Über Maria Dries

Maria Dries wurde in Erlangen geboren und hat Sozialpädagogik und Betriebswirtschaftslehre studiert. Sie lebt in der fränkischen Schweiz, aber die Normandie kennt sie von langen Urlaubsaufenthalten.

Bisher im Aufbau Taschenbuch: »Der Kommissar von Barfleur«.

Informationen zum Buch

So mörderisch ist die Normandie

Ein Mann stürzt in die Gendarmerie von Barfleur, um seine Frau Maryline als vermisst zu melden. Am selben Tag macht eine Pilzsammlerin eine grauenvolle Entdeckung. Ein weiblicher Fuß ragt aus dem Unterholz. Rasch ist klar, dass Maryline ermordet wurde. Die Polizei steht vor einem Rätsel – und man bittet Commissaire Philippe Lagarde um Hilfe, obschon der eigentlich seinen Ruhestand genießen wollte. Denn der Ehemann der Toten, der sofort in Verdacht gerät, ist ein Freund des einzigen Polizisten von Barfleur.

Der zweite Roman mit Commissaire Lagarde – Spannung mit echt französischem Flair

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Maria Dries

Die schöne Tote von Barfleur

Ein Kriminalroman aus der Normandie

Inhaltsübersicht

Über Maria Dries

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Totenreue

Die jadegrüne Bucht – Erster Tag

La Basilique de Trinité – Die Basilika der Dreifaltigkeit – Zweiter Tag

Das Haus im Erdbeerwald – Dritter Tag

Der Reiterhof – Vierter Tag

Der Blutrosenkavalier – Fünfter Tag

Der Engel auf der Wolke – Sechster Tag

Veuve Clicquot – Siebter Tag

Das schwarze Schloss – Achter Tag

Bootsfahrt auf der Seine – Neunter Tag

Impressum

Für
meinen Mann
Herbert

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Totenreue

Senkt man dich, schöne Düstre, einst hinab,

Und schläfst du unterm schwarzen Marmorstein,

Und nennst auf dieser Erde nichts mehr dein

Als jene finstre Höhle, die dein Grab,

Und drückt der schwere Stein, den man dir gab,

Den Busen dir, die Hüften schlank und fein,

Dämmt er des Herzens Schlag und Willen ein,

Grenzt er den Abenteurerweg dir ab,

Dann spricht das Grab, dem ich mein Leid vertraut,

Zu dir in langer, schlummerloser Nacht:

Das Grab versteht des Dichters Schmerzenslaut.

»Was nützt’s, du Törin, dass du nie bedacht,

Was weinend Tote noch im Grab beklagen?«

Wie Reue wird der Wurm am Fleisch dir nagen.

Charles Baudelaire,

»Die Blumen des Bösen«

(»Les Fleurs du Mal«)

Die jadegrüne Bucht
Erster Tag

Madame Florence trat kräftig in die Pedale ihres alten, schwarz lackierten Fahrrades. Seit sie sich letzten Sommer in den Chef der Gendarmerie von Barfleur, Roselin Dumas, verliebt hatte, trug sie ihr Haar etwas länger, um weiblicher zu wirken. Außerdem hatte eine Freundin dem ehemals grauen Haarschopf eine nussbraune Note verliehen, die die Farbe ihrer Augen aufgriff. Ihre halbherzigen Bemühungen, die Leibesfülle um einige Kilos zu reduzieren, waren an ihrem herzhaften Appetit gescheitert. Außerdem hatte Roselin protestiert, der jedes Gramm an ihr liebte.

Die Bäuerin, die eine Landwirtschaft und einen Marktstand in Barfleur betrieb, hatte ihr rotes Piratentuch als Sonnenschutz um den Kopf geschlungen und im Nacken verknotet. Die Morgenluft war noch kühl und frisch, doch es würde ein heißer Julitag werden.

Der malerische Ort Barfleur lag an der nordöstlichen Spitze der Halbinsel Cotentin in der Normandie. Bekannt war er für seine Austernbänke und Muschelgärten, die sich die Küste entlang gegen Süden erstreckten, soweit das Auge reichte.

Nördlich des Fischerhafens erhob sich majestätisch der Phare de Gatteville, mit fünfundsiebzig Metern der zweithöchste Leuchtturm Frankreichs. Er hatte so viele Stufen wie es Tage und so viele Fenster, wie es Wochen im Jahr gab. War der Aufstieg erst geschafft, bot sich ein überwältigender Ausblick auf den dunstigen Ozean, bizarre Felsformationen und die grüne Halbinsel.

Im Morgengrauen hatte sich Madame Florence auf den Weg gemacht. Von ihrem Bauernhof, der einige Kilometer vom Meer entfernt in der Nähe des Dorfes Ste-Geneviève lag, war sie zunächst auf der noch menschenleeren Landstraße in Richtung St.-Pierre-Église gefahren. Nach zwanzig Minuten bog sie in einen Feldweg ein, der zu einem Kiefernwäldchen inmitten von weiten Ackerflächen führte. Nur sie wusste, was darin zu finden war, und sie verriet es auch niemandem.

Das Fahrrad holperte durch Schlaglöcher und über Schottersteine. Madame Florence standen erste Schweißperlen auf der Stirn. Als ihr Blick über die flache Landschaft glitt, stellte sie zufrieden fest, dass der Lauch auf den sandigen Feldern die Güte ihres Gemüses nicht annähernd erreichte.

Am Ziel angelangt, lehnte sie ihr Fahrrad an einen Baum und nahm den Weidenkorb, in dem ein kleines scharfes Messer lag, vom Gepäckträger. Ab Mitte Juni schoben Kiefernsteinpilze ihre rotbraunen Hüte aus der Nadelstreu. Die Stiele waren blassbraun mit einem feinen weißlichen Adernetz, bauchig und nach unten und oben verjüngt. Die Stammkunden, die ihren Marktstand regelmäßig aufsuchten, würden begeistert sein. Der milde nussige Geschmack des edlen Pilzes war einzigartig.

Ein Eichelhäher, der Wächter des Waldes, ließ einen Alarmruf ertönen, der seine Artgenossen vor dem Eindringling warnen sollte. Der rotbraun gefiederte Vogel mit seiner prächtigen blau-schwarz gebänderten Außenfahne saß auf dem obersten Ast einer alten Kiefer und stieß ein lautes raues Rätschen aus.

Madame Florence raffte ihren langen Rock über den braunen Schnürstiefeln und stapfte entschlossen in den Wald.

