur nachlässig, die Tür hier zum dritten Stock abgeschlossen hatte, ohne zu überprüfen, ob sich nicht noch ir­gendjemand in einem der Klassenräume aufhielt. Gut, vermutlich konnte er auch einfach nicht mit einem Nos­talgikerpärchen gerechnet haben, das sich derart ver­plau­derte wie wir beiden. Die Frage war also, wie wir hier wieder herauskamen. Die Fenster ließen sich öffnen, aber hier im dritten Stock half uns das nicht. Wir hätten theoretisch um Hilfe brüllen können, aber unsere Schule stand ein gutes Stück abseits von sämtlichen anderen Gebäuden. Es gab einen Feueralarm – nur leider im Treppenhaus, auf der anderen Seite der Glastür und ein paar wenige Meter von uns entfernt.

„Sieht so aus, als sitzen wir fest“, sagte ich schließlich grimmig.

„Ja. Mir fällt auch nichts mehr ein, wie wir hier rauskommen könnten.“

Er klang gar nicht so kläglich, wie man vielleicht hät­te erwarten sollen, sondern eigentlich ganz gelassen. Vermutlich gab es für ihn etwas Schlimmeres, als mit seinem ehemaligen Schwarm für längere Zeit an einem Ort eingeschlossen zu sein, der ihn an seine Jugend erinnerte.

„Was machen wir jetzt?“

„Wir werden hier wohl miteinander die Nacht verbringen müssen“, stellte ich lapidar fest und gab seinen Phantasien damit wohl noch einmal Zunder. „Morgen früh ist wieder ganz normaler Unterricht. Dann wird der Hausmeister hier auch wieder aufschließen. Die Toi­letten sind ja zum Glück von hier aus zugänglich und nicht vom Treppenhaus.“

„Ja. Wir könnten höchstens ein bisschen Hunger be­kommen. Gott sei Dank habe ich vorhin bei dem Kuchen­buffett unten ganz schön zugeschlagen.“

„Ich auch“, erwiderte ich. „Okay, dann gehen wir mal wieder in unseren Raum zurück.“

In der nächsten Stunde plauderten wir ein bisschen über unsere gemeinsamen Erinnerungen an die Leh­rer. Allmählich kroch draußen die Abend­dämmerung über das Land. Schließlich begann ich von meinen Er­fah­run­gen mit Männern zu plaudern. Er hörte mir zu, ohne sich anmerken zu lassen, wie es ihm dabei ging.

„Du warst doch damals auch ganz schön scharf auf mich, oder?“, sagte ich schließlich beiläufig zu ihm.

Seine Gesichtszüge erstarrten geradezu. Wie süß.

„Ich fand dich schon sehr anziehend …“, gab er schließlich zu.

„Du warst aber immer mehr an anderen Kerlen inte­ressiert. Draufgängern wie Thomas oder wie Falco.“

Ich nickte.

„Ja, ich hatte immer schon was für Männer übrig, mit denen man viel Spaß haben konnte. Die sich auch mal etwas getraut haben.“

„Und da habe ich nicht dazugehört.“

„Wer weiß?“, sinnierte ich. „Ich hab mich ja nie näher mit dir beschäftigt. Stille Wasser sind oft tief.“

Er lachte. „Ja. Vielleicht hättest du mit mir mehr Spaß haben können als mit irgendjemand anderem.“

Na schau. Wenn man ihm ein bisschen auf die Sprün­ge half, konnte man doch eine Spur von Macho aus ihm herauskitzeln.

„Vielleicht käme es wirklich auf einen Versuch an.“

„Was?“

Seine plötzliche Irritation war ihm anzumerken.

„Naja, wir werden die Nacht irgendwie rumkriegen müssen …“

„Du meinst …?“ Er legte mir eine Hand auf den Arm.

„Nicht ganz so schnell“, lachte ich ihn an. „Wie wär’s mit einem kleinen Spiel, ob du wirklich auch so ein Draufgänger sein kannst, wie du meinst? Vielleicht hab ich dich ja wirklich die ganze Zeit über falsch eingeschätzt.“

„Einem Spiel?“

„Ja. Ein bisschen Dominanz und Unterwerfung. Wenn du damit was anfangen kannst …?“

Er schluckte und starrte mich an. In dieser Situation hätte ich bei ihm vermutlich eine Leidenschaft dafür he­rauskitzeln können, sich nackt in einem seiner Ge­frierschränke verstauen zu lassen.

„Auf so was fährst du ab?“

Ich nickte.

„Du hast das nie ausprobiert?“

„Noch nicht.“ Einen Moment lang schwieg er. „Aber vielleicht käme es wirklich auf einen Versuch an …“

„Ja.“ Ich stand auf und stellte mich mit dem Rücken zum Fenster. „Zieh dich aus.“