Erste hellgelbe Sonnenpunkte tanzten durch Kiefernnadelfächer und Nebelschleier, und die Luft war von einem erdigen würzigen Duft erfüllt. Es herrschte absolute Stille, die nur gelegentlich vom Gezwitscher einiger Finken unterbrochen wurde.

Über dem Atlantik erhob sich ein orangefarbener Feuerball, der das tiefblaue Wasser in rosa, türkisenen und violetten Lichtreflexen erstrahlen ließ.

Roselin Dumas lag im Bett der Bäuerin und schnarchte laut. Das Plumeau hob und senkte sich gleichmäßig. Er drehte sich auf die Seite und wollte sich an die ausladenden Hüften seiner Gefährtin schmiegen. Schlaftrunken und verwirrt blinzelte er. Der Platz an seiner Seite war verlassen.

Er setzte sich auf den Bettrand, rieb brummend seinen dicken behaarten Bauch, dehnte seine Rückenmuskeln, indem er die kräftigen kurzen Arme nach oben streckte, und gähnte ausgiebig. Während er in seine Boxershorts stieg, fiel ihm ein, dass Madame Florence im Morgengrauen hatte aufbrechen wollen, um Pilze zu sammeln. Er war alleine.

Barfuß ging er in die Küche und sah sich um. Erste Sonnenstrahlen drangen durch das geöffnete Fenster, die schneeweiße Gardine bauschte sich im Morgenwind. Die Einrichtung des Bauernhauses war altmodisch und behaglich. Das mit Spitzensäumen versehene Buffet mit den geschwungenen Beinen war ein Erbstück der Großmutter. Der geschrubbte unebene Holzfußboden glänzte matt. Die Küchentapete mit den pastellfarbenen Streublümchen auf hellgelbem Grund löste sich an den Ecken, darum würde er sich kümmern. Der weiße gusseiserne Herd wurde mit Holz geschürt, ein Schiffchen mit heißem Wasser stand auf der Kochplatte. Damit hatte sie sicherlich den Kaffee aufgebrüht, dessen kräftiges Aroma das Haus durchzog.

Roselin lächelte, als sein Blick auf die grobe Eichenholzplatte des Küchentisches fiel. Sie hatte Frühstück für ihn gemacht. Selbstgebackenes aufgeschnittenes Brot lag in einem Korb, daneben standen eine Glasschale mit gelber gesalzener Butter sowie eine weitere mit dunkelrot glänzender Brombeermarmelade. Madame Florence begnügte sich mit diesem Frühstück. Für den Polizisten jedoch hatte sie feine Pfeffersalami und reifen Camembert aufgeschnitten und ein Ei weich gekocht, das ein mit grünem Garn gehäkelter Gockelkopf warmhielt. Neben seinem Teller lag ein Zettel mit einer Nachricht für ihn: »Bon Appétit, chéri!« Der Text war von einem kühn geschwungenen Herz umrandet. Die Zeichnung erinnerte ihn an die vergangene Nacht, und seine runden fleischigen Wangen färbten sich rosarot. Als er Madame Florence kennengelernt hatte, war er bereits seit sechzehn Jahren Witwer. Sein anstrengender Dienst und seine vier Kinder, die er seit dem Tod seiner Frau Christine allein aufzog, hatten ihn bis zu diesem Zeitpunkt völlig ausgefüllt. Jetzt war er wieder verliebt wie ein Schuljunge.

Roselin ließ es sich schmecken. Er häufte die fruchtige Marmelade auf den Käse und biss genüsslich in das knusprige Brot. Dazu trank er zwei Tassen Kaffee aus einer sonnengelben Bol. Nachdem er sein ausgiebiges Frühstück beendet hatte, wusch und rasierte er sich am kleinen Becken im Badezimmer. Er musste mit Madame Florence über den Einbau einer Dusche sprechen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. Die Bäuerin liebte ihr Haus, so wie es war. Sie selbst wusch sich im Sommer am liebsten am Brunnen vor dem Haus, indem sie mittels einer Handpumpe eiskaltes klares Wasser in ein steinernes Becken beförderte. Der Gendarm zog seine Uniform an, richtete die blaue Krawatte und bürstete seinen widerspenstigen Haarkranz glatt. Es war an der Zeit, seinen Dienst anzutreten.

Er trat aus dem Haus und atmete die frische salzige Brise tief ein. Vom Treppenabsatz aus beobachtete er belustigt die braunweiß gesprenkelten Hühner im Hof, die sich um ihr Futter zankten und immer wieder aufgeregt in die Höhe flatterten. Aus dem Stall drang das zufriedene satte Grunzen von Schweinen. Von seinem Standpunkt aus konnte er über die Trockenmauer aus Granitsteinen blicken, die das Anwesen von Madame Florence umgab, das aus dem Haupthaus, Nebengebäuden und dem Schweinestall bestand. Dahinter erstreckten sich ihre Lauch- und Rübenfelder, die in Parzellen unterteilt und von dichten Hecken umsäumt waren, die die Aussaat vor dem rauen Seewind schützen sollten.

Hinter einem mannshohen Dickicht aus Liguster, Brombeerranken und Farnen wiegten sich hohe schlanke Pappeln im Wind. Unzählige Misteltrauben hatten sich zwischen den Ästen eingenistet. Weiße Schäfchenwolken zogen gemächlich über den kobaltblauen Himmel. Für einen wunderbaren Moment ließ er das friedliche Bild auf sich wirken, dann griff er nach einem Eimer, der klein geschnittenes trockenes Brot enthielt. Er warf eine Handvoll davon in die Luft und verursachte unter dem Hühnervolk einen tüchtigen Aufruhr.

Als der Gendarm seinen Dienstwagen startete, fiel ihm ein, dass er seine jüngste Tochter Brigitte anrufen musste, um sich zu vergewissern, dass sie nicht verschlafen hatte. Die Sechzehnjährige wohnte noch bei ihm. Ihre älteren Geschwister waren schon ausgezogen. Brigitte hatte im Mai die Mittlere Reife mit sehr guten Noten bestanden. Der Gendarm war immens stolz auf seine Tochter. Sie war nicht nur intelligent, sondern auch sehr lieb und umsichtig. Mit den seidigen hellbraunen Haaren und den graugrünen Augen im herzförmigen Gesicht sah sie ihrer Mutter verblüffend ähnlich.

Nun wusste Brigitte nicht, wie sie ihren weiteren Lebensweg gestalten sollte. Ihre Arbeit sollte aber mit Tieren zu tun haben. Brigitte, ihre Geschwister und ihr Vater diskutierten oft über dieses Thema, wenn sie beim gemeinsamen Sonntagsessen saßen. Sie könnte eine Ausbildung als medizinische Fachangestellte in einer Tierarztpraxis absolvieren. Vielleicht würde sie auch das Abitur machen und im Anschluss Tiermedizin studieren, möglicherweise sogar in Paris. Die zweite Variante gefiel dem Gendarmen erheblich besser, er schwieg jedoch, weil er seine Tochter nicht beeinflussen wollte.

Brigitte fiel die Entscheidung schwer, also hatte Valérie, die tüchtige Assistentin von Roselin, einen Vorschlag gemacht. Sie würde Brigitte für die Sommerferien einen Praktikumsplatz auf einem Reiterhof in der Nähe von La Pernelle besorgen. Dort hatte sie auch ihre eigenen Pferde untergebracht, die dort gut versorgt und trainiert wurden, wenn die Polizistin Dienst hatte und sich nicht selbst um sie kümmern konnte. Die Arbeit mit den Tieren würde Brigitte sicher helfen, eine Entscheidung über ihre berufliche Zukunft zu treffen.

Während der ersten zwei Wochen des Praktikums war die Tochter des Gendarmes voller Begeisterung morgens um sechs Uhr auf ihr Fahrrad gestiegen und hatte die etwa sieben Kilometer lange Strecke zum Reiterhof in flottem Tempo zurückgelegt. Am Abend kehrte sie müde und glücklich in ihrer blauen Latzhose und den nach Pferdemist riechenden Gummistiefeln zurück und hatte viel zu erzählen.

Seit einigen Tagen jedoch verschlief Brigitte, sie wollte nicht aufstehen, und ihr Vater musste sie wachrütteln. Ihr herzhafter Appetit war verschwunden, ihr Gesicht wurde immer blasser und schmaler, und ihre Fröhlichkeit war wie weggeblasen.

Der Gendarm tippte die Nummer ein und wartete. Seine Tochter ging nicht ans Telefon. Er versuchte es erneut. Eine schlaftrunkene Stimme erklang: »Ja, Papa?«

»Guten Morgen, Brigitte.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Was machst du noch zu Hause? Du müsstest schon lange auf dem Reiterhof sein. Was ist denn los mit dir?«

Sein Ton war zu barsch gewesen. Sogleich begann sie zu weinen, und er lenkte ein: »Bist du krank, mein Liebes?«

»Ja, Papa.« Das Schluchzen verebbte ein wenig.

»Also gut. Du schläfst dich jetzt aus, dann gehst du zu Doktor Ferrant und lässt dich untersuchen. Heute Abend reden wir, und ich koche eine kräftige Gemüsebrühe für dich.«

»Ist gut, Papa. Bis heute Abend.«

»Brigitte?«

»Ja, Papa?«

»Hör zu, mein Engel. Wenn es dir auf dem Reiterhof nicht gefällt, sag es mir. Du musst dort kein Praktikum machen.«

»Mir gefällt es schon, Papa. Mach dir keine Sorgen. Morgen fahre ich wieder hin. Einen schönen Tag. Salut.«

Sie legte auf.

Besorgt machte sich Roselin Dumas auf den Weg zur Polizeidienststelle von Barfleur. Hoffentlich war Brigitte nicht ernsthaft krank. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.

Der Leiter der Gendarmerie betrat durch eine Doppelglastür schwungvoll die Wache und begrüßte freundlich die diensthabenden Polizisten Alain und Pierre, die hinter einem hohen Holztresen an sich gegenüberstehenden Schreibtischen saßen. Sie tranken schwarzen Kaffee aus kleinen Tassen und diskutierten lebhaft über eine wüste Schlägerei, die gestern auf einem Dorffest stattgefunden hatte. Es war nicht einfach gewesen, die angetrunkenen Hitzköpfe zu bändigen. Roselin ging den schmalen Flur entlang und betrat sein Büro. Es war schlicht und funktional eingerichtet, bis auf eine Fotografie in einem silbernen Rahmen, die auf seinem Schreibtisch stand. Sie zeigte eine junge attraktive Frau mit hellbraunen Haaren und graugrünen Augen, die in die Kamera lächelte. Auf ihrem Schoß saßen zwei pausbäckige Kleinkinder, ein Junge und ein Mädchen in bunten Spielanzügen. Dahinter standen die beiden älteren Geschwister, noch ein Junge und ein Mädchen. Dem Fotografen war es perfekt gelungen, ihren kindlichen Charme einzufangen.

Nur kurze Zeit nach der Aufnahme dieser Fotografie wies ihr Glück erste Risse auf. Christine wurde schwer krank. Sie kämpfte ein Jahr um ihr Leben, dann verlor sie alle Kraft und zuletzt die Hoffnung. Eines Nachts schloss sie in Roselins Armen für immer ihre Augen. Danach folgte eine schwere Zeit. Die Kinder vermissten ihre Mutter. Erst nachdem Roselin Madame Florence kennengelernt hatte, spürte er, dass sein Herz frei war für eine neue Frau.

Gerade schaltete er den Computer ein, als seine Assistentin Valérie an die geöffnete Tür klopfte.

»Guten Morgen, Roselin. Hast du Zeit für mich? Es gibt etwas zu besprechen.«

»Guten Morgen, Valérie. Komm doch herein! Was ist denn los?«

Die Polizistin schloss die Tür, zog einen Stuhl heran und setzte sich gegenüber ihrem Chef an den Tisch. Vorher hatte sie mit dem Ellbogen einen Aktenordner zur Seite geschoben und ein kleines Tablett mit zwei Tassen schwarzem dampfendem Kaffee auf die Tischplatte gestellt. Eine grüne Mappe legte sie daneben. Ihre langen fuchsroten Haare waren streng nach hinten gekämmt und mit einem blauen Band, passend zum Diensthemd, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie hatte eine helle empfindliche Haut und Sommersprossen auf der Nase. Große grüne Augen richteten sich ernsthaft auf ihn.

Roselin lächelte sie an. Valérie war eine der Besten in seinem Team. Sie war absolut zuverlässig, loyal, mutig und konnte sich durchsetzen. Ihre Aikidokünste waren legendär. Schon mancher Ganove, der nach einem Blick in das arglose Gesicht der jungen Frau zu dem Schluss gekommen war, mit ihr leichtes Spiel zu haben, war rasch eines Besseren belehrt worden.

»Du hast Kaffee mitgebracht, wunderbar. Gibt es etwas Neues?«

»Ja, Roselin, ein Mann war hier und hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben.«

Der Gendarm runzelte erstaunt die Stirn und sah seine Assistentin fragend an. Die Polizeistation befasste sich normalerweise mit Verkehrsdelikten und Fällen von Kleinkriminalität, manchmal ging es auch um Streitereien, die zu schlichten waren. Oder ausländische Touristen belagerten aufgeregt den Tresen im Eingangsbereich und versuchten mit Händen und Füßen zu erklären, dass sie ihre Führerschein- oder Ausweispapiere an irgendeinem Strand verloren hatten. Eine vermisste Person war außergewöhnlich.

Valérie trank einen Schluck Kaffee und schlug die grüne Mappe auf. Sie reichte ihrem Chef eine Kopie des Berichtes, der bereits ordentlich getippt und untergliedert war.

»Ich fasse zunächst die wichtigsten Fakten für dich zusammen, Roselin.« Sie wusste, dass ihm die Geduld fehlte, endlos scheinende Berichte zu studieren.

»In Ordnung, ich höre.« Erleichterte lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und genoss den aromatischen Kaffee.

»Heute Morgen, kurz nach Dienstbeginn, kam ein Mann und meldete seine Frau als vermisst. Er heißt Jean-Yves Leblanc, ist einundfünfzig Jahre alt und wohnt in Saint-Vaast-la-Hougue.«

Saint-Vaast-la-Hougue lag etwa sieben Kilometer südlich von Barfleur. Nach der Schlacht von Hougue 1694, aus der England siegreich hervorging, war es aufgrund der verheerenden Schäden erforderlich gewesen, die Festungsanlage und den Hafen neu aufzubauen. Das imposante Fort besaß nun einen Zentralturm mit einem Durchmesser von sechzehn Metern und drei Meter dicke Festungsmauern, so dass das Fischerstädtchen fortan gut geschützt und gegen weitere Angriffe gewappnet gewesen war.

Als Roselin den Namen des Mannes hörte, stutzte er. Er kam ihm irgendwie bekannt vor. Valérie fuhr konzentriert fort: »Gestern Abend verließ seine Frau Maryline das gemeinsame Haus, um mit einer Freundin ins Kino und anschließend zum Dîner zu gehen. Er selbst las seinem sechsjährigen Sohn Philibert nach dem Abendessen eine Gutenachtgeschichte vor und ging früh zu Bett. Als er heute Morgen aufwachte, war seine Frau nicht da. Zunächst dachte sich Monsieur Leblanc nichts weiter dabei und ging davon aus, dass es spät geworden war und sie bei der Freundin übernachtet hatte. Als sie jedoch zum Frühstück nicht erschien, wurde er unruhig. Maryline Leblanc war es sehr wichtig, jeden Morgen das Frühstück zuzubereiten und es gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn einzunehmen. Für sie war es der perfekte Start in den Tag. Anschließend brachte sie Philibert immer zum Kindergarten, der nach der Sommerpause seit Montag wieder geöffnet war.«

»Hat Monsieur Leblanc bei dieser Freundin angerufen und sich nach dem Verbleib seiner Frau erkundigt?«, fragte der Gendarm.

»Er gab an, die Freundinnen seiner Frau nur oberflächlich zu kennen, so dass ihre Nachnamen ihm nicht bekannt sind und er auch keine Telefonnummern von ihnen hat.«

»Merkwürdig, findest du nicht?«

Valérie überlegte. »Nicht unbedingt. Vielleicht hatte jeder der beiden ein eigenes Privatleben.«

Ihr Chef wirkte wenig überzeugt. »Hast du ihn darüber aufgeklärt, dass die Suche nach vermissten erwachsenen Personen erst nach Ablauf von zweiundsiebzig Stunden in die Wege geleitet wird?«

»Ja, natürlich, Roselin. Aber Monsieur Leblanc sagte, dass es ihm sehr wichtig sei, die Polizei sofort zu alarmieren. Er ist sich absolut sicher, dass seiner Frau etwas zugestoßen ist.«

Der Gendarm antwortete nicht. Er dachte an die seltenen Fälle von vermissten Personen in seinem Zuständigkeitsbereich, die jedoch nach einigen Tagen oder Wochen putzmunter wieder aufgetaucht waren und den Wirbel gar nicht verstanden hatten, den ihr plötzliches Verschwinden verursacht hatte.

»Er hat ein Foto von seiner Frau mitgebracht.«

Valérie reichte ihm das Bild. Es handelte sich um einen Schnappschuss, den jemand, vielleicht Monsieur Leblanc, am Strand aufgenommen hatte. Im Hintergrund war eine weite sandige Bucht, begrenzt von aufgeschichteten großen schwarzen Quadern zu sehen. Darüber erhoben sich sanft gewellte Dünen, die von graugrünen Flechten und Strandgras bewachsen waren. Gebräunte Menschen lagen entspannt auf bunten Handtüchern im Sand oder hatten sich ein bequemes Plätzchen auf den warmen Steinen gesucht.

Das Meer erstreckte sich in dunkler werdenden Blautönen bis zum dunstigen Horizont, und seine weißen Schaumkronen jagten mit Kitesurfern um die Wette über die unruhige Wasserfläche. Ihre bunten Segel tanzten über den hohen Himmel.

Maryline Leblanc stand am Ufer und hatte ein gebatiktes grünes Tuch um ihren schlanken Körper geschlungen. Es war deutlich zu erkennen, dass sie kein Bikinioberteil trug. Kleine spitze Brüste drängten gegen den dünnen Stoff. Zu ihren Füßen im Sand spielte ein kleiner Junge mit leuchtend roten Haaren. Er war völlig versunken in seine Tätigkeit. Mit einem roten Plastikförmchen, in Form einer Burgzinne, verzierte er die Sandmauern seines Wasserschlosses.

Seine Mutter lächelte selbstbewusst in die Kamera. Ihr langes nasses blondes Haar fiel über ihren Rücken. Sie hatte ein schmales, leicht gebräuntes Gesicht, große grüne Augen, eine wohlgeformte zarte Nase und einen breiten sinnlichen Mund.

Eine wahre Schönheit, dachte Roselin beeindruckt. Und offensichtlich viel jünger als ihr Mann.

Die Polizistin riss ihn aus seinen Gedanken. »Monsieur Leblanc wollte die zweiundsiebzigstündige Frist nicht akzeptieren. Er bestand darauf, dass wir die Suche nach seiner Frau sofort in die Wege leiten. Auf mich machte er den Eindruck, als stehe er unter immensem psychischen Druck. Er war extrem nervös und konnte nicht ruhig auf seinem Stuhl sitzen bleiben.« Valérie sah ihren Chef ernst an. »Ich konnte ihn nicht beruhigen, Roselin. Als ich ihm die standardisierte Vorgehensweise noch einmal in Ruhe erklären wollte, hieb er mit der Faust auf den Tisch, brüllte mich an, fegte die Formulare auf den Fußboden und rannte wutschnaubend aus dem Zimmer.«

Der Gendarm ahnte, was jetzt kam. »Du bist hinter ihm her?«

»Natürlich, so lasse ich mich nicht behandeln.« Seine Assistentin war empört. »Im Flur habe ich den aufgebrachten Mann erwischt und ein ernstes Wort mit ihm gesprochen. Auch versicherte ich, dass die Polizei seine Sorge sehr ernst nehmen würde.«

»Und wie seid ihr verblieben?«

»Wir sind so verblieben, dass sich Monsieur Leblanc sofort bei uns meldet, wenn es Neuigkeiten gibt. Nach Ablauf der Dreitagesfrist würden wir dann mit ihm die Maßnahmen erörtern, die wir ergreifen werden.«

»So weit wird es nicht kommen«, meinte Roselin.

Selten hatte sich der erfahrene Polizist so sehr geirrt.

Nach dem Gespräch mit der energischen Polizistin saß Jean-Yves Leblanc an einem runden Bistrotisch vor dem Bistro »Im Wind der Inseln« unter einer rotweiß gestreiften Markise und starrte abwesend vor sich hin. Vor ihm standen ein kleiner schwarzer Kaffee und ein doppelter Calvados. Er griff nach dem bauchigen Glas und kippte den Schnaps mit einem Schluck herunter. Dann zündete er sich mit zitternden Fingern eine filterlose Gauloise an. Auf seinem eiförmigen rasierten Schädel standen graue Haarstoppeln wie Stacheln in die Höhe, die kleinen wässrig blauen Augen lagen tief in den Höhlen, umrundet von dunklen Schatten. Aus den großen Löchern seiner fleischigen Nase sprossen schwarze borstige Härchen. Tiefe senkrechte Falten hatten sich links und rechts neben seinem schmallippigen Mund eingegraben. Auf den runden Wangen leuchtete ein Geflecht von roten Äderchen. Der massige Körper steckte in einem blauen Arbeitsoverall, der über dem Bauch spannte.

Schräg einfallende Sonnenstrahlen fielen direkt auf sein Gesicht, doch er merkte es nicht. Ebenso entging ihm das aufgeregte Geschrei eines Schwarms von Lachmöwen. Die weiß gefiederten Vögel mit den schwarzbraunen Köpfen hatten sich auf den Ästen einer hoch gewachsenen Platane niedergelassen, deren Borke sich mosaikförmig aus gelben, weißen, grünen und rotbraunen Flächen zusammensetzte. Eine kleine schneeweiße Möwe setzte zum Sturzflug an, ergriff mit dem spitzen Schnabel ein Stück Brot, das am Rand des Quai Henri Chardon lag, und flüchtete mit ihrem erbeuteten Schatz auf eine Felsengruppe im Hafenbecken. Ihre Artgenossen folgten ihr kreischend, wild entschlossen, in den Besitz des köstlichen Teilchens zu gelangen.

Direkt neben dem Bistro lag eine Bäckerei. Im Schaufenster aufgereihte, mit glänzender Glasur überzogene Gebäckstückchen zogen die Passanten an. Vor der Verkaufstheke hatte sich eine Schlange gebildet, die bis auf den Bürgersteig reichte. Eifrig tütete die Bäckersfrau knusprige Baguettestangen ein, kassierte ab und hatte für jeden Kunden ein freundliches Wort übrig. Beliebt waren derzeit kurze längliche Brote mit zwei Hörnchen an einem Ende. Trat ein Kunde aus der Tür, biss er mit Genuss die beiden kleinen krossen Ausbuchtungen ab und verspeiste sie, während er davonging.

Jean-Yves Leblanc bekam von den Geschehnissen in seiner unmittelbaren Umgebung nichts mit, er hob sein Schnapsglas und signalisierte dem Kellner auf diese Weise, dass er einen zweiten Calvados wollte.

Er arbeitete in einer Autowerkstatt, die sich auf die Reparatur landwirtschaftlicher Maschinen spezialisiert hatte. Jean-Yves liebte diese Arbeit. Es gab auf der ganzen Welt keinen Traktor, den er nicht wieder nach akribischer Tüftelei in Gang setzen konnte. Seine Fähigkeiten als Mechaniker waren über Barfleur hinaus bekannt. In einem Holzschuppen in seinem Garten bastelte er auch in seiner Freizeit gerne an streikenden Motoren herum. Normalerweise verpasste er keinen Arbeitstag, doch heute hatte er sich bei seinem Chef, mit dem er gut befreundet war, abgemeldet und einen Tag Urlaub genommen.

Während des Frühstücks hatte er seinen kleinen Sohn Philibert über den Verbleib seiner Mutter belogen. Er wollte ihn keinesfalls beunruhigen. Sein Sohn war so empfindsam wie seine Mutter. Auf dem Weg zum Kindergarten legte Jean-Yves im Auto eine CD mit Kinderliedern ein und trällerte mit seinem Sohn lustige Verse, obwohl es ihm nach Heulen zumute war. Von der Pforte aus beobachtete er bedrückt, wie Philibert mit seinem kleinen grüner Rucksack, auf dem Spiderman, sein Held, abgebildet war, voller Vorfreude auf den Eingang der Tagesstätte zurannte. Bevor er im Haus verschwand, hatte er sich noch einmal umgedreht und seinem Vater fröhlich zugewinkt.

Er dachte an Maryline, seine schöne eigenwillige Frau, und sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Eine tiefe, an Panik grenzende Unruhe ergriff erneut von ihm Besitz. Zum hundertsten Mal versuchte er mit seinem Handy seinen Schwager Michel zu erreichen. Vergeblich, er ging nicht ans Telefon. Voller Wut warf Jean-Yves Leblanc das winzige Gerät auf die Tischplatte, so dass eine Ecke des Kunststoffgehäuses absplitterte.

Gaston, der Besitzer des Bistros »Im Wind der Inseln«, beobachtete diesen Zwischenfall zufällig durch ein Weinglas, das er poliert und dann prüfend ins Licht gehalten hatte. Er unterbrach die Unterhaltung mit zwei Rentnern, die ihr erstes Achtel Rosé des Tages genossen, lief nach draußen und fragte seinen Gast höflich, ob er noch einen Wunsch habe.

Der schüttelte unwirsch den Kopf, warf einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch und verschwand zwischen den Menschen, die auf der Hafenpromenade unterwegs waren.

Philippe Lagarde, ein weiterer Gast des Bistros, wurde durch den Zwischenfall bei der Lektüre des Ouest-France unterbrochen. Vor ihm auf dem Tisch standen ein Milchkaffee und ein Mokka-Eclair, sein Lieblingsgebäck. Er wartete auf das Einsetzen der Flut, um mit seinem Boot auslaufen zu können. Verblüfft schaute er dem aufgebrachten Mann hinterher.

Madame Florence hatte soeben neben dem Stamm einer Kiefer eine Steinpilzfamilie entdeckt und durchschnitt vorsichtig die unterschiedlich dicken Stiele, die alle fest, makellos und frei von Würmern waren. Ihr Weidenkorb war schon beinahe voll. Aufmerksam auf den Boden spähend ging sie langsam weiter. Als sie eine Lichtung überquerte, um die Birken einen Kreis bildeten, spürte die Bäuerin intensive Sonnenstrahlen auf ihren braunen Armen. Sie schritt in den Wald, der ihr nun dunkel vorkam, und gelangte an die Quelle eines Baches, der sich plätschernd seinen Weg durch dicke Dotterblumen und wilde gelbe Lilien suchte. Sie umrundete dichtes Himbeergestrüpp, naschte einige von den süßen Früchten und beschloss, in einem Bogen zu ihrem Fahrrad zurückzukehren. In ihrem Korb war ohnehin kaum noch Platz für weitere Pilze. Sollten ihre Kunden nach mehr verlangen, konnte sie jederzeit weitere sammeln.

Als sie ihren Stiefel auf einen Stein setzte und sich zur Quelle beugte, um ihren Durst mit ein paar Schluck Wasser aus der hohlen Hand zu löschen, fiel ihr auf, wie still es plötzlich im Wald war. Das Rauschen der Kiefernnadelfächer war ebenso verstummt wie der Gesang der Vögel. Nur das klare Quellwasser rieselte über die Kieselsteine. Die Bäuerin beschlich ein ungutes Gefühl. Sie musterte angespannt und aufmerksam ihre Umgebung. Dann schalt sie sich selbst wegen ihrer Nervosität. Außer ihr befand sich kein Mensch in dieser abgelegenen Kiefernparzelle. Sie atmete tief durch und versuchte halbherzig mit einem alten Volkslied gegen die unheimliche Stille anzupfeifen. Es war Zeit, zurückzufahren, den Stall auszumisten und anschließend ihre Vertretung am Marktstand abzulösen.

Zwischen den Himbeersträuchern glänzte auf dem Waldboden etwas silbrig. Madame Florence fragte sich, was das wohl sein konnte. Hatte eine Elster ihre Beute fallen lassen? Neugierig trat sie näher. Als sie begriff, was sie da sah, erfasste sie eine heftige Übelkeit, und sie sank keuchend gegen den Stamm einer Kiefer.

Ein Fuchs oder ein anderes Tier hatte offensichtlich im Boden gegraben. Zum Vorschein war ein nackter Frauenfuß mit silbern lackierten Nägeln gekommen. Madame Florence hatte keine Erklärung dafür, warum der wilde giftgrüne Efeu, der sich um die große Zehe rankte, sie am meisten entsetzte.

Sie hatte kein Handy bei sich, sie besaß überhaupt keines. Als sie sich von dem alptraumhaften Anblick endlich losreißen konnte, rannte sie um Hilfe schreiend zu ihrem Fahrrad. Den Weidenkorb mit den Pilzen vergaß sie dabei völlig.

So schnell sie konnte, fuhr sie auf dem Feldweg in Richtung Landstraße. Sie wollte nach Barfleur zur Gendarmerie und Roselin berichten, was sie entdeckt hatte. Ihr Adrenalinspiegel war so hoch, dass sie wie ein Roboter funktionierte. Doch dieses Tempo würde sie nicht durchhalten können, nach Barfleur waren es mindestens noch acht Kilometer. Madame Florence sah sich um. Auf einem Feld rechts von ihr wirbelte ein Bauer mit seinem Mähdrescher gewaltige Staubwolken auf. Als er das Fahrzeug in ihre Richtung lenkte, winkte sie und stieß mit zwei Fingern einen gellenden Pfiff aus. Tatsächlich gelang es ihr, die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen. Langsam fuhr er auf sie zu, stoppte und stellte den Motor ab. Er lehnte sich aus dem Fenster, schob seine Schiebermütze in den Nacken und wischte mit dem Arm den Schweiß von der Stirn.

»Guten Tag, Madame. Kann ich Ihnen helfen?«

Die Bäuerin nickte heftig: »Ich muss so schnell wie möglich nach Barfleur auf die Gendarmerie. Können Sie mich fahren?«

»Natürlich, kein Problem. Ist etwas passiert?«

»Das kann man wohl sagen. Ich will bei der Polizei eine Meldung machen.« Sie überlegte kurz. »Oder haben Sie ein Handy?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Mit diesen neumodischen Erfindungen kann ich nichts anfangen.«

Diese Einstellung konnte Madame Florence nur zu gut verstehen.

Der Landwirt musterte die hübsche, entschlossen wirkende Frau unauffällig. Ihr schien nichts zu fehlen. Sie machte einen unversehrten Eindruck. Allerdings wirkte sie extrem nervös. Er kam zu dem Schluss, dass es tatsächlich das Beste war, sie nicht mit weiteren Fragen zu bedrängen und ihrer Bitte nachzukommen. Sie schien eine Frau zu sein, die genau wusste, was sie tat.

»Kommen Sie, steigen Sie auf den Beifahrersitz. Ich lade Ihr Fahrrad ein.«

Während Madame Florence in die Fahrerkabine des Mähdreschers kletterte, bewunderte der Bauer ihre strammen Waden und beförderte das Rad mit einem Schwung in den Stauraum hinter den Sitzen, als wäre es federleicht.

Die Mähdrescherräder mit einem Durchmesser von mindestens zwei Metern und einem beeindruckenden Profil setzten sich in Bewegung und rollten auf die Straße. Bauer Roland gab Gas. Er wollte der Dame neben ihm zeigen, was in seiner Maschine steckte. Deren Aufbau rumpelte bei jeder Unebenheit und schaukelte angsteinflößend hin und her. Das Fahrzeug war so breit, dass es die Hälfte der Gegenfahrbahn einnahm. Entgegenkommende Fahrzeuge waren gezwungen, auf den Seitenstreifen auszuweichen, mancher Fahrer drohte erbost mit der Faust. Unbeeindruckt drückte Roland das Gaspedal durch. Mit der absoluten Höchstgeschwindigkeit von fünfundzwanzig Stundenkilometern, eingehüllt in eine ohrenbetäubende Lärmkulisse, donnerten sie über die Landstraße. Weite Felder wechselten sich mit dichten Buchenwäldern ab. Ab und zu tauchte ein quadratischer Kirchturm, dessen Schieferdach wie flüssiges Blei glänzte, als Mittelpunkt eines kleinen Dorfes in der Landschaft auf. Die umfriedeten Ansiedlungen wirkten wie bewaldete Inseln auf den Ackerflächen. Madame Florence spürte, wie ihr Piratentuch im Fahrtwind flatterte. Wenn sie nicht eine so schreckliche Entdeckung gemacht hätte, hätte sie die rasante Fahrt genossen.

Am Ortseingang von Barfleur drosselte Bauer Roland die Geschwindigkeit und bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die engen, zugeparkten Gassen. Die Gendarmerie lag am Hafen nahe dem Tourismusbüro, am Quai Henri Chardon. Sie rumpelten über die Uferpromenade, an der sich hohe Stadthäuser aus Granitstein, versehen mit weißen Fensterläden und hohen roten Kaminen, in einem Bogen drängten, vorbei an Restaurants mit bunt gestreiften Markisen auf das Ende des Hafens zu. Dort erhob sich auf einem gewaltigen Felsen die Kirche Saint-Nicolas aus dem 17. Jahrhundert mit ihrem zinnengekrönten viereckigen Granitturm, der die Einfahrt des Hafens dominierte. Die Zeiger auf dem weißen runden Zifferblatt wiesen auf neun Uhr und zehn Minuten.

Das Wasser hatte sich während der Ebbe kilometerweit zurückgezogen. Nun liefen Meereswellen aus verschiedenen Richtungen wieder schräg auf die Küste zu. Die Flut drängte mit aller Macht zwischen den massigen steinernen Pfosten in das Hafenbecken und hob die bunten Boote wie Kinderspielzeuge aus dem Schlick.

Roland parkte das Ungetüm direkt vor der Gendarmerie. Er benötigte vier Parkplätze, die für Polizeifahrzeuge reserviert waren.

Als der Gendarm Roselin Dumas zufällig aus dem Fenster schaute, erblickte er zu seinem Erstaunen Madame Florence, die sich soeben von einem muskulösen, braun gebrannten Mann mit karierter Schiebermütze per Handschlag verabschiedete. Als er mit seinem Mähdrescher davonpolterte, winkte sie ihm nach. Mit der anderen Hand hielt sie ihr Fahrrad am Lenker fest. Was hatte das zu bedeuten?

Die Polizisten Alain und Pierre sahen sich verblüfft an, als die Freundin ihres Chefs grußlos und mit schief sitzendem Kopftuch an ihnen vorbeihastete.

Bevor Roselin reagieren konnte, wurde die Tür aufgerissen, und die Bäuerin stürzte in sein Büro. Außer sich vor Entsetzen schilderte sie mit aufgeregter Stimme, was sie entdeckt hatte.

»Im Kiefernwald bei St.-Pierre-Église liegt eine tote Frau. Jemand hat sie dort vergraben.«

Nachdem sie mit letzter Kraft Bericht erstattet hatte, wich jede Farbe aus ihrem Gesicht. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie sackte zusammen. In letzter Sekunde konnte Roselin sie auffangen.

Während der rasanten Fahrt zur Polizeistation hatte Madame Florence auch dem hilfsbereiten Landwirt von ihrer grausigen Entdeckung erzählt. Roland hatte absolute Diskretion zugesichert, doch bereits eineinhalb Stunden später, als er in seiner Stammkneipe einen Pastis auf den Schrecken trank, hatte sich die Nachricht von der toten Frau im Wald wie ein Lauffeuer verbreitet.

Philippe Lagarde hatte sein Frühstück beendet und faltete die Tageszeitung Ouest-France zusammen, nachdem er noch einen Blick auf die Gezeitentabelle geworfen hatte, die in Frankreich mit Koeffizienten arbeitete. Die Gezeiten verliefen parallel zum Mondaufgang und setzten jeden Tag etwa fünfzig Minuten später ein. Das Meer kam und ging im Rhythmus von sechs Stunden und dreizehn Minuten. Küstenbewohner, Angler, Bootsfahrer und Pêcheurs à pied lebten in Einklang mit diesen Naturgewalten und berücksichtigten sie bei ihren Plänen.

Der Kommissar im Ruhestand sah auf seine Armbanduhr. Es war Zeit, Odette abzuholen. Er winkte nach Gaston, dem Besitzer des Bistros »Im Wind der Inseln«. Der brachte ein Tellerchen mit einer Spange, in die der Bon eingeklemmt war. Während Lagarde die Rechnung beglich, fragte er den Wirt: »Kanntest du den Mann neben mir am Tisch? Er machte einen völlig verstörten Eindruck und hätte in einem Wutanfall beinahe sein Handy zertrümmert.«

Gaston schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals hier gesehen zu haben. Er wirkte auf mich unbeherrscht. Ich hätte ihm mit Sicherheit keinen Calvados mehr serviert. Er hatte schon zwei doppelte Schnäpse. Ehrlich gesagt, war ich froh, als er ging.«

Der Kommissar nickte und legte großzügig Trinkgeld auf den Teller. »Das kann ich mir vorstellen. Keiner will Ärger in seinem Lokal haben. Ich muss jetzt los. Odette wartet auf mich. Wir machen einen Bootsausflug. Das Wetter ist wie geschaffen dafür.«

Gaston lachte. »Unsere berühmte Gourmetköchin hat Zeit für einen Ausflug? Ich kann es kaum glauben.«

Lagarde grinste. »Sie hat mir zum Namenstag einen Gutschein für ein romantisches Picknick zu zweit geschenkt. Vor ein paar Tagen habe ich vorsichtig nachgefragt, wann so ein Gutschein wohl verfällt. Sofort hat sie den Termin auf heute festgelegt. Wahrscheinlich wird während ihrer Abwesenheit im Restaurant der sensible Chefkoch kündigen, der tollpatschige Lehrling wird die Küche abfackeln, und der teure Kühlschrank für die Spitzenweine aus Bordeaux wird den Geist aufgeben.«

Gemeinsam brachen sie in Gelächter aus.

»Salut, Gaston.«

»Salut, Philippe, ich wünsche euch einen wunderschönen Tag ohne jede Katastrophe.«

»Danke, mein Freund, wird schon schiefgehen. Bis morgen.«

Lagarde überquerte die Straße und setzte sich hinter das Steuer seines himmelblauen Renault Express, den er direkt vor der Kaimauer geparkt hatte. Der Motor des alten, mit Beulen und Schrammen versehenen Kastenwagens sprang wie immer zuverlässig an. Lagarde stieß rückwärts aus der Parkbucht auf die Gegenfahrbahn, bedankte sich, indem er die Hand hob, bei zwei Autofahrern, die ihm das Manöver ermöglicht hatten, und fuhr stadtauswärts.

Das Thermometer in seinem Wagen zeigte bereits fünfundzwanzig Grad im Schatten. Die Wolken hatten sich davongemacht, der Wind hatte sich ebenfalls verabschiedet, und die strahlende Sonne versprach einen schönen Sommertag. Er kurbelte die Seitenscheibe herunter, legte den Arm auf die Fahrertür und umfasste mit der Hand das Lenkrad. Die Finger der rechten Hand drehten auf der Suche nach einem Sender mit klassischer Musik am Knopf des Radios.

Philippe Lagarde war zweiundsechzig Jahre alt, sein Geburtstag stand bald vor der Tür. Er sah jedoch erheblich jünger aus, was sicher auch daran lag, dass sein kräftiger, beinahe stämmiger Körper durchtrainiert und muskulös war. Am auffälligsten – die Frauen meinten am schönsten – waren seine Augen, die in einem tiefen Saphirblau in seinem braungebrannten, kantigen Gesicht erstrahlten. Seine Nase war gerade und etwas breit, die Lippen waren schön geformt. Wenn er lachte, zeigten sich weiße ebenmäßige Zähne. Die schwarzen, inzwischen etwas grau melierten Haare trug er kurz geschnitten, das gepflegte, kunstvoll gestutzte Bärtchen hatte er vor einigen Wochen abrasiert. Odette, seine Freundin, hatte sich über ein heftiges Kratzen beim Küssen beklagt. Jetzt ließ er sich ab und zu einen Dreitagebart wachsen, über den sich Odette noch nicht beschwert hatte. Ganz im Gegenteil, sie fand, dass er ihm eine verwegene und erotische Note verlieh.

Das Restaurant von Odette de Crézy hieß »Mirabelle« und war ein weithin bekanntes Feinschmeckerlokal. Letztes Jahr hatte sie mit einem raffiniert zubereiteten, köstlichen Fischgericht einen inkognito speisenden Tester von Gault Millau überzeugt. So hatte sie vom einflussreichsten Restaurantführer neben dem Guide Michelin ihre erste Kochhaube bekommen. Seitdem hatte sich ihr Ehrgeiz noch weiter gesteigert, was Lagarde kaum für möglich gehalten hätte.

Er folgte der Küstenstraße Richtung Norden. Auf der Seeseite erstreckte sich eine weite Dünenlandschaft, deren von Strandhafer gesäumte Pfade und Plankenstege zu scheinbar endlosen breiten Sandstränden führten. Dort war es einfach, ein einsames Plätzchen zu finden, wenn man für sich sein wollte. Ein Pärchen wanderte Hand in Hand am Strand entlang, begleitet von einem goldbraunen Labrador, der ohne Leine seine Freiheit genießen durfte. Kleine opalgrüne Wellen erreichten das Ufer und umspülten den Muschelsaum. Weiter draußen wirkte das Meer an diesem Julisommertag wie ein tintenblauer riesiger Teich.

Auf der anderen Seiten der Straße lag flach wie eine Flunder eine grüne Moorlandschaft, durchzogen von schmalen Kanälen mit inzwischen verrosteten Schleusenanlagen und durchsetzt von Weihern. Wasserlinsen trieben auf der flaschengrünen Oberfläche, am Rand wuchs hohes Schilfgras. Auf mit Büschen überwucherten Parzellen hatten sich Dreizehenmöwen, Brandgänse und Seeschwalben niedergelassen, die dort auch brüteten. In den Gewässern fanden Kleinreptilien und Amphibien wie Frösche, Molche und Wasserschlangen ihre Heimat.

Mit Binsen und Riedgras bewachsene Wiesen dienten im Sommerhalbjahr Pferden, Rindern und Schafen als Weideland.

In einem alten Schleppkahn saß ein einsamer Angler mit einem Schlapphut auf dem Kopf und einem Glas in der Hand. Lagarde vermutete, dass er Rotwein trank.

Als er von der Küstenstraße links abbog und landeinwärts fuhr, wechselte das Landschaftsbild, und er passierte einen dichten Wald aus Eichen und Buchen. Wie überall in der Gegend rankte sich Efeu um die Stämme und Äste der alten imponierenden Baumbestände.

Nach einem Kilometer führte der Weg nach rechts in einen Schotterweg. An dieser Abzweigung stand ein großes, geschmackvoll gestaltetes Schild, das auf das Restaurant Mirabelle aufmerksam machte und den weiteren Weg beschrieb. Der führte zunächst an einem Campingplatz vorbei, der jetzt im Juli fast ausgebucht war. Nach einigen hundert Metern vorbei an flachem Weideland, auf dem braunweiß gefleckte Kühe grasten, erreichte man den Parkplatz des Mirabelle. Da das Restaurant erst zur Mittagszeit öffnete, parkten dort nur einige Fahrzeuge des Personals unter den mächtigen Walnussbäumen.